Vergessen wir Europa? - Adolf Muschg - E-Book

Vergessen wir Europa? E-Book

Adolf Muschg

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Beschreibung

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 3. Oktober 2012 forderte Adolf Muschg in Hinblick auf die europäische Finanz- und Schuldenkrise eine gemeinsame europäische Politik. Der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler kritisiert Geiz und Gier als die Grundlagen des aktuellen globalisierten Marktes und wünscht sich "eine Wende wie 1989".Mit funkelnder Rhetorik verurteilt Muschg blindes Wirtschaftswachstum als "Vorspiel apokalyptischer Verteilungskämpfe" und mahnt, dass Europa mehr auf das Kapital seiner Geschichte zurückgreifen müsste: die Entstehung der Demokratie im klassischen Griechenland. Unter Rückgriff auf das Neue Testament und auf Jacob Burckardts politische Ideen plädiert Adolf Muschg für eine Europäische Idee, bei der die Partner über radikal-ökonomisches Denken hinaus füreinander einstehen.Kurz nach seiner Rede wurde der Europäischen Union der Friedensnobelpreis zugesprochen, und so gewinnt Muschgs vielbeachtete Rede, die hier in leicht aktualisierter Form erscheint, weitere Bedeutung.

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Seitenzahl: 27

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Göttinger Sudelblätter

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Herausgegeben von

Thorsten Ahrend und

Thedel v. Wallmoden

Adolf Muschg

Vergessen wir Europa?

Eine Gegenrede

Die Rede von Adolf Muschg wurde unter dem Titel»Europa, die schwere Geburt« am 3. Oktober 2012 zum Tagder Deutschen Einheit im ehemaligen Bundestag in Bonn,im Rahmen der »Wasserwerk-Gespräche«der Konrad-Adenauer-Stiftung gehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.deVom Verlag gesetzt aus der Stempel GaramondDruck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1269-2ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2405-3ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2404-6

Meine Damen und Herren,

zuerst möchte ich danken, daß ich als Schweizer zum Tag der Deutschen Einheit reden darf – in diesem Raum, aus dem in meinen jüngeren Jahren auch zu diesem Thema große Debatten übertragen wurden. Sie scheinen mir farbiger als die heutigen, auch wenn das Bild anfangs noch schwarz-weiß war. Aber auch die Welt war noch klar in Freund und Feind geteilt und ließ die Vereinigung einer Republik, die ihre Seite so unwiderruflich gewählt hatte, mit ihrem ebenfalls deutschen, aber keineswegs demokratischen Widerpart als illusorisch erscheinen, und für viele Freunde der Bundesrepublik nicht einmal als wünschbar. Diese hatte der doppelten Einbindung in NATO und EG jedes Pochen auf den Vorrang nationaler Interessen geopfert, nicht nur taktisch, sondern faktisch. Und dieser Verzicht wurde nicht nur von verdientem Wohlstand honoriert, sondern aufgewogen durch soliden Gewinn an internationalem Respekt; auch durch eine diskret behandelte Zunahme an politischem Gewicht.

Vor 1989 war nicht einmal der israelische Geheimdienst auf die epochale Wende gefaßt gewesen, die überraschende und überraschend unblutige Implosion des Sowjetblocks. Die Weltgeschichte verhielt sich viel unberechenbarer als die Bundesrepublik, und Kohl zeigte sich als geistesgegenwärtiger Staatsmann, als er mit den Machthabern der Gegenseite, bevor ihnen ihre eigene Macht entglitt, in kürzester Frist die deutsche Einheit aushandelte, ohne dabei die Stützen des bisherigen Bündnisses zu beschädigen. Dieses Wunder besiegelte damals nicht nur das Ende der DDR, sondern auch der alten Bundesrepublik, ohne daß die neue damit zur unbekannten Größe geworden wäre. Die Wende erwies sich auch als unglaublicher Glücksfall für die Europäische Union. Eigentlich ist es noch immer kaum zu fassen, daß wir heute ein in Freiheit zusammengekommenes Bündnis von 27 europäischen Staaten haben, die sich, nehmt alles nur in allem, rechtsstaatlicher Verhältnisse und eines noch nie dagewesenen Wohlstands erfreuen.

Noch viel weniger allerdings ist zu fassen, daß sich dieses Bündnis auf der Höhe seiner Errungenschaft in einer Existenzkrise befinden soll und daß sich ausgerechnet die gemeinsame Währung als Sprengstoff erweist; selbst das Schwergewicht der Union, Deutschland, droht europäisches Gemeinwohl wieder nationalem Eigennutz unterzuordnen. Was gestern noch Reichtum war, schlägt plötzlich als Schulden zu Buch. Was ist da geschehen, und warum geschieht es immer weiter?