Verkaufte Zukunft - Jens Beckert - E-Book

Verkaufte Zukunft E-Book

Jens Beckert

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Beschreibung

Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2024

»Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten? Das ist die Leitfrage dieses Buches.«

Seit Jahrzehnten wissen wir um die Erderwärmung und ihre Gefährlichkeit. Dennoch nehmen die globalen Treibhausgasemissionen weiter zu. Offenbar gelingt es uns nicht, den Klimawandel zu stoppen. Wie lässt sich dieses Versagen erklären? Warum reagieren Gesellschaften so zögerlich auf diese Bedrohung? In seinem neuen Buch gibt Jens Beckert eine Antwort. Dass die erforderlichen Maßnahmen nicht ergriffen werden, liegt an der Beschaffenheit der Macht- und Anreizstrukturen für Unternehmen, Politiker, Wähler und Konsumenten. Die bittere Wahrheit ist: Wir verkaufen unsere Zukunft für die nächsten Quartalszahlen, das kommende Wahlergebnis und das heutige Vergnügen.

Anhand von zahlreichen Beispielen und mit sozialwissenschaftlichem Besteck zeigt Beckert, warum es sich beim Klimawandel um ein »tückisches« Problem handelt, an dem die sich seit 500 Jahren entwickelnde kapitalistische Moderne aufgrund ihrer institutionellen und kulturellen Strukturen fast zwangsläufig scheitern muss. Die Temperaturen werden also weiter steigen, die sozialen und politischen Auseinandersetzungen werden sich verschärfen. Anpassungsfähigkeit, Resilienz und vor allem solidarisches Handeln sind gefragt. Daraus ergeben sich Aufgaben für eine realistische Klimapolitik.

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Cover

Titel

3Jens Beckert

Verkaufte Zukunft

Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Ikon Images/Thomas Kuhlenbeck/Science Photo Library

eISBN 978-3-518-77876-0

www.suhrkamp.de

Widmung

7Für Beatrice und Jasper

In welcher Welt werdet ihr leben?

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

1  Wissen ohne Wandel

2  Kapitalistische Moderne

3  Big Oil

4  Der zögernde Staat

5  Wohlstand weltweit

6  Konsum ohne Grenze

7  Grünes Wachstum

8  Planetare Grenzen

9  Wie weiter?

Anmerkungen

1 Wissen ohne Wandel

2 Kapitalistische Moderne

3 Big Oil

4 Der zögernde Staat

5 Wohlstand weltweit

6 Konsum ohne Grenze

7 Grünes Wachstum

8 Planetare Grenzen

9 Wie weiter?

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8Die Natur verliert immer. Wenn es um wirtschaftliche Angelegenheiten geht, ist das die Regel.

– Renato Valencia1

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9 Wissen ohne Wandel

Im Herbst 2022 berichtet der amerikanische Autor Tom Kizzia von einer Kreuzfahrt zum Glacier-Bay-Nationalpark im Süden Alaskas, einer von gewaltigen Gletschern überzogenen Landschaft.1 Von Bord aus beobachtet er den Sturz wuchtiger Eisbrocken in die Arktische See. Dieses eindrückliche Naturschauspiel des Kalbens der Gletscher war einmal, so schreibt Kizzia, ein erhabenes Erlebnis der Kraft und Schönheit einer fast unberührten Natur. Heute hingegen könne man gar nicht anders, als den Abbruch des Gletschereises als Menetekel eines sich beschleunigenden und unkontrollierten Prozesses der Naturzerstörung zu erleben. Jeder »weiße Donner« des abbrechenden Eises fühle sich an wie ein weiterer Verlust.

Verstörende Bilder veränderter Naturprozesse und der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen sind allgegenwärtig. Häufig bekunden diese Bilder erhebliches Leid, etwa für Menschen in Pakistan, die in Booten durch überschwemmte Dörfer rudern, für verzweifelte Familien auf dem Dach ihres Hauses im Ahrtal oder für Kalifornier, die fassungslos vor den Ruinen ihres abgebrannten Hauses stehen. Keines dieser Naturereignisse lässt sich kausal dem Klimawandel zurechnen, doch die signifikante Zunahme von Extremwetterereignissen mit verheerenden Folgen ist das Resultat menschengemachter Erderwärmung, verursacht durch den Anstieg des Gehalts von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen in der Atmosphäre. Wir wissen dies seit einem halben Jahrhundert, ohne dass dieser Prozess gestoppt worden wäre.

Ganz im Gegenteil. Während der letzten 50 Jahre ist der jährliche globale Ausstoß an Kohlendioxid nicht etwa zurückgegangen, sondern hat sich verdreifacht. Allein in den letzten 30 Jahren ist 10so viel CO2 in die Atmosphäre emittiert worden wie in den vorangegangenen 200 Jahren zusammen.2 Die Folge ist ein historisch einmaliger steiler Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur, eine Entwicklung, die Klimaforscher als »die große Beschleunigung« bezeichnen. Bis heute hat sich die Temperatur um fast 1,2 Grad Celsius gegenüber dem frühen 19. Jahrhundert erhöht (siehe Abb. 1). Der gegenwärtige Pfad, bei dem der Ausstoß von Treibhausgasen weltweit weiter steigt, wird in den nächsten 80 Jahren die globale Durchschnittstemperatur um noch einmal ungefähr 1,3 Grad erhöhen – vorausgesetzt die gegenwärtigen Klimaschutzversprechen werden auch umgesetzt.3

Abb. 1: Die weltweite Lufttemperatur der letzten 2000 Jahre. Quelle: nach IPCC AR6, WG I (2021).

Die menschengemachte Veränderung der Biosphäre führt zur Beschädigung oder Zerstörung von Teilen derjenigen ökologischen Nische, in der menschliche Kultur stabil bestehen kann. Ungewiss bleibt, ob Gesellschaften sich angesichts der zu erwartenden Klimaerwärmung an die veränderten Lebensgrundlagen anpassen können.4 Die krisenhaften Folgen des Klimawandels – das vermehrte Auftreten von Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen, 11großflächigen Bränden, aber auch die Reduzierung der Artenvielfalt und das Ansteigen des Meeresspiegels – haben das Potenzial, Gesellschaften in erheblichem Maß zu destabilisieren. Fragen sozialer Ungleichheit werden sich in weit verschärfter Form als heute stellen, und zwar sowohl zwischen dem globalen Norden und dem besonders betroffenen globalen Süden als auch zwischen wohlhabenden und ärmeren sozialen Schichten. Klimaflüchtlinge, Wasserknappheit, Hungersnöte und immer höhere Aufwendungen für den Schutz vor Naturgewalten auch in den reichen Ländern führen zu neuen Verteilungskämpfen und der realen Möglichkeit des sozialen Kontrollverlustes.

Auch wenn längst nicht alle kausalen Wirkungsketten des hochkomplexen Klimasystems verstanden oder auch nur bekannt sind und die bestehenden Modelle ständig verfeinert und an neues Wissen angepasst werden müssen, steht zweifelsfrei fest, wohin die Reise geht und wie drastisch sich die Lebensbedingungen auf der Erde ändern werden. Mit anderen Worten: Der Klimawandel ist heute nicht mehr vornehmlich eine Herausforderung für die naturwissenschaftliche Forschung. Er ist aber auch nicht mehr primär eine technische Herausforderung. Viele Technologien zur Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen sind entwickelt und könnten klimaschädliche Technologien ersetzen. Es gibt hinreichendes Wissen zur Begründung und Durchführung weitreichender politischer Entscheidungen, veränderten Wirtschaftens und einschneidender Verhaltensänderungen. Doch diesem Wissen folgen keine Taten beziehungsweise: Sie folgen viel zu langsam und sind flagrant ungenügend. Dass die tatsächlich getroffenen Maßnahmen so weit hinter dem, was erforderlich wäre, zurückbleiben, macht den Klimawandel zu einem vor allem an die Sozialwissenschaften zu adressierenden Problem. Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten? Das ist die Leitfrage dieses Buches.

Ihre Beantwortung muss die sozialen, politischen und wirt12schaftlichen Prozesse in den Vordergrund rücken, in denen gesellschaftliche Entwicklung stattfindet. Hierbei stehen die Wachstums- und Gewinnlogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit seiner Machtverteilung, die politischen Legitimationsprobleme demokratischer politischer Systeme sowie Fragen der kulturellen Identität und der Statuskonkurrenz von Bürgern und Konsumenten im Mittelpunkt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen und die Bekämpfung des Klimawandels sind untrennbar verbunden mit Macht und Kultur – und damit Thema der Sozialwissenschaften, die bekanntlich komplexe soziotechnische Systeme und sozialen Wandel in Verbindung mit wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen untersuchen.

Wie also prägen die Funktionsweise von kapitalistischer Marktwirtschaft, parlamentarischer Demokratie und eine individualistische Kultur den Umgang mit der natürlichen Umwelt?5 Meine diesbezügliche These lautet schlicht: Die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen blockieren eine Lösung des globalen Problems namens Klimawandel. Das ist für sich genommen zunächst nichts Besonderes. Auch andere grundlegende soziale Probleme stoßen auf Machtstrukturen, die ihre Lösung verhindern. Man denke nur an die nach wie vor bestehenden skandalösen Formen von Armut und sozialer Ungleichheit. Doch während man hinsichtlich Armut und sozialer Ungleichheit immer die Hoffnung hegen kann, dass sie sich irgendwann in der Zukunft verringern lassen und eine gerechtere Welt entsteht, liegen die Dinge beim Klimawandel anders. Dieser zeichnet sich nämlich durch eine zeitliche Struktur aus, bei der das Aufschieben von Entscheidungen zu Entwicklungen führt, die unumkehrbar sind. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat die Besonderheit der Temporalität des Klimawandels auf den Punkt gebracht: »Beim Klimaproblem und in der ganzen Diskussion über die ›Gefährlichkeit‹ des Klimawandels sind wir […] mit einem begrenzten Zeitplan und Sofortmaßnahmen konfrontiert. Und doch 13haben mächtige Weltnationen versucht, das Problem mit einem Apparat zu bewältigen, der für Maßnahmen nach einem unbefristeten Zeitplan gedacht gewesen war.«6

Der für den Klimawandel geltende »begrenzte Zeitplan« führt allerdings nicht dazu, dass diese Aufgabe mit einer größeren Entschlossenheit angegangen würde als solche mit »unbefristetem Zeitplan«. Das liegt daran, dass die Struktur des Problems die vorherrschenden Macht- und Anreizstrukturen nicht oder nicht ausreichend ändert. Fakt ist: Der kurzfristige Gewinn aus der Vermeidung von Klimakosten übersteigt den gegenwärtigen Nutzen zukünftiger Klimasicherheit. Denn die positiven Wirkungen von aufwendigen Klimaschutzmaßnahmen würden ja erst eintreten, wenn die Zeit eigener Verantwortung bereits vorbei ist, würden also »nur« späteren Generationen zugutekommen. Manch einer mag auch denken, dass er persönlich den Folgen des Klimawandels auszuweichen vermag, betroffen seien nur »die anderen«. Allenfalls ein ideelles Interesse am Wohlergehen zukünftiger Generationen, das vermutlich am stärksten in Vorstellungen des zukünftigen Lebens der eigenen Kinder und Kindeskinder zum Ausdruck kommt, oder gar (wenn auch weniger wahrscheinlich) am Schicksal »der anderen« schafft Motive, das Handeln an weiter entfernt liegenden Zeithorizonten auszurichten.

Weil sich die Entscheidungshorizonte von Unternehmen, Politik und Bürgern also an kurzfristigen Opportunitäten orientieren, werden die zukünftig zu erwartenden negativen Auswirkungen der Missachtung von Umweltschäden übersehen oder heruntergespielt.7 So bleibt das Gemeinschaftsgut der natürlichen Umwelt eine ausbeutbare Ressource, die am Markt mit Gewinn verkauft und dabei zugleich zerstört wird. In diesem Sinn spreche ich von »verkaufter Zukunft«.8

Wieder und wieder hört man in politischen Diskussionen zum Klimawandel Sätze wie: »Wir müssten doch nur x machen«, oder: »Warum beschließen wir nicht endlich y?« »x« könnte dann der Aus14bau der Windkraft sein, »y« die Festlegung von Nutzungsgrenzen für den Verbrauch natürlicher Ressourcen oder die Erhöhung der Preise für Benzin und Fleisch. Die entscheidende Frage lautet allerdings: Wer ist eigentlich »wir«? Sie ist deshalb entscheidend, weil Veränderungen handlungsmächtiger und handlungswilliger Akteure bedürfen, die über die Ressourcen verfügen, Umgestaltungen durchzusetzen, und zwar in einem umkämpften Feld, bevölkert von einer Vielzahl anderer Akteure, die ganz unterschiedliche Interessen und Ziele haben, zu denen vielleicht, vielleicht aber auch nicht der Klimaschutz gehört. Jedes politische Handeln findet außerdem in einem Dickicht von Regeln, Praktiken und Institutionen, aber auch Werten und Gewohnheiten statt, das Akteure in Strukturen und Opportunitäten einbindet, die bestimmte Anreize setzen, Handlungsräume definieren und damit Entscheidungen formen. Damit sind wir bei der Funktionslogik der kapitalistischen Moderne angelangt, also desjenigen Gesellschaftssystems, das seit 500 Jahren unseren Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen bestimmt und auch den gegenwärtigen Reaktionen auf den Klimawandel seinen Stempel aufdrückt, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde.

Dass diese Reaktionen bei Weitem nicht angemessen sind, belegt schon der ungebrochene Anstieg der Erderwärmung (siehe Abb. 1). Aber was wäre angemessen? Sofortige Klimaneutralität? Eine Erwärmung um drei Grad bis zum Ende des Jahrhunderts? Und: »angemessen« für wen? Eine ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung würde hier nicht weiterhelfen, weil die in sie eingehenden Annahmen viel zu beliebig sind.9 Vielmehr braucht es etwas von der Art einer Norm, und das gibt es ja auch: Die meisten Staaten der Welt haben sich zu Klimazielen verpflichtet, insbesondere im Rahmen des Pariser Klimaabkommens von 2015, das von über 190 Ländern ratifiziert wurde. In diesem wurde das Ziel festgelegt, durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Steigerung der globalen Durchschnittstemperatur gegenüber dem 15vorindustriellen Niveau möglichst auf 1,5 Grad Celsius, auf jeden Fall aber klar unter 2 Grad Celsius beschränkt wird. Angemessenes Handeln hätte also geheißen, im Sinne der Erreichung dieses Ziels zu handeln.

Wie es um das tatsächliche Handeln bestellt ist, lässt sich an der bekannten Grafik ablesen, in der der UNO-Klimarat (IPCC) die Verringerungen von Treibhausgasemissionen abbildet, die in den kommenden Jahrzehnten nötig sind, um die Pariser Klimaziele zu erreichen (siehe Abb. 2). Die bisherigen Maßnahmen zum Klimaschutz verflachen die Kurve der Steigerung der Emissionen zwar, reichen aber längst nicht aus.10 Natürlich: Man kann immer hoffen, dass in der Zukunft alles anders wird, doch ein Blick auf die Kurve zeigt unmissverständlich, dass dies Wunschdenken ist. Es bedürfte einer Vollbremsung, die nicht und nirgends in Sicht ist. Und so wird es aller Voraussicht nach keinem der Unterzeichnerstaaten des Pariser Klimaabkommens gelingen, die vereinbarten Klimaziele einzuhalten.11 Das wird entweder eingestanden oder die Illusion, dass es klappen könnte, wird aus politischen Motiven aufrechterhalten, weil man andernfalls befürchtet, dass auch noch das unzureichende Engagement in Sachen Klimaschutz nachlässt und sich Resignation breitmacht.

Abb. 2: Globale Netto-Treibhausgasemissionen in Gigatonnen CO2-Äquivalente pro Jahr (Mittelwerte). Quelle: IPCC 2023. Climate Change. 2023 Synthesis Report Summary for Policymakers.

Die Frage, warum es nicht gelingt, die notwendigen Pläne zu verabschieden und politisch gesetzte Ziele zu erreichen, lässt sich beantworten, und genau das werde ich in diesem Buch tun. Meine Überlegungen führen mich zu einem pessimistischen Schluss: Die Maßnahmen, die erforderlich sind, werden nicht getroffen. Selbstverständlich können auch Sozialwissenschaftler nicht in die Zukunft sehen und sind oft genug von wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen überrascht worden. Doch der Klimawandel ist kein ausschließlich zukünftiges Geschehen. Er findet heute statt und hat bereits zu bedeutenden Zerstörungen geführt. Um es noch einmal zu sagen: Wir wissen seit Jahrzehnten um die Gefahren des Treibhausgasausstoßes. Wir wissen, dass sich in den letzten 30 Jah16ren trotz regelmäßiger hochrangiger internationaler Klimakonferenzen der jährliche globale Kohlendioxidausstoß um mehr als die Hälfte erhöht hat und bis heute jedes Jahr neue Höchststände markiert. Und wir wissen eigentlich auch, dass die geplanten Maßnahmen nicht dazu führen werden, dass die vereinbarten Klimaziele eingehalten werden. Hierfür müssten die jährlichen globalen 17Emissionen laut dem IPPC – dem »Weltklimarat« – bis 2030 um 50 Prozent niedriger liegen, als derzeit prognostiziert, und bis 2050 sogar um 85 Prozent.12 In Deutschland müssten die CO2-Emissionen bis 2030 entsprechend um jährlich 6 Prozent sinken. Seit 2010 waren es jährlich aber nur 2 Prozent im Durchschnitt. Theoretisch könnte sich dies natürlich ändern. Doch das ist keine plausible Erwartung, sondern: »Greenwishing«.13

Die nötigen Veränderungen bedürften nämlich grundlegend veränderter wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Strukturen. Ein solcher tiefgreifender Wandel ist überhaupt nicht in Sicht und wäre ohnehin nur über einen längeren Zeitraum zu bewerkstelligen. In Sachen Klimawandel käme er jedenfalls zu spät. Daher geht die Internationale Energieagentur (IEA) in ihrer Prognose unter Einbeziehung aktuell geplanter Maßnahmen zur Energiewende davon aus, dass der globale Ausstoß von CO2 durch fossile Energieträger 2025 mit 37 Milliarden Tonnen zwar seinen Höhepunkt erreichen, allerdings bis 2050 nur auf 32 Milliarden Tonnen zurückgehen wird.14 Die Einsparungen finden vornehmlich in den hoch entwickelten Industrieländern statt. Deutschland etwa plant, bis 2030 den CO2-Ausstoß um zwei Drittel gegenüber 1990 zu verringern.15 Wie es aussieht, wird das nicht klappen. Doch selbst wenn das hier und vereinzelt in anderen Ländern klappen sollte, bleibt der Beitrag begrenzt. Denn global betrachtet werden auch 2050 voraussichtlich noch 60 Prozent des Energiebedarfs aus fossilen Energiequellen gedeckt werden.16 Auf Basis ihrer Daten rechnet die IEA daher mit einem globalen Temperaturanstieg auf insgesamt 2,5 Grad Celsius bis zum Jahr 2100.

Ich hätte das Buch auch im Futurum exaktum schreiben können, was man mir als übermäßige Schwarzseherei auslegen mag. Doch nach meinem Verständnis geht es hier um etwas anderes, nämlich um einen nachdenklichen Realismus auf empirischer Grundlage. Mit Walter Benjamin gesprochen: Ich will dazu beitragen, den Pessimismus, der sich aus der nüchternen Beobachtung der Situation 18ergibt, »zu organisieren«17 – ihm eine konzeptionelle Struktur zu geben, die es erlaubt, die Mechanismen besser zu verstehen, die hinter der unangemessenen Reaktion auf den Klimawandel stehen. Hierzu gehört die Einsicht, dass aus der steigenden Gefahr eben nicht das Rettende wächst, und das kollektive Betrauern dessen, was wir verlieren werden.18 Die Hoffnung wäre, dass sich aus einer solchen realistischen Sichtweise auch Anstöße für ein verändertes politisches Handeln ergeben und die mentale Anpassung an die Folgen der veränderten Lebensbedingungen auf diesem Planeten gestärkt wird. Die Welt steuert auf eine weitere signifikante Klimaerwärmung zu. Die Folgen für Natur und Mensch werden erheblich sein, lassen sich aber im Vorhinein nicht genau spezifizieren.

Weil die gesellschaftlichen Folgen des Klimawandels eine multifaktorielle Angelegenheit sind, sind auch die Sozialwissenschaften nicht zu Vorhersagen in der Lage. Sie können bestenfalls verschiedene Szenarien entwickeln und diese ausloten. Mein Szenario malt nicht den zivilisatorischen Zusammenbruch an die Wand, geht jedoch davon aus, dass der fortschreitende Klimawandel den – allgemein gesprochen – »sozialen Stress« und damit die gesellschaftlichen Konflikte weiter erhöhen wird. Gerechnet werden muss mit bedeutsamen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verwerfungen. Diese werden zwar regional unterschiedlich ausgeprägt sein, aber insgesamt werden die Gesellschaften durch virulenter werdende Verteilungskämpfe in Unruhe geraten. In einer um 2 oder 2,5 Grad erwärmten Welt, in der große Teile des Wohlstands für die Reparatur von Klimaschäden und die Klimaanpassung aufgebracht werden müssen, wird es sehr viel schwieriger sein, demokratische soziale Ordnungen oder auch nur ein friedliches Zusammenleben zu organisieren. Anders als bei Finanzkrisen oder Pandemien sind die klimabedingten Schäden irreversibel und die Gefahren auf Dauer gestellt. Eine solche Welt wird verglichen mit der heutigen eine ärmere sein. Es wird mehr Leid geben und es wird höchst ungleich verteilt sein.

19Und es wird keine Welt ohne Kapitalismus sein. »Das Ende des Kapitalismus«19 wird auch angesichts der Klimakrise nicht kommen, denn diese ist keine Krise des Wirtschaftssystems. Unternehmen werden in den veränderten klimatischen Bedingungen sogar viele neue Geschäftsmöglichkeiten finden. Wenn es heißer wird, werden mehr Klimaanlagen verkauft und müssen neue Getreidesorten entwickelt werden. Solaranlagen müssen hergestellt und installiert werden, Dämme gebaut. Die grüne Transformation und der Klimawandel sind zynischerweise auch eine gewaltige Chance für Unternehmen. Gut möglich, dass wir eine erneute Häutung der kapitalistischen Moderne erleben, die sich in einem gewaltigen wirtschaftlichen Transformationsprozess auf ein neues sozioökonomisches Regime einstellt, ausgerichtet auf die verstärkte Dekarbonisierung der Energieversorgung und angepasst an die neuen klimatischen Bedingungen, zumindest in den hoch entwickelten Industrieländern. Diese Neuorientierung wird in genau der Weise und in dem Ausmaß stattfinden, die Gewinn- und Machtinteressen sowie politische und kulturelle Strukturen zulassen. Weder die Orientierung des wirtschaftlichen Handelns an Gewinnmaximierung noch der Wachstumszwang werden dabei grundlegend infrage gestellt, und auch nicht Überkonsumtion und globale Ungleichheit. Vielmehr verlagert die Gewinnerwirtschaftung lediglich ihre sachlichen Bezüge. Ob dies in einer um 2,5 Grad erwärmten Welt mit stabilen sozialen und politischen Ordnungsstrukturen kompatibel sein wird, ist völlig offen. Denn in einer solchen Welt wird der Widerspruch zwischen der auf ständiges Wachstum ausgerichteten kapitalistischen Moderne und den Folgen der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen für die Menschen immer dramatischer zutage treten.

Zukunftsvorhersagen sind jedoch nur am Rande ein Thema dieses Buches. Im Mittelpunkt stehen – wie gesagt – die ungenügenden Reaktionen von Gesellschaften auf den Klimawandel, zu deren Verständnis ich durch die Betrachtung wirtschaftlicher, po20litischer und kultureller Prozesse beitragen möchte. Dass ich mich dabei auf den Klimawandel konzentriere, andere Umweltkrisen wie etwa die Umweltverschmutzung und den Verlust von Artenvielfalt hingegen nur streife, soll keinesfalls heißen, dass diese weniger wichtig seien. Vielmehr glaube ich, dass der Umgang mit dem Klimawandel in vielen hier untersuchten Hinsichten exemplarischen Charakter hat für den Umgang mit ökologischen Krisen als solchen. Dazu gehört, dass der Klimawandel, so wie viele der anderen ökologischen Krisen, das ist, was man ein tückisches Problem nennt.20 Tückische Probleme sind so beschaffen, dass es für sie keine einfach benennbare Lösung gibt, mit der sie sich abhaken ließen. Das unterscheidet sie von zahmen Problemen, etwa dem Ozonloch. Hier gab es eine eindeutige Ursache, der man, nachdem man sie identifiziert hatte, mit einer vergleichsweise überschaubaren Maßnahme an den Kragen gehen konnte: dem Ersatz von Fluorkohlenwasserstoffen (FCKW), zum Beispiel in Kühlschränken.21 Der Klimawandel ist nicht zahm, sondern charakterisiert durch komplexe Interdependenzen und Dilemmata auf zahlreichen Ebenen, die keine Masterlösung zulassen. Wie bei allen tückischen Problemen kann auch hier nur schrittweise nach pragmatischen Wegen gesucht werden, die einen besseren Umgang mit ihm ermöglichen und zu Teilantworten führen. Daher kann dies auch kein Buch der einfachen Botschaften sein, nach dem Muster: »Die Lage ist ernst. Hier sind zehn Vorschläge, wie wir sie doch noch meistern.«

Stattdessen beleuchte ich Prozesse in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und zeige, wie die diesen Prozessen zugrunde liegenden Mechanismen angemessene Reaktionen auf den Klimawandel blockieren. Dafür nutze ich ein einfaches Modell, dem zufolge Wirtschaft, Politik, Bürger und Konsumenten zueinander in Konflikt stehen, zugleich aber aufeinander angewiesen sind und wechselseitig von ihren jeweiligen Leistungen profitieren. Ihre Leistungen erbringen sie und ihre Konflikte bearbeiten sie in erheblichem Ma21ße unter Inkaufnahme der Zerstörung der natürlichen Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens. Die Natur kann sich dagegen nicht »wehren«, weil sie über keine eigene Stimme verfügt. In der Klimakrise, so wird sich zeigen, äußern sich die – aus meiner Sicht – nahezu unüberbrückbaren Widersprüche zwischen der Funktionsweise der kapitalistischen Moderne und dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Meine Analyse dieser Widersprüche in den genannten gesellschaftlichen Sphären soll auch den Blick dafür weiten, wie unter den verfahrenen Bedingungen dennoch klug und verantwortungsbewusst gehandelt werden kann.

In Kapitel 2 lege ich zunächst die Grundlagen für die Argumentation. Ich beschreibe die sich in der kapitalistischen Moderne ausbreitenden institutionellen und kulturellen Mechanismen, die das Handeln von Unternehmen, Staat, Bürgern und Konsumenten in der Klimakrise bestimmen. Danach – in den Kapiteln 3, 4, 5 und 6 – stelle ich für Wirtschaft, Staat und Konsumenten dar, wie sich die Mechanismen im Handeln jeweils umsetzen und zu der unangemessenen Reaktion auf den Klimawandel führen. In Kapitel 7 und 8 setze ich mich dann mit der verbreiteten Vorstellung auseinander, die ökologische Krise könne durch ein Regime des »grünen Wachstums« gelöst werden. Ich bestreite nicht, dass die Dekarbonisierung des Energieverbrauchs enorm wichtig ist, zeige aber, weshalb unter den Bedingungen eines Wirtschaftssystems, das auf ständiges Wachstum hin ausgelegt ist, auch dieser Weg nicht zu einer angemessenen Reaktion führt.

Schließlich wende ich mich in Kapitel 9 möglichen Handlungsoptionen zu. Keineswegs führt mein nachdenklicher Realismus zwingend in einen Zustand der Resignation. Ja, die klimapolitischen Maßnahmen der vergangenen 30 Jahre waren unzureichend, aber wenn sie konsequent umgesetzt werden, wird sich die erwartete Klimaerwärmung wahrscheinlich in dem Korridor zwischen 2,2 und 2,9 Grad Celsius bewegen. Das ist nicht nichts, angesichts dessen, dass wir sonst in einem Korridor zwischen 3,6 und 4,2 Grad 22Celsius gelandet wären.22 Am Ende des Buches überlege ich, wie Klimaschutz unter den in der kapitalistischen Moderne gegebenen Bedingungen möglichst gut befördert werden kann und wie sich Gesellschaften auf ein Leben unter veränderten klimatischen Bedingungen einstellen können. Wie gesagt: Ein geringerer Treibhausgasausstoß ist durchaus ein relevantes Ergebnis.23 Der Eintritt der Folgen des Klimawandels könnte möglicherweise hinausgezögert werden, die Folgen könnten geringer ausfallen. Damit würde Zeit gewonnen, in der sich vielleicht die gesellschaftlichen und technischen Bedingungen für das Handeln ändern. Außerdem können Vorkehrungen getroffen werden, um für das, was kommt, besser gewappnet zu sein.24

Den Sozialwissenschaften kommt bei diesem Thema die Rolle zu, auch politisch relevante Ansatzpunkte zu identifizieren, ohne den Befund auszublenden, dass es uns wahrscheinlich nicht gelingen wird, den Klimawandel als solchen zu stoppen. Wie können Gesellschaften der kapitalistischen Moderne die kollektiven sozialen Prozesse beeinflussen, die den Umgang mit der Natur bestimmen? Letztlich geht es darum, die Bereitschaft in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu stärken, der Antwort auf den Klimawandel einen größeren Stellenwert einzuräumen und Einsatz und Verteilung knapper wirtschaftlicher Ressourcen neu zu kalibrieren. Dies wird in einer durch den Klimawandel politisch und sozial erwartbar unbeständigeren Welt eine riesige Herausforderung sein, weil der Ressourcenbedarf für die Bekämpfung der Folgen des Klimawandels steigen wird. Dabei wird man abwägen müssen: zwischen der Finanzierung von Maßnahmen zur Reduzierung des Treibhausgasausstoßes und der von Anpassungsmaßnahmen an die klimatisch veränderten Lebensbedingungen; und auch zwischen den Ausgaben für die Klimapolitik insgesamt und der Finanzierung der unzähligen anderen gesellschaftlichen Aufgaben, die weiterhin auf dem Tisch liegen – von maroden Schulen über beschädigte Brücken und nicht einsatzbereitem Kriegsgerät bis hin zu unterfinanzierten 23öffentlichen Gesundheitssystemen. Wohlgemerkt: Das Problem ist nicht allein eines der Finanzen, sondern auch eines der Mobilisierung politischer und moralischer Ressourcen in der Gesellschaft, die man braucht, um nachhaltige Transformationen in Gang zu setzen, aber auch, um diejenige soziale Resilienz aufzubauen, die in einer um mehr als 2 Grad erwärmten Welt benötigt wird.

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24 Kapitalistische Moderne

Die gesellschaftlichen Strukturen, die heutiges Handeln in der Klimakrise bestimmen, entstanden während der letzten 500 Jahre. Wirtschaftshistoriker beschreiben, wie sich das Gefüge der kapitalistischen Moderne ab dem späten 15. Jahrhundert in einigen Zentren entwickelte, zunächst langsam, später dann mit atemberaubender Dynamik.1 Knotenpunkte der Produktion, des Handels und der Finanzen bildeten sich etwa in Norditalien, Frankreich, England und den Niederlanden, und sie waren nicht selten bereits global vernetzt. Zugleich blieb agrarisch und lokal geprägtes Wirtschaften für die allermeisten Menschen prägend. Mit der neuartigen Ökonomie kamen sie anfangs allenfalls punktuell in Berührung.2

Ein zentraler Aspekt dieser Frühphase des Kapitalismus war die Ausweitung privater Eigentumsrechte über große Teile der von bäuerlichen Gemeinschaften zusammen genutzten Flächen durch sogenannte Einhegungen. Das zuvor gemeinsam als Allmende bewirtschaftete Land wurde Landbesitzern als Privateigentum zugeschlagen, wodurch große Teile der ländlichen Bevölkerung zu abhängigen Landarbeitern oder zu vagabundierenden Tagelöhnern wurden. Diese standen als Arbeitskräfte den entstehenden Manufakturen und später den Fabriken in den Industriestädten zur Verfügung.3 Die Verfügbarkeit von Lohnarbeit ist eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Eine zweite tiefgreifende Entwicklung bestand in der Aneignung der Reichtümer in den gewaltsam unterworfenen Gebieten in Amerika, Afrika und Asien. Die Einführung der Sklaverei auf dem amerikanischen Kontinent, die Ausbeutung der Bodenschätze und der Arbeitskräfte in den Kolonien und ihre Nutzung als Absatzmärkte 25beförderten jene Kapitalbildung in Europa, die Voraussetzung für die im späten 18. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung war, die wiederum die enorme Steigerung beim Verbrauch fossiler Energieträger auslöste.4

Erst mit der Industrialisierung begann die umfassende Vertiefung und Expansion der kapitalistischen Moderne. Ab diesem Zeitpunkt verbreiterten sich Marktbeziehungen durchgreifend, die auf Lohnarbeit, kolonialer Herrschaft sowie technologischen und institutionellen Innovationen basierten und nur durch die massive Ausweitung der Nutzung fossiler Energieträger möglich wurden.5 Damit setzte im globalen Norden eine zuvor unbekannte Steigerung des Wohlstands und des Energieverbrauchs ein. Etwas früher begann mit der Aufklärung eine grundlegende kulturelle Transformation, die bis heute dominierende politische und normative Prinzipien wie etwa die Ideen des Fortschritts, der Gleichheit und der Selbstbestimmtheit des Individuums hervorbrachte und auch unser Verständnis von Natur bis heute prägt.

Die Ausweitung von Marktstrukturen und diese kulturellen Transformationen bestimmen unseren Umgang mit der Natur. Wenn ich von kapitalistischer Moderne spreche, so bezeichne ich damit ein Gesellschaftsmodell, das sich durch beides auszeichnet: marktbasierte und gewinnorientierte Wirtschaftsstrukturen sowie politische und kulturelle Komponenten des Individualismus und des Fortschrittsglaubens, die mit den Wirtschaftsstrukturen eng verflochten sind. Beide Aspekte vereinen sich in den heutigen Gesellschaftsstrukturen, die auf Wachstum, Ressourcenextraktion und individuelle Autonomie hin ausgerichtet sind. Für die Beantwortung der Frage, weshalb moderne Gesellschaften ihre natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, müssen daher sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen und kulturellen Aspekte der kapitalistischen Moderne Beachtung finden. Sie zeigen sich in der Organisation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und begründen die Dilemmata, die zum drohenden Scheitern am Klimawandel führen.

26Wesentlich für die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaft ist die Ausbreitung von Märkten als Institutionen der Verteilung von Waren, Geld und Arbeit. Märkte und Konkurrenz selbst sind keine Erfindung der kapitalistischen Moderne. Allerdings waren Märkte in vormodernen Gesellschaften auf den Tausch bestimmter Waren beschränkt und in hohem Maß sozial reguliert, weil sie als gefährlich für den sozialen Zusammenhalt von Gemeinschaften galten.6 Tausch war »ursprünglich eine Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden«, schrieb der Soziologe Max Weber.7 Neu ist die Verallgemeinerung von Märkten, ihre sachliche, räumliche und zeitliche Ausdehnung und insbesondere die großflächige Einbeziehung von Geld und Arbeitskraft in den Marktmechanismus. Neu ist auch die umfassende globale Vernetzung von Märkten, die es in Teilen zwar bereits seit vielen Jahrhunderten gab, als umfassendes wirtschaftliches Phänomen aber erst im 19. Jahrhundert zum Durchbruch kam. Dass die globalisierte Wirtschaft fast jeden Winkel der Welt durchdringt, ist sogar erst ein Faktum des 20. Jahrhunderts – wenn man an die Entwicklung Chinas und die Transformation der vormals staatssozialistischen Länder Osteuropas denkt, ein Phänomen sogar erst der letzten 30, 40 Jahre.8

Mit dem Kapitalismus werden neue Mechanismen prägend, die wirtschaftliches Handeln bestimmen. Private Eigentumsrechte ermöglichen die individuelle Aneignung von Gewinnen und strukturieren Gesellschaften als Klassengesellschaften. Das Gesellschaftsrecht ermöglicht Haftungsbeschränkungen für Investoren und damit die Begrenzung individuell zu tragender Risiken, was ebenso wie Standardisierungen und neue Formen der Unternehmensorganisation eine wichtige Voraussetzung für die Ausweitung wirtschaftlicher Aktivitäten ist.9 Nationalstaatsbildung, Handelsabkommen und koloniale Herrschaft sichern Marktzugänge und ermöglichen damit wirtschaftliche Expansion durch Spezialisierung, Rohstoffbeschaffung, die Entstehung großteiliger Produktionsstrukturen und Öffnung von Absatzmärkten. Zugleich zieht 27der Wettbewerb die Akteure in einen Prozess der ständigen Neuerung hinein. Durch Innovationen müssen sie sicherstellen, gegenüber ihren Konkurrenten nicht ins Hintertreffen zu geraten. Unternehmer, die dem Innovationsgebot nicht Folge leisten, können am Markt nicht bestehen. Der Ökonom Joseph Schumpeter belegte dies mit dem Begriff »kreative Zerstörung«.10 Damit wird eine auf Neuerungen und Wachstum beruhende Dynamik in das Wirtschaftssystem eingeführt, die unaufhaltsam ist. Erzwungen wird dieser Prozess auch durch die Kreditfinanzierung unternehmerischer Aktivitäten, die deren Ausweitung durch einen Vorgriff auf die Zukunft ermöglicht, zugleich aber die Orientierung an ununterbrochenem Wachstum erfordert, weil das geliehene Kapital verzinst werden muss. Für die Kapitalbesitzer bedeutet die Investition ihres Geldes die Chance, es zu mehren, worin der Anreiz besteht, es überhaupt in den Wirtschaftsprozess einzubringen.

Bei diesen institutionellen Veränderungen der Wirtschaft waren staatliche Eliten keineswegs außen vor. Ganz im Gegenteil: Sie spielten eine zentrale Rolle. In Europa war es der moderne Staat, der durch die Schaffung eines zunächst nationalen Wirtschaftsraums, durch den Bau von Transportwegen, durch die Festlegung von Gewichts- und Mengenmaßen, die Aufhebung der Vorrechte der Zünfte und den Aufbau eines einheitlichen Geldwesens die Voraussetzungen für die Entwicklung der modernen kapitalistischen Wirtschaft schuf.11 Global wurde die moderne Wirtschaft zudem mit staatlichen Repressionen und Kanonenbooten aus ihren Startlöchern geholt. Für die aufstrebenden kapitalistischen Ökonomien im 20. Jahrhundert, etwa in Asien, ist staatliche Steuerung ebenfalls von enormer Bedeutung.12Last, but not least haben auch die modernen Wissenschaften ihren Beitrag zur Entfaltung der kapitalistischen Moderne geleistet. Ihre Anfänge liegen im 16. Jahrhundert, in einer Zeit also, als der Industriekapitalismus noch nicht existierte.

Kapitalistische Ökonomien sind von ihren institutionellen Struk28turen her auf unbegrenzte Ausweitung angelegt. Die Wirtschaftsform verwirklicht durch kontinuierliche Landnahme, also die Einbeziehung immer neuer Regionen, neuer Objekte, weiterer Akteure und der Zukunft, einen dynamischen Mechanismus der Gewinnerwirtschaftung.13 Es entsteht ein historisch einmaliges System unbegrenzten Wachstums, das lediglich hin und wieder von Wirtschaftskrisen unterbrochen wird. Technologische Entwicklungen sind dabei von zentraler Bedeutung, weil durch sie der Verwertungsprozess von natürlichen Ressourcen und Arbeitskräften beschleunigt und ausgeweitet werden kann. Staatliche Unterstützung sichert das Wirtschaftshandeln außerdem ab. Doch der Motor des Systems besteht in der Ausrichtung wirtschaftlichen Handelns an der Logik der Kapitalvermehrung, die – wie gesagt – auf individuellen Eigentumsrechten an Kapital basiert. Wirtschaftliche Aktivitäten werden in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht begonnen, weil konkrete Bedürfnisse nach Kleidung, Urlaub oder Mobilität erfüllt werden sollen, sondern weil die Eigentümer von Kapital von den Aktivitäten die Vermehrung ihres Vermögens erwarten. Manager durchforsten ständig im Auftrag der Vermögensbesitzer die ganze Welt nach neuen gewinnversprechenden Investitionsmöglichkeiten. Aus der Struktur des Wirtschaftssystems erwächst somit ein Druck zu permanenter Veränderung und immer weiterem Wachstum.

Für die Produktion von wirtschaftlichem Wohlstand – zumindest im globalen Norden – ist diese Wirtschaftsform eine historisch einmalige Erfolgsgeschichte. Langfristige Entwicklungslinien des wirtschaftlichen Reichtums lassen erkennen, dass Gesellschaften über Jahrhunderte fast stagnierten, dann aber im 19. Jahrhundert ein steiler und bis heute anhaltender Anstieg der globalen Wirtschaftsleistung einsetzte. Zwar waren Gesellschaften nicht immer gleich reich, es gab immer wieder Phasen größerer Prosperität und Phasen des ökonomischen Niedergangs. Im Vergleich zur Reichtumsentwicklung seit der industriellen Revolution werden 29diese Schwankungen aber beinahe bedeutungslos, was die historische Einmaligkeit der Wirtschaftsentwicklung der letzten 200 Jahre unterstreicht (siehe Abb. 3).

Abb. 3: Wachstum des globalen Pro-Kopf-BIP. Quelle: Angus Maddison, The World Economy. A Millennial Perspective, OECD, Paris 2001, S. 264 (Schaubild B-21).

Schon früh wurde die im Kapitalismus herrschende Ausbeutung der Arbeiter (und ihrer Familien) sowie die Ungleichheit der Verteilung des produzierten Reichtums kritisiert. Die Schriften von Charles Dickens und Karl Marx sowie ungezählter anderer Literaten und Wissenschaftler legen bis heute Zeugnis davon ab.14 Zumindest bis vor Kurzem viel weniger Aufmerksamkeit bekam hingegen eine zweite Form der Ausbeutung: die der Natur.15 Natürliche Ressourcen sind unverzichtbare Grundlage für die Herstellung von Waren und die wachsende Wirtschaft verleibt sich diese Ressourcen in immer größerem Umfang ein. Zugleich haben 30kapitalistische Märkte keinen eingebauten Mechanismus, um die ökologischen Schäden zu berücksichtigen, die aus der Nutzung der Natur entstehen.16

Der für das Wachstum erforderliche immerwährende Prozess der »kreativen Zerstörung« geht einher mit einem in früheren Gesellschaften völlig unbekannten Ausmaß der Ressourcenverwendung zur Herstellung ebenjener Produkte und Dienstleistungen, die den Reichtum heutiger Gesellschaften ausmachen. Der Boden und die in diesem lagernden Rohstoffe, die Tiere und Pflanzen ebenso wie die Luft und das Wasser werden in immer größerem Umfang für die Herstellung von immer mehr Waren und Dienstleistungen genutzt. Allein in den letzten 30 Jahren hat sich der globale Materialverbrauch verdreifacht und liegt damit weit über dem, was Wissenschaftler als planetare Grenze der Ressourcennutzung ansehen.17 Mithilfe der stetig weiterentwickelten technischen Möglichkeiten wurden Eingriffe in die Natur immer effizienter und umfassender. Die Ausdehnung der Nutzung natürlicher Ressourcen steht aber auch in engem Zusammenhang mit dem Kolonialismus, da gerade die Kolonien rücksichtslos als billige Lieferanten benötigter Rohstoffe und landwirtschaftlicher Erzeugnisse genutzt wurden – ein System, das sich bis heute unter Bedingungen des Postkolonialismus fortsetzt und, wie ich unten erläutern werde, große Bedeutung für die Erklärung der unangemessenen Reaktion auf den Klimawandel hat.

Unverzichtbar für die Reichtumsentwicklung der kapitalistischen Moderne war insbesondere die immense Ausweitung der Nutzung fossiler Energiequellen. Erst die Förderung von Kohlevorkommen im großen Maßstab und später die Extraktion von Öl und Gas ermöglichten den massiven Einsatz von Maschinen bei der Produktherstellung sowie den expansiven Transport der Güter und damit die ungeheure Vermehrung von Kapital. Ohne die Kohle hätten sich weder Dampfmaschinen noch Dampfschiffe noch die Eisenbahn im 19. Jahrhundert durchsetzen können. Oh31ne das Öl hätte der Siegeszug von Auto und Flugzeug im 20. Jahrhundert nicht stattfinden können. Wird der weltweite Konsum fossiler Energien für 1900 auf ungefähr 1 Milliarde Tonnen Öläquivalente geschätzt, liegt er aktuell 14-mal so hoch (siehe Abb. 4).18 Bis heute gilt, dass es ohne die gewaltige Erhöhung der Nutzung maschinell transformierter Energie keinen wirtschaftlichen Fortschritt gibt. Ohne Energie laufen die Maschinen nicht, mit denen der Wohlstand von Gesellschaften angeheizt wird. Gesellschaften bleiben so lange arm, wie sie arm an Energie sind.

Abb. 4: Die Entwicklung des weltweiten Energieverbrauchs von 1800 bis 2022. Quelle: Energy Institute Statistical Review of World Energy (2023), online unter 〈OurWorldInData.org/energy〉, letzter Zugriff 14. ‌10. ‌2023.

Konkurrenzmechanismus und Marktliberalisierung, ein leistungsfähiges Finanzsystem, die Mechanisierung von Produktion und Transport, Arbeitsteilung, die Mobilisierung von Arbeitskräften für einen rigoros arbeitsteiligen industriellen Produktionsprozess – ohne diese Entwicklungen hätte das ungeheure Wachstum 32der vergangenen 200 Jahre nicht stattfinden können. So erwünscht und eindrucksvoll der Effekt der Wohlstandsmehrung auch war: Die stete Ausweitung der Verbrennung fossiler Energieträger führte zugleich zu ebenjener Steigerung des Gehalts von Kohlendioxid in der Atmosphäre, die den Planeten immer weiter aufheizt. Der Kohlendioxidgehalt, gemessen als Anteile pro Million Luftpartikel (parts per million), erhöhte sich von unter 300 ppm in der vorindustriellen Zeit auf über 417 ppm im Jahr 2022. Für die Sicherung des Fortbestands unserer Zivilisation und die Vermeidung schwerwiegender globaler Umweltveränderungen geben Wissenschaftler als Maximum 350 ppm an. Diese Grenze wurde bereits in den 1990er Jahren überschritten.19

Rein wirtschaftlich betrachtet, bleibt die Nutzung fossiler Energieträger jedoch trotz aller verursachter ökologischer Schäden gewinnbringend, solange die Kosten der Naturzerstörung aus den Investitionsrechnungen der Unternehmen herausgehalten werden können. Unternehmen orientieren ihre Entscheidungen an dem von einer Investition erwarteten Gewinn und den mit ihr verbundenen Risiken. Gewinne sind Umsätze abzüglich der Produktionskosten. Zu den Produktionskosten gehören Rohstoffe, Vorprodukte, Maschinen, Kapital und Arbeitskräfte, nicht aber die Kosten der Umweltzerstörung. Das im Produktionsprozess an die Atmosphäre abgegebene CO2