Vom Wunsch, Indianer zu werden - Peter Henisch - E-Book

Vom Wunsch, Indianer zu werden E-Book

Peter Henisch

4,9

Beschreibung

Karl May trifft Franz Kafka auf einem Schiff nach Amerika. Wahr? Besser kann man es nicht erfinden ... Im Kopf war Karl May ja schon oft in Amerika. Aber erst im September 1908, da ist er 66, macht er sich wirklich auf, um sich in Bremerhaven nach New York einzuschiffen, gemeinsam mit seiner zweiten Frau Klara. Und wie es der Zufall will, trifft er auf dem Schiff ausgerechnet Franz Kafka, einen jungen Mann, der sehr schmal und sehr blass an der Reling steht. Will er sich, Gott behüte, ins Meer stürzen? Und wer, wenn nicht Karl May und die viel jüngere Dame an seiner Seite, soll ihn davor retten, für die Literatur und das Leben? Das ist der Stoff, aus dem gute Geschichten sind, und manchmal sind das eben Dreiecksgeschichten. Peter Henischs Buch ist ein amüsantes Fantasie-Stück, ein raffiniertes Kammerspiel zwischen Realität und Fiktion. Mit leichter Hand und viel Fingerspitzengefühl bringt er Dinge zusammen, die wir in unserer Schulweisheit gerne trennen: Karl May und Franz Kafka, U und E, Lebenslüge und Lebensangst. Wen wundert's, dass da die Funken sprühen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 163

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Henisch     Vom Wunsch, Indianer zu werden

Peter Henisch

Vom Wunsch,Indianer zu werden

Wie Franz Kafka Karl May trafund trotzdem nicht in Amerika landete

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2012 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4283-7

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1585-5

Mein lieber Max,

ich sitze unter dem Verandadach, vorn will es zu regnen anfangen, die Füße schütze ich, indem ich sie von dem kalten Ziegelboden auf die Tischleiste setze und nur die Hände gebe ich preis, indem ich schreibe. Und ich schreibe, daß ich sehr glücklich bin und daß ich froh wäre, wärest Du hier, denn in den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man Jahre lang im Moos liegen könnte. Adieu, ich komme ja bald.

Dein Franz

(Text einer Ansichtskarte, geschrieben von Franz Kafka an Max Brod aus Spitzberg im Böhmerwald, Anfang September 1908)

1

Er würde sehr schmal an der Reling stehen und kotzen. Der ältere Herr und die Dame würden sich ihm von achtern nähern. Der Wind würde wehen, die Wellen würden wogen, die Möwen würden lachen. Eine Sirene stieße einen klagenden Ton in den Abend.

Auf dem Vorschiff. Die beiden Herrschaften kämen aus dem inneren Zwischendeckbereich. Der Herr hätte der Dame durchaus zeigen wollen, wie er 1864 oder ’65 gereist wäre. Wie er damals gereist wäre, wenn, wenn nicht … Wenn ihn nicht gewisse Umstände daran gehindert hätten.

Sehr anders als heute wäre er damals gereist. Zwar sei die Unterbringung der Auswanderer, auf diese Feststellung hätte ein sogenannter Zwischendeckinspektor Wert gelegt, ohnehin schon viel besser als, sagen wir, noch vor fünfzehn Jahren. Ganz zu schweigen von 1864 oder ’65. Aber über den Zwischendecktransfer seien nach wie vor die schlimmsten Schauermärchen in Umlauf. Bitte, beachten Sie etwa die hygienischen Verhältnisse! Es mag sein, daß auch heute ein großer Teil der hier untergebrachten Passagiere in einem Bade eher eine ärztliche Verordnung erblickt, der man nicht entrinnen kann, als ein sozusagen zivilisiertes Bedürfnis. Aber die Zeiten, zu denen man die Auswanderer einfach mit dem Schlauch abgespritzt hat, sind vorbei. Wie Sie sehen, sind Wasch- und Badeeinrichtungen in, ich würde meinen, ausreichendem Ausmaß vorhanden. Auch, überzeugen Sie sich, Toilettenanlagen. Laut Gesetz vom 9. Juni 1897 müssen sie in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, daß nicht mehr als fünfzig männliche beziehungsweise weibliche Personen sich im Gebrauch eines Abtritts arrangieren. Die Decken- und Kissenbezüge werden selbstverständlich nach jeder Reise desinfiziert. Sehen Sie, um das Geld, um das die Leute hier unten transportiert werden wollen, kann man natürlich keinen Luxuskomfort erwarten.

Natürlich nicht, hätte der ältere Herr gesagt. Die Dame hätte sich ein Ende ihres Seidenshawls vor Nase und Mund gehalten. Dieser Karbolgeruch sei nur schwer zu ertragen. Als sie aus den laut Auskunft des Zwischendeckinspektors mit 2200 Passagieren voll ausgelasteten Räumen hinaus unter den immerhin freien Himmel getreten wären, hätte übrigens auch der Herr an ihrer Seite aufgeatmet.

Aber da stünde der junge Mann an der Reling. Seine Haltung: die Charlie Chaplins am Anfang des Stummfilms THE IMMIGRANT. Extrem abgewinkelt. Er zappelt und windet sich in wüsten Konvulsionen. Ist dem nur schlecht, fragt die Dame, oder will er sich, Gott behüte, ins Meer stürzen?

Der Chaplin-Film wird erst neun Jahre später gedreht. Aber jetzt muß man was tun, findet die Dame, man kann doch nicht einfach nur dastehen und zuschauen. Tu doch was, Karl! – Der ältere Herr blickt sich vorerst kurz um, schließlich wäre eigentlich das Schiffspersonal für so etwas zuständig. Aber den Zwischendeckinspektor haben sie irgendwo im Getümmel verloren, und auch sonst ist niemand von nur einigermaßen offiziellem Anschein in der Nähe.

Da gibt sich der ältere Herr einen deutlichen Ruck. Und tut zwei seinem Alter nicht mehr ganz gemäße Sprünge. Faßt den jungen Mann an der Schulter (na schön, vielleicht stützt er sich auch ein ganz klein wenig an dessen Schulter ab). Und: He, junger Mann, würde er sagen, passen Sie auf, beugen Sie sich nicht zu weit vor, da unten, das ist der Atlantik!

Als Chaplin, in diesem Film, sich endlich den Zuschauern zuwendet, hat er einen Fisch gefangen, und die Sorge, die man zuvor um ihn gehabt hat, entlädt sich in einem befreienden Lachen. Davon wird bei dem jungen Mann, der sich jetzt umdreht und alles hängen läßt, gewiß keine Rede sein. Lassen Sie mich, wird er antworten, sehr leise, sehr matt, sozusagen zu schwach für ein Rufzeichen nach dieser Aufforderung. Von vorn würde er übrigens eher aussehen wie Buster Keaton.

Außerdem sieht er ziemlich zerknittert aus. Obwohl oder gerade weil er, das fällt der Dame gleich auf, für einen Zwischendeckpassagier zu gut gekleidet ist. Auch seine Augen fallen ihr gleich auf, seine Ohren sind ohnehin nicht zu übersehen. Nehmen Sies nicht so schwer, sagt sie, nehmen Sie sich zusammen, sagt ihr Mann, hier, nehmen Sie mein Taschentuch.

Der junge Mann sagt danke und wischt sich ab. Dann steht er und schwankt. Was soll er nun mit dem Taschentuch, das nicht ihm gehört, anfangen? Sein Visavis hat weißes, vom Wind verblasenes Haar, etwas tränende, wasserblaue Augen und einen Schnauzbart, in dem Salzwassertröpfchen hängen. – Ist es die Möglichkeit? Sind Sie es wirklich? – Nein, der junge Mann würde den älteren Herrn nicht erkennen.

Aber die Möglichkeit, doch, die Möglichkeit ist es. Dieses Zusammentreffen der zwei (der drei). Man schreibt das Jahr 1908, und zwar den 6. September. DER GROSSE KURFÜRST ist am Abend des 5. in Bremerhaven ausgelaufen und wird am frühen Morgen des 16. in New York sein.

Kopf hoch, sagte der ältere Herr, als er zum ersten Mal über den großen Teich gefahren sei, da sei es ihm genauso ergangen.

Die Dame warf einen überraschten Blick, sagte aber nichts.

Wissen Sie, was Ihnen in dieser Verfassung guttun wird? Ein Gläschen Cognac!

Danke, sehr freundlich, sagte der junge Mann, aber er trinke keinen Alkohol.

Brav, sagte der ältere Herr, als er das erste Mal in die Staaten hinübergedampft sei, habe er auch noch nichts getrunken. Aber ein Zustand wie der, in dem sich der junge Mann offenbar befinde, rechtfertige eine Ausnahme. Da es ihm, wie erwähnt, damals, bei seiner ersten Überfahrt genauso ergangen sei, habe er diese Ausnahme übrigens auch gemacht. Kommen Sie, hoppla, nehmen Sie ruhig meinen Arm!

Und schon hatte er den jungen Mann untergehakt und seiner Frau durch ein Zwinkern zu verstehen gegeben, daß sie auf ihrer Seite das gleiche tun sollte. Dem Zwischendeckinspektor, der dann am Aufgang, wo ihn wirklich keiner mehr brauchte, plötzlich im Weg stand, steckte er ein Bakschisch in die Brusttasche, das die Klassenschranken auf dem Schiff vorübergehend aufhob. Der junge Mann sträubte sich kurz, für einen Moment zappelten seine Beine frei in der Luft, obwohl er um einiges größer war als seine Wohltäter. Doch dann, als sei ihm die Energie des Widerstands gleich wieder ausgegangen, ließ er sich führen wie eine Gliederpuppe.

Wie er, durch den Flurgang gekommen, in die Öffnung des Tors getreten war. Neobarock: Na Pořiči Nr. 7. Wie er gesehen hatte, daß es regnete, wie er gesehen hatte, daß es wenig regnete. Wie er den Koffer in der einen Hand gehalten hatte und den noch unaufgespannten Schirm in der anderen.

Das Muster des Katzenkopfpflasters gleich vor ihm. Mehrere Wellen konzentrischer Halbkreise, die einander auf schwer durchschaubare Weise überlagerten. Darüber hineilend: Menschen in verschiedenartigem Schritt. In den Fugen: zwei Zigarettenstummel, eine Bureauklammer.

Manchmal trat einer vor und durchquerte die Fahrbahn. Das Wort durchquerte: als ob die Fahrbahn ein Fluß wäre. Das Vorbeifließen der Bilder, die Versuchung, in diese Bilder hineinzufallen. Die Frage, ob man so eine Dienstreise besser mit dem linken oder mit dem rechten Fuß begann oder am besten gar nicht.

Jetzt müssen wir Sie, sagte der ältere Herr, aber wohl oder übel loslassen. Tatsächlich: Zu dritt konnten sie unmöglich durch die Kabinentür. Treten Sie ein, bringen Sie Glück herein, aber heben Sie die Füße. Prompt stolperte der junge Mann. Aber die Schwellen auf diesem Schiff waren auch ungewöhnlich hoch! Dann stand er mitten im Raum, noch immer schwankend. Und die Dame wußte nicht recht, ob sie von seiner Seite weichen durfte oder sich, halb neben, halb hinter ihm, in Bereitschaft halten müßte, um ihn gegebenenfalls aufzufangen. Der ältere Herr klingelte nach dem Steward, den Cognac, den er dem Seekranken empfohlen hatte, konnte er nun selbst brauchen. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, den jungen Mann, der manchmal vergessen zu haben schien, wie man einen Fuß vor den anderen setzt, die vielen Treppen hinaufzuschleppen.

Kabine 25, oberes Promenadendeck. Wohnraum, Schlafraum, Bad & Wasserklosett. Eigentlich gar nicht sein Stil, so ein Appartement. Sagte der ältere Herr. Aber auf seine alten Tage darf sich der Mensch schon was leisten.

Als er allerdings so jung gewesen sei wie der junge Mann jetzt, da sei er noch, eine abenteuerliche Zukunft vor Augen, als blinder Passagier gereist. In einem Heringsfaß. Mein Gott, war das ein Geruch! Die Dame wirkte erneut etwas überrascht. Als er drüben in New York an Land gegangen sei, habe er seinen alten Anzug so rasch wie möglich loswerden müssen.

Ob das der junge Mann gehört und entsprechend zur Kenntnis genommen hatte? Er schien, jedenfalls in seiner gegenwärtigen Verfassung, auch sonst wenig wahrzunehmen, was durchs Trommelfell in ihn hineinwollte. Zum Beispiel die Aufforderung, sich endlich zu setzen. Er blieb einfach stehen und starrte die Dame an.

Starrte sie an auf eine Weise, wie sie, ehrlich gesagt, seit Jahren kein Mann mehr angestarrt hatte. Sie war um die Vierzig, ihr Gatte war Sechsundsechzig. Zwar legte er Wert darauf und hatte seine Freude daran, daß sie an seiner Seite so relativ jung wirkte. Aber neben einem um so viel älteren Partner fiel das einerseits leicht und anderseits schwer, und noch ehe sie sichs recht eingestand, hatte sie sich damit abgefunden, an seiner Seite alt zu werden, ohne besonderes Aufheben davon zu machen.

Sie bemerkte das manchmal, wenn sie in den Spiegel schaute. In dem Reisekostüm etwa, das sie sich extra für die Fahrt nach Amerika hatte schneidern lassen, hätte auch ihre Mutter stecken können. Jetzt allerdings hatte sie, erhitzt von der Schlepperei zuvor, die mausgraue Jacke abgelegt. Und in der weißen, spitzenbesetzten Bluse, die sie darunter trug, sah sie, das wußte sie, immer noch ganz gut aus.

Was den Blick des jungen Mannes betraf, so wußte sie indessen nicht, was sie davon halten sollte. Vielleicht war er ja ein Mißverständnis, vielleicht war er aber auch eine Frechheit. Sie entschied sich vorläufig für die erste Version. Der abwesende Eindruck, den der junge Mann sonst vermittelte, machte es doch ziemlich unwahrscheinlich, daß eine anwesende Person so einen Effekt auf ihn ausübte.

So nehmen Sie doch Platz, sagte ihr Gatte, der sich selbst gern gesetzt hätte, nach wie vor vergeblich. Der Steward war zweimal auf- und wieder abgetreten, und der junge Mann stand noch immer. Aber vielleicht war es ohnehin angemessen, den NAPOLEON im Stehen zu trinken. Na denn, wohl bekomms, mein Name ist übrigens Burton, und die Dame ist Mrs. Burton, meine liebe Frau.

Darauf reagierte der junge Mann immerhin. Burton, Burton … aber sind Sie kein Deutscher? Bin ich, bin ich, sagte der ältere Herr. Aber seien Sie so gut und sagen Sie es trotzdem nicht weiter. Zwar sei er sonst der letzte, der seine Nationalität verleugne. Ja, im Zuge seiner nicht unerheblichen Reisen habe er meist darauf Wert gelegt, sie zu erwähnen. Allerdings – und hier sah er seine Gattin, die vielleicht lächelte, etwas gekränkt an –, allerdings gebe es manchmal Gründe … Kurz gesagt, Gründe, die es auch oder gerade einem Mann wie ihm nahelegten, seine geliebte Herkunft und seinen guten Namen zu verschweigen.

Enttäuschenderweise gab sich der junge Mann mit dieser Antwort zufrieden. Hatte es zuvor so ausgesehen, als sei er gewissermaßen aufgewacht, so schien es jetzt auch schon wieder damit vorbei zu sein. Er stand zwar da, aber war, so schien es, woanders. Die Art, wie er sein Cognacglas, aus dem er nur genippt hatte, exakt an der Kante des Tischs deponierte, von wo es Herr Burton vorwurfsvoll Richtung Mitte schob, war die eines Traumwandlers.

So setzen Sie sich doch endlich, Sie sehen noch immer recht strapaziert aus!

Entschuldigung, sagte der junge Mann, man wußte nicht, wofür.

Ja, setzen Sie sich, entspannen Sie sich, vielleicht legen Sie sich am besten aufs Bett. Du hast doch bestimmt nichts dagegen, Karl, wenn er sich für fünf Minuten aufs Bett legt.

Was sollte, was konnte Herr Burton dagegen haben?

Der junge Mann allerdings wurde rot: Aber Entschuldigung, Verzeihung …

Entschuldigen Sie sich doch nicht dauernd für nichts und wieder nichts! Dieser immer noch dumm herumstehende junge Mensch ging dem Herrn Burton allmählich auf die Nerven.

Nun legen Sie sich schon aufs Bett, sagte er und versetzte, noch bevor seine Frau dazwischentreten konnte, dem Gast einen, wenn auch nur leichten Stoß vor die Brust. Der hielt nicht viel aus und geriet vom Schwanken ins Taumeln. Legen Sie sich schon aufs Bett, sagte der Herr Burton, den jungen Mann vor sich hertreibend, da haben wir wenigstens mehr Platz! Angesichts der Größe der Kabine schien diese Bemerkung ziemlich unpassend.

Der junge Mann fiel nicht ohne Bereitwilligkeit. Rückwärts fiel er. Und sah sich noch immer am Start stehen. Unter dem Torbogen, hinter dem Nieselregen. Den Koffer in der Linken und den nach wie vor unaufgespannten Schirm in der Rechten.

Bilder: Ein kleines Mädchen mit einem müden Hündchen in den vorgestreckten Armen. Zwei Herren, die einander Mitteilungen machten, der eine mit nach oben gekehrten Handflächen gestikulierend, als halte er eine Last in Schwebe. Eine Dame mit überladenem Hut, ein junger Herr mit dünnem, eiligem Stock. Sie, mit einem vor Fremdheit unter den anderen Passanten leicht flimmernden Gesicht, er, eine Hand platt am Herz, als wäre sie gelähmt.

Vielleicht jedoch hatte er diese Bilder schon früher gesehen. Wie er sie jetzt sah, mit geschlossenen Augen. Durch die Lücken zwischen den Vorübergehenden sah man die regelmäßig gefügten Steine der Fahrbahn. Warum konnte man nicht einfach stehen bleiben und die Welt an sich vorbeilaufen lassen wie einen Film im kinematographischen Theater?

Sie sind also auch Deutscher?

Wie?

Sie sind also auch Deutscher.

Die beiden Herrschaften, Burton wollten sie genannt werden, saßen nun links und rechts an den Betträndern.

Mehr oder minder, antwortete der junge Mann vorsichtig, er lag in der Mitte.

Woher?

Ich komme, sagte er so leise, daß er vorerst gar nicht verstanden wurde, aus Prag.

Woher?

Aus Prag.

Wie schön! Das goldene Prag!

Frau Burton, ganz Wohlwollen, betrachtete den jungen Mann von rechts oben. Gut, daß sie ihn nicht von vorne betrachtete, seine Ohren wirkten aus dieser Perspektive nicht sehr vorteilhaft. Von links unten gesehen sah ihr Gesicht allerdings auch nicht gerade perfekt aus.

Zu dick. Der junge Mann hingegen, wie er da lag, mußte sich genieren, weil er zu dünn war. Die Beine vor allem: So etwas Dünnes, Langes! Wie er befürchtet hatte, ragten sie weit über das Fußende des Bettes hinaus. Trotzdem sagte er: Mein Prag ist nicht golden, sondern grau.

Hören Sie auf, sagte die allzu nahe Frau, wer wird denn so trist sein!

Der junge Mann war verlegen, aber über den Farbton, in dem er sein Prag sah, mußte er schließlich besser Bescheid wissen.

Sein Prag sei grau und nicht golden, beharrte er tapfer. Er schluckte und genierte sich seines Adamsapfels. Ja, zuweilen sei es sogar schwarz.

Wahrscheinlich, flüsterte Herr Burton, der seine Erfahrungen hatte, stammt der junge Mann aus tristen Verhältnissen.

Nicht unmittelbar. (Ausgerechnet das hatten seine Fledermausohren gehört.) Sein Vater habe sich nämlich emporgearbeitet. Jetzt sei er Inhaber eines Geschäfts für Galanteriewaren.

Galanteriewaren? Aber das klingt doch charmant!

Der junge Mann lachte. Es klang, als wäre er im Stimmbruch.

Sein Vater handle mit Kurzwaren Modeartikeln Baumwollsachen Spazierstöcken Sonnen- & Regenschirmen. Besonders die Regenschirme seien charmant, man könne damit den grauen Himmel aufspießen.

Der junge Mann aus Prag, bemerkte Herr Burton und war dem langen, dünnen Menschen, der ihm und seiner Frau so brav Rede und Antwort stand, nein lag, nun wieder von Herzen gut, habe ja anscheinend ein gewisses poetisches Talent. So etwas könne er aufgrund einer langjährigen Erfahrung auf diesem Gebiet nämlich beurteilen. Er ließ eine Pause, die aber ungenutzt verstrich. Ja, ein gewisses poetisches Talent scheine der junge Mann aus Prag zu haben, wenngleich es sich offenbar etwas melancholisch präsentiere.

Der junge Mann klappte auf wie ein Taschenmesser. Es sei ja auch eine Pest, eine wahre Plage!

Was?

So ein sogenanntes Talent, sagte er, das ihm anscheinend ekelhafte Wort geradezu ausspuckend. Man müsse froh sein, wenn man davon verschont bleibe.

Nicht daß er von sich selbst spreche, aber er habe da einen Bekannten. (Zu seiner eigenen Überraschung merkte er, daß er aufgestanden war und trotz des Seegangs in der Kabine hin und her ging.) Der schreibe seit Jahren, das heißt, er versuche zu schreiben. Oder er versuche seit Jahren nicht zu schreiben, ja, so lasse sich der traurige Sachverhalt vielleicht treffender darstellen. Gedichte zu schreiben habe der übrigens aufgegeben. Die habe er sozusagen als Pubertätslaster hinter sich gelassen. Doch mit der Prosa sei es womöglich noch schlimmer. Man brauche mehr Zeit dafür, obwohl man, wenn der sogenannte Ernst des Lebens einmal angebrochen sei, natürlich über immer weniger Zeit für solchen Unernst verfüge.

Mit einem Wort: Sein Bekannter mache sich fertig. Das Schreiben sei ihm Geisterbeschwörung, Besessenheit, Einwilligung in die fragwürdigsten Umarmungen. Von den Nächten, in denen er sich damit auspumpe, habe er untertags Ringe unter den Augen. Jetzt sei er gerade wieder einmal dabei, es sich abzugewöhnen, aber (bei diesen Worten geriet der junge Mann etwas aus der Balance) es bleibe dahingestellt, ob er diesmal durchhalte.

Und Sie?

Was: Und ich?

Schreiben Sie auch?

Darauf gab der junge Mann keine Antwort.

Die vielen Worte, die er auf einmal gemacht hatte, hatten ihn sichtlich angestrengt. Seine Hand kam in Versuchung, nach dem weggestellten Cognacglas zu greifen, aber sein Hirn gab ihr nicht nach. Dann ließ er sich tief in einen der Lehnsessel sinken.

Und sah sich noch immer im Torbogen zwischen den Säulen. Draußen glänzte nun alles, doch der Staub an der Innenseite der Wülste und Kehlen über den Plinthen blieb. Auf dem trockenen Mosaik neben ihm hatten sich inzwischen einige Passanten angesammelt. Auch waren aus dem Flurgang hinter ihm mehrere Kollegen nachgekommen, nach denen er sich aber, da er schon wer weiß wie lang hier stand, lieber nicht umdrehte.

Wenn er den Kopf in den Nacken kippte, sah er die Füße der Engel, die auf dem Architrav saßen. Obwohl sie den Erdboden nie berührt hatten, waren ihre Sohlen schwarz. Diese Feststellung amüsierte ihn. Aber er konnte nicht lang in die Höhe schauen, ohne vom Regen, der dann verwirrend auf ihn zu fiel, schwindlig zu werden.

Wie er den Kopf und den Blick also wieder gesenkt hatte. Wie das Wasser an der Fahrbahnkante in glasigen Streifen nach den tiefer gelegenen Kanälen floß. Übers grau reflektierende Straßenpflaster ließen sich Leute in schwarz schwankenden Kutschen vorbeiziehen. Wenn er noch eine Weile so stehen blieb, würde er seinen Zug versäumen.

Und was machen Sie sonst?

Was soll ich denn sonst machen?

Beruflich.

Der junge Mann sah einen Moment lang angestrengt nachdenklich drein, als ob er sich erst der Bedeutung dieses Wortes entsinnen müßte.

Es ist nämlich so: Manche Wörter sind von vornherein verlogen.

Das sagte er nicht. Das könnte er aber gedacht haben.

Vielleicht, vermutete Frau Burton, ist der junge Mann noch Student.

Die Dame beim Türstein drüben, die bis jetzt nur ihre Schuhe angesehen hatte …