Von Mexiko nach Polen - Lily Brett - E-Book

Von Mexiko nach Polen E-Book

Lily Brett

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Beschreibung

Lily Brettmacht sich auf eine Reise, die sie von Mexiko nach Berlin und Polen und zurück in ihre Wahlheimat New York führt, wo die Autorin die Anschläge des 11. September 2001 aus unmittelbarer Nähe erlebt.
Offen und unverstellt schildert sie ihr Leben, ihre Gedanken, Gefühle, ihre Arbeit als Schriftstellerin und stellt wieder ihre unnachahmliche Kunst unter Beweis, schwere Themen in ein leichtes Sprachgewand zu hüllen.
Die persönliche Welt wird in ihrem neuen Buch erschüttert wie in keinem anderen zuvor: Das Apartment, das sie zusammen mit ihrem Mann bewohnt, brennt komplett aus. Als endlich wieder Ordnung einzukehren scheint, bricht der Terrorangriff über Manhattan herein und stellen alles in Frage. »Was zählt? Was zählt wirklich?«

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Seitenzahl: 547

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Lily Brett

Von Mexiko nach Polen

Aus dem Englischen von Melanie Walz

Suhrkamp

Die englische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Between Mexico and Poland bei Picador, Pan Macmillan Australia Pty Limited. © Lily Brett 2002

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3680.

© 2003 Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien-Frankfurt/Main.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien-Frankfurt/Main

© 2005, Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

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Umschlaggestaltung nach Entwürfen von hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-78007-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

Mexiko

Das Feuer

New York

Der Angriff

Polen

Für David, für David, für David, für David

Meine Liebe zu dir ist das Klarste

An mir, nicht verwischt, nicht vernarbt

Weitgehend unberührt vom Chaos

Seit dreißig Jahren

War ich bemüht

Putzend und scheuernd und wischend

Meine Träume und mein Handeln zu klären

Und ich modulierte Kadenzen und Krächzen

Bereit, zu orchestrieren oder zu lösen.

Mexiko

Zwei Reihen zarte, haarlose, rosafarbene Häute, feucht und glitzernd, hängen von einer Wäscheleine im Hof eines Hauses. Es sind Schweinehäute, frisch abgezogen, und teilweise sehen sie den Schweinen, zu denen sie gehört haben, noch ähnlich.

Sie wurden aufgehängt, damit man das Fett von ihnen schaben kann. Im Wind klatschen sie unbeholfen. Zu sehr mit Körperflüssigkeit belastet, um graziös zu wirken. Sie sehen aus wie Babys. Wie Neugeborene. Aber etwas fehlt. Ich gebe mir Mühe, die Schweinehäute nicht im Geist mit den Körperteilen von Schweinen zu vergleichen.

Später wird man sie zu steifen, blaßbraunen Blättern fritieren, die als Imbiß verzehrt oder zu verschiedenen Speisen verkocht werden. Sie werden nicht im geringsten an die Schweine erinnern, denen sie entstammen. Ich wende den Blick ab.

Ich bin in Mexiko. Ich bin wieder einmal auf dem Weg nach San Miguel de Allende, einem kleinen Ort in den Bergen, 274 Kilometer nördlich von Mexico City im Bundesstaat Guanajuato. Ich bin gekommen, um mich zu erholen. Um mich vom New Yorker Winter zu erholen und von Kleinkram und Ablenkungen meines Alltagslebens. Ich bin für zehn Tage nach San Miguel gekommen, um zu mir zu kommen. Um mir über einen Roman klarzuwerden, an dem ich schreibe.

Ich habe Hunderte von Seiten mit Notizen vollgeschrieben. Ich habe vier Hauptfiguren und Fragmente weiterer Personen. Fragmente von Szenen. Ganze Blöcke von Dialogen und Stücke von Beobachtungen und Meinungen. Ich habe einen Mann im Bus. Er ist vierunddreißig. Er ist sehr groß und sehr nett. Er hat kurzes, widerspenstig gelocktes, dichtes, kastanienbraunes Haar.

Zu Beginn der zweistündigen Busfahrt erzählt er, daß er nach New York fährt, um sich mit einem ehemaligen Kollegen zu treffen. Einem ehemaligen Arbeitskollegen. Bis zum Ende der Fahrt wird er allen im Bus mitgeteilt haben, daß seine Frau ihn verlassen hat und daß er nach New York fährt, um dort das Wochenende mit seiner neuen Freundin zu verbringen.

Ich weiß, daß er drei Kinder und eine eigene Firma hat, aber ich weiß noch nicht genug über ihn. Oder darüber, welchen Platz er im Leben meiner Hauptfigur einnehmen soll. Sie habe ich. Bis auf weiteres nenne ich sie Pearl. Sie sitzt im selben Bus wie der Mann mit dem kastanienbraunen Haar. Zu verschiedenen Zeitpunkten hieß Pearl Hattie, Heddy oder Rose. Ich habe größere Probleme als Pearls Namen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob sie zweiundvierzig oder zweiundfünfzig sein soll. All diese Dinge muß ich entwirren und ordnen. In San Miguel.

Es ist erst halb zwölf Uhr vormittags, aber die Temperatur beträgt bereits über zwanzig Grad Celsius. Das Klima von San Miguel ist fast das ganze Jahr über nahezu ideal – tagsüber warm und sonnig, nachts etwas kühler; im Winter liegen die Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad, im Sommer um die dreißig Grad. Der Ort befindet sich 6.400 Fuß über dem Meeresspiegel. Die Luftfeuchtigkeit ist gering, und für meine Haare ist das ausgezeichnet, denn Feuchtigkeit ringelt sie zu drahtigen Spiralen.

Ich bin hier mit dem Mann, mit dem ich zusammenlebe. Ich denke an ihn immer als an den Mann, mit dem ich zusammenlebe. Oder als den Mann, den ich liebe. Nebenbei ist er mein Ehemann. Er liebt Mexiko. Die Menschen, die Kultur, die Landschaft, das Essen. Er liebt alles Mexikanische. Seinetwegen kam ich zum ersten Mal nach Mexiko. Er wollte unbedingt Mexiko kennenlernen. Oder wenigstens einen Teil von Mexiko. Also fuhren wir hin. Das war vor vier Jahren. Wir landeten in Mexico City. Er trat aus dem Flugzeug, und noch bevor er einen Fuß in den Lärm, das Chaos und die Menschenmengen des Flughafens gesetzt hatte, sprach dieser Australier irischen Ursprungs ein Englisch mit unverkennbar spanischem Akzent.

Sein halbes Dutzend spanischer Begriffe verwendete er ausgesprochen freigebig. »Buenos dias«, sagte er zu der Angestellten der Continental Airlines. »Willkommen in Mexico City«, antwortete sie. Es störte ihn nicht. »Buenos dias«, begrüßte er den Zollbeamten.

Mir fiel es weniger leicht, mich anzupassen. In Mexico City kam ich gut zurecht. Nun ja, so gut, wie ich irgendwo zurechtkomme, wenn ich die Landessprache nicht spreche. Dann ging es nach San Miguel. Die Busfahrt von Mexico City nach San Miguel raubte mir bereits den letzten Nerv. Die dürre, stoppelige Landschaft. Der Staub. Die Kakteen. Die streunenden Ziegen und Esel.

Alles, was sich dem Blick präsentierte, sah trostlos aus. Wir kamen an Schnellimbissen vorbei, die oft nur aus einer Kochstelle, einem Koch und einem Tisch am Straßenrand bestanden. In kleinen Orten liefen die Kinder barfuß durch den Schmutz. Und räudige, magere Hunde lagen schlafend im Staub. Wir kamen an verrotteten, notdürftig reparierten Bruchbuden vorbei, an baufälligen, fensterlosen Steingebäuden mit nur einem Raum, in denen zweifellos Menschen wohnten und arbeiteten.

Am Straßenrand saßen Frauen und boten entstachelte Kaktusblätter als Salatgemüse feil. Andere saßen neben Stapeln selbstgemachter Tortillas. Das handgemalte Schild eines Mechanikers, das auf dem verrosteten Chassis eines Schrottautos steckte, versprach erstklassige Reparaturarbeiten für alle Wagentypen.

Was mich verstörte, war die grenzenlose Unordnung. Das Organische, das Architektur und Handel eignete. Vermutlich hatte ich Städte mit Polizeiwachen und Krankenhäusern erwartet. Und mit Verkehrszeichen. Aber nicht Hunde und Esel und Staub. Und Tacos, die am Straßenrand gebacken wurden. Und keinerlei Hygienevorschriften.

Im Bus war die Hölle los, und das, seit wir Mexico City verlassen hatten. Zwei heißblütige Frauen stritten sich offenbar um einen Mann, der im übrigen nicht sonderlich attraktiv war. Jedesmal wenn eine der beiden ihre Kontrahentin übertrumpfte und sich bei ihm einschmeichelte, wurde laut gestöhnt und gejammert und schwer geatmet. Das alles ereignete sich in einem Fernsehgerät vorne im Bus. Die Lautstärke war ohrenbetäubend aufgedreht, damit auch die Passagiere in der letzten Reihe mithören konnten. Fast alle starrten wie gebannt auf den Bildschirm.

Als wir San Miguel erreichten, schien die Jüngere sich den Mann gekapert zu haben. Und mein Kopf schmerzte unerträglich. Am liebsten wäre ich nach New York zurückgeflogen. Aber das konnte ich nicht. Wir hatten unser Loft in Soho untervermietet.

So etwas ist in New York nichts Ungewöhnliches. Das Geld, das man dafür bekommt, ist nicht zu verachten. Wir hatten so etwas noch nie getan. Ich war immer zu ängstlich gewesen. Obwohl ich nicht genau wußte, wovor ich mich fürchtete. Davor, daß Fremde in meinem Bett schliefen? Daß die Wohnung verwüstet wurde? Gegenstände beschädigt wurden? Ich wußte es nicht.

Als eine Freundin, die in einem alten New Yorker Brownstone-Haus voller Antiquitäten im East Village lebt, mir erzählte, daß sie ihr Haus seit sechzehn Jahren jeden Sommer untervermietet, ohne daß auch nur ein Glas zerbrochen wurde, dachte ich mir, das könnten wir auch tun. Wir würden unser Loft vermieten. Nach Mexiko fahren. Eine neue Kultur erleben. Und arbeiten. Und das Mietgeld würde unseren Kontostand aufbessern.

Wir vermieteten unser Loft für zwei Monate. Den Mietern ließ ich eine Flasche Champagner da. Und ich nahm einen Koffer voll Arbeit nach Mexiko mit. Es war ein kleiner Koffer. Er enthielt Nachschlagewerke und umfangreiche Notizen für meinen Roman. Ich konnte ihn nicht als Gepäck aufgeben. Ich mußte ihn im Flugzeug bei mir haben. Ich konnte ihn nicht aus den Augen lassen. Die Nachschlagewerke hatten mein Arbeitszimmer nur zweimal verlassen: das erstemal, als wir nach New York zogen, und das zweitemal, als wir in das Loft umzogen.

Ich bat meine jüngere Tochter, eine Liste aller Titel und ihrer ISB-Nummern anzulegen für den Fall, daß ich den Koffer verlor. Ich machte Kopien von der Liste und hinterlegte eine Kopie in New York. Der Roman, an dem ich schrieb, spielte in Polen. Ich war kurz zuvor zum wiederholten Mal in Polen gewesen. Und in Auschwitz. Wenige Tage, nachdem ich aus Polen zurückgekommen war, reiste ich nach Mexiko ab.

Wenige Tage, nachdem ich in Polen in leeren Synagogen gesessen hatte und über ungepflegte, überwucherte Friedhöfe gegangen war, befanden wir uns in San Miguel. Für zwei Monate. Ich und der Mann, mit dem ich zusammenlebe. Und zweiunddreißig Bücher über den Holocaust.

Die ersten zwei Wochen in San Miguel war ich wie benommen. Der Ort war wunderschön. Fast zu schön. Kopfstein gepflasterte hügelige Straßen. Pastellfarben gestrichene Betonhäuser von atemberaubender architektonischer Schlichtheit und Eleganz und Ungekünsteltheit.

Blaue, gelbe, grüne, ockerfarbene und rosa Häuser. Häuser, die Gedichte hätten sein können. Die Farben zum genau richtigen Ton gemischt. Keine schrille Note darunter.

Zeitlose Mauern und Türen und Eingänge. Und über diese Mauern und Türen und Eingänge ergossen sich beinahe lachhaft vollkommene Blumen: Bougainvilleen, Jasmin, Rosen, Orangenblüten. Als hätte Gott all das beiläufig farblich abgestimmt, damit es zu dem leuchtendblauen Himmel und der tiefrotbraunen Erde paßte.

Sogar die mit Holzscheiten oder Milchkannen beladenen Esel schienen genau die richtige Farbe zu haben. Und die Pferde, auf denen man bisweilen mitten in den Laden ritt, waren ästhetisch äußerst ansprechend.

San Miguel war in meinen Augen einer der schönsten Orte, die ich je zu sehen bekommen hatte. Und die Leute waren so freundlich. Aber ich konnte mich nicht daran gewöhnen. Ich konnte mich nicht anpassen. Ich konnte mich nicht entspannen. Die Telefonnummer eines Arztes, der Englisch sprach, lag nachts griffbereit neben meinem Bett. Und ich begann die Tage zu zählen, die ich hier verbringen mußte, bevor ich nach Hause fahren konnte.

In dem pittoresken Ort war immer etwas los. Aktivitäten. Bewegung. Leben. Straßenverkäufer gingen mit ihren Erdbeeren und Erdnüssen und mit ihrem Knoblauch und ihren getrockneten Bohnen und Blumen von Tür zu Tür. Andere hielten ihre Waren auf der Straße feil.

Scherenschleifer und Glaser verkündeten ihre Anwesenheit vor den Häusern. Bauarbeiter klopften und hämmerten und mischten Zement. Und immer war Radiomusik zu hören und jemand, der sang.

Überall waren Kinder. Schöne schwarzhaarige, braunäugige Kinder. Frischgeschrubbt rannten sie morgens auf dem Weg zur Schule die steilen Straßen hinunter. Nachmittags veranstalteten sie im Park Stierkampfübungen. Und der Klang der Kirchenglocken war allgegenwärtig.

Eines Abends besuchten wir auf dem Zócalo, dem größten Platz, ein Konzert mit klassischer Musik. Die Orchestermusiker erschienen und setzten sich.

Der Dirigent ordnete seine Notenblätter auf einem Notenständer.

Der Zócalo von San Miguel ist nicht groß. Zwei Mariachikapellen spielten bereits, eine lauter als die andere. Der Zeremonienmeister trat ans Mikrofon, um das Orchester anzukündigen. Die Mariachikapellen spielten weiter. Die Stimme des Zeremonienmeisters war nicht zu hören. Es sah aus, als würde er nur die Lippen bewegen.

Der Dirigent verbeugte sich und eröffnete das Konzert. Die fünfundzwanzig Musiker spielten um ihr Leben. Die Mariachikapellen ebenfalls. Der Lärm war entsetzlich. Eine ohrenbetäubende, chaotische Kakophonie. »Wann hören die Mariachikapellen endlich auf?« rief ich meinem Mann zu. »Wenn sie fertig sind, nehme ich an«, sagte er. Niemand schien sich daran zu stören. Alle lächelten. Bis auf mich. Mir kam alles so fremd vor. Die Leute lächelten, wenn man sie ansah. Alle waren fröhlich. Zu fröhlich. Mir war elend zumute. So viel Fröhlichkeit deprimierte mich. »Warum sind sie so glücklich?« fragte ich meinen Mann. Er schwieg. »Es muß etwas Genetisches sein«, sagte ich. »Du würdest nie erleben, daß Juden in Gruppen herumstehen und so glücklich aussehen.«

Ich versuchte mich anzupassen. Dennoch kam ich mir befremdlich fehl am Platz vor. Wenn ich das Haus verließ, war mir, als hörte ich die Leute Polnisch sprechen. Von den unterschiedlichsten Leuten, denen ich auf der Straße begegnete, schnappte ich polnische Wörter und Satzfetzen auf. Ich war davon überzeugt, daß zwei Frauen vor einem Friseurgeschäft an der Calle San Pedro sich auf polnisch unterhielten. »Allzu viele Polen kann es in diesem Bergdorf nicht geben«, sagte ich zu meinem Mann. »Wahrscheinlich gar keine«, antwortete er.

»Der Mann da drüben hat eben terraz gesagt«, sagte ich und deutete auf jemanden, der an einem Stand am Straßenrand Zwiebeln kaufte. »Terraz heißt auf polnisch jetzt.« – »Terraza heißt auf spanisch Terrasse«, sagte ein Mann, der neben meinem Mann stand. Ich kam mir sehr dumm vor. Ich bemühte mich nach Kräften, mich an den Lärm und die Farben und die Sprache zu gewöhnen. Zum Geräusch der Kirchenglocken, des Klopfens und Hämmerns und Singens und zu den spanisch-polnischen Lautschnipseln zu arbeiten.

Eines Tages schrieb ich an einem Kapitel, in dem eine zweiundvierzigjährige New Yorkerin am Flughafen von Warschau auf ihren Vater wartet, der aus Australien kommt. Mitten in einem Absatz, in dem Ruth Rothwax, meine alleinstehende, kinderlose, zweiundvierzigjährige New Yorkerin, sich darüber Gedanken macht, warum andere Leute es nötig finden, Kinder zu haben, wurde ich unterbrochen. Unterbrochen wurde ich durch das Plärren und Kreischen kleiner Kinder. Das Plärren und Kreischen wurde immer lauter. Und immer unüberhörbarer. Der Lärm kam aus der Nähe des Hintereingangs unseres Hauses. Offenbar ein Gruppenspiel. Ich fragte mich, ob ich die Kinder dazu überreden könnte, woanders spielen zu gehen.

Ich legte die Blätter, die sich auf meinem Schoß stapelten, auf einen Stuhl und ging nach draußen. Ich rätselte, warum diese Kinder nicht in der Schule waren; das Geschrei wurde noch lauter. Es war später Vormittag. An einem Wochentag. Sie hätten in der Schule sein müssen.

Ich überlegte, wie ich meine Bitte ausdrücken sollte. Wie ich ihnen meinen Wunsch klarmachen sollte. Ich öffnete die Tür im Zaun. Und trat mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück. Vor mir befand sich ein riesengroßes Schwein. Eine riesige schwarz- und graugefleckte Muttersau mit elf rosa, schwarzen und grauen Ferkeln.

Ich war wie vom Donner gerührt. Noch nie hatte ich ein Schwein aus solcher Nähe gesehen. Ich fürchtete mich ein bißchen. Die Sau war entsetzlich groß. Die Hälfte der Ferkel klebte an ihr, gierig saugend. Die anderen balgten sich um eine Zitze oder versuchten ihren Platz an der zu behaupten, die sie gefunden hatten. Und sie quiekten um die Wette.

Ich stand da und starrte sie an. Keines der Schweine interessierte sich für mich. Sie purzelten übereinander, schoben und drängelten und saugten. Sie saugten so kräftig, daß es mir vorkam, als müßten sie sich geradewegs bis in Herz und Lungen der Muttersau saugen.

Die Sau lag auf der Seite. Sie wirkte überfordert. Sie hatte den Gesichtsausdruck aller Mütter: den der Erschöpfung. Und der Resignation. Plötzlich empfand ich Solidarität mit der Sau. Sie tat mir leid. Ich hätte ihr gerne erklärt, daß ich auch Mutter bin. Und daß ich weiß, wie sie fühlt.

Ich nickte ihr mitfühlend zu. Zu spät. Sie war eingeschlafen. Sie schnarchte. Die Ferkel quiekten und kreischten noch immer. Und Schweine zu stören ist nicht meine Art. Ich mag sie tatsächlich. Ich habe schon große Schweine erlebt, kleine Schweine, gefleckte und gescheckte Schweine und sogar ein Albinoschwein.

Wir befinden uns am Ortsrand von San Miguel de Allende. In wenigen Minuten werden wir angekommen sein. Ich bin aufgeregt. Es ist mein dritter Besuch. Ich habe begonnen, die Stadt zu lieben. Ich freue mich auf das morgendliche Joggen im Juárez-Park. Darauf, in der Bäckerei mit der blauen Tür, auch als La Colmena Panaderia bekannt, Brötchen zum Lunch zu kaufen. Ich freue mich auf mexikanische Getreidekleie. Sie ist dunkelbraun und schmeckt köstlich. Sie ist fester und körniger als amerikanische oder australische Getreidekleie.

Ich weiß, daß ich meinen fettfreien Joghurt bei Remos kaufen kann, in dem Käseladen an der Calle Codo. Er ist hausgemacht. Dort gibt es auch den besten Ricotta, den ich je gegessen habe. Er gilt als fettfrei. »Sin grasa«, sagt die Verkäuferin jedesmal zu mir, wenn ich welchen kaufe.

Auf dem Markt kaufe ich Mangos, Papayas, Ananas, Guaven und Passionsfrüchte. Mit meiner Freundin Elizabeth Montes, einer Fitneßtrainerin, die mit ihrem mexikanischen Ehemann in San Miguel wohnt, kann ich im Fitneßstudio trainieren. Höchstwahrscheinlich wären wir die zwei einzigen Frauen, die das Fitneßstudio aufsuchen.

Ich bin sehr glücklich. Froh, daß ich hier bin. Mein Kopf ist schon viel klarer. Ich bin mir schon viel klarer über das Personal meines Romans und sein Tun. Ich sehe den Mann an, mit dem ich zusammenlebe. Er strahlt.

Das Taxi, das wir am Busbahnhof erwischt haben, fährt in die Huertas ein. An dieser Straße liegt das Haus, das wir gemietet haben. Die Straße ist so steil, daß der Wagen sich ruckend abmüht. Wir haben ein bescheidenes Haus mit drei Schlafzimmern gemietet. Zu dem Haus gehört ein Hausmädchen. Das gilt für die meisten Häuser hier.

Ich hatte bereits eine Reihe umständlicher Verhandlungen zu diesem Themenkomplex mit der Hausbesitzerin. Ich hatte sie gefragt, ob das Hausmädchen, das in dem Haus für uns gekocht hatte, in dem wir bei unserem ersten Besuch wohnten, auch in ihrem Haus für uns kochen könne. Und hinzugefügt, daß ich ihr eigenes Hausmädchen nicht kränken wolle.

Die Besitzerin des Hauses, die nicht in San Miguel lebt, hatte gesagt, das müsse sie mit dem Hausmädchen besprechen und sie könne sich durchaus vorstellen, daß so etwas ihrem Hausmädchen nicht passe. Ich hatte gesagt, ich würde sie wieder anrufen.

Als ich wieder anrief, erklärte mir die Hausbesitzerin fröhlich, daß Lupe, ihr Mädchen, sich nicht im geringsten daran störe, daß ein anderes Mädchen koche. Offenbar hatte Lupe gesagt, sie sei eine fürchterliche Köchin und habe nichts dagegen, daß Lucrecia, unser früheres Hausmädchen, diesen Teil des Haushalts übernehmen werde.

Aber eine Bedingung hatte Lupe. Sie bestand darauf, daß die andere nicht putzen dürfe. Ich sagte, das wolle ich Lucrecia ausrichten. Ich rief Elizabeth an. »Liz«, sagte ich, »kannst du Lucrecia anrufen und ihr sagen, daß Lupe einverstanden ist, wenn sie bei uns kocht, aber daß sie nicht putzen darf?«

»Kann Lucrecia nach dem Kochen in der Küche aufräumen?« fragte Liz. »Keine Ahnung«, sagte ich. Angestellte zu dirigieren überforderte mich allmählich. Ich empfand leises Mitgefühl mit den Rockefellers und den Rothschilds. »Kannst du Lupe anrufen und das mit ihr klären?« bat ich Liz. »In Ordnung«, sagte sie. »Und danach rufe ich Lucrecia an und erkläre ihr alles.« – »Ich danke dir«, sagte ich.

Wir hielten vor Nummer Vierundfünfzig an. Ich erkannte das Haus wieder, das wir auf Fotos gesehen hatten. Es war ein bezauberndes Haus. Es war in gedämpftem Hellrot gestrichen, mit blaßrosa Fensterrahmen und Fensterläden. Vor dem Haus parkte ein dunkelbrauner alter VW. Ein perfektes Bild.

Der alte VW-Käfer wird in Mexiko noch heute gebaut. Alle alten und neuen alten VWs, die in San Miguel herumknattern, sind in den entzückendsten Farben lackiert. Sie sehen aus, als wären sie eigens entworfen, um zu den Häusern und dem Kopfsteinpflaster und den Eseln und Schweinen zu passen.

Beide Hausmädchen erwarteten uns. Lupe war eine große, schöne junge Frau mit breitem Lächeln. Sie stand auf den Eingangsstufen und lächelte ununterbrochen. Neben Lupe stand die schüchterne Lucrecia. Ich hatte ganz vergessen, wie still und bescheiden Lucrecia war. In dem Haus, das wir bei unserem ersten Aufenthalt gemietet hatten, hatte sie nahezu geräuschlos gekocht und geputzt. Oft wußten wir gar nicht, in welchem Teil des Hauses sie sich gerade aufhielt.

Und ich hatte vergessen, wie klein Lucrecia war. Mit dem Kopf reichte sie mir kaum bis zur Brust. Manchmal waren wir gemeinsam einkaufen gegangen, und ich hatte immer den Eindruck, daß wir ein überaus kurioses Paar abgaben. Lucrecia war Großmutter. Sie zog ihre Enkelkinder auf. Sie sah aus wie eine Großmutter, obwohl sie vielleicht kaum älter als vierzig war.

Ich bückte mich, um Lucrecia zur Begrüßung zu küssen. Verlegen senkte sie den Blick zu Boden. Ich schüttelte Lupe die Hand. »Buenos dias, buenos dias«, sagte Lupe zu uns. »Buenos dias«, antwortete mein Mann. Lupe strahlte. Sie streckte die Arme zum Willkommen aus und sagte alles mögliche auf spanisch. Es klang wie eine Begrüßung. »Bien«, sagte sie. Gut? »Muy bien«, sehr gut, antwortete ich und verbrauchte zwei meiner sechs spanischen Wörter. Mein Mann nickte. Lupe lächelte über das ganze Gesicht und geleitete uns in die Küche.

In der Küche stand Lucrecia am Herd und rührte emsig in einem Topf. Der Tisch war mit Besteck, Tellern, Gläsern, Servietten und Blumen wunderschön gedeckt. »Pollo sin grasa«, sagte Lucrecia und deutete auf den dampfenden Topf. Huhn ohne Fett. »Ohne Fett«, ist eine Wendung, die ich in mehreren Sprachen sagen und verstehen kann.

»Ohne Fett« auf spanisch habe ich gelernt, als Lucrecia zum erstenmal für uns arbeitete. Lucrecias Arbeitgeber, ein amerikanisches Ehepaar, dem das Haus gehörte, hatten uns gesagt, daß das Hausmädchen Lucrecia eine ziemlich gute Köchin sei. Sie hatten uns auf einem Zettel die Gerichte notiert, die Lucrecia kochen konnte.

Zu dieser Liste zählten Bœuf Bourgignon, Ente àl’Orange und Crepes Suzette. Offenbar hatten sie Lucrecia auf einen französischen Kochkurs geschickt, den ein ortsansässiger Amerikaner leitete.

Bœuf Bourgignon? Ente à I’Orange? Ich hatte das Ehepaar gefragt, ob Lucrecia mexikanisch koche. »Das weiß ich nicht«, hatte die Frau gesagt. »Wenn sie für eine Abendgesellschaft kochen soll, geben Sie ihr einen Dollar mehr«, hatte sie hinzugefügt, bevor sie nach Florida entschwand. Ich zeigte Lucrecia die Liste.

Ich deutete auf Ente à I’Orange und auf Crepes Suzette und verzog das Gesicht. Zuerst sah Lucrecia mich ratlos an. »Mexikanisch?« sagte ich. »Mexikanisch?« Und dann fiel der Groschen, und sie kicherte.

Lucrecia und ich führten das Gespräch über fettfrei, fettarm und so fettarm wie möglich unter Schwierigkeiten, aber es gelang uns. Und dann begann Lucrecia für uns zu kochen. Sie entpuppte sich als außergewöhnliche und begabte Köchin. Statt Fett zu verwenden, reduzierte Lucrecia Obst- und Gemüsebrühen als Geschmacksträger.

»Sin sah,, verkündete Lucrecia mir eines Tages zufrieden über ein Bohnengericht. Salzlos. Sie hatte schnell gemerkt, daß ich darauf achtete, was ich aß, und hatte daraus abgeleitet, daß weniger Salz mir zusagen würde.

Und so kochte Lucrecia alles für uns. Fettfrei und salzlos. Sie bereitete phantastische Suppen und Salate und Saucen und Salsas und gefüllte Paprika und Enchiladas und sogar fettfreie Tamales zu.

Lucrecia, die in einem Abbruchhaus von der Größe eines kleinen Zimmers wohnte, bereitete die Art von Schonkost zu, für die Amerikaner in einem teuren Sanatorium Tausende von Dollar zahlen würden. In Amerika hätte sie damit ein Vermögen machen können.

Ich lächelte Lucrecia an. »Gracias, gracias«, sagte ich in bezug auf das fettfreie Huhn. Wir hatten Lucrecia seit Jahren nicht gesehen, doch ich wußte, daß sie keines unserer vielen mit Händen und Füßen geführten Gespräche vergessen hatte.

Lucrecia blickte zu dem Huhn und deutete auf ihre Brust. »Hühnerbrust«, sagte ich und deutete auf meine eigenen Brüste. »Keine Hühnerbeine«, sagte ich, klopfte auf meine Schenkel und schüttelte den Kopf. Keine Hühnerbeine, wiederholte Lucrecia und ahmte meine Gesten nach.

Ich begreife, daß Lucrecia erwartet, daß wir jetzt essen. Aber ich habe keinen Hunger. Nach der Busfahrt vom Flughafen her ist mir sogar ein bißchen übel. Und wir haben noch nicht geduscht und nichts ausgepackt. Lucrecia beginnt Teller mit Speisen aufzudecken. »Ich glaube, wir müssen jetzt essen«, sage ich zu meinem Mann. »Prima«, antwortet er. Er hat Hunger. Lucrecia, die seine Miene beobachtet hat, braucht keine weitere Ermunterung. In nicht einmal zwei Minuten hat sie den ganzen Tisch mit Speisen bedeckt.

Sie hat rote und grüne Salsa aufgetischt, mehrere Salate und eine große Schüssel Guacamole. Sie hat zwei Suppen vorbereitet und chiles rellenos, gefüllte Paprikaschoten, für meinen Mann und geschmorte Hühnerbrust für mich. Wohl oder übel muß ich mich setzen und essen.

Lucrecia steht daneben und sieht uns zu. Lupe steht neben Lucrecia. Beide blicken ernst. Seit wir Lucrecia zuviel bezahlt haben, kocht sie zuviel für uns. Der durchschnittliche Lohn eines Hausmädchens in San Miguel beträgt fünfunddreißig Dollar. Wir haben Lucrecia nur für das Kochen dreimal soviel bezahlt.

Wir essen, bis wir nicht mehr können. Lucrecia räumt jeden Teller ab, sobald wir die Gabel hinlegen. Und Lupe eilt zum Spülbecken und wäscht ab. Ich esse meinen Salat und meine Salsa auf. Sofort gibt Lucrecia mir Hühnerbrust nach. »Sin grasa«, wiederholt sie.

Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu erklären, daß ich momentan wieder einmal vegetarisch lebe. Daß ich hin und wieder über längere Zeiträume nicht zwischen Schlachtfleisch und den lebenden Tieren unterscheiden kann, die seinen Ursprung bilden. Selbst wenn ich nicht vegetarisch lebe, esse ich wenig Fleisch. Aber Huhn esse ich. Ich esse das Huhn.

»Muy bien«, lobt mein Mann die chiles rellenos. »Muy bien«, wiederholt Lupe und stößt Lucrecia mit dem Ellbogen an. Lucrecia lächelt. Beide Frauen sehen sehr zufrieden aus. Mein Mann und ich essen weiter.

Ich esse das Huhn auf. Es war köstlich, aber mir ist entschieden unwohl. Ich denke mir, daß es an der Anspannung liegt, die es bedeutet, beim Essen beobachtet zu werden. Und von Personal bedient zu werden. Ich leide unter akuter Hausmädchenneuralgie. Wie ertragen die Rothschilds ihre Hausangestellten? Ich esse gern allein oder mit meinem Mann. Ich beschließe, meine Freundin Liz zu bitten, diesen Umstand Lupe und Lucrecia zu erklären.

Abends gehe ich erschöpft zu Bett. Ich freue mich, daß ich müde bin. Im allgemeinen bedeutet es, daß ich gut schlafen werde. Vor achtzehn Jahren litt ich ziemlich lange an Schlaflosigkeit. Seitdem war gesunder Schlaf nie mehr eine Selbstverständlichkeit für mich.

Sehr lautes Krähen weckt mich. Ein Hahn. Ich kann nicht fassen, daß es schon Morgen ist. Und daß wir einen Hahn zum Nachbarn haben. Der Hahn kräht unaufhörlich weiter. So laut, daß man meinen könnte, er befände sich im Schlafzimmer. Ich schalte das Licht an. Kein Hahn ist im Zimmer. Ich frage mich, wieviel Uhr es ist. Ich finde meine Uhr. Es ist fünf nach zwölf.

Kikeriki, kräht der Hahn. In meinem Halbschlaf fällt mir auf, daß ich noch nie bewußt einen Hahnenschrei gehört habe und daß echte Hähne im echten Leben genauso krähen wie die im Kinderbuch: Kikeriki.

Kikeriki. Dieser mexikanische Hahn hat noch nicht einmal einen spanischen Akzent. Sein Krähen klingt schrill und grell. Vielleicht trifft das auf alle Hähne zu. Sein Krähen scheint immer lauter zu werden. Ich liege im Bett und versuche mir einzureden, daß dieser Hahn möglicherweise nur Gutenachtgrüße kräht. Daß er nur ein geselliger Kumpan von einem Hahn ist, der sich bald in die Federn trollen wird. Aber ich habe keine Geduld mehr. Und keine Nerven. »Warum ist dieser Hahn nachts wach?« frage ich meinen Mann. Ich mußte ihn wecken, um ihn das zu fragen. Mein Mann kann in jeder Situation schlafen.

»Wieviel Uhr ist es?« fragt mein Mann. Ich schalte das Licht wieder an. »Es ist zwei Uhr«, sage ich. Er stöhnt. Hähne sind um diese Zeit normalerweise nicht wach, oder?« frage ich. Mein Mann kennt sich mit der Natur aus. »Nein«, antwortet er.

»Ich dachte, Hähne würden nur bei Sonnenaufgang krähen«, sage ich. »Draußen ist es noch dunkel. Vielleicht leidet der Hahn an Schlaflosigkeit.« – »Vielleicht«, sagt mein Mann verschlafen. Bis zum Morgengrauen sind es noch Stunden. Was ist bloß mit dem Hahn los? Ist er vielleicht eine überängstliche Strebernatur, die ihren compadres um Längen voraus sein will? Wer weiß.

Der Hahn kräht weiter. »Meinst du, er wird irgendwann müde und schläft?« frage ich meinen Mann. Er antwortet nicht. Er schläft. Ich liege im Bett. Ich versuche, der Situation gelassen zu begegnen. Ich versuche, nicht zu glauben, daß sich dieses Spektakel jede Nacht wiederholen wird. Vielleicht wurde die Nachtruhe des Hahns gestört, so wie meine.

Das Krähen nimmt kein Ende. Hin und wieder antwortet dem Hahn ein Hund mit Bellen. Und ein paarmal gesellen sich weitere Hunde hinzu. Ich fühle mich immer erschöpfter. Warum muß ausgerechnet ich an einen redseligen und langatmigen Hahn geraten? Sehnsüchtig denke ich an meine ruhige New Yorker Wohnung. Die einzigen Geräusche, die ich dort nachts höre, sind vereinzelte Krankenwagen und Polizeisirenen.

Als es fünf Uhr morgens ist, hasse ich den Hahn. Ich bin bereit, ihm den Hals umzudrehen. Um sechs Uhr tritt Stille ein. Wahrscheinlich macht der Hahn ein Nickerchen. Ich nehme eine Kopfschmerztablette.

Um sieben Uhr ruft mein Vater mich aus Australien an.

»Hallo, hallo«, begrüßt er mich. »Wie ist es in Mexiko?«

»Ich bin erst seit einem guten halben Tag hier«, sage ich ein bißchen unfroh.

»Ich habe extra gewartet, bis es hier in Melbourne zwölf Uhr nachts ist«, sagt mein Vater, »bevor ich dich anrufe. Weil ich habe gewußt, daß sogar meine Tochter, was gerne früh aufsteht, noch nicht an der Arbeit sitzen wird.«

Seine Stimme klingt so herzlich und fröhlich. Ich schäme mich, daß ich mich über seinen Anruf nicht unbeschwerter freuen kann. Mein Vater hat so vieles durchgemacht. Das Ghetto. Die Todeslager. NS-Europa. Er ist fünfundachtzig. Und ich weiß, daß seine Beziehung zu mir ihm viel Glück und Freude bereitet.

»Was ist los mit dir?« fragt mein Vater. Er hat am Ton meiner Stimme gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ich hätte mir mehr Mühe geben müssen, fröhlich zu klingen. Mein Vater spürt immer, wie es mir geht.

»Ich bin müde«, sage ich. »Ein Hahn hat mich fast die ganze Nacht wachgehalten.« – »Weißt du, was ein Hahn ist?« frage ich. Obwohl mein Vater gut Englisch spricht, vergewissere ich mich immer aus reiner Gewohnheit, ob er seltene oder ungewöhnliche Wörter versteht. Er ist gekränkt.

»Natürlich weiß ich, was ein Hahn ist«, sagt er eingeschnappt. »Ein Hahn ist ein Huhn, was ist ein Mann.« »Richtig«, sage ich.

»Natürlich ist das richtig«, sagt er. Dann beginnt er zu lachen. Er scheint zu denken, daß es sehr komisch ist, von einem Hahn wachgehalten zu werden.

»Wo ist der Hahn?« fragt er. »In dem Haus, was du hast gemietet?«

»So klingt es«, sage ich, »aber er ist nicht hier. Er muß in der Nähe sein.«

»›Oj, a broch«, sagt mein Vater. »Du bist nach Mexiko gefahren, um dich auszuruhen, und jetzt hast du diesen Hahn.« Oj, a broch ist Jiddisch und bedeutet: Oh, verwünscht.

»Der Hahn hat die ganze Nacht gekräht«, sage ich. Darüber muß mein Vater wieder lachen.

»Die ganze Nacht?« fragt er.

»Die ganze Nacht«, erwidere ich. »Und dann haben Hunde zu bellen angefangen, um ihm zu antworten.« Mein Vater kann nicht mehr an sich halten. Er lacht sich halb tot. Ich merke, daß er Mitgefühl zu zeigen versucht, aber er kann nicht aufhören zu lachen.

Ich persönlich finde das alles überhaupt nicht komisch. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sage ich zu meinem Vater. »Was soll ich tun, wenn er das jede Nacht macht? Dann gehe ich auf dem Zahnfleisch, bis ich nach New York zurückkomme.«

»Und die Fehler von deinem neuen Buch kannst du auch nicht beheben«, sagt er.

»Ich versuche, keine Fehler zu beheben«, sage ich giftig. »Ich will den roten Faden der Geschichte herausarbeiten.«

»Das ist kein Unterschied«, sagt er. Ich schäme mich für meinen giftigen Ton. Warum will ich mit meinem Vater Streit anfangen? Ich sollte lieber mit dem Hahn streiten.

»Du hast recht, es ist kein Unterschied«, sage ich.

»Ich habe eine Idee«, erklärt mein Vater unvermutet. »Du solltest gehen zu den Leuten, denen gehört dieser Hahn, und ihnen sagen, daß du ihn möchtest kaufen. Biete ihnen mehr Geld an, als was kostet so ein Hahn.«

»Was für eine großartige Idee«, sage ich und fasse neuen Mut. »Darauf wäre ich gar nicht gekommen.«

»Es ist gut, wenn man hat einen Vater«, erklärt mein Vater.

»Und was mache ich mit dem Hahn, wenn ich ihn gekauft habe?« frage ich.

»Das ist egal«, sagt er.

»Ich weiß«, sage ich. »Ich packe ihn ins Auto und setze ihn irgendwo aus.«

»Ausgezeichnet«, sagt er.

Jetzt lachen wir beide, bis uns die Tränen kommen. »Meinst du, Hähne sind wie Hunde und können den Weg nach Hause finden?« frage ich ihn.

»Das glaube ich nicht«, sagt er, als er schließlich zu lachen aufhört.

Mir ist viel leichter ums Herz als vor dem Anruf meines Vaters. Ich bin richtiggehend heiter. »Wie geht es dir, Dad?« frage ich ihn. »So gut, wie man erwarten kann«, antwortet er. Das ist seine Standardantwort seit Jahrzehnten. Ich erinnere mich, daß er es gesagt hat, als ich sieben, acht, neun Jahre alt war. Damals klang es in meinen Ohren wie ein Krankenbulletin und hatte etwas Erschreckendes. Ich hätte ihn am liebsten gefragt, was nicht in Ordnung war. Noch heute empfinde ich so, aber ich nehme mich zusammen und stelle ihm keine Fragen. Ich weiß, daß die Worte »so gut, wie man erwarten kann« eine Versicherung dagegen sind, das Glück herauszufordern, den bösen Blick auf sich zu ziehen, alles zu ruinieren – Glück, Frieden, Wohlbefinden. Im übrigen teile ich diese Neigung. Es fällt mir schwer zu sagen: »Gut«, wenn man mich fragt, wie es mir geht. Am liebsten antworte ich: »Nicht schlecht« oder: »In Ordnung«.

»Was macht das Gewichtheben?« frage ich meinen Vater. Fast ein Jahr lang habe ich ihn angebettelt, es mit dem Gewichtheben zu versuchen. Ich habe gebettelt. Und geschmeichelt. Auf ihn eingeredet. Ihm erklärt, daß das Gewichtheben seine Knochendichte verbessern, sein Gleichgewichtsgefühl steigern und seinen ganzen Körper kräftigen würde.

Er stellte sich taub. Er hielt es für eine fürchterliche Idee. Aber ich ließ nicht locker. Und mein Vater, ein Mann, der nie einen Schritt ging, wenn er fahren konnte, und der noch nie im Leben eine Gymnastikübung gemacht hatte, gab zuletzt nach. Ich glaube, daß ich seinen Widerstand tatsächlich erschöpft habe. Und er versprach, es zu probieren.

Wenn mein Vater verspricht, etwas zu probieren, erfüllt er sein Versprechen verblüffend prompt und gründlich: Keine zwei Tage später hatte er ein Fitneßstudio und einen Trainer gefunden. Vier Häuserblocks von seiner Wohnung entfernt. Das war vor zwei Jahren. Damals war er dreiundachtzig.

Er geht zweimal in der Woche zum Gewichtheben. Nie im Leben würde er zugeben, daß es ihm Spaß macht. Ganz im Gegenteil. Er läßt keine Gelegenheit aus, sich über das Gewichtheben zu beschweren. »Du hast behauptet, es würde mir fallen leichter, wenn ich es wäre gewohnt«, erklärt er mir regelmäßig. »Aber es ist nicht geworden leichter, sondern es wird schwerer jeden Tag.« – »Aber ich will mich nicht beklagen«, fügt er jedesmal als Coda hinzu.

Die gleichen Beschwerden bringt er anläßlich des halbstündigen Spaziergangs vor, den er jeden Morgen macht. Den ich ihm ebenfalls eingeredet habe. Aber keinen Tag läßt er ihn aus. Und noch nie hat er das Gewichtheben versäumt.

Ich weiß, daß er seinen Trainer heiß und innig liebt. »Er läßt mich nicht allein, keine Sekunde lang«, hat mein Vater mir hundertmal erklärt. Ich habe ihm erklärt, ebenfalls hundertmal, daß darin die Aufgabe eines Trainers besteht. Aber das beeindruckt ihn nicht.

»Selbst wenn das Telefon klingelt, läßt er mich nicht allein«, sagt mein Vater, »und er sieht mir bei jeder Übung zu.« Mein Vater kann es noch immer nicht fassen, daß der junge Mann die ganze Stunde über bei ihm bleibt.

Der Unterschied in der Kondition meines Vaters, seit er Gewichte hebt, ist auffällig. Als ich das letztemal in Australien war, habe ich gesehen, daß er zehn Minuten auf dem Boden hockte und im Telefonbuch nach einer Nummer suchte; ich kann mir nicht vorstellen, zehn Minuten in der Hocke zu verbringen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.

Und ich habe gesehen, wie er die lange Einfahrt vor seinem Haus entlangrannte, um ein Taxi aufzuhalten. Ich traute meinen Augen nicht, so schnell lief er. Ich bin dem jungen Mann, der meinen Vater während ihrer Stunden nie aus den Augen läßt, unendlich dankbar. Ich wünschte, mein Vater würde seine Übungen auf dreimal wöchentlich ausdehnen. Aber bisher war er dazu nicht zu bewegen.

Als könnte er an diesem Morgen telefonisch meine Gedanken lesen, sagt er: »Ich gehe zweimal in der Woche zum Gewichtheben, und das genügt.« Das sagt er mit Nachdruck. Ich beschließe, das Thema auf sich beruhen zu lassen. Wir unterhalten uns noch für einige Minuten, und dann sagt er, ich solle mich entspannen und es mir gutgehen lassen und ihn über den Hahn auf dem laufenden halten.

Ich beschließe, im Juárez-Park joggen zu gehen, einem kleinen Park in der Nähe der Innenstadt. Der Juárez-Park ist der Treffpunkt, wo die Mexikaner von San Miguel sich der sportlichen Ertüchtigung widmen. Sport wird in Mexiko nicht sehr groß geschrieben. Anders als in New York, wo man fast wie ein Aussätziger behandelt wird, wenn man nicht Sport treibt.

Im Juárez-Park habe ich mexikanische Männer und Frauen die merkwürdigsten Dinge anstellen sehen. Ich habe Leute stehen und einen Fuß oder ein Knie bewegen sehen. Oder sich mit einer Begeisterung und Hingabe verdrehen und verrenken, die mir für ihre Wirbelsäule nichts Gutes zu verheißen schien.

Viele der Männer, die im Park laufen, sind für ihren Morgensport viel zu dick angezogen. Sie tragen Kapuzen und Hüte und Handschuhe und genug Schichten von Kleidung, um in arktischen Breiten ohne weiteres zu überleben. Zuerst dachte ich, die viele Kleidung solle Schwitzen und Gewichtabnahme anregen. Doch dann begriff ich, daß es am Winter lag. Selbst am frühen Morgen betragen die Wintertemperaturen in San Miguel um die fünfzehn Grad.

Viele Frauen, die im Park laufen, traben gemächlich und unterhalten sich dabei. Das Unterhalten ist ihnen offensichtlich wichtiger als das Laufen, denn sie bleiben oft stehen, um sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Manche von ihnen lächeln mir ermutigend zu. Ich kann sehen, daß sie mein Durchhaltevermögen bewundern. Ich bleibe nicht stehen und laufe meistens eine Stunde lang.

Manche der Amerikaner, die in San Miguel leben, laufen auch im Juárez-Park. Sie nehmen ihren Frühsport ernst und tragen Sportkleidung und Walkmans mit Kopfhörern. Seit den vierziger Jahren gibt es in San Miguel eine kleine amerikanische Gemeinde.

Inzwischen hat die Stadt eine Bevölkerung von etwa siebzigtausend Mexikanern und zwei- bis dreitausend Amerikanern und Kanadiern, abhängig von der Jahreszeit. Die Bundesregierung hat den Ort 1926 zum Nationaldenkmal erklärt. Infolgedessen gibt es keine Neonreklame, keine Hydranten und keine Verkehrsampeln. Das Fehlen von Verkehrsampeln macht das Autofahren zu einer sehr kreativen Tätigkeit. Wer an der Kreuzung halten muß und wer nicht, scheint Auslegungssache zu sein. Die ortsansässigen Amerikaner kommen mir nicht sehr aufdringlich vor. Sie haben die Sitten und Gebräuche nicht verwässert. Alles ist nach wie vor zutiefst mexikanisch.

Kaum erreiche ich den Juárez-Park, begegnet mir ein Mexikaner, der hier jeden Tag läuft. Bei jedem Aufenthalt bin ich ihm begegnet. »Buenos dias«, sagt erund winkt, als er an mir vorbeiläuft. Ich freue mich, wiedererkannt und begrüßt zu werden.

Zwei Frauen, die ich auch bei jedem Besuch sehe, erkennen mich. Beide nicken mir freudestrahlend zu. Sie gehören zu den gemächlich dahintrabenden Klatschbasen. Die eine hat eine unvorstellbar komplizierte Frisur. Beinahe japanisch. Haarsträhnen sind um andere Haarsträhnen gelegt und gewunden. Das Ganze fügt sich zu einer Art Tolle, die ihren Kopf um fast einen halben Meter überragt. Ich habe mich schon oft gefragt, wie sie verhindert, daß die Frisur umkippt. Ich bin aufgeregt, als ich die Frauen sehe. Und als ich sehe, daß die Frisur unversehrt ist.

Ich beginne zu laufen. Wenn ich laufe, geht es mir stets besser. Sogar wenn ich zu Tode erschöpft bin und mich nur mit Mühe aufraffen kann, geht es mir sofort besser, wenn ich mich zwinge, laufen zu gehen, das weiß ich inzwischen. Im Park ist immer viel los. Imbißverkäufer sind da und Leute, die putzen und aufräumen, und Vögel und Hunde und vereinzelte Kinder. Einige Vogelrufe klingen etwas befremdlich. Sie klingen genauso wie das Klingeln, mit dem mein Mobiltelefon verkündet, daß eine Nachricht für mich hinterlegt wurde. Ich wundere mich, warum ich so viele Nachrichten erhalte. Und dann fällt mir ein, daß ich mein Handy gar nicht mitgenommen habe. Es ist in New York geblieben. Die Botschaften, über die ich mir den Kopf zerbrochen habe, werden von Vögeln gesendet. Ich wünschte, die Vögel würden den Schnabel halten. Die Natur macht mir ohnedies genug Schwierigkeiten.

Nach zehn Minuten Laufen merke ich, daß ich entspannter bin. Und vierzig Minuten später muß ich fast lachen, als ich an meinen nächtlichen Hahn denke. Bei der Rückkehr vom Joggen fühle ich mich erfrischt und voll neuer Kraft. Mein Mann malt in dem Atelier des Hauses. Er sieht ganz und gar geistesabwesend und sehr glücklich aus.

Lupe ist in der Küche. Sie begrüßt mich und betrachtet dann meine Joggingkleidung mit ratloser Miene. Mit Armen und Beinen deute ich Laufbewegungen an. Sie nickt und schüttelt den Kopf und deutet dann auf ihre Brust.

Sie will wissen, ob ich laufe, weil ich herzkrank bin. Nein, sage ich. Sie sieht mich ratlos an. Ich versuche ihr zu erklären, daß ich laufe, weil es mir gefällt, doch wie ich es auch auszudrücken versuche, Lupe wirkt nicht recht überzeugt.

Mein schlechtes Spanisch ist nicht das einzige Hindernis. Lupe fällt es offenkundig schwer zu begreifen, daß jemand gerne Sport treibt. Was würde sie von den sportsüchtigen Frauen halten, denen man in New Yorker Fitneßstudios begegnet? Sie würde den Kopf schütteln.

Auf einmal klopft Lupe sich auf den Bauch und ruft etwas. Dann deutet sie auf meinen Bauch und nickt beifällig. Ich treibe Sport, um keinen Bauch zu bekommen, das will Lupe mir sagen. Sie kneift das Fleisch ihres Bauchs zusammen und zieht daran und verzieht die Miene abfällig. Dann deutet sie wieder auf meinen Bauch und nickt anerkennend. Lupe und ich haben die Frage, warum ich jogge, so liebenswert gelöst, daß ich kein Spielverderber sein will und mir den Hinweis verkneife, daß mein Bauch so inexistent nicht ist.

Lupe hat den Frühstückstisch gedeckt. Sie zeigt mir die Milch und sagt: »Sin grasa.« Gestern war mir aufgefallen, daß Lucrecia fettfreie Milch in den Kühlschrank gestellt hatte.

Ich hole meine Getreidekleie. Ich habe sie auf dem Rückweg vom Park in einem kleinen Lebensmittelladen gekauft. Die Schachtel ist nicht groß. In einigen Tagen werde ich Nachschub kaufen müssen. Ich messe sie ab. Ich mag dreihundert Gramm zum Frühstück. Ich füge zwei Löffel Weizenkeime hinzu. Die Weizenkeime habe ich aus New York mitgebracht. Mexikanische Weizenkeime sind zu grob, in Textur und Geschmack Sägespänen vergleichbar. Dann füge ich noch einen Löffel Rosinen hinzu, die Lucrecia ebenfalls besorgt hat.

Lupe sieht mir zu. Sie verfolgt jede einzelne meiner Bewegungen. Beim Anblick der Getreidekleie verzieht sie das Gesicht. Sie will wissen, ob ich krank oder leidend bin. Ich verstehe, was ihre Wörter bedeuten. Selbst auf spanisch klingen sie nicht gesund.

Mir fehlt nichts, sage ich und esse mein Frühstück. Lupe verläßt die Küche. Ich entspanne mich und genieße jeden Mundvoll meiner mexikanischen Getreidekleie. Es geht mir gut. Ich beschließe, im Garten zu schreiben. Er sieht so friedlich aus. Ich setze mich mit meiner Arbeit an einen gußeisernen Tisch mit Glasplatte. Der Tisch hat genau die richtige Höhe. Ich ordne meine Notizen, meine Stifte und Bleistifte. Ich widme mich wieder meinem Mann von vierunddreißig Jahren auf seiner zweistündigen Busfahrt. Er breitet sein ganzes Leben aus. Im Bus. Er erzählt allen Mitreisenden, was in seiner Ehe schiefgegangen ist.

»Wenn ich meine Frau anrühre, wenn ich sie bloß anrühre«, sagt er, »sieht sie mich angeekelt an.« Im Bus macht sich kollektives Entsetzen breit. Er erzählt den Mitreisenden, daß seine Frau Anordnungen und Befehle in seinen Pager schreit, Tag und Nacht. Immer wenn er bei der Arbeit ist, ergießen ihre feindseligen Direktiven sich aus dem Gerät, direkt unterhalb seines Magens. In Anwesenheit seiner Kollegen und sogar seiner Kunden.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß er Klempner ist. Er hat eine eigene Firma. »Mit Sex konnte sie nie was anfangen, und nach ein paar Jahren wird so was zu einem echten Problem«, sagt mein kastanienbrauner Klempner mit ernster Miene.

»Woher wollen Sie wissen, daß sie angeekelt ist?« fragt ein untersetzter, gepflegter Mann, der hinter ihm sitzt. Pearl ist diesem Mann schon früher begegnet. Sie saß einmal auf der Fahrt nach New York neben ihm. Pearl weiß, daß er Anwalt ist und Fachmann für Sauerkonserven. Er legt seine Sauerkonserven selbst ein. Er legt Gurken ein. Blumenkohl. Zwiebeln. Sogar Walnüsse und hartgekochte Eier. Als Pearl neben ihm saß, hat er ihr ausführlich erklärt, wie man verhindert, daß Gemüse beim Einlegen die Farbe verliert. Sie dachte sich, daß sie dieses Wissen eines Tages möglicherweise brauchen könnte.

Jetzt beugt der untersetzte Mann sich vor, um die Antwort auf seine Frage zu hören. »Oh, sie ist angeekelt«, sagt der Klempner. »Wenn ich sie anfassen will, wendet sie sich ab und sieht aus, als müßte sie sich übergeben. Es bricht einem das Herz.« Der untersetzte Mann blickt traurig drein. Er sieht Pearl und fragt sie, ob sie schon Gemüse eingelegt hat. Sie schüttelt den Kopf.

Pearl ist ein bißchen benommen von dem Gespräch im Bus. Was passiert nur mit den Männern, fragt sie sich. Warum erzählt der eine von seinem gebrochenen Herzen, und der andere will wissen, ob sie schon Gemüse eingelegt hat?

Pearl ist zu Pearl Poyas geworden. Den Nachnamen habe ich mir von einem Mädchen aus meiner High-School-Zeit ausgeliehen. Nach dem letzten Jahr an unserer Schule habe ich sie nie wiedergesehen. Aber ich habe gehört, sie sei nach Israel gezogen und habe Drillinge bekommen. Ich war mir nicht sicher, ob die Information aus verläßlicher Quelle stammte, aber ich war grün vor Neid. Wegen der Drillinge, nicht wegen des Umzugs nach Israel.

Ich überlege, welches Alter ich Pearl Poyas geben soll, als ich durch Musik unterbrochen werde. Sie kommt nicht aus dem Haus. Sie kommt aus der Nachbarschaft. Und sie ist laut.

Ich versuche sie zu überhören. Doch das ist unmöglich. Es fällt mir immer schwer, mich mit Musik im Hintergrund zu konzentrieren. Und diese Musik beschränkt sich nicht auf den Hintergrund. Sie beherrscht alles.

Es ist »Some Enchanted Evening« aus dem Musical South Pacific. Eine mexikanische Fassung mit Rumbakugeln und Trompeten. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Some Enchanted Evening« in mexikanischem Rhythmus hat mein Gehirn verstopft. In dieser Fassung ist die Melodie von einer heißblütigen, mitreißenden Wucht, die fast etwas Verstörendes hat.

Die Lautstärke wird noch weiter aufgedreht. Ich traue meinen Ohren nicht. Ich sitze wie unter Schock im Garten. Ich sehe mich um. Die Musik hat alles verändert. Der ganze Garten sieht richtig aufgekratzt aus. Die Bougainvillea wirkt üppiger. Sogar im Gras verstreute Gänseblümchen haben plötzlich einen gewissen Pfiff.

Ich komme mir vor wie ein Stimmungstöter. Ich will, daß die Musik abgestellt wird. Ich werde immer nervöser. Und dann ist die Musik plötzlich weg. Ich atme auf. Und dann geht sie wieder los. Diesmal ist es »Three Coins in a Fountain« mit Flamencogitarren und Schlagzeug. Ich kann es nicht fassen, daß jemand in diesem mexikanischen Bergnest »Three Coins in a Fountain« spielt.

Meine Mutter summte »Three Coins in a Fountain« beim Geschirrspülen und Aufräumen in der Küche. Wenn ich das Lied höre, muß ich an meine Mutter denken. Und ich würde am liebsten weinen. Solange ich an meine Mutter denken muß, kann ich mich nicht mit Pearl Poyas und dem Klempner beschäftigen.

Meine Mutter ist vor fünfzehn Jahren gestorben. Sie ist mir noch immer nah. Ihr Tod ist nichts Fernes. Nichts von der Kraft und Lebendigkeit der Beziehung zu meiner Mutter ist schwächer geworden. Ich denke fast täglich an sie. Und ich wünsche mir, ich könnte sie sehen, könnte mit ihr sprechen, könnte sie ansehen. Aber das kann ich nicht.

Es drückt mir schier das Herz ab. Selbst diese mexikanische Fassung von »Three Coins in a Fountain« mit dem spanischen Text und zuviel Schlagzeug hat mir die Fassung geraubt. Ich muß die Musik loswerden. Ich rufe nach Lupe, die gerade Wäsche aufhängt. Ich gestikuliere. Lupe begreift sofort, worum es geht.

Sie lauscht und gelangt zu dem Schluß, daß die Musik von unseren Nachbarn zur Linken kommt. Ich frage sie, ob sie die Nachbarn bitten kann, die Musik leiser zu stellen. Sie schüttelt den Kopf. Das kann sie nicht tun. Mit diesen Nachbarn spricht sie nicht, und sie sprechen nicht mit ihr. Sie und diese Nachbarn sind sehr schlecht aufeinander zu sprechen, erklärt sie mir. Wie schlecht, demonstriert sie mir mit geballten Fäusten und wutverzerrten Zügen.

Die Heftigkeit der Feindschaft steht außer Frage. Und ebenso, daß Lupe diesem Umstand mit größter Seelenruhe begegnet. Für sie ist es ein Sachverhalt, weiter nichts. Sie kann die Leute nicht leiden. Und umgekehrt. Also ist jede Kommunikation ausgeschlossen.

Lupe lacht, als sie sieht, daß ich die Situation begriffen habe. Sie erklärt mir, daß sie auch mit dem Ladenbesitzer gegenüber verstritten ist. Unsere Straße ist eine kleine Straße. Der Laden gegenüber liegt keine zehn Meter von unserer Haustür entfernt.

Lupe sieht richtiggehend diabolisch aus, als sie schildert, wie es zwischen ihr und dem Ladeninhaber steht. Wie es zu dem Streit kam, habe ich nicht begriffen, aber daß es ernst ist, das habe ich begriffen. Dann deutet Lupe auf den Laden zwei Häuser weiter auf unserer Straßenseite, in dem sie inzwischen einkauft, wie sie mir erklärt.

Beide Läden sind winzig. Drei mal drei Meter allerhöchstens. In beiden Läden gibt es Haushaltswaren, Grundnahrungsmittel und diverse Snacks. Lupe könnte niemals unbemerkt in den Laden gegenüber schlüpfen, um Spülmittel oder Mineralwasser zu kaufen.

Die Streitigkeiten, das böse Blut, die schlechte Stimmung scheinen Lupe überhaupt nichts auszumachen. Sie nimmt es als selbstverständlich hin. Für sie scheint es zum Leben zu gehören. Ich kann mir nicht vorstellen, Konflikte und Kämpfe ertragen zu können; ich konnte es nicht einmal als Zwölf- oder Vierzehnjährige, in einem Alter, in dem man als Frau kämpferischer ist als später.

Die meisten Mädchen können gehässig, gemein, aggressiv, auftrumpfend und boshaft sein. Und dann werden sie erwachsen und zu Frauen, die sich vor Konflikten und vor unverhüllter Aggressivität, vor Ehrgeiz und vor zuviel Leidenschaft fürchten. Ein nicht unbeträchtlicher Verlust. Ein hoher Preis, den es kostet, Frau zu werden. In meinem Alter sind wir Frauen dann allesamt homogenisiert und pasteurisiert.

Ich denke mir, daß ich mich vor meinen eigenen Aggressionen immer gefürchtet habe. Es war mir immer lieber, unauffällig zu sein, als vorlaut, frech, witzig und aufdringlich. Jahrzehnte meines Erwachsenenlebens habe ich damit verbracht, auf der Couch des Analytikers zu lernen, lauter zu sein und mich den eigenen Aggressionen zu stellen.

Lupes Miene ist noch immer kämpferisch. Entschlossen und herausfordernd. Und äußerst glücklich. Äußerst selbstzufrieden. Die Einzelheiten des Streits mit dem Ladenbesitzer sind offenkundig eine erfreuliche Erinnerung. Lupe sieht aus wie Muhammad Ali bei der Erinnerung an den Kampf gegen George Foreman.

Ich kann weder im Bus noch in einem Geschäft, noch auf der Straße unhöflich sein. Unter welchen Umständen auch immer. Ich will, daß mich jeder für eine bezaubernde Person hält. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich Streit mit meinem Mann hatte. Ich brauche Stunden, um mich von einem unerfreulichen Telefonat zu erholen.

Plötzlich ist mir ganz elend zumute. Ich will so sein wie Lupe. Eine Kämpfernatur. Vielleicht sollte ich Boxstunden nehmen, wenn ich wieder in New York bin. Vielleicht wäre es ein guter Anfang, ein paar Schläge führen zu können. Vielleicht könnte ich mich so von der Vorstellung befreien, ein jämmerliches Weichei zu sein.

Jetzt grinst Lupe mich an. Sie denkt, ich hätte die Einzelheiten ihres Streits ebenfalls genossen. Für sie scheint das Streiten etwas völlig Normales zu sein. Wahrscheinlich ist es das. Jedenfalls normaler als meine Haltung. Mir macht schon eine zu saloppe Anrede in einer E-mail zu schaffen. Lupe und ich finden heraus, daß die Musik nicht von den Nachbarn zur Linken kommt, sondern von Nachbarn hinter unserem Haus. Zum Glück steht Lupe mit diesen Nachbarn auf gutem Fuß. Sie geht sie bitten, den Ton leiser zu stellen. Das tun sie sofort. Ich bin ihnen dankbar. Und befasse mich wieder mit Pearl Poyas und ihren Problemen.

Zehn Minuten später erscheint Lucrecia, um das Mittagessen zuzubereiten. Ich frage mich, ob Liz ihr erklärt hat, daß sie nicht dableiben muß, um uns zu bedienen. Und ich frage mich, was ich mit den Resten von gestern anfangen soll.

Lucrecia erzählt mir, daß sie mir jicama zubereiten will, einen Salat aus Sellerie und Gurken, sin grasa, Tomaten- und Zwiebelsalat, sin grasa, und sehr gute gebackene Papaya, sin grasa. Für meinen Mann gibt es huachinango à la Veracruzana, Snapper nach Art von Veracruz, mit arroz à la mexicana, Reis mit Tomaten, Erbsen und Knoblauch.

Ich frage mich, wieviel Fisch Lucrecia gekauft hat. Ich versuche, das Gewicht ihres Einkaufskorbs zu schätzen. Selbstgemachte Tortillas hat sie auch mitgebracht. Sie zeigt sie mir, die kleinen, dicken, grobkörnigen Tortillas, die ich liebe. »Sin grasa«, sagt sie. Ich nicke. Alle frischen Tortillas sind fettfrei. Die einzigen Tortillas mit Fett sind die abgepackten aus dem Supermarkt.

Lucrecias Betonung des Wörtchens sin grasa kommt mir allmählich übertrieben vor. Die ständige Beleuchtung und Unterstreichung der zwei Wörter macht, daß ich mir vorkomme wie die Prinzessin auf der Erbse. Oder noch ärger. Ich komme mir vor, als hätte ich ein obsessives Verhältnis zu dem Fett in meiner Nahrung.

Ich beruhige mich mit dem Gedanken, daß ich nur vorsichtig bin, wachsam. Seit Jahren bin ich nicht mehr übergewichtig. Die meisten meiner Bekannten haben mich nie übergewichtig erlebt. Und dennoch fürchte ich mich davor, mich gehenzulassen, nicht darauf zu achten, was ich in den Mund stecke, und eines Morgens mit neuer Figur aufzuwachen. Vielleicht muß jeder, der einmal Gewichtsprobleme hatte, ständig wachsam bleiben.

In diesem Augenblick ruft Liz an. Ich habe das Telefon in den Garten mitgenommen. »Ich habe es nicht übers Herz gebracht, Lucrecia zu sagen, daß du nicht willst, daß sie dableibt und dich bedient«, sagt Liz. »Sie war so aufgeregt, daß sie für dich kochen darf.«

»Oh, Mist«, sage ich.

Lupe kommt aus dem Haus und freut sich, Lucrecia zu sehen. Lucrecia geht hinein, um das Essen zu kochen. Lupe steht neben mir. Sie sieht mich an. Ich sehe auf meine Notizbücher und Nachschlagewerke und Stifte und Bleistifte und Radiergummis. Ich will kein weiteres Gespräch anfangen. Ich will arbeiten.

Das Wegblicken nützt nichts. Wie lange sind Sie und Ihr Mann zusammen, fragt Lupe. Gesten und Gefuchtel unterstützen und elaborieren ihr Spanisch. Die Frage war nicht schwer zu verstehen. »Zweiundzwanzig Jahre«, sage ich mit den Fingern.

Das Alter meiner Kinder hat sie schon erfragt. Sie sind sechsundzwanzig, dreißig und zweiunddreißig. Sie sagt das Wort Kinder und hebt die Augenbrauen. Ich weiß, was das bedeutet. Alle Kinder sind älter als meine Ehe.

Zwei hombres, sage ich im Bemühen, zwei Ehemänner zu erklären. Lupe nickt. Dieser Mann, sage ich und deute auf den Teil des Hauses, in dem mein Mann gerade malt, ist nicht der Vater meiner zwei Kinder. Und ich bin nicht die Mutter seines Kindes.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Situation für Lupe klarer oder unklarer gemacht habe. Mein Mann und ich, versuche ich zu erklären, haben unsere drei Kinder gemeinsam aufgezogen. Das scheint Lupe zu verstehen.

Ihr Mann hat sie verlassen, erzählt sie mir. »Husch«, sagt sie laut und macht dabei eine Bewegung wie einen Windstoß. Sie hat dabei so fest ausgeatmet, als wollte sie ihren Mann ans andere Ende von Mexiko pusten.

»Husch«, wiederholt sie mit Nachdruck und lacht. Es fällt mir schwer zu erkennen, ob das Verschwinden ihres Mannes sie bedrückt hat oder nicht. Sie fragt mich, ob mein Mann sich mit meinem zweiunddreißigjährigen Sohn gut versteht. Bevor ich antworten kann, erzählt sie mir, daß ihr Freund mit ihrer sechzehnjährigen Tochter nicht gut auskommt.

Lupe und ich verständigen uns mittels eines extrem geringen gemeinsamen Wortschatzes und zahlreicher emotionaler Gesten und Pantomimen. Lupe verengt die Augen und preßt die Lippen zusammen. Sie verzieht das Gesicht zu einem Bild purer Bosheit, um zu illustrieren, was ihr Freund für ihre Tochter empfindet.

Sie sieht mein Erschrecken und zuckt die Schultern. Dann macht sie eine spöttische Miene und demonstriert noch einmal, wie giftig und feindselig ihr Freund ihre Tochter behandelt. Und dann lacht sie. Als wäre das alles nicht weiter schlimm. Nur Teil des Lebens.

Ich frage mich, warum sie lacht und nicht weint. Ich habe so oft über die Schwierigkeiten und Komplikationen geweint, die es mit sich bringt, Stiefkinder zu haben. Eltern haben es nicht leicht. Aber Stiefeltern haben es meiner Ansicht nach noch schwerer. Diese Gleichung enthält zu viele Unbekannte.

Ich beneide Lupe um die Gelassenheit, mit der sie die Situation zwischen ihrem Freund und ihrer Tochter hinnimmt. Ich bin nur selten in der Lage, eine Situation hinzunehmen. Ich untersuche und analysiere sie und versuche sie zu ändern und zu beeinflussen. Und erschöpfe dabei mich und andere.

Lupe fragt mich wieder, ob mein Mann sich mit meinem Sohn gut verstehe. Ich sage ja. Mein Mann kommt in den Garten, und ich wiederhole Lupes Frage. Mein Mann grinst und deutet pantomimisch eine Umarmung und einen Kuß an. Lupe ist zufrieden. Ihr Freund, erklärt sie meinem Mann, mag ihren achtjährigen Sohn, aber nicht ihre sechzehnjährige Tochter.

Lupe will meinem Mann die Haltung ihres Freundes ihrer Tochter gegenüber erklären. Sie demonstriert eine beinahe erschreckende Feindseligkeit. Ihr Gesicht mit den dunkelbraunen Augen und dem sinnlichen Mund hat sich für einen Moment in eine Maske purer Bosheit verwandelt.

Wie gern würde ich Lupe erklären, daß ich weiß, wie belastet das Verhältnis zwischen Stiefeltern und Stiefkindern von vornherein ist. Daß ich sehr wohl um die Gefahren und Fallstricke einer solchen Beziehung weiß. Daß ich weiß, wieviel Zartgefühl und Takt und Diplomatie eine solche Beziehung erfordert. Aber Lupe ist bereits bei einem anderen Thema. Und mein Mann ist ins Haus zurückgegangen.

Lupe erzählt mir, daß ihr achtjähriger Sohn sehr dick ist. Er ißt für sein Leben gern. Und trinkt Coca-Cola.

Allmählich werde ich nervös, weil ich so lange geplaudert habe. Ich sollte wenigstens ein bißchen arbeiten, bevor Lucrecia uns zum Essen ruft. Ich ordne einige der Notizen auf dem Tisch. Lupe nickt und sagt, ich solle mich wieder an die Arbeit machen. Sie macht sich wieder an die Wäsche. Und ich mache mich wieder an meinen Roman.

Aber ich bin überhaupt nicht beider Sache. Lupes übergewichtiger achtjähriger Sohn, der Ehemann, der – »Husch« – verschwunden ist, und der Freund, der die Tochter nicht mag, gehen mir nicht aus dem Kopf. Wenn ich nicht aufpasse, wird Pearl Poyas noch einen mexikanischen Ehemann und einen übergewichtigen Sohn bekommen. Und das war ganz gewiß nicht das, was ich mir für Pearl Poyas vorgestellt hatte.

Ich nehme mir meine Notizen über die Eßgewohnheiten meiner Heldin vor. Die Stelle im Bus eignet sich besonders gut für einen Exkurs über Pearls Eßgewohnheiten. Der untersetzte, gepflegte Anwalt, der Mann mit den Sauerkonserven, hat seinem Sitznachbarn soeben eingehend geschildert, wie man Sauerkonserven richtig einlegt.

Er hat alle Methoden aufgeführt, nach denen er allein im letzten Sommer Gurken eingelegt hat. Er hat sie süß und sauer eingelegt, mit Dill, mit Senf und mit Knoblauch. Gurken für das Frühstücksbrot und Gurken mit Pepperoni und Gurken mit Süßstoff für Leute, die Diät halten. Letztere mit einem Teelöffel Süßstoff auf dreieinhalb Kilo kleine Einlegegurken.

Pearl hat beschlossen, ihn nicht zu unterbrechen und ihn nicht darauf hinzuweisen, daß Gurken grundsätzlich kalorienarm sind, ob eingelegt oder nicht. Sie will nicht mit ihm sprechen. Es hat ihr nicht gefallen, daß er den Klempner gefragt hat, woher er wissen wolle, daß seine Frau sich vor ihm ekle. Der Gesichtsausdruck des Sauerkonserven einlegenden Anwalts hat Pearl verstört. Eine mühsam unterdrückte Frivolität.

Pearl hat diesen Gesichtsausdruck schon häufiger bei ehrbaren Zeitgenossen zu sehen bekommen. Bei Männern mit nüchternen Anzügen und Frisuren. Sie fühlen sich in ihrer Verkleidung sicher, denkt sich Pearl, in ihrem grauen Polyester und Leinen und mit den hinten und seitlich kurzgeschnittenen Haaren.

Gerade ist es mir gelungen, Pearls enzyklopädisches Wissen über Nahrungsmittel und ihre Zusammensetzung – sie weiß, welche Teile welcher Salatsorte mehr Magnesium und Phosphor und Kalium aufweisen als andere – mit den dreieinhalb Kilo kleinen Einlegegurken zu verbinden, als Lucrecia herauskommt und verkündet, daß das Mittagessen wartet. Ich gebe es auf zu versuchen, Pearl mit dem Klempner oder mit den Anwalt in Beziehung zu setzen. Ich gehe ins Haus.

Der Hahn hält mich wieder wach. Die halbe Nacht lang. Diesmal kräht er noch lauter als beim erstenmal. Zumindest ist das mein Eindruck. Mein Mann wacht nicht auf. Ich verbringe die Nacht damit, mir zu wünschen, ich wüßte mehr über Hähne und könnte eine Diagnose stellen und wissen, was es mit diesem Hahn auf sich hat.

Ich hatte immer gedacht, Hähne begrüßten das erste Licht des Morgens. Sogar in San Miguel mit seinen milden Temperaturen wird es nachts sehr dunkel. Vielleicht ist dieser Hahn einfach nur zurückgeblieben. Oder mit seiner inneren Uhr stimmt etwas nicht.