Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945 - Winfried Wolf - E-Book

Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945 E-Book

Winfried Wolf

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Zivilisierung und Erziehung, kein Zweifel, das eine trägt zum andern bei. Im Zeitalter der Aufklärung sah man in der richtigen Erziehung ein Mittel zur Besserung des menschlichen Verhaltens, gleichzeitig erkannte man aber in der zivilisierten Gesellschaft auch die Auswirkungen einer schlechten Erziehung. Bis heute geht es um die Fragen der "richtigen" Erziehung und um "richtiges" Verhalten. Nach wie vor gehört die Kindererziehung zu den wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben der Familie, denn in ihr werden die Kinder auf die Anforderungen der Gesellschaft vorbereitet. Meine Arbeit versteht sich als eine Weiterführung von Anregungen, die der große Soziologe Norbert Elias hinterlassen hat. Er befasste sich in seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" u. a. mit Anstandsbüchern, um langfristige Prozesse der Verhaltensformung und Modellierung von Triebstrukturen darzustellen. Elias beschreibt "Zivilisierung" als einen Wandel von Persönlichkeitsstrukturen, den er auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt; dabei geht er der Frage nach, wie sich soziale Kontrolle entwickelt und wie Selbstkontrolle entsteht. Ich habe in meinem Buch nicht Anstandsbücher, sondern die Ratgeberrubriken einer Familienzeitschrift über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren untersucht, um herauszubekommen, wie sich im beobachteten Zeitraum die Empfehlungen zur "richtigen" Erziehung ändern. Mit Blick auf Norbert Elias und "seinen" Zivilisationsprozess habe ich mir auch die Frage gestellt, wie eine Regulierung des Verhaltens durch Erziehung heute noch gelingen kann und ob auch in unserer Zeit durch Erziehung die Ausbildung einer Selbstzwangapparatur noch angestrebt werden soll und kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 730

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Theoretischer Bezugsrahmen und Fragestellung der Analyse
Zivilisationstheoretische Überlegungen
Exkurs: Theorien sozialen Wandels
Exkurs: Die Theorie struktureller Selektion
Exkurs: Die Anwendung zivilisationstheoretischer Kategorien für die Analyse von Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich der Erziehung
Das Material der Untersuchung – „Ratgeber – Frau und Familie“
Beratung in und durch Zeitschriften
Begründung für die gewählte Art der deskriptiven Darstellung
Matrix zur Erfassung erziehungsrelevanter Verhaltensstandards
Die deutsche Familie im Ratgeber der 50er Jahre
Elternbild und Anforderungen an ihr Verhalten gegenüber den Kindern im Ratgeber der 50er Jahre
Exkurs zum Männerbild der 50er Jahre
II. Erziehungsgrundsätze
III. Sozialisation und Erziehung in der frühen Kindheit
IV. Sozialisation und Erziehung in der Kindheit
V. Sozialisation und Erziehung in der Jugendzeit
Erzieherisches Handeln und Normen der Erziehung in den 50er Jahren – eine erste Interpretation
Zur Familiensituation Anfang der 50er Jahre
Allgemeine Erziehungsgrundsätze
Problemverhalten und Krisen der Erziehung
Hygiene, Kleidung und äußeres Erscheinungsbild
Umgangsformen und Manieren
Spiel- und Freizeitverhalten
Umgang mit den Medien
Geschlechtsspezifische Erziehung und Sozialisation
Freundschaft, Liebe, Sexualverhalten
Erziehung zum Verzicht – Taschengeld
Die Deutsche Familie im Ratgeber der 60er Jahre
I. Elternbild und Anforderungen an ihr Verhalten gegenüber den Kindern im „Ratgeber“ der 60er Jahre
II. Erziehungsgrundsätze
III. Sozialisation und Erziehung im Kleinkind- und Kindesalter
IV. Sozialisation und Erziehung in der Jugendzeit
Erzieherisches Handeln und Normen der Erziehung in den 60er Jahren – eine erste Interpretation
I. Die Familie im Ratgeber der 60er Jahre
II. Erziehungsgrundsätze im RATGEBER der 60er Jahre
III. Makrosoziologische Rahmenbezüge
IV. Standards in einzelnen Verhaltensbereichen
Problemverhalten und Krisen der Erziehung
Hygiene, Kleidung und äußeres Erscheinungsbild
Umgangsformen und Manieren
Spiel und Freizeitverhalten
Freundschaft und Liebe
Sexualität und Sexualverhalten
Umgang mit den Medien
Umgang mit Sachen / Geld
Lernen und Ausbildung
Die deutsche Familie im Ratgeber der 70er Jahre
I. Elternbild und Anforderungen an ihr Verhalten gegenüber den Kindern im Ratgeber der 70er Jahre
II. Erziehungsgrundsätze
Familie und Familienerziehung in den 70er Jahren – eine erste Interpretation
Standards in einzelnen Verhaltensbereichen
Problemverhalten und Krisen der Erziehung
Hygiene, Kleidung und äußeres Erscheinungsbild
Umgangsformen
Spielverhalten und Freizeitgestaltung
Geschlechtsspezifisches Verhalten
Freundschaft und Liebe
Sexualität und Sexualverhalten
Umgang mit Medien, Fernsehen
Umgang mit Geld und Sachen
Schule und Ausbildung
Die deutsche Familie im „Ratgeber“ der 80er Jahre
I. Elternbild und Anforderungen an ihr Verhalten gegenüber den Kindern
II. Erziehungsgrundsätze
III. Standards in einzelnen Verhaltensbereichen
Problemverhalten und Krisen der Erziehung
Hygiene, Kleidung und äußeres Erscheinungsbild
Umgangsformen und Manieren
Spiel und Freizeit
Geschlechtsrollen
Freundschaft und Liebe
Umgang mit den Medien
Umgang mit Sachen – Umgang mit Geld
Lernen und Ausbildung
Familie und Familienerziehung in den 80er Jahren – eine erste Interpretation
Die deutsche Familie in der Erziehungsberatung der Zeitschriften „Eltern“ und „Ratgeber – Frau und Familie“ – 90er Jahre
Standards in einzelnen Verhaltensbereichen
Kleidung und äußeres Erscheinungsbild
Umgangsformen und Manieren
Spiel und Freizeit
Geschlechterrollen und Sexualität
Freundschaft und Liebe
Umgang mit den Medien
Umgang mit Sachen und Geld
Lernen und Ausbildung
Verhaltensstandards im Wandel - zusammenfassende Darstellung und Interpretation
Familie und Erziehung im Wandel
Strukturelle Veränderungen des Familienalltags
Zeitgeschichtliche Veränderungen in den Erziehungszielen und im Erziehungsverhalten
Erziehungspraktiken
Veränderungen in einzelnen Verhaltensbereichen
Wohin geht die Erziehung ? – Kann das zivilisatorische Versprechen noch eingehalten werden?
Anlage 1: Erziehung und Zivilisierung, gedankliche Verbindungen
Anlage 2: Fragenkatalog für Berater
Anlage 3: Übersicht zur Beantwortung der Fragen an die Berater
Anlage 4: Zur Methode: die qualitative Inhaltsanalyse
Zum Verlaufsmodell der qualitativen Inhaltsanalyse
Das Ausgangsmaterial
Analysetechniken: qualitativ
Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung
Analysetechniken: quantitativ
Zusammenfassende Inhaltsanalyse: 1954 bis 1999
Anmerkungen des Autors

Theoretischer Bezugsrahmen und Fragestellung der Analyse

Zivilisationstheoretische Überlegungen

Angeregt wurde diese Arbeit durch die Lektüre von Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und seine Hinweise auf mögliche Erweiterungen und Präzisierungen.

Sein abseits soziologischer und psychologischer Lehre gelegener Versuch die Geschichte des Individuums mit der der Gesellschaft zu verbinden, seine Darstellung eines unauflöslichen Zusammenhangs zwischen Psychogenese und Soziogenese eröffnen dem historisch orientierten Pädagogen bis heute neue und oft überraschende Einsichten. Wie fruchtbar sein theoretischer Ansatz für die historische Pädagogik sein kann, zeigt sich, wenn man seinen Prozess der Zivilisation parallel etwa zur ‚Geschichte der Kindheit’ von Philip Aries liest, denn Elias liefert in vielem die Erklärung für das, was Aries in seiner Darstellung beschreibt.

Gerade in der Gegenüberstellung dieser beiden Autoren wird deutlich, was eine noch relativ theoriearme Erziehungsgeschichte von den Sozialwissenschaften lernen und übernehmen kann. Im Bereich der Psychologie sind es vor allem die Psychoanalyse und die neuere historisch Psychologie, die für uns von Interesse sein können. Zu diskutieren wären hier vor allem der Beitrag psychoanalytischer Theorien für die biographische Forschung, die einschlägigen Untersuchungen zum Sozialcharakter durch die analytische Sozialpsychologie sowie die historischen Studien zur Eltern-Kind-Beziehung von Hunt in Anlehnung an Ericson aber auch Ansätze einer psychogenetischen Entwicklungstheorie etwa bei van Berg und Lloyd de Mause.

Ergänzt werden müssen diese Betrachtungen allerdings durch kritische Auseinandersetzungen mit der Zivilisationstheorie wie sie etwa bei von Trotha, Homans, Blinkert, Baumann und vor allem Lasch vorgetragen werden.1  Diskutiert wird hier u. a. das Konzept der Selbstkontrolle im Sinne des Freud’schen Über-Ich oder der Elias’schen Selbstzwangapparatur. Lasch beispielsweise ist der Auffassung, dass in modernen Gesellschaften die Stärkung der Ich-Kontrolle im Vordergrund stehe und nicht die Entwicklung eines Über-Ich, dem vielfach ein gewissen Misstrauen entgegen gebracht wird.

Die einseitig psychologische Sicht erziehungsgeschichtlicher Phänomene verlangt aber nahezu zwangsläufig nach einer Ergänzung durch die Soziologie. Für unsere Zwecke, nämlich eine Erklärung für Veränderungen in den Verhaltensstandards im Erziehungsbereich zu finden, sind auch die strukturfunktionalistische Ansätze in der Tradition um Parsons von Interesse. Die Beschränkung dieser Ansätze liegt jedoch u. a. in deren wiederum ahistorischer Betrachtungsweise. Sie wird aufgebrochen durch die historisch arbeitende Soziologie, die ihren neueren Ausdruck in den sog. Modernitätstheorien findet. Zu diskutieren wären hier etwa Ansätze bei Eisenstadt, Bendix, Smelser oder Lerner2.

Einen dritten Zugang bietet die Wissenssoziologie, denn sie offeriert so etwas wie eine Synthese von soziologischen und psychologischen Wissensbeständen über Erziehung und integriert beide in einen entwicklungstheoretischen Rahmen. Die Geschichte der Erziehung erscheint hier als ein Prozess zunehmender Rationalisierung im Verständnis von Erziehung und im Verständnis des Kindes. Unklar bleibt freilich auch weiterhin, warum es zu einem Wandel etwa der Eltern-Kind-Beziehung und der daraus resultierenden Veränderungen von Verhaltensstandarden kommen konnte.

Eine scheinbare Lösung des Problems bietet wiederum, zumindest auf den ersten Blick, und damit kommen wir zum Anfang unserer Übersicht zurück, der Entwurf einer Theorie der Zivilisation bei Norbert Elias. Den Ansatz von Elias wollen wir nun im Folgenden kurz skizzieren.

Norbert Elias unternahm, wie schon angedeutet, den Versuch „die kleine Geschichte des Individuums“ mit der „großen Geschichte der Gesellschaft“ zu verschmelzen, es ist der Versuch nachzuzeichnen, wie bei der Herausbildung der abendländischen Zivilisation Psychogenese und Soziogenese einen unauflöslichen Zusammenhang bilden.

Ausgangspunkt für seine Analyse des europäischen Zivilisationsprozesses war dabei die Entstehung von stabilen Zentralorganen, festen Monopolinstituten der körperlichen Gewalttat, deren Formierung Auftakt bildet für den Übergang regionaler Feudalordnungen zu zentralisierten Herrschaftsformen und letztlich zur Staatenbildung. Die stärkere Funktionsteilung in den Gesellschaften mit Gewaltmonopol, für die zunächst der Fürstenhof oder der Königshof als Beispiel dienen kann, führt zu einer höheren Abhängigkeit der Menschen voneinander. Auch macht der Schutz vor fremder Gewalt, den man nun weitgehend genießt, es notwendig, sich selbst stärker zu disziplinieren. Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraums, Ablösung des Handelns vom Augenblick, sind die Folgen. Der menschliche Seelenhaushalt wird im Sinne einer kontinuierlichen Regelung seines Trieblebens geformt. Zwischenmenschliche Fremdzwänge verschwinden zwar nicht, doch treten Selbstzwänge mehr und mehr an ihre Stelle. Der Herausbildung politisch stabiler Zentralorgane entspricht eine zunehmende Verfestigung der psychischen Selbstzwangapparatur. Soziale und psychische Wandlungsprozesse verbinden sich auf diese Weise zu einem Geflecht, das den Geschichtsverlauf strukturiert.

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten seines Denkens, dass seine Theorie der Zivilisation nicht nur eine historische Entwicklung beschreibt und zu erklären versucht, sondern die Herausbildung der Theorie selbst als Entwicklungsprozess darstellt, der sich für den Leser so anschaulich wie möglich vollzieht. Die Wandlungen in der Einstellung zu natürlichen Bedürfnissen etwa, die im ersten Band zum Prozess der Zivilisation beschreiben werden, und die sich u. a. mit dem Schnäuzen, Spucken, Verhalten im Schlafraum, den Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie den Wandlungen der Angriffslust beschäftigen, bilden das Musterbeispiel einer anschauungsgesättigten Theoriebildung.

Es ist das Verdienst von Norbert Elias, dass er auch alltagsweltliche Details als Anzeichen eines kontinuierlichen Wandlungsprozesses betrachtet, der schließlich zur Herausbildung der abendländischen Zivilisation führte. Dieser Zivilisationsprozess zeigt sich im Wandel der Tischsitten, in Veränderungen des Steuerverhaltens von innerpsychischen Abläufen ebenso wie in der Formation des Nationalstaates.

Und weil er so allumfassend und durchdringend ist, kann sich eine Theorie, die diesen langfristigen und ungeplanten, aber strukturierten und gerichteten Prozess beschreibt, eine Hierarchisierung ihrer möglichen Gegenstandsbereiche gar nicht gestatten. Nicht jeder Gegenstand ist für die Theorie der Zivilisation gleich wichtig, unwichtig bleibt für sie keiner. Dabei hat Elias schon früh angedeutet, dass Erweiterungen und Präzisierungen der Zivilisationstheorie nach zumindest zwei Richtungen erfolgen könnten: als Erforschung des Sozialisationsprozesses auf der Mikro-, als Analyse der zunehmenden Verflechtung der Nationalstaaten auf der Makroebene.

Hier finden sich bei Elias Forschungsperspektiven vorgezeichnet, die erst heute in Geschichte, Soziologie und auch in der Pädagogik deutlichere Konturen gewinnen wie etwa im Versuch die Historizität des Phänomens Kindheit nachzuweisen und deren Geschichte  mit der Entwicklung der Zeitmessinstrumente und den Wandlungen des Zeitbewusstseins zu verknüpfen. Mit der Hinwendung zur Sozialgeschichte ist für die historisch arbeitende Pädagogik damit auch und in erster Linie der zivilisationstheoretische Ansatz von Norbert Elias interessant geworden.

Für uns bleibt nun allerdings die Frage, ob der von Elias beschriebene und gedeutete Zivilisationsprozess in seiner ursprünglichen Form Wandlungen von Verhaltensstandards in modernen Gegenwartsgesellschaften hinreichend erklären kann. Wir haben in Deutschland ein hohes Maß an Staatlichkeit erreicht, der Prozess der Staatenbildung kann also nicht länger als Erklärungsmuster herhalten. Die ursprüngliche Fassung der Zivilisationstheorie muss für unsere Betrachtung also modifiziert werden. Das bedingt vielleicht auch ein anderes Verständnis von „Zivilisation“.  Worin zeigt sich heute Zivilisiertheit und welchen Bedeutungswandel hat der Begriff „zivilisiert“ gemacht. Darauf wird in der Interpretation der Arbeit näher einzugehen sein. An dieser Stelle sei aber schon darauf hingewiesen, dass Elias und seine Schüler, unter ihnen vor allem Cas Wouters, die Zivilisationstheorie weiterentwickelt und erweitert haben. Die ursprüngliche Fassung der Theorie wurde dabei im Wesentlichen in zwei Punkten den gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. Zum einen steht der Prozess der Staatenbildung nicht mehr im Zentrum der Theorie. Zum anderen wird der Begriff „Zivilisation“ nun in einem modifizierten Sinne verstanden. Konstitutiv für „Zivilisiertheit“ ist nunmehr ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben der Menschen und die Ausbreitung einer stabilen und verlässlichen Selbstzwangapparatur. Mit letzterem wird ein Haupttheorem der Zivilisationstheorie weiterentwickelt.

Elias und seinen Schülern ist natürlich nicht verborgen geblieben, dass sich die Welt seit dem Absolutismus stark verändert hat. In Wellenbewegungen haben sich die Standards des Verhaltens geändert. Starre Formen haben sich gelockert, Informalisierungsprozesse wurden aber auch wieder in Prozesse der Formalisierung zurückgeführt. Für unseren Untersuchungszeitraum, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, ist nicht zu übersehen, dass sich Symptome von Informalisierung häufen und innere Kontrollen scheinbar an Bedeutung verloren haben, das hat vor allem auch Norbert Elias selbst zum Thema gemacht.3 Der Prozess der Informalisierung wird beispielsweise von Cas Wouters geradezu als Indikator dafür gesehen, dass der Zivilisationsprozess weiter voranschreitet. „Im Gegensatz zum oberflächlichen Eindruck führt größere Zwanglosigkeit in der Beziehung interdependenter Personen zu tiefer verwurzelten Selbstzwängen und erfordert sie auch... .“4 Eine professionalisierte Erziehung versucht darauf zu antworten, die Beratung in und durch Zeitschriften ist ein Beleg dafür.

Obwohl Elias die Rolle der Erziehung im Prozess der Zivilisation nicht explizit erwähnte, ist doch offensichtlich, dass er ihr in seinem dargestellten Entwicklungsprozess einen hohen Stellenwert beigemessen hat. So können denn auch die langfristigen Trends des Zivilisationsprozesses wie Funktionsteilung,  Differenzierung und Affektkontrolle durch die bisherigen historischen Arbeiten zur Erziehungsgeschichte gut belegt werden.

Elias hat seine Analysen vorwiegend mit Hilfe von Anstandsbüchern durchgeführt. Seine Bücher schrieb er Ende der dreißiger Jahre. Hier endet auch vorläufig „sein“ Zivilisationsprozess. Die Analyse der Ratgeberrubrik einer großen Familienzeitschrift5 könnte zeigen, wie sich Verhaltensstandards der Erziehung in den letzten Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg verändert und angepasst haben. Es wird zu zeigen sein, ob durch dieses langfristig angelegte Fallbeispiel die Kontinuitätsannahmen von Elias bestätigt werden können. Gleichzeitig nimmt diese Untersuchung für sich in Anspruch ein Eignungstest für die weiterentwickelte Konzeption der  Zivilisationstheorie zu sein.

Stellen wir abschließend noch einmal die Vorteile einer Übernahme der Zivilisationstheorie von Elias für eine historisch arbeitende Erziehungswissenschaft heraus: Zunächst wäre mit einem zivilisationstheoretischen Ansatz, so wie ihn Elias darstellt, das Dilemma geisteswissenschaftlicher Idealisierung und Individualisierung überwunden. Ebenso eine materialistische Funktionalisierung der Erziehung aber auch eine mit Universalien arbeitende soziologische Entwicklungstheorie. Ein weiterer Vorteil ist die empirische Überprüfbarkeit der Theorie von Elias.

Beispielgebend und gerade für eine Geschichte der Erziehung fruchtbar erscheint die Verbindung von Soziogenese und Psychogenese. Eine parallele Entwicklung von Soziogenese und Psychogenese wird auch durch neuere Entwicklungen nicht in Frage gestellt. Fortschreitende Individualisierung und wirtschaftlicher Strukturwandel haben allerdings einen gesellschaftlichen Wandel herbeigeführt, der nicht zwangsläufig zur Ausbildung von Mustern verinnerlichter Selbstzwänge geführt hat, wie sie Norbert Elias beschrieben hat. Tendenzen zur Informalisierung und die Ausbildung von ego-zentrierten Kontrollsystemen müssen in ihrer Gewichtung analysiert werden. Weitere Forschungsarbeit wird zeigen,  wie sich der weitere Wandel der Gesellschaft auf die Herausbildung von inneren Kontrollstrukturen auswirkt und welche Bedeutung dabei der Erziehung zukommen kann.

Besondere Problembereiche für Anwendung und Interpretation werden sein: die Reichweite der Theorie (Kontinuitätsannahme), die Gegentendenzen im Prozess der Zivilisation, der postulierte Trend zum Selbstzwang, der blind verlaufende Prozess, der Verzicht auf den Fortschrittsgedanken, das psychogenetische Entwicklungsmodell der Verinnerlichung von Normen, die Sicht von Sozialisation und Erziehung als ungeplanter, automatisch und reflexartig erfolgende Konditionierung, die Lockerung von Verhaltensstandards in der heutigen Gesellschaft, die postulierten langwierigen Verinnerlichungsprozesse, die weitgehende Ausblendung ökonomischer Bedingungsfaktoren.

Exkurs: Theorien sozialen Wandels

Allgemeines zu Theorien:

„In einem strengen erfahrungswissenschaftlichen Verständnis sind Theorien deduktive Aussagensysteme, in denen aus (a) generellen Behauptungen (Propositionen, Gesetze) über die Beschaffenheit eines Realitätsausschnittes, sowie aus (b) auf sie bezogenen Anfangs- oder Randbedingungen (c) Ereignisvoraussagen (Hypothesen) abgeleitet werden, die falsch sein können. Diese Deduktion wird Erklärung bzw. Prognose genannt.“6

Sind demnach die Theorien sozialen Wandels wirklich Theorien? Die meisten Theorien sozialen Wandels sind nicht Theorien in diesem deduktiven Sinn. „zumeist sind es viel komplexere Aussagen und Interpretationen der Ursachen, Abläufe und Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen: Kombinationen von Theorien, Modellen, Metatheorien und komparativen Analysen.“7 „Unter Modellen kann man stilisierende Rekonstruktionen von Realitätsausschnitten verstehen, die den Zusammenhang oder Ablauf beobachtbarer Phänomene stark vereinfacht wiedergeben.“8

„Rigorose Methodologen würden die Mehrzahl der Beiträge zum Problem des sozialen Wandels als generelle Orientierungen, begriffliche Schemata, oder Metatheorien bezeichnen: als analytisch mehr oder weniger explizierte Vorstellungen über die ‚Natur’  gesellschaftlicher Realität, als ‚Sprachen’, mit denen Erfahrungen geordnet werden.“9

Neben dem Interesse an Generalisierungen besteht aber immer auch das Interesse, spezifische historische Wandlungsprozesse zu verstehen und zu bewerten. Die an der Tradition der historischen Soziologie anknüpfende Methode der komparativen Analyse liegt sozusagen zwischen Theorie- und Modellbildung einerseits und Metatheorie und sozialphilosophischer Phraseologie andererseits. Durch den Vergleich zweier Gesellschaften, denen das Vorverständnis bestimmte Entwicklungsbedingungen zuschreibt, kann man Übereinstimmungen und Unterschiede in historischen Begriffen herausarbeiten, „die nur auf einige – anstatt auf alle – Gesellschaften anwendbar sind“.10

Was sind die Gegenstände von Theorien sozialen Wandels? Theorien sozialen Wandels lassen sich z. B. danach unterscheiden wie weit oder wie eng sie ihren Gegenstandsbereich definieren. Parsons etwa verstand unter sozialem Wandel die Veränderung der Struktur ‚sozialer Systeme’, das entspricht einer makroskopischen Betrachtungsweise. Von einer mikroskopischen Betrachtungseise können wir sprechen, „wenn sozialer Wandel als Veränderung von Beziehungen, Rollen, Rollenverbänden betrachtet wird“.11

Modernisierung ist in der Regel wohl makroskopisch zu betrachten, daneben sind aber auch Analysen interessant, die psychische und kulturelle Voraussetzungen und Konsequenzen der Modernisierungsprozesse in den Fokus stellen.

Was sind die Ursachen des sozialen Wandels? Hier hat sich die Unterscheidung von exogenen und endogenen Faktoren eingebürgert; dabei sind heute die klassischen Ein-Faktoren-Theorien des Wandels (intellektuelle oder technische Erfindungen, ökonomische Widersprüche, Umweltveränderungen, Eliteinteressen) weitgehend durch multivariable Theorien ersetzt worden. Die Unterscheide beginnen bei der Bestimmung, was als ‚exogen’ und was als ‚endogen’ zu gelten hat und unter welchen Bedingungen diese Faktoren wirksam werden können.12

Lässt sich die Richtung des Wandlungsprozesses bestimmen? „Die Frage nach den Dimensionen des Wandels ist zugleich die Frage nach der Möglichkeit, das Ausmaß der Veränderungen beziehungsweise Abweichung vom Ausgangszustand zu bestimmen. Radikalität des Wandels; Rapidität des Wandels; Verhältnis von geplanten und ungeplanten Veränderungen (Steuerung versus Anpassung); Beschleunigung oder Verlangsamung: das sind generelle Dimensionen, die neuere Theorien auch quantitativ zu bestimmen versuchen.“13

Exkurs: Die Theorie struktureller Selektion

Bedarf es überhaupt einer Theorie zur Erklärung von Veränderungsprozessen im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation? Nun – sollen Veränderungen der für Erziehung und Sozialisation geltenden Wertesysteme nicht ungedeutet bleiben, bedarf es einer theoretischen Klammer. Ein ergänzendes Theorieangebot zum Prozess der Zivilisation von Norbert Elias bietet m. E. die Theorie struktureller Selektion. Sie kann ebenfalls als Erklärungsmodell für die Veränderung von Verhaltensstandards im Bereich familialer Sozialisation und Erziehung dienen und steht in einem parallelen Erklärungsmodus zur Zivilisationstheorie. Wie schon bei der Skizzierung der Zivilisationstheorie nach Elias angedeutet, scheint uns für die Erklärung von Veränderungen von Verhaltensstandards ein integratives Modell besonders geeignet zu sein, da es sowohl individualistische Handlungserklärungen als auch strukturelle Theorien sozialen Wandels miteinander verkoppelt. Mit Michael Schmid betrachten wir Familien bzw. die Eltern-Kind-Beziehung als „soziale Strukturen“14. Danach sind soziale Strukturen jene Arten von gegenseitigen Beziehungen, in die Aktoren zueinander treten können und müssen. „Die Elemente dieser Beziehungen sind einmal die Aktoren selbst (also Eltern und Kinder, d. V.) und zum anderen die Regeln (oder Normen), die den Verkehrsformen dieser Aktoren unterliegen, an denen sich ihr Handeln orientiert“15.

Wir betrachten hier die Aktoren nicht mit dem Blick auf die ganze Vielfalt ihrer möglichen Eigenschaften, sondern grenzen die Perspektive durch die Auswahl einer bestimmten Merkmalsmenge (Eltern als Erzieher und Kinder als zu Erziehende) ein. Wenn sich die Familie als soziale Struktur mit Hilfe der Begriffe „Kollektiv“ und „Regeln“ definieren lässt, dann kann die Beschreibung von Veränderungsprozessen die Veränderung eben dieser Kollektive und Regeln nicht unberücksichtigt lassen.

Darüber hinaus müsste natürlich auch das faktische Handeln der Aktoren selbst in den Blick kommen etwa über Fallbeispiele mit illustrativem Charakter.

Betrachtet man die Familie als Reproduktionssystem, sind die Randbedingungen oder Ressourcen für die Aufrechterhaltung, Absicherung und Veränderung von Verhaltensstandards zusätzlich zur Erklärung heranzuziehen, wenn man nicht einseitig individualistischen Erklärungsmodellen den Vorzug geben möchte.16 Die Randbedingungen wirken zwar regelmäßig auf das Gelingen familialer Reproduktionsleistungen ein, können sich aber auch völlig unabhängig von diesen verändern. „Bleiben diese Umweltfaktoren aber konstant, so können sie für die anfallenden Reproduktionsprozesse als externe Parameter gelten, deren Einfluss zu kennen sicherlich von Gewinn ist, die wir praktisch aber oftmals erst dann entdecken, wenn sie sich verändert haben, sei es aufgrund der kollektiven Handlungsfolgen des Reproduktionsprozesses selbst oder unberührt hiervon.“17

In jedem Fall gerät eine Struktur wie die Eltern-Kind-Beziehung mit ihrem Regel- und Normensystem wie andere soziale Strukturen auch bei sich wandelnden Umweltfaktoren unter Selektionsdruck und es wird fraglich, ob Form und Inhalt des Sozialisationsprozesses auch weiterhin so bleiben können, wie sich das über Generationen hinweg „eingespielt“ hat. „In solchen Situationen kann es passieren, dass alternative Erziehungs- und Sozialisationsformen, sofern sie zur Verfügung stehen, selektiv prämiert werden18. Sie werden sich bei günstigen Randbedingungen mit erhöhter Chance durchsetzen und im Extremfall alte und überkommene Regeln und Kollektive entweder in bestimmte Nischen zurückdrängen oder gänzlich eliminieren. Voraussetzung ist freilich auch, dass es gelingt in Korrespondenz zu den sich verändernden Umweltbedingungen die alternativen Erziehungsvorstellungen zu institutionalisieren. Erst dann nämlich können sich neue Formen und Regeln für Verhaltensweisen in der Eltern-Kind-Beziehung reproduzieren.

Die Familie wird nun solange ihre Reproduktionsleistungen der Form und dem Inhalt nach beibehalten können, solange dies die Umwelt zulässt. Eine strukturelle Krise stellt sich dann ein, wenn dies nicht länger möglich ist. Nach Schmid können zwei Gründe dafür ausschlaggebend werden: „Zum einen können die faktischen Folgen des Reproduktionsprozesses dessen eigene Voraussetzungen derart verändern, dass jene Handlungen, welche die Sozialstruktur konstituieren, fortschreitend an Wahrscheinlichkeit verlieren, wiederholt zu werden.19 Von einer strukturellen Krise wollen wir aber auch dann sprechen“, fährt Schmid fort, „wenn sich hiervon unabhängig die konstant geglaubten Umweltfaktoren und Ressourcen de facto als variabel erweisen und ihre Veränderung das Gelingen des Reproduktionsprozesses  in Frage stellen kann.“

Strukturwandel nach diesem Modell wird also dann vorliegen, wenn es neuen Kollektiven auf der Basis alternativer Regeln gelungen ist, angesichts der veränderten Umweltlage einen Reproduktionsprozess zu institutionalisieren und zu stabilisieren, der die eigene Existenz gegenüber den überkommenen Kollektiven und Regeln favorisiert.20

Schmids Theorie erklärt demnach sozialen Wandel als Folge der differentiellen Selektion von reproduktionsfähigen Strukturen unter sich verändernden Umweltbedingungen.21 Ein solches Erklärungsmodell kann u. U. blinde Stellen der Zivilisationstheorie mit Erklärungen auffüllen.

Exkurs: Die Anwendung zivilisationstheoretischer Kategorien für die Analyse von Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich der Erziehung

Allgemeines Erkenntnisinteresse der Zivilisationstheorie von Norbert Elias ist es u. a. die Folgen des Sozialen Wandels für die individuelle Existenz herauszuarbeiten.

Übertragen auf die vorliegende Arbeit hieße das die Frage aufzunehmen, wie sich etwa die normativen Erwartungen der Gesellschaft bezüglich der Kindererziehung auf die Betroffenen, Eltern und Kinder, sowie ihre Beziehungen zueinander, auswirken und wie sich diese und die Reaktionen darauf im Laufe der Zeit verändert haben. Dabei wird es mir mit Hilfe der Analyse der ausgewählten Ratgeber-Literatur möglich sein gewisse Trends und Veränderungen in den Anforderungen, Verboten und Geboten im Bereich familialer Erziehung zu beschreiben, nicht aber zu zeigen, wie sich diese Trends des Zivilisationsprozesses auf das denken, Fühlen und Handeln von Eltern und Kindern auswirken (Ein Thema von Jugendstudien etwa).

Die Diagnose wird sich also auf die Klarlegung von Veränderungen im normativen Bereich beschränken, wobei allerdings nicht auf eine differenziertere Systematik verzichtet werden muss. Die Analyse wird zeigen können, wo etwa Verschiebungen in der Machtbalance zwischen Eltern und Kindern stattgefunden haben, welche Veränderungen sich etwa in der Einstellung der Erzieher zu sich selbst ergeben haben etc. Die Erklärung der festgestellten Trends soll dann probeweise mit Hilfe zivilisationstheoretischer Kategorien versucht werden. Dabei ist von folgenden Grundannahmen, die Elias in seiner Theorie der Zivilisation für andere, aber ähnliche Problemfelder herausgearbeitet hat, auszugehen:

Die Monopolisierungsprozesse führen zur Institutionalisierung gesellschaftlicher Chancen. Elias hat dies paradigmatisch an der Soziogenese des Staates aufgezeigt: mit der Monopolisierung der körperlichen Gewalttat hat sich der soziale Habitus des einzelnen Individuums geändert.

Annahme: Auch das, was man im Bereich der Pädagogik mit „Professionalisierung“, „Pädagogisierung der Gesellschaft“, „Expertenmacht“, „Beratungsboom“ etc. bezeichnet, steht für einen Prozess der Monopolisierung – für eine Monopolisierung der pädagogischen Kompetenz.

Mit der Monopolisierung ändert sich die soziale Kontrolle individuellen Handelns (Nach Elias verändert Sozialer Wandel, der zur Monopolisierung gesellschaftlicher Chancen führt, die soziale Kontrolle der Betroffenen. Elias hat dies beispielhaft an den Verhaltensweisen der Hofgesellschaften gezeigt).

Annahme: Auch mit der Monopolisierung pädagogischer Kompetenz hat sich durch die vorangetriebene Sensibilisierung für Fragen der Erziehung die soziale Kontrolle individuellen erzieherischen Handelns geändert.

Für die erklärende Diskussion im Rahmen der Elias’schen Zivilisationstheorie ergibt sich damit für die Arbeit folgendes argumentatives Verlaufsschema:

Figurative Veränderungen führen zu Monopolisierung und Institutionalisierung pädagogischer Kompetenz; das kann auch für die Figuration Familie gelten

Monopolisierung heißt: der ehemals privilegierende Besitz erzieherischer Autorität und Kompetenz auf Seiten der Eltern (Erzieher) gerät in einen Prozess Sozialen Wandels:

Dieser Prozess Sozialen Wandels führt zu einer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung pädagogischer Kompetenz, zu einer Institutionalisierung der Erziehung neben und außerhalb der Familie; damit verbunden ist eine Verschiebung der erzieherischen Verfügungsgewalt;

Mit dem Prozess der Monopolisierung pädagogischer Kompetenz ändert sich die soziale Kontrolle individuellen und erzieherischen Handelns (Elternkontrolle); Neben der Freisetzung neuer Handlungsmöglichkeiten für die Betroffenen, erreicht durch die Sensibilisierung für Fragen der Erziehung, entstehen neue Zwänge und Ängste, die ihrerseits einer weiteren Institutionalisierung und Professionalisierung Vorschub leisten.

Eine Folge der Monopolisierungsprozesse in der Erziehung ist, dass die Menschen in einer ganz neuen Weise für Erziehung sensibilisiert werden. Dar damit verbundene mögliche Gewinn an Erfahrung wird jedoch durch die historisch gleichzeitig ablaufende und diese erst ermöglichende Pädagogisierung der Gesellschaft zumindest teilweise an Experten abgetreten. Dort, wo die Erfahrung mit und in der Erziehung in konfliktträchtige Situationen umschlagen, endet die Zuständigkeit der „Laien-Pädagogen“. Hier setzt nun wieder die Definitionsmacht von Psychologie und Pädagogik ein. Denn sobald die sensibilisierten Erzieher an die Grenzen einer intakten Erziehung kommen, dieses sind bei einer prinzipiellen Infragestellung schnell erreicht, werden sie angehalten, sich den Experten anzuvertrauen. Kompetenzen Rat suchen, gehört ja mittlerweile zur sozialen Rolle des „aufgeklärten“ Erziehers (Illich empfiehlt hier bekanntlich seine entfremdungstheoretisch begründete Rückkehr zum einfachen Leben, zur Pädagogik in Selbstverantwortung).

Zwar hat die Institutionalisierung / Professionalisierung zweifellos auch zu einer Steigerung individueller Handlungschancen im Erziehungsbereich geführt – ich vermute jedoch, dass infolge der Entlastung durch Institutionen bzw. Experten, den Erziehern wesentliche Erfahrungen verwehrt bleiben, denn nicht selten stürzt die Steigerung individueller Handlungschancen die Betroffenen in eine neue Zwangslage: Es sind dies die Erfahrungen mit den Möglichkeiten „falschen Handelns“ sowie der Umgang mit den bewusst gewordenen Risiken der Erziehung. In solchen Fällen ist man dann nämlich wieder auf den Experten angewiesen.

Der Monopolprozess der Erziehung kann die Betroffenheit durch schwere Konflikte und Krisen in der Erziehung jedoch nicht abdecken. Es gehört wohl zu den allgemeinen Erfahrungen von Erziehern, dass wirkliche Hilfe in Problemfällen der Erziehung durch soziale Institutionen, Beratungsdienste, pädagogische Literatur, nicht oder nur unzureichend gesichert ist. Man kann vielleicht daher von einer soziogenen Angst vor Verlassenheit in Situationen äußerster Hilfsbedürftigkeit sprechen. Sie entsteht nach der Theorie der Zivilisation mit der Existenz gesellschaftlicher Monopolinstitute, die Erziehung als Risiko auch im Bewusstsein der Einzelnen ausdifferenzieren. Die öffentliche Diskussion über Erziehungsfragen setzt eine Suche nach zusätzlichen Hilfsangeboten und Garantien in Gang. Eine antizipierende Vergegenwärtigung der eigenen Hilflosigkeit, das Bewusstsein der eigenen latenten Fehlbarkeit, motiviert den Versuch, Verpflichtungen und Bindungen bei den Personen (Eltern) zu erzeigen, die sich dem Ersuchen um Hilfe durch einen Hinweis auf  gesellschaftliche Institutionen entziehen könnten.

Das Material der Untersuchung – „Ratgeber – Frau und Familie“

Erscheinung und Auflage:

Die monatlich erscheinende Zeitschrift „Ratgeber – Frau und Familie“ kam 1982 im 77. Jahrgang heraus. Seit 36 Jahren ist der „Ratgeber“ auf dem Zeitschriftenmarkt vertreten. Aus der Kundenzeitschrift der Firma Weck22 wurde im Jahr 1950 eine Publikumszeitschrift, von der zum Preis von 0,40 DM bei einer Druckauflage von knapp 100 000 Heften über 72 000 Exemplare verkauft wurden. Im ersten Halbjahr 1982 kam lt. IVW-Meldung23 die durchschnittlich verkaufte Auflage auf 440 196 Exemplare. Davon wurden 93% im Abonnement, die restlichen Hefte im Einzelverkauf abgesetzt. Ein Heft kostete im Jahr 1982 2,50 DM. Der am Zeitschriftenkiosk auch seines kleinen Formats wegen kaum in Erscheinung auftretende „Ratgeber“ nimmt im Vergleich mit den Auflagen anderer Frauen- und Familienzeitschriften eine gute Mittellage ein24.

Leserschaft und Verbreitung

Laut Media-Analyse 8225 sind 63% der Ratgeber-Leser Frauen. Das ist vom Titel der Zeitschrift her auch zu erwarten. Früher nannte sie sich „Ratgeber für Haus und Familie“, vormals trug sie den Titel „Frischhaltung, Ratgeber in allen Haushaltsfragen“.

Über 50% der Ratgeber-Leser sind zwischen 20 und 50 Jahre alt; 7% sind jünger und 40% älter. Dieser Altersstruktur entspricht, wie wir noch sehen werden, gewissermaßen auch die Inhaltsstruktur der Zeitschrift26.

Die Volksschule mit anschließender Lehrer haben 37% besucht; eine weiterführende Schule ohne Abitur 27% und 10% der Leser haben Abitur mit Hochschulausbildung. Dies entspricht in etwa der Verteilung in der Gesamtbevölkerung.

Überdurchschnittlich sind unter den Ratgeber-Lesern die Berufstätigen mit 51% (48% in der Gesamtbevölkerung) und die Nicht-Berufstätigen mit 26% (22% in der Gesamtbevölkerung) vertreten. Letztere dürften in der Regel „Nur-Hausfrauen“ sein, da in der MA’82 Rentner und Pensionisten eigens aufgeführt werden.

Stärker als im Bevölkerungsdurchschnitt (39% ) sind auch die Haushalte mit Kindern unter 14 Jahren mit 47% vertreten.

Die Übersicht über die Verteilung des monatlichen Netto-Haushaltseinkommens zeigt uns, das 60% der Ratgeber-Haushalte mehr als 2 500 DM zur Verfügung haben. In der Gesamtbevölkerung sind das nur 52% der Haushalte.

Ein Großteil der Haushaltsvorstände sind Angestellte und Beamte des einfachen und mittleren Dienstes. Facharbeiter sowie kleine und mittlere Selbständige (zusammen 78%), 11% fallen unter „sonstige Arbeiter“. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung gehören auch hier zur Leserschaft des Ratgebers die etwas „Besser-Gestellten“.

28% der Ratgeber-Leser finden sich in Wohnorten unter 5 000 Einwohnern, die Leserschaft ist damit in ausgesprochen ländlichen Gegenden, wo nur 14% der Bevölkerung wohnen, überproportional vertreten. Auf der anderen Seite kommen aber immerhin 45% der Leser aus Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern. Eine insgesamt uneinheitliche Verbreitung also. Der „Ratgeber“ ist in der ganzen Bundesrepublik einschließlich West-Berlin verbreitet. In Baden-Württemberg jedoch überdurchschnittlich stark27.

Wie schon erwähnt, wird nahezu die gesamt Auflage der Zeitschrift im Abonnement bezogen. Das deutet auf den Charakter einer ausgesprochenen Lese-Zeitschrift hin. So wird denn auch der „Ratgeber“ zu 84% ausschließlich zu Hause gelesen28. Mit einer ermittelten Lesedauer von 4,3 Tagen nimmt er im Vergleich zu anderen Zeitschriften (z.B. Stern mit 2,4 Lesetagen) eine Spitzenstellung ein. Die Lesezeit in Minuten gemessen beträgt 86 Minuten; für die Zeitschrift „Eltern“ werden 66 Minuten angegeben29.

Lässt sich nun aus den genannten Prozentangeben bereits der typische Ratgeber-Leser, oder sagen wir besser die typische Ratgeber-Leserin, angeben? Die sozio-demographischen Daten ergeben hier nur sehr grobe Anhaltspunkte – die Analyse der Inhaltsstruktur wird das Bild des typischen Lesers etwas abrunden helfen. Zunächst sei nur folgender Trend festgehalten: Die Leserin des Ratgebers ist mehrheitlich zwischen 30 und 50 Jahre alt, sie ist verheiratet, hat Kinder zu versorgen und ist sowohl berufstätig als auch Hausfrau. Sie hat die Volksschule besucht und eine Lehrer abgeschlossen. Sie ist ebenso auf dem Land wie in der Stadt zu Hause. Sie verfügt über ausreichend Haushaltsgeld ist aber andererseits auch gehalten sorgfältig die Preis/Wert-Relation beim Einkaufen zu beachten und sparsam zu wirtschaften. Wollte man eine Schichtzuordnung vornehmen, scheint mir eine Zuweisung des Ratgeber-Lesers zur unteren Mittelschicht bedingt gerechtfertigt zu sein30.

Zur Inhaltsstruktur des „Ratgebers“ - Anspruch und Selbstdarstellung:

Die Analyse der Inhaltsstruktur des „Ratgebers“ soll ergeben, was die Zeitschrift ihren Lesern anbietet – gleichzeitig wird damit deutlich werden, an wen sich der „Ratgeber“ wendet. Wir können also durch qualitative Auswertung der Inhaltsverzeichnisse, der Titelbilder, der Werbung in eigener Sache und der jeweiligen Vorschau aufs nächste Heft auch die Konturen des Adressaten der Zeitschrift besser erkennen, ganz abgesehen davon, dass uns eine solche Analyse den zeitschriftenimmanenten Rahmen für die Interpretation der erziehungsrelevanten Beiträge mitliefert.

Qualitativ ist diese Auswertung insofern, als aus dem Vorhandensein bzw. dem Nichtvorhandensein gewisser Statements auf Anspruch und Selbstdarstellung der Zeitschrift geschlossen werden kann.

Das Inhaltsverzeichnis:

Die verschiedenen Beiträge werden im „Ratgeber“ wie allgemein üblich in einzelnen Sparten zusammengefast und ermöglichen dem Leser so einen ersten Überblick. Die folgende Auflistung zeit eine Gegenüberstellung dieser Sparten für die Jahre 1955, 1965, 1975 und 1982.

Sparten im Jahrgang

Die Inhaltsverzeichnisse der aufgeführten Jahrgänge lassen sich auf 7 thematische Kategorien reduzieren. Der Wegfall einiger Themenbereiche, die noch in den 50er Jahren eigens aufgeführt werden, wie etwa die „Jugendseite“, „Allgemeines“ oder die „Männerecke“ verschwinden nicht wirklich, sondern gehen in anderen Sparten auf. „Hauptabnehmer“ sind hier die Sparten „Hobby, Reise, Unterhaltung“ und „Familie, Kind“. Die Themenvarianz ist insgesamt nicht sehr groß. Der „Ratgeber“ hat also über drei Jahrzehnte hinweg sein redaktionelles Grundkonzept beibehalten.

Die Vielfalt der Themenbereiche lässt zunächst einmal den Schluss zu, dass der „Ratgeber“ sich nicht einseitig auf einen Themenbereich ausrichtet. Genaueres wird die Untersuchung der jeweiligen Raumanteile erweisen. Im Gegensatz zu anderen Frauenzeitschriften beschränkt man sich nicht auf einige wenige Themen wie Mode, Kosmetik und Wohnen. Auffallend ist, dass der „Ratgeber“ einen höheren Anteil an redaktionellen Seiten bietet als viele der sog. klassischen Frauen-Titel. Die Themenübersicht macht aber auch deutlich, dass es sich hier eindeutig um eine Frauenzeitschrift handelt. Die Leserin des „Ratgebers“ kann bestimmt mit einem gleichbleibenden Kernbereich rechnen, dessen Titel mehrheitlich Frauen ansprechen.

Die Themenvorschau

Seit Anfang der 60er Jahre wirbt der „Ratgeber“ in jedem Heft für die nächste Nummer. In der jeweiligen Dezemberausgabe wird auf attraktive Themen des kommenden Heftes hingewiesen. In diesen Vorankündigungen wird die Leserin darauf aufmerksam gemacht, was sie im nächsten Heft erwarten darf und was sie auf keinen Fall versäumen sollte. Die Vorschau findet sich am Ende eines Heftes und umfasst ein bis zwei Seiten. Sie gibt nur einen Ausschnitt aus dem ganzen „Programm“ wieder; es sind sozusagen die „Leckerbissen“ der Zeitschrift. Dabei werden in d. R. zu jeder Sparte ein bis maximal vier Themen ausgewählt, von dene3n man sich eine besondere Anziehungskraft für den Leser verspricht.

Vergleicht man mehrere Folgehefte eines Jahrgangs hinsichtlich Vorschau und Inhaltsverzeichnis, zeigt sich, dass mit großer Regelmäßigkeit mit Themen aus allen Sparten geworben wird, wobei im Einzelnen in der Vorschau hin und wieder eine Sparte überrepräsentiert sein kann. Ein leichtes Übergewicht ist für Beiträge aus den Themenkategorien „Rezepte“ sowie „Haus und Garten“ festzustellen. Es gibt also kein ausgesprochenes „Zugthema“; das betrifft alle untersuchten Jahrgänge.  Es bestätigt sich hier die in den „Kontakt-Qualitäten“ für die Werbewirtschaft gemachte Aussage von der Ausgewogenheit des Redaktions-Spektrums“31.

Das Bild der „Ratgeber-Leserin“ rundet sich nun ab: Angesprochen wird die erfahrene Hausfrau, die sich ihr Interesse an Informationen über Haushaltsführung bewahrt hat. Sie ist, wie es in der „Psychographie der ‚Ratgeberin’ heißt, eine wirtschaftlich denkende Frau, die auch gern etwas Neues ausprobiert. Sie „ist insgesamt aktiv-interessiert, innovationsfreudig..., wird als Rat-Geberin bzw. als Expertin im Bereich Haushalt und Familie geschätzt... und gern angesprochen, wenn es um neue Haushaltsgeräte, um Wäschepflege, Kochrezepte, die Bewirtung von Gästen, um Kinder u. ä. geht.“32

Die Werbung in eigener Sache:

In den Januarheften, aber auch in der Jahresvorschau des jeweiligen Dezemberheftes, wendet sich der „Ratgeber“ direkt und meist in eigener Sache an seine Leser und Leserinnen. Er macht darin nicht nur auf ihm wichtig und attraktiv erscheinende Themen aufmerksam, sondern wirbt auch um Vertrauen. Das geschieht in der Darstellung seiner Zielsetzungen und in dem Aufbau eines ‚Ratgeber-Images’. Wie sich die Zeitschrift ihre typische Leserin vorstellt, macht das folgende Zitat aus dem Januarheft des Jahres 1954 deutlich:

„Es gibt hochbegabte Frauen, die sich mit Leichtigkeit in jeder Situation zurechtfinden. Sie wissen immer ganz von selbst, wie man eine Arbeit in die Finger nehmen muss, damit sie gelingt. Sie wissen mit dem Haushaltsgeld viel mehr anzufangen als andere mit der gleichen Summe. Sie verstehen es, mit schwierigen Kindern umzugehen, ein Heim schön zu gestalten, sich richtig zu kleiden, sich in Gesellschaft zu unterhalten – und sogar mit unangenehmen Leuten fertig zu werden. Aber solche Frauen sind selten, andere haben zwar für das eine oder andere eine sogenannte „glückliche Hand“ oder eine ausgesprochene Begabung auf einem bestimmten Gebiet. Viele andere aber auch brauchen Hilfe und Anleitung. Für sie gibt es immer wieder Situationen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen, weil sie zu wenig Bescheid wissen über Dinge, die sich vor ihnen zu einer scheinbar undurchdringlichen Mauer verdichten. In Wirklichkeit ist diese Mauer meist nur eine Hecke, durch die man hindurch könnte, wenn man wüsste wie!

Da will nun der Ratgeber allen Frauen, die es nicht so leicht und einfach haben, ein steter Helfer, Freund und Wegbereiter sein, der Anregungen und Ratschläge für alle Lebenslagen, vor allem aber für alle Belange der Haushaltsführung gibt. Er will dies aber auch sein für alle jene, die inmitten eines lebhaften Familienkreises stehen, zu Hause schalten und walten und Haus und Garten ihr eigen nennen, und nicht zuletzt auch für die vielen Frauen, die im Berufsleben stehen und nach Arbeitsschluss in ihrer kleinen Wohnung ihr bescheidenes Nachtmahl auf dem Kocher zubereiten – für all die verschiedenen Frauen also, die aber in einem alle gleich sind: Im Wunsche, eine gute Hausfrau zu sein!“ (1/54/1).

Das Titelbild:

Die Titelbilder der Jahrgänge 1954, 55, 58, 60, 61, 68, 75, 78, 81, 82 und 83 lassen sich nach zehn verschiedenen Motivkategorien ordnen. Die einzelnen Titelbilder stellen häufig Kombinationen dieser Motive dar. Für die verschiedenen Motivkategorien wurden die Anteile in Prozenten ermittelt. 100 Prozent entsprechen jeweils der Summe aller Motivkategorien eines Jahrgangs. Die folgende Übersicht zeigt die Ergebnisse33.

Eine grundlegende konzeptuelle Änderung im Zeitverlauf ist aus der insgesamt uneinheitlichen Verteilung einzelner Motivkategorien innerhalb und zwischen den einzelnen Jahrgängen nicht abzulesen. Deutlich treten jedoch bestimmte Schwerpunkt-Motive hervor, wenn die einzelnen Jahrgänge nach Jahrzehnten zusammengefasst und die Motivanteile gemittelt werden. Die Motivkategorie „Kinder“ nimmt dann in den 50er und 60er Jahren die beherrschende Stellung ein34, während „Mode“ und „Haushalt, Rezepte“ noch ganz wegfallen. In den 70er und 80er Jahren verteilen sich die Motivkategorien anteilsmäßig wesentlich gleichförmiger. Am häufigsten sind jetzt Bildmotive zu „Familie“, „Mädchen, Frauen“, „Mode“ und „Haushalt, Rezepte“. Dies könnte auf einen vorsichtigen Wandel des Selbstbildes der Zeitschrift hindeuten. Betrachtet man jedoch die Titelbilder im Zusammenhang mit Inhalt und Werbung in eigner Sache, ist allenfalls eine Tendenz zu einer an der praktischen Raterteilung orientierten „Uniformierung“ auszumachen. Die Titelbilder gegen nun eher das wieder, was der Leser im Heft an Themen erwarten darf; Vorankündigungen auf der Titelseite, die zur wiedergegebenen Abbildung passen, unterstützen dies.

Die Titelbilder der 50er und 60er Jahre waren demgegenüber in einem gewissen Sinne allgemeiner gehalten und weniger inhaltsbezogen. Sie glichen den bis heute üblichen Kalenderbildern des Einzelhandels, auf denen blühende Bergwiesen, südliche Landschaften und immer wieder Kinder in allen möglichen, meist recht niedlichen Positionen, Tiere und Blumen dargestellt sind. Die beliebteste Motivkombination für den frühen „Ratgeber“ ist: Kleinkind mit Tier im Arm vor schöner Landschaft, Beispiel „Bergbauernbub“.

Gleichbleibend hoch ist bis in die 80er Jahre hinein der Anteil der „Familienbilder“ über die einzelnen Jahrgänge hinweg: Familie im Frühlingsgarten, Familie beim Wandern, Familie beim Baden, Familie beim Ausprobieren neuer Rezepte etc. Auffallend dabei ist, dass in den ersten beiden Jahrzehnten des Erscheinens der Zeitschrift die Familie nur aus Mutter und Kind zu bestehen scheint; der Vater tritt erst in den 70er Jahren als Familienmitglied hinzu, wobei nun der Vater mit seinem Kind häufig allein, die „neue“ Vaterrolle dokumentierend, abgebildet ist.

Die Titelbilder der 90er Jahre werden von der Mode beherrscht, Bilder von kleinen Kindern, Essen und Trinken unterbrechen den modischen Reigen, Familienbilder sind selten geworden.

Charakterisierung der Zeitschrift:

Inhaltsverzeichnis, Eigenwerbung und Titelbild zusammen unterstreichen den Anspruch der Zeitschrift praktischer Ratgeber für Haushalt und Familie zu sein. Adressat ist die wirtschaftlich denkende Hausfrau, die ihrer Familie ein gemütliches Zuhause bereiten, den Kindern eine gute Mutter und dem Mann eine sorgende und attraktive Gattin sein will.

Raumanteile der verschiedenen Themenkategorien:

Die beiden folgenden Tabellen stufen den gesamten Inhalt der redaktionellen Seiten in die sieben Themenkategorien (s.o.) ein. Als materielle Grundlagen dienen in der Gegenüberstellung die Jahrgänge 1960 und 1982. Jedes dritte Heft eines Jahrgangs wurde ausgezählt. Die Tabellen enthalten Mittelwerte, die in Prozent den jeweiligen redaktionellen Anteil einer durchschnittlichen Ausgabe wiedergeben. Alle redaktionellen Seiten einer durchschnittlichen Ausgabe entsprechen 100%.

Um die Vergleichbarkeit verschiedener, weit auseinanderliegender Jahrgänge zu gewährleisten, mussten Themenkategorien gewählt werden, die „breit“ genug sind, die vorgefundene Themenvarianz aufzunehmen. Die in den Inhaltsverzeichnissen des „Ratgebers“ angegebenen Sparten bzw.  Themenkategorien sind mit den in den Tabellen gebrauchten nicht identisch, wenn auch die Abweichungen nicht gravierend sind. So wurden zur Sparte „Kind, Familie“ etwa auch Beiträge gezählt, die lt. Inhaltsverzeichnis in der Sparte „Allgemeines“ aufgeführt sind. Es handelt sich hier um Beiträge, die sich z.B. mit der Einschulung, dem Familienurlaub, Umgangsformen oder generell mit Themen beschäftigen, die für die qualitative Inhaltsanalyse der vorliegenden Untersuchung in Frage kommen. Nicht mitgezählt wurden hingegen Beiträge, die zwar lt. Inhaltsverzeichnis zur Sparte „Kind, Familie“ gehören, aber nicht eigentlich zum hier interessierenden Bereich ‚Kindererziehung’ und ‚Leitlinien der Erziehung’ gerechnet werden können.

In der Sparte „Sonstiges“ finden sich Inhaltsverzeichnisse, Vorschauen und interne Haumitteilungen, Reportagen, Verbraucherhinweise, Rechtsbelehrungen, wirtschaftskundliche Hinweise etc.

Die Prozentangaben der Stichproben weisen auf einen gleichbleibenden Anteil der Themenkategorie „Kind, Familie“ von durchschnittlich 12 % am gesamten redaktionellen Teil der Zeitschrift hin. Interessant ist in diesem Zusammenhang die vom Institut für Demoskopie, Allensbach für den „Ratgeber“ durchgeführte Studie zum Themen-Interesse und Themen-Angebot35. Danach gehören Beiträge zur Kindererziehung zu 45% zu den erwünschten Themen der Ratgeber-Leser, zu 73% aber zu den im „Ratgeber“ angebotenen. Diese nicht gerade hohe Übereinstimmung zwischen Themen-Erwartung und Themen-Angebot spricht zunächst einmal dafür, dass der „Ratgeber“ nicht der Erziehungsberatung wegen gekauft wird: diese wird vom Leser eher als „Beigabe“ angenommen. Dass der „Ratgeber“ aber wiederum auf diese Sparte nicht verzichtet oder sie umfänglich verkleinert hat, deutet auf ein gewisses „Aufklärungsbestreben“ auf diesem Gebiet hin. Darauf wird aber in der Interpretation später noch einzugehen sein.

Der Bereich „Kind und Familie“ im „Ratgeber“

Seit Erscheinen des „Ratgebers“ ist der Themenberiech „Kind und Familie“ in der Zeitschrift vertreten. Er nimmt konstant einen Anteil von 10 – 12% aller redaktionellen Seiten ein. Es soll nun untersucht werden, welche Inhaltsbereiche diese Sparte abdeckt und wie sich deren Gewichtung im Zeitverlauf von ca. 30 Jahren ausnimmt. Hierzu wurden alle dieser Sparte zurechenbaren Beiträge wieder zu Themenkategorien zusammengefasst und in Diagrammen dargestellt. Die Einteilung erfolgte nach 12 Kategorien:

Bei dieser Einteilung wurde in kauf genommen, dass möglicherweise auch „Nullmengen“ auftreten, dass also u.U. bestimmte Kategorien inhaltlich nicht aufgefüllt werden können.

Die folgenden vier Diagramme geben einen Überblick über die Gewichtung der Kategorien für die 50er, 60er, 70er und 80er Jahre. Die ausgezählten Beiträge entsprechen jeweils 100%. Die Zuordnung einzelner Beiträge ist nicht immer ganz eindeutig; bei offensichtlichen Überschneidungen, nehmen wir als Beispiel den Beitrag „Lassen Sie Ihre Tochter zur Tanzstunde gehen“ (8/57/572), wurden Mehrfachzuordnungen vorgenommen: (1) Geschlechtsrollen, (2) Freundschaft, Liebe, (3) Jugendprobleme. Beiträge, die keine oder nur mittelbar erziehungsrelevante Normen enthalten und mehr „technischer Natur“ sind, gleichwohl aber im redaktionellen Teil „Kind und Familie“ aufgeführt werden, finden keine Berücksichtigung.

50er Jahre: Themenkategorien in Prozent

60er Jahre

60er Jahre: Themenkategorien in Prozent

70er Jahre

70er Jahre: Themenkategorien in Prozent:

80er Jahre.

80er Jahre: Themenkategorien in Prozent:

Die Säulenhöhen stellen Mittelwerte dar, d.h. dass in den angegebenen Zeiträumen alle einschlägigen Beiträge zusammengezählt und dann die arithmetischen Mittel gebildet wurden; so kann etwa aus der vorgestellten grafischen Übersicht nicht ersehen werden, dass beispielsweise der Themenbereich „Umgangsformen“ in den frühen 50er Jahren wesentlich stärker vertreten war als gegen Ende dieses Jahrzehnts. Die Säulenwerte sind außerdem gerundet und lassen eine Differenzierung der einzelnen Säulen nur bis 1% zu; kleine Unterschiede werden also nicht veranschaulicht, können hier aber auch vernachlässigt werden, da aufgrund der nicht immer eindeutigen Zuordnung ohnehin nur gröbere Trends interpretiert werden können.

Veränderungen der Inhaltsstruktur

Ein Vergleich der Grafiken zeigt, dass die Themenkategorie „Krisen der Erziehung, Erzieherverhalten, Entwicklung“ über die Jahrzehnte hinweg stark vertreten ist und in den 80er Jahren das Doppelte ihres anfänglichen Umfanges erreicht. Dieser Zuwachs ist u.a. auf eine redaktionelle Neuerung zurückzuführen: Seit 1966 bietet der „Ratgeber“ einen psychologischen Beratungsdienst an, den jene Leser in Anspruch nehmen können, die mit ihren „Erziehungssorgen“ nicht allein fertig werden36. Das regelmäßige Aufgreifen von Problemfällen der Erziehung in Frage und Antwort durch einen ausgebildeten Psychologen sichert der Kategorie „Krisen der Erziehung, Erzieherverhalten, Entwicklungsprobleme“ seit Mitte der 60er Jahre einen gleichbleibenden hohen Anteil. Ein Vergleich der hier angesprochenen Themen zeigt, dass sich über die Jahrzehnte hinweg inhaltlich wenig geändert hat37. Typische „Fälle“ dieser Themenkategorie wie ‚Diebstahl bei Kindern’, ‚Unordentlichkeit’, ‚Einschlafschwierigkeiten’, ‚Aggressivität’, ‚Trotz’ etc. werden immer wieder aufgegriffen, im zeitlichen Längsschnitt betrachtet, jedoch mitunter verschieden gewertet, wie Inhaltsanalyse und Interpretation noch zeigen werden. Es sind sozusagen die Alltagsprobleme der Erziehung, die hier Berücksichtigung finden. Ein weiterer, seit den 50er Jahren umfänglich konstant gebliebener Bestandteil dieser Themenkategorie ist die Entwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr.

Zahlenmäßig zurückgegangen sind die Beiträge, die eine betonte Normierung der Geschlechterrollen vornehmen. Fragen der besonderen Mädchenerziehung, denen man sich noch in den 50er Jahren in eigenen Artikeln widmete, werden in den 70er und 80er Jahren kaum mehr aufgegriffen. Die Eltern in ihrer geschlechtlichen Vorbildfunktion als Mann und Frau bzw. Vater und Mutter sind in späteren Beiträgen „Nur mehr“ Freunde und Partner des Kindes.

Das Thema Sexualität nimmt in keinem der untersuchten Jahrgänge einen hohen Stellenwert ein. Vom Umgang mit der eigenen Sexualität ist in den 50er Jahren überhaupt nicht, in den 70er und 80er Jahren nur wenig die Rede.

Nicht völlig verschwunden, aber doch merklich zurückgegangen sind die Beiträge zum Thema Umgangsformen und Manieren. Serien wie „Höflich und nett – von A bis Z“ oder „Fibel des guten Tons“, die sich von Heft zu Heft fortsetzen, sind seit den 60er Jahren nicht mehr anzutreffen38, wenn man sich auch weiterhin diesem Thema in einzelnen Artikeln widmet. Der ursprünglich hohe Raumanteil dieser Kategorie wird jedoch nicht mehr erreicht.

Ein Problem im Bereich „Medien“ stellten für den „Ratgeber“ der 50er Jahre der Einfluss von Film, Funk und Fernsehen auf Kinder und Jugendliche dar; diesem Thema begegnet man seit den 70er Jahren nicht mehr so häufig. In etwa gleichgeblieben ist der Anteil derjenigen Beiträge, die sich um eine Vermittlung guter Kinder- und Jugendliteratur bemühen.

Einen vergleichsweise hohen Anteil mit steigender Tendenz verzeichnet die Kategorie „Lernen, Schule, Beruf“. Lernschwierigkeiten und Hausaufgaben sind in diesem Bereich die Standardthemen. Berufsbilder speziell für Frauen und Mädchen stellen einen weiteren bedeutenden Bestandteil dieser Inhaltskategorie dar.

Diskussion der Inhaltsstruktur des Themenbereichs „Kind und Erziehung“

Die Sparte „Kind und Familie“39 ist nicht nur in sich sehr heterogen – wir haben zwischen 12 Inhaltskategorien unterschieden – sie ist es auch formal.  Es lassen sich folgende Rubriken, in denen Erziehungsprobleme bzw. Standards der Erziehung angesprochen werden, unterschieden:

Die ‚Briefkästen’, in denen Leserbriefe beantwortet werden.

Serien, die ein spezielles Thema über mehrere Hefte hin verfolgen (z.B. „Eltern und Jugendschutz“, ab 4/68/436).

Einzelbeiträge im belehrenden Stil (z.B. „Ist Mutter wirklich altmodisch?“, 1/54/2).

Beiträge im unterhaltenden Stil (z.B. „Eva und der Gartenstuhl“, 6/55/348).

Berichte und Reportagen mit Kommentierung (z.B. „Räuber in kurzen Hosen – Die Straftaten von Kindern steigen an“, 11/65/1182).

Belehrende und moralische Beiträge in Briefform (z.B. „Ein bunter Schmetterling, den man Flirt nennt“, 7/68/796).

Informative Beiträge (z.B. „Wichtige Hinweise zur Säuglingspflege“, 9/55/592).

Zu 1.: Der Beratungsdienst der Zeitschrift im Stil ‚Der Leser fragt – Frau Elisabeth antwortet’ wird seit Mitte der 60er Jahre regelmäßig angeboten und endet mit Heft 12 des Jahrgangs 1983. Mit der Form „Leser fragen – Berater antworten“ wurde dem Leserinteresse wohl am unmittelbarsten entsprochen. Interessant, dass man sich in den 80er Jahren aus der direkten Beratung zurückzieht und stattdessen Themen in Form von Leserbriefen zur Diskussion stellt. Der Berater stellt lediglich strukturierende Fragen, hält sich aber selbst mit Ratschlägen weitgehend zurück (vgl. Dr. Ell stellt zur Diskussion).

Gelegentlich werden Fragen zur Erziehung aber auch in der Rubrik „Leserbriefe“, die seit Erscheinen der Zeitschrift existiert, beantwortet. Hauptsächlich geht es hier jedoch um eine Beratung in „guter Haushaltsführung“. Seit 1969 bietet die Zeitschrift zusätzlich einen „Kummerkasten für junge Leute“ an. In ihm wird jeden Monat der Brief „eines jungen Menschen“ veröffentlicht. Die Leser sind dann aufgefordert selbst die Antwort zu geben (vgl. 1/69/15). Die Meinung des Psychologen schließt sich diesen Antworten an. Mit diesem Beitrag soll offensichtlich der Kontakt zwischen Leser und Zeitschrift noch enger gestaltet werden, vor allem ist man auch daran interessiert junge Leser für die Zeitschrift zu gewinnen.

Zu 2.: Serienbeiträge finden sich zu irgendeinem Thema fast in jedem Heft des „Ratgebers“; das mag mit dem Charakter der Zeitschrift als ausgesprochener Lesezeitschrift zusammenhängen. Im Erziehungsteil sind es oft Beiträge zur Säuglingspflege, die sich von Heft zu Heft fortsetzen und bestimmte Entwicklungsphasen des Kindes abhandeln. Daneben wird das Thema Erziehung aber auch verschiedentlich in Serien angesprochen, die nicht zum redaktionellen Teil „Kind und Familie“ gehören. Eine Beitragsreihe, die dem weiblichen Standpunkt eine männliche Betrachtungseise gegenüberstellt, nennt sich „Wie er es sieht“ (ab Jg. 60). In ihr und im sog. „Männereck“ wird dann gelegentlich aus spezifisch männlicher Sicht das Verhältnis des Mannes zu Frau und Kindern – meist in amüsant-humorvoller Weise – beleuchtet40. Zu den langlebigsten Serien gehören in den 50er und 60er Jahren die Beiträge zu Umgangsformen und Manieren.

Zu 3.: Zahlreich vertreten sind im „Ratgeber“ Artikel mit moralisch-belehrendem Anspruch. Sie finden sich meist am Heftanfang und beschäftigen sich in der Regel mit der Rolle der Frau in der Familie, der geschlechtsspezifischen Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau, der Belastung der Frau durch Haushalt, Kindererziehung oder Beruf und mit Spannungen zu anderen Familienmitgliedern, die aus dieser Mehrfachbelastung entstehen können. Vielfach handelt es sich hier um Beiträge, die zu einer Harmonisierung des Familienlebens beitragen wollen oder die Frau in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter bestärken und rechtfertigen. Häufig wird auch auf die Mädchenerziehung und das besondere Verhältnis von Mutter und Tochter eingegangen.

Zu 4.: Auch im Unterhaltungsteil der Zeitschrift finden sich Beiträge, die implizit oder explizit Standards der Erziehung thematisieren. Hierzu zählen Kurzgeschichten und vor allem Beiträge, die aus der Abgrenzung der Geschlechtsrollen „Kapital’ ziehen41 oder etwa auch „drollige“ Kinderbilder, Witzzeichnungen und Comics für Kinder, in denen richtiges und falsches Verhalten illustriert und gegenübergestellt werden42.

Zu 5.: Berichte und Reportagen, die zur Inhaltskategorie „Kind und Familie“ gezählt werden können, nehmen meist Bezug auf bedenkliche Zeiterscheinungen wie Verwahrlosung, Teenagermode, gesundheitliche Gefährdungen oder etwa auch der Einstellung der Eltern zur Sexualaufklärung der Kinder43.

Zu 6.: Eine besondere Form der pädagogischen Beeinflussung durch den „Ratgeber“ stellen Beiträge in Briefform dar44. In persönlich gehaltenen Briefen an Ehefrau, Tochter oder Sohn werden bestimmte, meist störende Verhaltensweisen und Einstellungen des fiktiven Empfängers beschrieben, korrigiert und bewertet45.

Zu 7.: Beiträge informativen Charakters beziehen sich zum Großteil auf Themen aus den Bereichen Säuglingspflege und Gesundheit. Die Standardfragen sind hier: Wann sollte ein Kind wie und mit welchen Mitteln was bekommen? Oder Worauf ist beim Sonnenbaden, bei Verstopfung, unruhigem Schlaf, Ernährung etc. zu achten und welche Maßnahmen sind gegebenenfalls zu ergreifen, um das Kind vor Schaden zu bewahren?

Beratung in und durch Zeitschriften

Skizzierung der Beratungssituation

Jede Beratungssituation, die institutionelle, die alltägliche und auch diejenige, welche wir in den Ratgeber-Rubriken der Illustrierten und Frauenzeitschriften antreffen, strukturiert sich durch das Dreiecksverhältnis von Ratsucher, Problem und Ratgeber. Der Ratsuchende der Zeitschriftenberatung wendet sich aus freien Stücken, wenn auch nicht immer ohne inneren Zwang, an einen Ratgeber in der Hoffnung, von diesem Rat und Hilfe für ein ihn belastendes Problem zu finden. Er geht damit auf ein Angebot ein, das ihm vom „Ratgeberonkel“ einer Zeitschrift signalisiert bzw. offeriert wird46: „haben auch Sie Erziehungssorgen? Dann schreiben Sie an den ‚Ratgeber für Haus und Familie’, Kennwort ‚Erziehung’... Unser Mitarbeiter... wird Sie beraten... Wir leiten Ihr Schreiben diskret an unseren Mitarbeiter weiter, der Ihnen durch Brief antworten wird. Bei Veröffentlichung werden wir Ihren Namen natürlich weglassen... (vgl. 3/68/260).

Dass jemand überhaupt bei einem „qualifizierten“ Ratgeber, der gewöhnlich heute beruflich und vom Titel her auch als solcher ausgewiesen ist, um Rat nachsucht, mag von verschiedenen Faktoren abhängen.

Zunächst darf wohl davon ausgegangen werden, dass heute bei einer breiten Masse der Bevölkerung die Bereitschaft vorhanden ist, sich in allen für wichtig gehaltenen Dingen beraten zu lassen. Diesem Bedürfnis entsprechen auf dem Gebiet der Erziehung sog. Elternberater – gezielt für Eltern geschriebene Taschenbücher – aber auch Eltern- Familien- und Frauenzeitschriften, die entweder, wie die Zeitschrift „Eltern“, ausschließlich oder wie der „Ratgeber“ regelmäßig in eigenen Rubriken zu Fragen der Kindererziehung Stellung nehmen. Die Gründe für das Anwachsen der Beratungsliteratur, die eine Art Dolmetscherfunktion zwischen fachwissenschaftlichen Arbeiten zur Erziehung und rein an Erziehungsanweisungen orientierten Schriften einnimmt47, sollen hier nicht näher untersucht werden; es gehört jedoch schon fast zur Pflichtübung an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass in einer sich wandelnden Gesellschaft, in der die tradierten Normen und persönlichen Erfahrungen des einzelnen beständig in Frage gestellt werden, Information und Beratung der Erwachsenen über Erziehung eine große Bedeutung erlangt haben. Hinzu kommt die zunehmende Pädagogisierung vieler Lebensbereiche, die zusätzlich für eine verstärkte Nachfrage nach Beratung sorgt48.

Zeitschriften, die für sich in Anspruch nehmen in kompetenter Weise Lösungen für alle familiären Probleme anbieten zu können, machen sich diese „Notsituation“ des „Verbrauchers“ zunutze. Sie vertrauen offensichtlich darauf, dass die Beratung in Erziehungsfragen nicht mehr nur im engeren Familien- oder Bekanntenkreis gesucht wird. Für viele Menschen ist es scheinbar leichter, sich mit ihren Problemen an „Dr. Brand“ oder „Frau Irene“ zu wenden, als an einen ihnen nahestehenden Menschen oder gar eine öffentliche Einrichtung, wie z.B. eine Familien- oder Erziehungsberatungsstelle.

Ratsuche in der Zeitschriftenberatung:

Was mag nun den einzelnen Ratsucher dazu veranlassen, sich Rat und Information gerade in einer Zeitschrift zu suchen? Gründe sozio-kultureller Art49 sollen hier nicht weiter erörtert werden. Behalten wir vielmehr die individuellen Motive des heutigen Lesers im Auge.

Der Leser ohne besonderes Interesse für Fragen der Erziehung mag wohl eher aus Neugier einen Blick in entsprechende Beiträge werfen und sich vielleicht nur hie und da informieren wollen wie andere „es machen“, ohne gleich Konsequenzen für sein eigenes Handeln zu ziehen. Der stärker Interessierte wird vergleichen und die eine oder andere Empfehlung für sein eigenes Verhalten in Erwägung ziehen. Dabei werden sich die meisten auch nur in der Richtung beeinflussen lassen, in die sie ohnehin schon vorher gehen wollten50. Dass ein Einfluss von Massenkommunikationsmitteln überhaupt unterstellt werden darf, dass in unserem Falle von der Zeitschriftenberatung eine Wirkung erwartet werden kann, macht E. Noelle-Neumann in einer Bemerkung zu diesem Thema deutlich. Aus zahlreichen Beobachtungen zieht sie den Schluss, „dass die Massenkommunikationsmittel einen um so größeren Einfluss auf das Denken und Handeln der Menschen haben, je mehr der gebotene Stoff, der Inhalt der Kommunikation, auf die Praxis des Alltags bezogen ist, oder je größer soziale und psychologische Bedeutung er hat“51.

Wir dürfen also ein allgemeines Interesse an Beratung, auch an Erziehungsberatung in Zeitschriften unterstellen. Und offenbar genügt vielen Menschen die allgemeine, unverbindliche Beratung nicht, sie suchen den brieflichen Kontakt zur personifizierten Beratung im sog. „Briefkasten“, den viele Zeitschriften verstärkt seit den 60er Jahren anbieten. Versuchen wir nun die Situation eines solchen Ratsuchenden näher zu beleuchten, denn sie wird uns Aufschluss über Inhalt und Form der Raterteilung geben.

Den Ratsuchenden veranlasst wohl zunächst die subjektiv empfundene Dringlichkeit seines „Falles“ sich um eine Beratung zu bemühen. Für viele Menschen mag dies nicht leicht sein, steht man doch in der Gefahr, sich, wenn auch anonym, eine Blöße zu geben, wenn man andere um Rat fragt und damit zugibt, dass man Probleme hat, die man selbst nicht meistern kann. „So scheuen sich manche Leute, ihre Sorgen vorzutragen, weil sie in einem kleinen Ort wohnen und fürchten, sie würden damit in der Öffentlichkeit oder Bekannten gegenüber bloßgestellt“52. Auch gilt es eine gewisse Schwellenangst zu überwinden, wenn man sich als Ratsuchender vertrauensvoll einem Unbekannten gegenüber öffnen und Schwächen sowie Fehler seinerseits zugeben soll53. Dabei mag die Anonymität der Illustriertenberatung dem Ratsuchenden noch einen gewissen Schutz geben, mehr als in der direkten Begegnung mit dem Therapeuten ist ihm hier ein Rückzug möglich, allerdings auch die Gefahr, dass man seinem Problem letzten Endes durch Nicht-Identifikation wieder ausweicht.

Problemdruck und allgemeine Akzeptanz von Beratung alle können aber noch nicht das Annehmen und Nutzen des Beratungsangebots erklären; hinzukommen muss beim Ratsuchenden die Überzeugung, dass er hierdurch seine persönliche Lage verbessern kann und dass der Berater für qualifiziert genug gehalten wird, ihn in seiner individuell besonderen und einmaligen Situation verstehen und damit helfen zu können.

Ob jemand um Rat nachsucht, wird natürlich auch davon abhängen, inwieweit man Kenntnis von der Möglichkeit einer persönlichen Beratung hat, was man beim Leser einer Zeitschrift mit Beratungsangebot allerdings voraussetzen kann. Ein Faktor übrigens, der in einer zunehmend „therapeutisierten“ Gesellschaft wohl an Bedeutung auch in den sog. unteren Bevölkerungsschichten verloren hat.

Viele werden jedoch trotz Problemdruck und der Überzeugung, dass ihnen geholfen werden könnte, nicht um Rat nachfragen, weil ihnen die form der Beratung nicht zusagt: Sich schriftlich oder mündlich, in Briefform oder im persönlichen Gegenüber zu äußern, und damit gegebenenfalls vor ein größeres Publikum zu treten, ist schließlich nicht jedermanns Sache. Wir dürfen daher annehmen, dass auch die Ratsuchenden in den Zeitschriften eine besondere Auswahl der Gesamtleserschaft ausmachen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, wie eine solche Auswahl die Beratung in Form und Inhalt selbst wiederum beeinflusst.

Und letztlich mag es auch von der Attraktivität des Beratungsangebots und des Beraters abhängen, ob jemand den Mut findet, sich auf eine Beratung in einer Illustrierten einzulassen. Eine Vertrauen schaffende Maßnahme ist hier schon die Fotografie des Erziehungsberaters im Kreise seiner eigenen Familie, wie sie etwas im „Ratgeber“ zu finden ist oder auch die Vorstellung des Ratgebers anhand einer Kurzbiografie, die sowohl auf die berufliche Qualifikation Bezug nimmt als auch die Kompetenz qua Lebenserfahrung berücksichtigt (vgl. 9/69/1158). Der Ratgeber ist also dem Ratsuchenden in d. R. kein Unbekannter. Der Frager wendet sich vielmehr an „eine Autorität, die ihm aus veröffentlichten Antworten schon bekannt ist“54.

Was kann der Ratsuchende erwarten?

Wir können wohl annehmen, dass die Bereitschaft Rat anzunehmen beim Ratsuchenden schwindet, wenn er das Gefühl haben muss, dass er vom Berater weder mit seinen Problemen angenommen noch verstanden wird. Aus der Kritik an sog. „Kommunikationssperren“ hat man etwa für die partnerzentrierte Beratung folgende Verhaltenseigenschaften vom Berater gefordert (die ihn damit für den Ratsuchenden attraktiv machen):

emotionale Wärme, Akzeptieren und Achten des Klienten (Akzeptanz);

einfühlendes Verstehen (Empathie); und

Echtheit im Verhalten (Kongruenz).

Das Akzeptieren und Achten des Ratsuchenden erfordert vom Berater, dass er die Aussagen des Ratsuchenden nicht sofort negativ bewertet. Empathie heißt, dass der Berater sich in die Gefühlslage des Ratsuchenden einfühlen soll. Die emotionale Wärme des Beraters will besagen, dass dieser sich „echt“ verhält; seine Gefühle also, mit aller gebotenen Vorsicht natürlich, klar zum Ausdruck bringt55.

Hier wird nun deutlich, dass in der schriftlichen Kommunikation zwischen Berater und Ratsuchendem in der Zeitschriftenberatung diese drei Grundhaltungen des Beraters zwar auch durchgehalten werden56, aber doch nicht so zum Ausdruck kommen können, wie in der ‚face to face’ – Situation des verbal und nonverbal geführten Beratungsgesprächs. So sind gerade hier Gesprächsmethoden wie die Techniken des Paraphrasierens und des Verbalisierens emotionaler Erlebnisse, die zur Verbesserung der Beratung führen sollen, nicht oder doch nur sehr eingeschränkt möglich.

Der Verzicht auf eine persönliche Begegnung zwischen Ratsuchendem und Ratgeber ist jedoch auch und gerade unter therapeutischen Gesichtspunkten nicht ausschließlich negativ zu werten. Im Gegenteil: „Durch das Alleinsein beim Schreiben (eines Briefes, d. V.) ist man wie beim Tagebuch nicht gehemmt durch die unmittelbare Gegenwart eines Partners, wie dies beim Gespräch mehr oder weniger stark der Fall ist“57.

Was unterscheidet die Zeitschriftenberatung von anderen Beratungssituationen?

In der Zeitschriftenberatung erfährt der Berater und noch mehr das Publikum in d. R. wenig über die Normen und Wertvorstellungen, die sozialen, wirtschaftlichen, räumlichen und zeitlichen Abhängigkeiten, in denen der Ratsuchende steht und die sein Handeln, Denken und Fühlen beeinflussen58. Und das ist das Besondere dieser Art von Beratung: sie richtet sich eben nicht nur an den Ratsuchenden selbst, sondern auch an ein Publikum. So kann ein Fall schon im Interesse der noch anderen interessierenden Fälle nicht „ewig“ behandelt und ausgebreitet werden. Beschränkt sich der Kontakt zwischen Ratsuchendem und Ratgeber nicht auf ein einmaliges, druckwürdiges Ereignis, so bleibt dies doch dem Publikum in der Regel verborgen. Eine Kontrolle im Sinne katamnetischer Erhebungen ist hier jedenfalls noch weniger denkbar als im Rahmen einer Erziehungsberatungsstelle59. Vom therapeutischen Standpunkt aus mag der Wert einer solchen Kurzbehandlung angezweifelt werden. Und ist die Illustriertenberatung auch nicht selten nichts weiter als ein Frage- und Antwortspiel (mit Unterhaltungswert freilich) zweier mehr oder weniger anonymer Gesprächspartner, die, so zumindest der Berater, mit Blick auf das große Publikum agieren60, so lassen sich aber doch auch hier trotz unterschiedlicher Bedingungen im Vergleich zur „normalen gesprächsorientierten Beratung partnerzentrierte Grundhaltungen durchhalten. Das geht auch aus einer Befragung von Zeitschriftenberatern durch den Verfasser deutlich hervor: Danach gehört es zu den „guten Eigenschaften“ eines (Zeitschriften)Beraters „zwischen den Zeilen das eigentliche Anliegen zu finden“, „Einfühlungsvermögen“ zu zeigen, d. h. „beim oder im Ratsuchenden“ zu sein61.

Wir wollen uns jedoch nicht über therapeutischen Wert oder Unwert der Zeitschriftenberatung weiter auslassen, unser Interesse geht in eine andere Richtung62. Was den stark reduzierten Beratungsprozess der Zeitschriften-Beratung angeht, das individuelle und zeitlich prinzipiell unbeschränkte Eingehen auf die jeweilige Problemlage, ist für unsere Zwecke nun doch von Vorteil.

Verallgemeinerbare Normen und Werthaltungen spiegeln sich hier, wo sowohl einem einzelnen als auch einer breiten Leserschaft Rat, und zwar praktischer Rat, gegeben wird, deutlicher wieder als wir dies vom einmaligen Protokoll einer gesprächstherapeutischen Sitzung erwarten können. Die Zeitschriftenberatung, die ja keine persönliche Begegnung zulässt, muss „zwangsläufig pauschaler“ sein und „aus der Ferne allgemeine Ratschläge“ erteilen63.

Die Zeitschriften machen Beratungsangebote für aktuelle Lebensfragen, d. h., dass einzelne, vom Ratgeber der Leserschaft präsentierte Fallbeispiele, wiewohl sie immer auch den Einzelfall behandeln, doch repräsentativen Charakter für die Problemlage vieler haben64. Der Leser möchte und soll sich im vorgestellten Fall wiedererkennen und Nutzen aus der angebotenen Beratung ziehen65. So sieht denn auch der §Ratgeber“ seine Funktion schon im Titel der Zeitschrift eindeutig deklariert. „Den Lesern wird eine Vielzahl an Themen geboten in Form von praktischer Beratung und Anleitung, praxisnahen Tipps und Hinweisen sowie aktuellen Informationen.“66