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Für die Tageszeitung Die Rote Fahne, Zentralorgan des revolutionären 'Spartakusbundes'und später der 'Kommunistischen Partei Deutschlands', schreibt Luxemburg zwischen dem 18. November 1918 und dem 14. Januar 1919 insgesamt 22 Artikel und – gemeinsam mit Aufruf von Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin – den Aufruf 'An die Proletarier aller Länder'. Einen besonderen Bekanntheitsgrad erlangt ihr Artikel 'Die Ordnung herrscht in Berlin', der einen Tag vor ihrer Ermordung durch Freikorpssoldaten erscheint. Das hier vorliegende E-Book republiziert alle in Die Rote Fahne erschienenen Zeitungsartikel, in denen Rosa Luxemburg die revolutionären Ereignisse in Deutschland kommentiert: 1. 'Der Anfang' vom 18. November 1918, 2. 'Das alte Spiel' vom 18. November 1918, 3. 'Eine Ehrenpflicht' vom 18. November 1918, 4. 'Die Nationalversammlung' vom 20. November 1918, 5. 'Ein gewagtes Spiel' vom 24. November 1918, 6. 'An die Proletarier aller Länder'. Aufruf von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin vom 25. November 1918, 7. 'Der Acheron in Bewegung' vom 27. November 1918, 8. 'Der Weg zum Nichts', in: Die Rote Fahne, 28. November 1918, 9. 'Parteitag der Unabhängigen SP' vom 29. November 1918, 10. 'Die ›unreife‹ Masse' vom 3. Dezember 1918, 11. 'Um den Vollzugsrat' vom 11. Dezember 1918, 12. 'Was will der Spartakusbund?' vom 14. Dezember 1918, 13. 'Auf die Schanzen' vom 15. Dezember 1918, 14. 'Nationalversammlung oder Räteregierung?' vom 17. Dezember 1918, 15. 'Eberts Mamelucken' vom 20. Dezember 1918, 16. 'Ein Pyrrhussieg' vom 21. Dezember 1918, 17. 'Die Wahlen zur Nationalversammlung' vom 23. Dezember 1918, 18. 'Die Reichskonferenz des Spartakusbundes' vom 29. Dezember 1918, 19. 'Was machen die Führer?' vom 7. Januar 1919, 20. 'Versäumte Pflichten' vom 8. Januar 1919, 21. 'Das Versagen der Führer' vom 11. Januar 1919, 22. 'Kartenhäuser' vom 13. Januar 1919, 23. 'Die Ordnung herrscht in Berlin' vom 14. Januar 1919.
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Seitenzahl: 135
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Rosa Luxemburg: Von »Der Anfang« bis »Die Ordnung herrscht in Berlin«. Alle ihre Artikel in der Tageszeitung Die Rote Fahne. Neu herausgegeben von Günter Regneri Veröffentlicht im heptagon Verlag © Berlin 2015 www.heptagon.de ISBN: 978-3-934616-13-4
Die Revolution hat begonnen. Nicht Jubel über das Vollbrachte, nicht Triumph über den niedergeworfenen Feind ist am Platze, sondern strengste Selbstkritik und eiserne Zusammenhaltung der Energie, um das begonnene Werk weiterzuführen. Denn das Vollbrachte ist gering, und der Feind ist nicht niedergeworfen.
Was ist erreicht? Die Monarchie ist hinweggefegt, die oberste Regierungsgewalt ist in die Hände von Arbeiter- und Soldatenvertretern übergegangen. Aber die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus. Nicht der Hohenzoller hat den Weltkrieg entfacht, die Welt an allen Ecken in Brand gesteckt und Deutschland an den Rand des Abgrundes gebracht. Die Monarchie war wie jede bürgerliche Regierung die Geschäftsführerin der herrschenden Klassen. Die imperialistische Bourgeoisie, die kapitalistische Klassenherrschaft – das ist der Verbrecher, der für den Völkermord verantwortlich gemacht werden muss.
Die Abschaffung der Kapitalherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewusste Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.
Aus dem Ziel der Revolution ergibt sich klar ihr Weg, aus der Aufgabe ergibt sich die Methode. Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte, Sicherung des Revolutionswerks vor seinen lauernden Feinden: dies die Richtlinie für alle Maßnahmen der revolutionären Regierung.
Jeder Schritt, jede Tat der Regierung müsste wie ein Kompass nach dieser Richtung weisen:
Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte, damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entstehung durch bewussten Prozess der Selbstverständigung über Ziele, Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird;
ständige Tagung dieser Vertretungen der Masse und Übertragung der eigentlichen politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere Basis des Arbeiter- und Soldaten-Rates;
schleunigste Einberufung des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revolution als ihre Schutzwehr und ihre Stoßkraft zu stellen;
unverzügliche Organisierung nicht der »Bauern«, sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch außerhalb der Revolution stehen;
Bildung einer proletarischen Roten Garde zum ständigen Schütze der Revolution und Heranbildung der Arbeitermiliz, um das gesamte Proletariat zur jeder Zeit bereiten Wacht zu gestalten;
Verdrängung der übernommenen Organe des absolutistischen militärischen Polizeistaates von der Verwaltung, Justiz und Armee;
sofortige Konfiskation der dynastischen Vermögen und Besitzungen sowie des Großgrundbesitzes als vorläufige, erste Maßnahme zur Sicherung der Verpflegung des Volkes, da Hunger der gefährlichste Bundesgenosse der Gegenrevolution ist;
sofortige Einberufung des Arbeiterweltkongresses nach Deutschland, um den sozialistischen und internationalen Charakter der Revolution scharf und klar hervorzukehren, denn in der Internationale, in der Weltrevolution des Proletariats allein ist die Zukunft der deutschen Revolution verankert.
Nur die ersten notwendigsten Schritte haben wir aufgezählt. Was tut die jetzige revolutionäre Regierung?
Sie belässt den Staat als Verwaltungsorganismus von oben bis unten ruhig weiter in den Händen der gestrigen Stützen des Hohenzollerischen Absolutismus und der morgigen Werkzeuge der Gegenrevolution;
sie beruft die Konstituierende Nationalversammlung ein, schafft damit ein bürgerliches Gegengewicht zur Arbeiter- und Soldatenvertretung, verschiebt damit die Revolution auf das Geleise einer bürgerlichen Revolution, eskamotiert die sozialistischen Ziele der Revolution;
sie tut nichts, um die weiter bestehende Macht der kapitalistischen Klassenherrschaft zu zertrümmern;
sie tut alles, um die Bourgeoisie zu beruhigen, um die Heiligkeit des Eigentums zu verkünden, um die Unantastbarkeit des Kapitalverhältnisses zu sichern;
sie lässt die sich auf Schritt und Tritt regende Gegenrevolution ruhig gewähren, ohne an die Masse zu appellieren, ohne das Volk laut zu warnen.
Ruhe! Ordnung! Ordnung! Ruhe! So hallt es von allen Seiten, aus allen Kundgebungen der Regierung, so jubelt das Echo aus allen bürgerlichen Lagern. Das Gezeter gegen das Gespenst der »Anarchie« und des »Putschismus«, die bekannte Höllenmusik des um Kassenschränke, Eigentum und Profite besorgten Bourgeois ist die lauteste Note des Tages, und die revolutionäre Arbeiter-und-Soldaten-Regierung – duldet ruhig diesen Generalmarsch zum Sturm gegen den Sozialismus, ja, sie beteiligt sich daran mit Wort und Tat.
Das Fazit der ersten Woche der Revolution heißt: Im Staate der Hohenzollern hat sich im wesentlichen nichts verändert, die Arbeiter-und-Soldaten-Regierung fungiert als Stellvertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor der Arbeitermasse getragen. Bevor die Revolution noch Kraft, Schwung, Anlauf genommen, wird ihre einzige Lebenskraft, ihr sozialistischer und proletarischer Charakter, eskamotiert.
Alles ist in Ordnung. Der reaktionäre Staat der zivilisierten Welt wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Russland, der Ukraine, im Baltikum als Gendarmen der Reaktion revolutionäre Proletarier mordeten, und Arbeiter, die dies ruhig geschehen ließen, sind nicht in 24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus geworden.
Das Bild der deutschen Revolution entspricht der inneren Reife der deutschen Verhältnisse. Scheidemann-Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium. Und die Unabhängigen, die mit Scheidemann-Ebert zusammen Sozialismus machen zu können glauben, die jenen in der Freiheit feierlich attestieren, dass man gemeinsam mit ihnen eine »rein sozialistische Regierung« bilde, qualifizieren sich damit selbst als die berufenen Mitträger der Firma in diesem ersten provisorischen Stadium.
Aber die Revolutionen stehen nicht still. Ihr Lebensgesetz ist rasches schreiten, über sich selbst Hinauswachsen. Das erste Stadium treibt schon durch seine inneren Widersprüche vorwärts. Die Lage ist als Anfang begreiflich, als Zustand auf die Dauer unhaltbar. Soll die Gegenrevolution nicht auf der ganzen Linie Oberhand gewinnen, müssen die Massen auf der Hut sein.
Der Anfang ist gemacht. Das weitere ist nicht in der Hand der Zwerge, die den Lauf der Revolution aufhalten, dem Rad der Weltgeschichte in die Speichen fallen wollen. Die Tagesordnung der Weltgeschichte heißt heute: Verwirklichung des sozialistischen Endziels. Die deutsche Revolution ist in die Bahn dieses leuchtenden Gestirns geraten. Sie wird weiter Schritt um Schritt, durch Sturm und Drang, durch Kampf und Qual und Not und Sieg zum Ziel gelangen.
Sie muss!
18. November 1918
Liebknecht hat in Spandau 200 Offiziere ermordet.
Liebknecht ist in Spandau ermordet worden.
Die Spartakusleute haben den Marstall gestürmt.
Die Spartakusleute haben in das Berliner Tageblatt mit Maschinengewehren eindringen wollen.
Liebknecht plündert die Läden.
Liebknecht verteilt Geld unter die Soldaten, um sie zur Gegenrevolution aufzustacheln.
Die Spartakusse rückten gegen das Abgeordnetenhaus vor. In der darin tagenden Fraktionssitzung der Fortschrittlichen Volkspartei ist auf diese Kunde hin eine Panik entstanden, und die ehrenwerte Versammlung lief auseinander, unter Hinterlassung von Hüten, Schirmen und dergleichen kostbaren und heutzutage kaum zu ersetzenden Gegenständen auf dem Schauplatz der erwarteten grausigen Taten. –
So schwirren seit einer Woche in Berlin die wildesten Gerüchte über unsere Richtung. Klirrt irgendwo auf der Straße eine Fensterscheibe, platzt an der Ecke ein Pneumatik mit lautem Knall, gleich schaut sich der Philister mit gesträubten Haaren und einer Gänsehaut auf dem Rücken um: Aha, sicher »kommen die Spartakusleute«!
Verschiedene Personen haben sich an Liebknecht mit der rührenden persönlichen Bitte gewandt, ihre Gatten, Neffen oder Tanten von dem beabsichtigten bethlehemitischen Kindermord, den die Spartakusse planten, ausnehmen zu wollen. So geschehen wahr und wahrhaftig im ersten Jahr und Monat der glorreichen deutschen Revolution.
Wer denkt da nicht an die köstliche Szene in der »Zauberflöte«, wo der kleine Strolch Monostatos, durch Papagenos Schatten erschreckt, vor Angst schlotternd, singt:
Ich glaub', das ist der Teufel, Ja, ja, das ist der Teufel, Ach, wär' ich eine Maus, Wie wollt' ich mich verstecken, Ach, wär' ich eine Schnecken, Gleich kröch' ich in mein Haus.
Hinter all diesen schwirrenden Gerüchten, lächerlichen Phantasien, wahnwitzigen Räubergeschichten und schamlosen Lügen steckt ein sehr ernster Vorgang: Es liegt System darin. Die Hetze wird planmäßig betrieben. Die Gerüchte werden zielbewusst fabriziert und ins Publikum lanciert: Es gilt, durch diese Schwindelmärchen die Philister in panikartige Stimmung zu versetzen, die öffentliche Meinung zu verwirren, die Arbeiter und Soldaten einzuschüchtern und irrezuleiten, um eine Pogromatmosphäre zu schaffen und die Spartakusrichtung politisch zu meucheln, ehe sie noch die Möglichkeit hatte, die breitesten Massen mit ihrer Politik und ihren Zielen bekannt zu machen.
Das Spiel ist alt. Erinnert man sich, wie vor vier Jahren, beim Ausbruch des Krieges, die einander jagenden tollen Märchen von Goldautomobilen, französischen Fliegern, vergifteten Brunnen, ausgestochenen Augen planmäßig und zielbewusst von Kriegshetzern durch ihre Agenten in Umlauf gesetzt wurden, um den blinden Kriegsfuror hervorzurufen und die Arbeiter als Kanonenfutter zu gebrauchen? Genauso wird jetzt gearbeitet, um die Volksmassen irrezumachen, unter ihnen blinden Hass zu säen, damit sie sich besinnungslos und kritiklos gegen die Spartakusrichtung missbrauchen lassen.
Wir kennen die Weise, wir kennen den Text und auch die Verfasser. Es sind die Kreise der abhängigen Sozialdemokraten, der Scheidemann, Ebert, Otto Braun, der Bauer, Legien und Baumeister, die zielbewusst die öffentliche Meinung mit schamlosen Lügen vergiften und das Volk gegen uns aufhetzen, weil sie unsere Kritik fürchten und sie zu fürchten allen Grund haben.
Diese Leute, die noch eine Woche vor Ausbruch der Revolution jeden Gedanken an Revolution in Deutschland als Verbrechen, »Putschismus«, Abenteuer denunzierten, die erklärten, in Deutschland sei die Demokratie schon verwirklicht, weil Prinz Max Reichskanzler war und Scheidemann mit Erzberger in Ministerfracks herumliefen, diese Leute wollen heute dem Volk einreden, die Revolution sei schon gemacht, die Hauptziele seien schon erreicht. Sie wollen den weiteren Fortgang der Revolution aufhalten, sie wollen das bürgerliche Eigentum, die kapitalistische Ausbeutung retten! Dies ist die »Ordnung« und die »Ruhe«, die man vor uns behütet.
Hier liegt der Hase im Pfeffer. Und hier auch der Grund, weshalb die Herrschaften eine solche Todesangst und so tödlichen Hass gegen uns nähren. Sie wissen ausgezeichnet, dass wir keine Läden plündern, wohl aber das kapitalistische Privateigentum abschaffen wollen, dass wir nicht den Marstall oder das Abgeordnetenhaus stürmen, wohl aber die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zertrümmern wollen, dass wir niemanden morden, wohl aber die Revolution unnachgiebig im Interesse der Arbeitenden weiter vorwärtstreiben wollen.
Sie verzerren mit vollem Bewusstsein und klarer Absicht unsere sozialistischen Ziele in lumpenproletarische Abenteuer, um die Massen irrezuleiten. Gegen Putsche, Morde und ähnlichen Blödsinn schreit man, und den Sozialismus meint man. Indem man die Spartakusrichtung zu meucheln sucht, will man die proletarische Revolution selbst ins Herz treffen!
Für die politischen Opfer der alten Reaktionsherrschaft wollten wir keine »Amnestie«, keine Gnade. Unser Recht auf Freiheit, Kampf und Revolution forderten wir für jene Hunderte Treuer und Braver, die in Zuchthäusern und Gefängnissen schmachteten, weil sie unter der Säbeldiktatur der imperialistischen Verbrecherbande um Volksfreiheit, Frieden, Sozialismus kämpften. Sie sind nun alle frei. Wir stehen wieder in Reih und Glied, zum Kampf bereit. Nicht die Scheidemänner mit ihren bürgerlichen Kumpanen und dem Prinzen Max an der Spitze haben uns befreit, die proletarische Revolution hat die Tore unserer Kasematten gesprengt.
Aber eine andere Kategorie trauriger Insassen jener düsteren Häuser ist völlig vergessen worden. Niemand hat bis jetzt an die Tausende bleicher, abgezehrter Gestalten gedacht, die hinter den Mauern der Gefängnisse und Zuchthäuser zur Sühne für gemeine Vergehen jahrelang schmachteten.
Und doch sind es unglückliche Opfer der infamen Gesellschaftsordnung, gegen die sich die Revolution richtete, Opfer des imperialistischen Krieges, der Not und Elend zur unerträglichen Folter gesteigert, der durch die bestialische Menschenschlächterei in schwachen, erblich belasteten Naturen alle bösen Instinkte entfesselt hat.
Die bürgerliche Klassenjustiz erwies sich wieder einmal als das Netz, durch dessen Maschen räuberische Hechte bequem herausschlüpfen, während kleine Stichlinge darin hilflos verzappeln. Die millionenreichen Kriegswucherer kamen meist straffrei oder mit lächerlichen Geldstrafen davon, die kleinen Diebe und Diebinnen wurden mit drakonischen Freiheitsstrafen gezüchtigt.
Bei Hungerkost, in den kaum geheizten Zellen vor Kälte zitternd, von den vierjährigen Schrecken des Krieges seelisch niedergedrückt, warteten diese Stiefkinder der Gesellschaft auf Gnade, auf Linderung.
Sie warteten umsonst. Der letzte Hohenzoller hatte die Elenden als guter Landesvater über den Sorgen des Völkergemetzels und der Kronenverteilung vergessen. Seit der Eroberung Lüttichs gab es während der vier Jahre keine nennenswerte Amnestie mehr, nicht einmal zum offiziellen Feiertag der deutschen Sklaven, zum »Kaisergeburtstag«.
Nun muss die proletarische Revolution durch einen kleinen Strahl ihrer Gnade das düstere Dasein in den Gefängnissen und Zuchthäusern erhellen, die drakonischen Strafen abkürzen, das barbarische Disziplinarsystem – Kettenarrest, Prügelstrafe!! – ausrotten, die Behandlung, die ärztliche Versorgung, die Ernährungs- und Arbeitsverhältnisse nach Kräften aufbessern. Es ist eine Ehrenpflicht!
Das bestehende Strafsystem, das durch und durch den brutalen Klassengeist und die Barbarei des Kapitalismus atmet, muss einmal mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Eine grundsätzliche Reform des Strafvollzugs muss sofort in Angriff genommen werden. Ein völlig neues, dem Geiste des Sozialismus entsprechendes kann freilich erst auf dem Fundament einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung errichtet werden. Wurzeln doch Verbrechen wie Strafe stets in letzter Linie in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gesellschaft. Doch eine einschneidende Maßnahme kann ohne weiteres durchgeführt werden: Die Todesstrafe, diese größte Schmach des stockreaktionären deutschen Strafkodex, muss sofort verschwinden! Weshalb zögert man damit in der Arbeiter-und-Soldaten-Regierung? Ledebour, Barth, Däumig, hat der edle Beccaria, der vor zweihundert Jahren in allen zivilisierten Sprachen die Ruchlosigkeit der Todesstrafe denunzierte, für euch nicht gelebt? Ihr habt keine Zeit, habt tausend Sorgen, Schwierigkeiten, Aufgaben vor euch. Gewiss. Nehmt aber die Uhr in die Hand und seht, wie viel Zeit es erfordert, den Mund aufzutun und zu sagen: Die Todesstrafe ist abgeschafft! Oder wie, könnte es unter euch auch darüber eine lange Debatte mit Abstimmung geben? Würdet ihr euch etwa auch in diesem Falle in das lange Schleppkleid der Formalien, Kompetenzbedenken, Stempel- und Rubrikenfragen und dergleichen Plunder verwickeln?
Ach, wie ist diese deutsche Revolution – deutsch! Wie ist sie nüchtern, pedantisch, ohne Schwung, ohne Glanz, ohne Größe. Die vergessene Todesstrafe ist nur ein kleiner, einzelner Zug. Aber wie pflegt sich gerade in solchen kleinen Zügen der innere Geist des Ganzen zu verraten!
Man nehme ein beliebiges Geschichtsbuch der Großen Französischen Revolution, man nehme den trockenen Mignet. Kann man dieses Buch anders als mit klopfenden Pulsen und brennender Stirn lesen, kann man es aus der Hand legen, wenn man es an beliebiger Stelle aufgeschlagen, bevor man in atemloser Spannung den letzten Akkord des gewaltigen Geschehens hat ausklingen hören? Es ist wie eine Beethovensche Symphonie ins Gigantische gesteigert, ein brausender Sturm auf der Orgel der Zeiten, groß und prächtig im Irrtum wie im Gelingen, im Sieg wie in der Niederlage, im ersten naiven Aufjubeln wie im letzten verhallenden Seufzer. Und jetzt bei uns in Deutschland? Auf Schritt und Tritt, im Kleinen wie im Großen spürt man: Es sind noch die alten braven Genossen aus den Zeiten der selig entschlafenen deutschen Sozialdemokratie, für die das Mitgliedsbüchlein alles, der Mensch und der Geist nichts war. Vergessen wir aber nicht: Weltgeschichte wird nicht gemacht ohne geistige Größe, ohne sittliches Pathos, ohne edle Geste.
Liebknecht und ich haben beim Verlassen der gastlichen Räume, worin wir jüngst hausten – er seinen geschorenen Zuchthausbrüdern, ich meinen lieben armen Sittenmädchen und Diebinnen, mit denen ich dreieinhalb Jahre unter einem Dach verlebt habe –, wir haben ihnen heilig versprochen, als sie uns mit traurigen Blicken begleiteten: Wir vergessen euch nicht!
Wir fordern vom Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates eine sofortige Linderung des Schicksals der Gefangenen in allen Strafanstalten Deutschlands!
Wir fordern die Ausmerzung der Todesstrafe aus dem deutschen Strafkodex!