Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven - Barbara Gründler - E-Book

Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven E-Book

Barbara Grundler

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Beschreibung

Der Begriff Ressentiment hat in der Philosophie Friedrich Nietzsches eine herausragende Bedeutung und ist in neuester Zeit durch das Werk Peter Sloterdijks wieder in den Fokus des philosophischen Interesses geraten. Er bezeichnet einen schleichenden Prozess "seelischer Selbstvergiftung" (Max Scheler), der die Entstehung von Rachewünschen, Missgunst und "Hasskonserven" (Sloterdijk) begünstigt und den freien Lebensvollzug behindert. Die in diesem Buch vorgestellte Ressentimenttheorie eröffnet neue Perspektiven auf und für Helfer und Hilfesuchende im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie, und führt dabei auf ungewöhnlichen Denkwegen zu unkonventionellen Einsichten. Als anthropologische Theorie versteht sie sich zudem als Einladung für Fachfremde, die im Sinne Nietzsches Mut zum Selbstexperiment mitbringen. Sie sensibilisiert für eigene Ressentiments und entwirft Möglichkeiten der Überwindung, die als praktische Anwendung von Nietzsches Lebensbejahungsphilosophie verstanden werden können.

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Barbara Gründler

Von seelischerSelbstvergiftung undHasskonserven

Das Ressentiment im Sprachspiel derPsychiatrie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg academic ist ein Imprint der wbg© 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch dieVereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbHIllustration: Angelika Döhring

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-40180-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-40182-6eBook (epub): 978-3-534-40181-9

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Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

2. Genese und Phänomenologie des Ressentiments

2.1 Französische Wortgeschichte

2.2 Das Ressentiment nach Friedrich Nietzsche

2.3 Das Ressentiment nach Max Scheler

2.4 Das Ressentiment nach Peter Sloterdijk

3. Das Sprachspiel der Psychiatrie

3.1 „Psychische Krankheit“ – Versuch einer Begriffsklärung

3.2 Exkurs: Die Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins

3.3 „Psychische Krankheit“ vor dem Hintergrund der Sprachspieltheorie

3.3.1 Sprachspiele zum Begriff „psychische Krankheit“

3.3.2 Der Abschied von Sprachspielen der „psychischen Krankheit“

4. Die „Verstimmten“ vor dem Hintergrund der Philosophie Peter Sloterdijks

5. Angewandte Philosophie: Die „Verstimmten“ und das Ressentiment

5.1 Die Schwäche des Bruchstück-Menschen – das ADHD, die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die Paranoide Psychose

5.1.1 Herr R.

5.1.2 Herr E.

5.2 Die Umkehrung der Zeit im „Es war“ – die Posttraumatische Belastungsstörung

5.2.1 Frau S.

5.3 Die Müdigkeit und die Reaktivität – das Erschöpfungssyndrom

5.3.1 Frau A.

5.4 Die Furcht – die Soziale Phobie

5.4.1 Frau T.

5.5 Der schuldige Täter – die Dissoziale Persönlichkeitsstörung

5.5.1 Herr B.

5.6 Die Wendung nach innen und der Wille zum Nichts – die Depression

5.6.1 Frau U.

6. Das Ressentiment der Therapeuten als asketische Priester

6.1 Nietzsches Figur des asketischen Priesters

6.1.1 Der asketische Priester am Beispiel des Klerikers

6.2 Das asketische Ideal als Machtmittel des asketischen Priesters

6.2.1 Das asketische Ideal am Beispiel des Christentums

6.2.2 Der Wille zur Wahrheit und seine historische Entwicklung vom Christentum bis zum Zeitalter der Wissenschaften

6.2.3 Die Gesundheit als Göttin des asketischen Ideals der Wissenschaft

6.3 Ressentiment und Wille zur Macht des asketischen Priesters im Gesundheitswesen

6.3.1 Die Persönlichkeit des asketischen Priesters: Stärke und Schwäche

6.3.2 Der Hass auf die Schwachen: das „Ressentiment der Mächtigen“

6.3.3 Die Rache des Priesters: diagnostische Macht und Expertentum

6.3.4 Der Hass auf die Gesunden: therapeutische Versorgung als Machtausübung

6.3.5 Ohnmacht und Allmacht: der asketische Priester als fleischgewordener Wunsch nach dem „Anders-sein“

6.3.6 Der asketische Priester als „animal laborans“ und Opfer seiner eigenen Lehre

6.4 Die Richtungs-Umkehrung des Ressentiments in den modernen Gesundheitswissenschaften

6.4.1 Die Interpretation des Leidens als Krankheit

6.4.2 Der Schuldaspekt in den Krankheitskonzepten der asketischen Priester

6.5 Die Medikation des Priesters

6.5.1 Die unschuldigen Mittel

6.5.1.1 Die hypnotistische Gesamtdämpfung der Sensibilität und Schmerzfähigkeit

6.5.1.2 Die Verordnung von Arbeit

6.5.1.3 Die Verordnung von Nächstenliebe und die Herdenbildung

6.5.2 Die schuldigen Mittel

6.5.2.1 Die Gefühlsausschweifung

7. Ansätze zu einer Überwindung des Ressentiments

7.1 Die Philosophie als Antidot gegen das Gift des Ressentiments

7.2 Der Abschied von Gesten der Erhöhung und Erniedrigung: der Mensch als „unbegreifbares Unwesen“ zwischen dem Unendlichen und dem Nichts – Blaise Pascal

7.2.1 Die Haltung der „wissenden Unwissenheit“, die von sich weiß

7.2.2 Die Vermutung, auch der andere könnte recht haben – Hans-Georg Gadamer

7.2.3 Nicht abraten – Walter Benjamin

7.3 Nietzsches Kunst der Transfiguration und der Perspektivismus

7.3.1 Der Therapeut der „docta ignorantia“ als Armenarzt des Geistes

7.3.2 Nietzsches Kunst der Transfiguration

7.3.2.1 Der Perspektivismus

7.3.2.2 Das Erkennen der eigenen Perspektiven

7.3.2.3 Die Bejahung des Schmerzes

7.3.2.4 Perspektiven der Lebensbejahung und des Ressentiments – Wirklichkeit und Wünschbarkeit

7.3.2.5 Das multiperspektivische Sehen: Jedes Ding ins beste Licht

7.3.2.6 Der „amor fati“ und die ewige Wiederkunft

7.3.2.7 Nur der Täter lernt: Zarathustras Lehre des Schaffens

7.4 Der Verzicht auf mimetisches Begehren und Rache – René Girard

7.5 Die Wendung zu einer Ethik der Großzügigkeit – Peter Sloterdijk

7.6 Der Therapeut als „philosophischer Toxikologe“ und lachender Verschwender – Nietzsches Zarathustra und Georges Bataille

7.7 Ein Plädoyer für die Negativität als Aspekt der Lebensbejahung – Byung-Chul Han

8. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

9. Literaturverzeichnis

10. Endnoten

Vorwort

Dem vorliegenden Buch liegt meine Dissertation an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe mit dem ursprünglichen Titel „Das Ressentiment im Sprachspiel der Psychiatrie“ zugrunde, die Ergebnis eines großen Abenteuers und Selbstexperiments mit eigenen Ressentiments ist. Nietzsche hat mich gelehrt, wie erstrebenswert es ist, das Leben umfassend zu bejahen und der Erde treu zu sein – und so waren meine Recherchen, mein Denken und Schreiben in den letzten Jahren nicht nur Exerzitien der Welt- und Lebenszugewandtheit und Versuche des „Nicht-mehr Bescheid-Wissens“, sondern auch Freudebringer und tiefe existentielle Bereicherungen.

Bedanken möchte ich mich bei all den lebenden und bereits verstorbenen Menschen, die mich bei diesem Projekt unterstützt und begleitet haben, und die zu meiner geistigen und menschlichen Heimat gehören – diejenigen unter ihnen, die an dieser Stelle aufgrund des begrenzten Platzes leider nicht namentlich erwähnt werden können, mögen es mir verzeihen. Im Geiste Roland Barthes, der sich mit Nachdruck gegen „Bestenlisten“ ausgesprochen hat, soll die folgende Aufzählung derer, denen ich besonders danken möchte, nach einem Zufallsprinzip erfolgen. Genannt seien vor allem:

Friedrich Nietzsche, der beeindruckende Denker und Philosoph des Ressentiments, der das theoretische Fundament für meine Recherchen gelegt hat.

Peter Sloterdijk, mein Doktorvater und ein wahrer Souverän des Geistes, der die HfG Karlsruhe in seinen Zeiten als Rektor durch seine geistige und menschliche Großzügigkeit zu einem Ort für freie Geister gemacht hat, in dessen Klima ein Projekt, wie das vorliegende Buch, erst gedeihen konnte.

Monika Theilmann, die mir mit ihrer Freundlichkeit, Menschlichkeit, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft während meines Studiums immer zur Seite gestanden hat.

Rainer Maria Rilke, dessen Gedichte mich seit vielen Jahrzehnten durch das Leben tragen.

Rüdiger Schmidt-Grépály, mein Zweitgutachter und Gründer des Kollegs Friedrich Nietzsche in Weimar, der mich mit seinem freien Geist, seiner Originalität und Herzlichkeit auch in schwierigen Phasen immer unterstützt hat.

Michael Kletta, der mit seiner Spontanität, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit zur Poesie der Komposition beigetragen hat.

Georges Bataille, dessen Denken der Verausgabung mich immer daran erinnert, in einer Welt der Fülle leben zu dürfen.

Die Diskriminierten, Erniedrigten, Verstimmten und Verstörten, die durch die Art, wie sie das ihnen Zu-Fallende zu bewältigen versuchen, oft die eigentlichen Helden des Lebens in einer reichen, widerständigen und ungeheuren Welt sind.

Blaise Pascal, der mich gelehrt hat, als unbegreifbares Unwesen des Abgrunds eingedenk zu leben.

Sofia Sydow, die mir alle Freiheiten zu meinem Projekt gegeben hat, und die mich mit ihrem originellen Geist, ihrer Anerkennung und Freundschaft immer unterstützt hat.

Ludwig Wittgenstein, ohne dessen Sprachphilosophie mein Bild der Welt ein anderes wäre, und durch den ich gelernt habe, wie sehr der Verstand durch die Sprache verhext werden kann.

Meine geliebten Eltern, die mich mit ihrer Liebe und Fürsorge immer unterstützt haben, und die mir sehr fehlen.

Gisela Wilden, die mit großer Begeisterung, Wohlwollen, Klugheit und Interesse das langsame Entstehen der Dissertation mitverfolgt hat, und Opa Bär, der mit seinem lieben Wesen, seinem umwerfenden Lächeln und seinem Charme das Projekt als Sonnenschein begleitet hat.

Rommi, der mich mit seinem scharfen Geist, seiner Liebenswürdigkeit und Unbestechlichkeit immer wieder neu entwaffnet, von dem ich viel über das Leben gelernt habe, der mein Leben reich macht und den ich liebe.

Und vor allem mein geliebter Teddy und Lebensmensch, der mich immer ermutigt hat, zu denken und zu wagen, der mich auf meinem Weg begleitet und der als wahrer (Anti-) Philosoph des Herzens mein philosophisches Alter Ego ist.

Düsseldorf, im Dezember 2018

Barbara Gründler

1. Einleitung

Nichts fehlt den modernen Wissenschaften vom Menschen so sehr, wie das von Friedrich Nietzsche in der Vorrede zu seinem Werk Die Fröhliche Wissenschaft dankbar beschworene

„Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten, wieder geglaubten Zielen.“1

Diese Einsicht betrifft vor allem den Bereich der Psychiatrie, der sich traditionell mit den Fragen des Menschseins beschäftigt. Die Auslegung des Menschen im letzten Abschnitt der Epoche der Neuzeit ist nach Heidegger Zeichen des „europäischen Nihilismus“2 und Folge einer Entwicklung, die mit Descartes begann. Der cartesianische Ansatz begründete eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin und Psychiatrie, in der der Mensch auf eine seelenlose Körpermaschine reduziert wurde. Da die Eigenschaften des Lebendigen nicht ohne Verlust in messbare chemo-physikalische Daten uminterpretiert werden können, führte der Reduktionismus zu einer deutlichen Einbuße an Einsichten in das Wesen des Menschen. Von nun an erwarteten viele Ratsuchende von den Professionellen „eine bloße Restitution oder Reparatur“,3 eine Hoffnung, die weit von dem ursprünglichen Verständnis von Medizin und Therapie als „Heilkunst“4 entfernt lag, das der Philosoph Hans-Georg Gadamer in seinem Aufsatz Hermeneutik und Psychiatrie ausführlich beschrieben hat.

Von der Erstarrung vieler Psychiater, Psychologen und Therapeuten in reduktionistisch geprägten Vorstellungen vom Menschen konnte ich mich während meiner fast zwanzigjährigen Tätigkeit als Fachberaterin für Psychotraumatologie und Ergotherapeutin im beruflichen Alltag überzeugen. Die wissenschaftliche Rückführung psychischer Krankheiten auf Genetik und eine „gestörte[ ] Hirnchemie“5 führte zu dem auch in der Bevölkerung weit- verbreiteten Glauben, dass Psychosen und Depressionen schnell mit den richtigen Medikamenten aus der Welt zu schaffen seien.

Auch wenn die Entdeckung der Psychopharmaka zu einer „Humanisierung der Psychiatrie“6 geführt hat und das Leid vieler Betroffener verringern konnte, stellt sich dennoch die Frage, ob ihre Verordnung tatsächlich zu einem Rückgang der Erkrankungen führt. Nicht nur die überfüllten Wartezimmer der Psychiater, sondern auch Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, nach denen Depressionen in Europa schon heute als häufigste psychiatrische Diagnose gelten und „im Jahre 2020 weltweit die häufigste Krankheit nach der koronaren Herzkrankheit“7 sein werden, scheinen den uneingeschränkten Glauben an die Chemie ad absurdum zu führen.

Überzeugender als die gängigen naturwissenschaftlichen Modelle vermögen Friedrich Nietzsches und Peter Sloterdijks philosophische Zeitdiagnosen die Ausbreitung der depressiven Weltmüdigkeit zu erklären, die ihren Ausgang in Europa nahm und sich epidemisch über den gesamten Erdball auszubreiten begann. Als Zeichen einer „unaufhaltsamen nihilistischen Lebenshemmung“8 stellt die Depression nach Sloterdijk die „Bejahbarkeit des Lebens im ganzen in Frage“9 und kann als Zeugnis einer „Machtergreifung des Ressentiments“10 betrachtet werden.

Durch die Lektüre von Peter Sloterdijks Buch Zorn und Zeit auf Nietzsches ingeniöse Entdeckung des Ressentiments aufmerksam gemacht, begann ich, meine Mitmenschen und mich selbst aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Überall dort, wo Unzufriedenheit, Herabsetzungsbedürfnisse, Missgunst, Groll, Schuldzuschreibungen, Rachewünsche und Verbitterung über nie verwundene Kränkungen sklerotisch zutage traten, und den freien Lebensvollzug behinderten, schien Nietzsches Ressentimenttheorie sowohl eine Erklärungsgrundlage, als auch einen Ausweg zu bieten. Mit dem Denken Nietzsches und Sloterdijks gerieten Horizont und „offnes Meer“11 erneut in den Blick, und so entstand der Wunsch, mich „mit listigen Segeln auf furchtbare Meere“12 einzuschiffen, um im Selbstversuch eigene Ressentiments zu überwinden und auch den psychiatrischen Fachbereich im Sinne dieses Geistes zu beleben und zu bereichern.

Als Teil dieses Vorhabens kann die vorliegende Untersuchung betrachtet werden, die im Geist einer Fröhlichen Wissenschaft verfasst ist, und „nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft“13 beinhalten soll. Die Chance, Peter Sloterdijk für die Betreuung dieser Forschungsarbeit gewinnen zu können, ist ein besonderes Glück auf diesem Weg. Auch für die Möglichkeit, in meinem Beruf vielen Menschen begegnen zu dürfen, die mich an ihrem Leben teilhaben lassen, und mir Einblick in ihr Ressentiment und dessen Überwindung gewähren, bin ich dankbar.

Um meine Forschungsergebnisse verständlich darlegen zu können, soll zunächst eine kurze Beschreibung von Genese und Phänomenologie des Ressentiments erfolgen. Dazu werden im zweiten Kapitel die Thesen Nietzsches, Schelers und Sloterdijks entfaltet, die das Ressentimentphänomen unter den maßgeblichen psychologischen, gesellschaftlichen und sozio-politischen Gesichtspunkten beschrieben haben. Von den neueren Studien zum Ressentiment, die im Verlauf der Untersuchung Erwähnung finden sollen, hat mich besonders die Arbeit Eike Brocks unter dem Titel Nietzsche und der Nihilismus inspiriert.

Im dritten Kapitel soll daraufhin eine Darstellung des psychiatrischen Sprachspiels erfolgen, das im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen wird. Um die große Gruppe der Ratsuchenden zu charakterisieren, die sich aufgrund ihrer sogenannten „psychischen Krankheit“ an die Anbieter professioneller Hilfe wenden, stellt sich zunächst die Frage nach einer Bestimmung des meist vorbehaltlos benutzten Krankheitsbegriffs in der Psychiatrie. Nach dessen Referenten soll vor dem Hintergrund der wittgensteinschen Sprachspieltheorie gesucht werden, die Sloterdijk als „die bis dahin ernsteste Neuaufnahme des Nietzscheschen Programms der Fröhlichen Wissenschaft“14 betrachtet. Aus der Vielfalt der mit dem Begriff der „psychischen Krankheit“ verwobenen Sprachspiele sollen einige besonders prägnante Beispiele herausgegriffen und illustriert werden. Dazu gehören nicht nur religiöse, normative, moralische, medizinische und mediale Sprachspiele, sondern auch die philosophischen Sprachspiele Peter Sloterdijks und Dietmar Kampers zum Begriff der Sucht. Aufgrund der mit psychiatrischen Diagnosen häufig verbundenen Stigmatisierung und der besonders eindrücklich von Michel Foucault beschriebenen gesellschaftlichen Ausgrenzung der Betroffenen soll nach einem neuen und nicht-pathologisierenden Terminus gesucht werden, der die Missstimmung vieler Ratsuchender zum Ausdruck bringt.

Mit dem in der Tradition Heideggers stehenden Begriff der Verstimmung wird im vierten Kapitel eine neue Sichtweise auf die sogenannten „psychisch Kranken“ inauguriert. Die Verstimmung soll im Rahmen Peter Sloterdijks sphärologischen Denkens als Weise des In-Beziehung-zu-anderen-Stehens beschrieben werden. Hinter der Einschränkung der seelischen Resonanzfähigkeit verbirgt sich häufig eine ressentimentgeprägte Haltung der Selbst-, Welt- und Lebensverneinung.

Da Nietzsche den modernen europäischen „Durchschnittsmenschen“15 als „Schwachen“16 und „Mensch[en] des Ressentiment“17 decouvriert hat, liegt die Vermutung nahe, dass dieser Typus auch außerhalb des Fachbereichs Psychiatrie anzutreffen ist. Häufig reicht ein Blick in den Spiegel, um ihm zu begegnen. Die gesellschaftlich erwünschte und daher stetig vorangetriebene Schwächung des modernen Menschen betrifft gemäß Nietzsche insbesondere das Willensvermögen. Überall dort, wo „das Leben möglichst klein“18 gehalten werden soll, steigt jedoch das Ressentiment.

Trotz der generalisierten Ausbreitung des Ressentiments machte ich die Beobachtung, dass die „psychisch Kranken“ aufgrund ihrer häufig durch gesellschaftlichen Ausschluss bedingten Ohnmacht in besonderer Weise Merkmale des Ressentimentmenschen tragen, und diese durch das Aufsuchen eines „Experten“ und die damit verbundene Selbstoffenbarung offener zu erkennen geben, als andere. Überdies scheint in jedem der gängigen „psychiatrischen Krankheitsbilder“ ein Aspekt der in mehreren Schritten verlaufenden Ressentimententwicklung, die Amandus Altmann auch als „Strukturmomente der Moral“19 bezeichnet hat, besonders deutlich zutage zu treten.

Aus dieser Beobachtung entstand eine der Hauptthesen dieses Forschungsprojekts, die im fünften Kapitel untersucht werden soll. Sie lässt sich durch die Vermutung formulieren, dass die jeweilige Kardinalsymptomatik der wichtigsten „psychiatrischen Krankheitsbilder“ als Zuspitzung und Höhepunkt unterschiedlicher Stadien der Ressentimentgenese betrachtet werden können.

In der anhand von Fallbeispielen aus meiner beruflichen Praxis geführten Untersuchung sollen unter anderem „Krankheitsbilder“ wie das ADHS-Syndrom, die Borderline-Persönlichkeitsstörung, das Erschöpfungssyndrom, die posttraumatische Belastungsstörung, die dissoziale Persönlichkeitsstörung oder die Depression dargestellt und unter dem Blickwinkel des Ressentiments analysiert werden. Zudem wurde aus dem großen Bereich der Angsterkrankungen die soziale Phobie, aus dem Bereich der Psychosen die paranoide Psychose ausgewählt.

In die Untersuchung fließen auch die Forschungsergebnisse führender Vertreter der aktuellen psychiatrischen Fachliteratur mit ein. Dazu gehören unter anderem die viel beachteten letzten Arbeiten der Psychiater Allen Frances und Andreas Heinz.

Die zweite Gruppe, die das Sprachspiel der Psychiatrie konstituiert, rekrutiert sich aus den Helfern unterschiedlicher Fachrichtungen. Nicht nur bei Ärzten und Psychologen, sondern auch bei Therapeuten, Pflegern, Pädagogen und Sozialpädagogen ist häufig ein ausgeprägtes Ressentiment zu bemerken, das sich jedoch meist hinter freundlichen Mienen verbirgt. Den Verstimmten diverse Theorien, Medikamente, Verhaltensmaßregeln, Mittel und Methoden anbietend, die das Leiden vermindern sollen, ähneln viele von ihnen der Figur des „asketischen Priesters“,20 die Nietzsche in seinem Werk Zur Genealogie der Moral beschrieben hat. Auch dieser ist ein Mensch des Ressentiments, wenngleich sein Wille zur Macht über andere im Gegensatz zu den Schwachen unversehrt ist.

Auf der Grundlage dieser Beobachtung soll im sechsten Kapitel die nächste Hauptthese der Arbeit entfaltet werden. Diese besteht in der Annahme, dass viele Anbieter professioneller Hilfe als Vertreter des priesterlichen Typus zu betrachten sind, der mit Hilfe einer dogmatischen Lehre die Herrschaft über Schwache anstrebt. Dabei gelingt ihm eine Richtungs-Veränderung des Ressentiments, die zwar einer Explosion des seelischen Giftes vorbeugen kann, jedoch die Herzen der „Kranken“ in wahre Mördergruben verwandelt.

Verbunden mit dieser Fragestellung sind sowohl eine umfassende Analyse des priesterlichen Ressentiments als auch die Darstellung der offiziellen Lehre im Rahmen des sogenannten „asketischen Ideals“21 der psychiatrischen Wissenschaft. Auf das eingangs beschriebene nihilistische Menschenbild zurückgehend, zieht Letztere nach Nietzsche eine „Verarmung des Lebens“22 mit sich.

Gleichzeitig fungiert diese These als Prüfstein für Nietzsches am Ende der Genealogie der Moral formulierte Feststellung, die Wissenschaft sei nicht die Gegnerin, sondern die „beste Bundesgenossin“23 des Christentums. An der Richtigkeit dieser bereits 1887 von Nietzsche veröffentlichten Einschätzung zweifeln auch knapp 130 Jahre später immer noch viele moderne Vertreter des wissenschaftlichen Diskurses mit Nachdruck, glauben sie doch, sich auf die Wahrheit zu berufen.

Wie genau sich der scharfsinnige Schluss des Philosophen jedoch im Sprachspiel der Psychiatrie bestätigt hat, soll in der vorliegenden Untersuchung anhand einer vergleichenden Studie von Christentum und Wissenschaft gezeigt werden. Das sechste Kapitel kann somit als Beleg, praktische Anwendung und Ausarbeitung von Nietzsches Beobachtung betrachtet werden. Darüber hinaus stellt es den Versuch dar, Nietzsches Denken, das in der Wissenschaftstheorie „fast nirgends präsent“24 ist, in den psychiatrischen Diskurs einzuführen.

Für das Phänomen der gut besuchten Wartezimmer in psychiatrischen Praxen und das kontinuierliche Ansteigen psychiatrisch etikettierter Verstimmungen sollen im Rahmen der Analyse mögliche Erklärungen gefunden werden. Schon im Vorfeld der Untersuchung können sie jedoch als Hinweis auf die fehlende Heilkraft der priesterlichen Remeduren gewertet werden, die nur auf Tröstung und Schmerzlinderung angelegt sind.

Da die Medikation der Priester bewusst und unbewusst nicht auf eine Überwindung des Ressentiments angelegt ist, sondern diese um jeden Preis vermeiden will, liegt die Vermutung nahe, dass eine mögliche Genesung der Verstimmten auf eben diesem Weg erfolgen müsste. Als letzte Hauptthese des Forschungsprojekts führt diese Schlussfolgerung im siebten Kapitel zur Suche nach Denkansätzen zur Überwindung des Ressentiments.

Wollen die Verstimmten ihr Ressentiment als eine der möglichen Ursachen ihres Leidens überwinden, so benötigen sie die Unterstützung von „kühnen Suchern, Versuchern“25 und philosophischen „Räthselrather[n]“26 mit oder ohne akademische Weihen, die in Fragen des Ressentiments versiert und im Selbstversuch erfahren sein müssen.

Da der Kampf gegen das Ressentiment immer nur von jedem Einzelnen geführt werden kann, sind auch für die fröhlichen Wissenschaftler „Selbst-Befragung, Selbst-Versuchung“27 und Selbst-Reflexion erforderlich, um stets aufs Neue die eigenen Vorurteile, Besserwissereien, Anmaßungen und Schuldzuschreibungen in den Blick zu bekommen. Das Eingeständnis, am gleichen Übel zu leiden, wie die Verstimmten, kann Machtdiskurse beenden und stattdessen eine Haltung der Solidarität und des Mitgefühls begründen.

Die langsame Genesung vom Ressentiment kann als lebenslange Aufgabe betrachtet werden, und ist eine „Kunst für Künstler, nur für Künstler!“28 Für unbeteiligte „Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden“29 unzugänglich, muss diese Kunst ein Gegengift gegen den Nihilismus entwickeln, das den Missmut, die Unzufriedenheit sowie die Selbst- und Weltverneinung einzudämmen und den Willen zu stärken vermag. Mögliche Ingredienzien dieses Antidots sind im Denken einiger Philosophen zu finden, die im letzten Teil des Buches zu Wort kommen sollen.

So hat Blaise Pascal in seinen Pensées ein meiner Einschätzung nach nicht vom Ressentiment geprägtes Menschenbild entworfen, das sich zur Einübung in die Kunst „gut nicht – zu – wissen“30 anbietet. Nach der Darstellung von Pascals Auslegung des Menschen soll anhand der hermeneutischen Herangehensweise Hans-Georg Gadamers gezeigt werden, wie durch die Kunst des Fragens feststehende Meinungen gelockert werden können, um die Sache selbst in die Schwebe und ins Offene zu bringen. Durch ein Infragestellen der Meinungen und Überzeugungen können sich auch die mit ihnen verbundenen Emotionen verwandeln und ihre oft beengenden Klammern um den Fühlenden lockern oder lösen. Die Idee der Befreiung liegt auch Walter Benjamins These von dem Verzicht auf Belehrung und Rat zugrunde. Ähnlich wie Gadamer geht es ihm darum, die hierarchischen Verhältnisse zwischen Gesprächspartnern zu nivellieren, um die „Überwindung der Herabsetzungs-Bedürfnisse“,31 die als untrügliche Zeichen für das Vorhandensein von Ressentiment gelten, einüben zu können.

Um negativen Selbst- und Welturteilen den Boden zu entziehen, entwickelt Nietzsche im Rahmen seiner Lebensbejahungsphilosophie die Kunst der Transfiguration. Diese auf den Perspektivismus gründende „Kunst sich vom Ressentiment schadlos zu halten“32 lehrt die Einübung in wohlwollende Sichtweisen und gilt als Hinweis darauf, dass unsere beste Kraft im Wollen liegt. Gerade das Wollen-Lernen soll als „einer der Kernpunkte von Nietzsches Philosophie“33 in Kapitel 7.3.2.7 dargelegt werden.

Das Transfigurieren ermöglicht nicht nur die Abkehr von nihilistischen Betrachtungsweisen, sondern auch eine Überwindung der qualvollen Fixierung auf die Vergangenheit, die besonders für den therapeutischen Kontext von großem Interesse sein dürfte. Als „offensive[s] Exerzitium“34 könnte die antinihilistische Kunst der Transfiguration die Zufriedenheit des Einzelnen steigern und dazu beitragen, die bisher „mächtigste und schädlichste“35 Weise der Welterzeugung zu modifizieren, die das Ressentiment gemäß Peter Sloterdijk generiert hat.

Möglichkeiten zu einer Überwindung des Geistes der Rache erkennt der französische Literaturwissenschaftler René Girard vor allem im Freiwerden vom Begehren, das seiner Einschätzung nach die Entstehung von Neid und Eifersucht begünstigt. Seine Gedanken zum Verzicht auf Vergeltung und jedwede Designierung von Schuldigen sollen als Beitrag zur Suche nach Strategien zur Überwindung des Ressentiments in die folgende Untersuchung einfließen.

Auch die von Peter Sloterdijk entworfene Ethik der Großzügigkeit, bei der „Gesten des Raumgebens und Raumnehmens“36 im Vordergrund stehen, kann als sprudelnde Inspirationsquelle für alle diejenigen, die dem Ressentimentdenken die Stirn bieten wollen, betrachtet werden. Sloterdijks Beschreibung des Menschen als Wesen der Fülle stellt einen lebensbejahenden Gegenentwurf zu den Anthropologien des Mangels dar, auf die sich die ressentimentgeprägten und erotisierten Konsumgesellschaften gründen. Allein Großzügigkeitsgeschehen vermögen seiner Meinung nach „das Ressentiment als erste Geschichtsmacht abzulösen“,37 und so ist eine Stärkung der großmütigen und generösen Komponenten der menschlichen Natur Teil seiner philosophischen Umstimmungsarbeit, die auch für angehende „Philosophen der Zukunft“38 maßgeblich ist.

Von Zarathustras Ausführungen über die „schenkende Tugend“39 ausgehend, soll im vorletzten Kapitel eine mögliche Form der Gabe entworfen werden, in der das Gegengift gegen die Vergiftungserscheinungen des Ressentiments gereicht werden könnte. Nicht nur die Philosophie Nietzsches, sondern auch die Theorie der Verausgabung des französischen Philosophen Georges Bataille soll im Rahmen der Untersuchung herangezogen werden, um die notwendigen Kenntnisse eines philosophischen Toxikologen zu illustrieren. Kann dieser darüber hinaus zu einem lachenden Verschwender werden, so stellt er die Leichtigkeit unter Beweis, die einem Philosophen der Zukunft zu wünschen wäre.

Möglichkeiten der Genesung vom Ressentiment bietet auch das Denken Byung-Chul Hans. Die Ausklammerung des Anderen und Fremden als Zeichen des Ressentiments betrachtend, plädiert er für eine bewusste Hinwendung zu allen Phänomenen der Negativität, die dem Leben seine Lebendigkeit verleihen.

Über das Sprachspiel der Psychiatrie hinaus ist das vorliegende Buch eine Einladung an alle Leser zum Selbstexperiment. Ohne Absolutheitsansprüche zu erheben, soll die Ressentimentheorie jedoch lediglich als neue Sichtweise und Angebot an alle diejenigen verstanden werden, die nach neuen Denkmöglichkeiten jenseits des Ressentiments suchen.

Als „Versuch über die Bejahung“40 soll sie im Sinne Sloterdijks umstimmen und zur Einstimmung ins Dasein und zum Gutheißen der eigenen Existenz einladen.

Die bewusste Entscheidung, viele Originalzitate insbesondere von Nietzsche und Sloterdijk in den Text einfließen zu lassen, soll als Reminiszenz an die Sprachgewalt ihrer Verfasser verstanden werden, die durch keine Paraphrasierung ersetzt werden kann.

2. Genese und Phänomenologie des Ressentiments

2.1 Französische Wortgeschichte

Da es unmöglich ist, den aus dem Französischen stammenden Begriff Ressentiment ins Deutsche zu übersetzen, wird er in seiner Ursprungsform verwendet. Er leitet sich von dem Verb ressentir ab und trägt die Bedeutung eines „nachhaltigen und so auch nachwirkenden Empfindens“.1

Dem Substantiv Ressentiment, das seit dem 16. Jahrhundert in der französischen Literatur nachgewiesen werden kann, kam längere Zeit eine inhaltlich neutrale Bedeutung zu. Molière verwendete den Begriff später sowohl mit der positiven Konnotation einer „dankbaren Zuneigung“,2 als auch mit der negativen Bedeutung einer „Empfindung des Beleidigten, der auf Rache sinnt“.3 Bei Michel de Montaigne überwog dann der eindeutige Negativakzent des Wortes, bei dem sich das nachhaltige und schmerzhafte Kränkungserleben mit einem Rachegedanken verbindet, der aufgrund von „Feigheit“4 nicht ausgeführt wird, und sich durch den Aufschub bis hin zur „Tötungsabsicht“5 steigern kann.

In der französischen Wortbedeutung erkennt der Philosoph Max Scheler ein „Immer-wieder-Durch- und -Nachleben der Emotion, (…) ein Nachfühlen, ein Wiederfühlen“,6 das in der wörtlichen Übersetzung des Verbes re-sentir deutlich wird. Da der Gekränkte sein Rachevorhaben nicht umzusetzen vermag, senkt sich das Wiedererleben des Schmerzes langsam in sein Inneres ein und führt nach Scheler zu einem dunkel durch die Seele wandelnden „‚Grollen‘ (…) und (…) Zürnen“.7 Auf die mit den feindseligen Gefühlen einhergehende Unfähigkeit zu reagieren, hat auch der französische Philosoph Gilles Deleuze hingewiesen, der feststellt: „Im Wort ‚Ressentiment‘ steckt ein überdeutlicher Hinweis: die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt (senti).“8

2.2 Das Ressentiment nach Friedrich Nietzsche

Als Bewunderer Montaignes hat Nietzsche den Begriff des Ressentiments in seinem Werk Zur Genealogie der Moral aufgegriffen und durch seine Ausführungen in einen „Terminus technicus“1 verwandelt. Seitdem geht der „philosophische[ ] und allgemeine[ ] Wortgebrauch“2 im Deutschen auf Nietzsche zurück.

In Anlehnung an die französische Wortbedeutung nimmt nach Nietzsches Auslegung die Genese des Ressentiments ihren Ausgang in einem Kränkungserlebnis. Sie betrifft vor allem den schwachen, furchtsamen und passiven Durchschnittsmenschen, der ahnt, bei einer Gegenreaktion zu unterliegen. Da ihm aus diesem Grund der Mut zur unmittelbaren Tat und zur Ausführung seines Rachebedürfnisses fehlt, zieht er sich ohnmächtig, empört und indigniert zurück. Unfähig zur Reaktion, bleibt ihm nur das Re-sentiment als Nach- und Wiederfühlen der Kränkung. Das ständige Kreisen um die Beleidigung in der Vergangenheit und das ungestillte Rachebedürfnis verwandeln sein Herz in eine Mördergrube und führen zu einem chronischen Leiden „an giftigen und feindseligen Gefühlen“,3 das durch unweigerlich hinzukommende weitere Kränkungserlebnisse noch verstärkt wird.

Den Prototypen des Ressentimentmenschen bezeichnet Nietzsche nicht nur als „Schwachen“, sondern auch als „Schlechtweggekommenen“4 oder „Sklaven“,5 ein Begriff, der als Metapher und nicht primär vor einem historischen oder soziologischen Hintergrund zu verstehen ist, auch wenn der geschichtliche Bezug sicherlich bei der Begriffsfindung Pate gestanden hat.

Sein Gegenspieler ist der „volle, mit Kraft überladene, folglich nothwendig aktive“6 Mensch, den Nietzsche auch als „Vornehmen“7, „Wohlgeborenen“8, „Glücklichen“9 oder „Starken“10 bezeichnet. Auch dieser ist vor Kränkungen nicht gefeit und den notwendig Schmerz und Leid mit sich bringenden Wechselfällen des Lebens schutzlos ausgesetzt. Statt sich ohnmächtig und handlungsunfähig zurückzuziehen, versucht der Vornehme jedoch, zu kämpfen und sein Rachebedürfnis durch eine Tat abzureagieren. Dadurch erschöpft sich sein Ressentiment in einer sofortigen Entladung und löst sich auf, „es vergiftet darum nicht“.11 Unterliegt er in einer Auseinandersetzung mit der Welt, so akzeptiert er seine Niederlage, ohne dem Leben zu grollen.

Im Gegensatz zu dem das Leben und dessen Bedingungen bejahenden Starken, fühlt sich der Schwache unfähig, Schmerz und Leid zu ertragen. Den Herausforderungen des Lebens ausweichend, sagt er „Nein zu einem ‚Ausserhalb‘“12 und wünscht sich nichts sehnlicher als „Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, ‚Sabbat‘, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken“.13 Sein Erholungsbedürfnis bleibt jedoch aufgrund der zermürbenden Rachegedanken und den, sich im schmerzlichen Wunsch, „irgend Jemand Anderes“14 zu sein, äußernden Unzufriedenheit mit sich selbst, ungestillt.

Einen Ausweg aus dem Dilemma, der eine Linderung des unerträglichen seelischen Schmerzes verspricht, stellt die Ausbildung der „Sklaven-Moral“15 dar, ein Vorgang, bei dem „das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“.16 Die dabei erforderliche „Umkehrung des werthesetzenden Blicks“17 erfolgt in Form einer „Täuschung und Selbsttäuschung“,18 die in folgenden Schritten verläuft:

Der Schlechtweggekommene sucht die Ursache des unerträglichen Schmerzes nicht in seiner eigenen Verfasstheit, sondern bei einem „schuldigen Thäter“19 in der Außenwelt. Dabei ist „der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu“.20 Mit Vorliebe beschuldigt er den Starken, den er tief in seinem Herzen beneidet.

Ähnlich wie in Äsops Fabel vom Fuchs und den Trauben, erfolgt daraufhin die rächerische Herabsetzung des vermeintlich Schuldigen durch eine auf einer Täuschung und Selbsttäuschung beruhenden Umkehrung der Werte. Da die Trauben für den Fuchs zu hoch hängen, urteilt der durch diesen Sachverhalt Beleidigte nämlich, dass die Früchte unreif und sauer seien, und dass es weise sei, sie zu verschmähen. Durch diese Wertung werden die schmackhaften Trauben und diejenigen, die in ihren Genuss kommen, schlecht gemacht. Ohnmacht, Passivität und Handlungsunfähigkeit hingegen werden fälschlicherweise als willentliche Entscheidungen und Tugenden dargestellt. Dabei wird die „Schwäche (…) zum Verdienste umgelogen (…), die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ‚Güte‘; die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demuth‘; die Unterwerfung, vor Denen, die man hasst, zum ‚Gehorsam‘“.21 Die Selbsttäuschung ist nach Ludwig Klages, ähnlich wie der Gebrauch von Betäubungsmitteln, dem „Narkosetrieb“22 eng verwandt, der auf „Veränderung der Gegenstände des Bewußtseins abziele und, alles in allem genommen, die Flucht aus der Wirklichkeit der Dinge in die Wirklichkeit der Träume anstrebe“.23

Auf diesem Wege führt der Geist der Rache, bei dem die Werte der Schlechtweggekommenen erhöht und die Werte der „vornehme[n] Moral“24 herabgezogen werden, zur Entstehung der Sklavenmoral. Diese ist als Gegenentwurf zu der ursprünglichen, „am Vorbild des Lebens“25 orientierten, vornehmen Wertungsweise zu verstehen, nach deren Maßstab schmackhafte Trauben als gut gelten.

Bei der Werttäuschung werden die Begriffe gut und schlecht nicht einfach ausgetauscht, sondern der „‚Gute‘ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment“26 und als „böse[r] Feind“27 konzipiert. Als „Guten“28 stellt sich der Schwache selbst dar. Der Maßstab der Moralbegriffe gut und böse ist dabei nicht die Wirklichkeit, sondern die Idealvorstellung des Schwachen als „absolute Negation des Realen“.29 Dieser Negation liegt der Anspruch zugrunde, dass die Wirklichkeit nicht so sein soll, wie sie tatsächlich ist.

Da bei dieser Umwertung keine sichtbare Handlung vollzogen wird, bezeichnet Nietzsche die Entwicklung der Sklavenmoral als „imaginäre Rache“.30 Als „schöpferische That“31 des Ressentimentmenschen ermöglicht sie eine zeitweilige Betäubung des Schmerzes durch den „wilden Affekt“32 der Rache. Schließlich vermindert sich durch die Detraktion des Objekts der Begierde „die Spannung zwischen der Stärke des Begehrens und der erlebten Ohnmacht; und die an sie geknüpfte Unlust sinkt dem Grade nach“.33 Durch die Diffamierung des Starken als böse will der Schwache „gar nicht mehr so sein wie der Mächtige, weil das entscheidende Kriterium, das im Leben rechnet, nicht mehr die Macht, sondern die moralische Güte ist“.34 Dem Übeltäter gegenüber kann er sich von nun an moralisch überlegen fühlen.

Um ihre volle Wirkung zu entfalten, beansprucht die Sklavenmoral Allgemeingültigkeit und wird nicht als eine Wahrheit, sondern als die Wahrheit dargestellt. Dazu ist ein „Akt des Vergessens“35 erforderlich, bei dem der Schwache aus seinem Gedächtnis streichen muss, „dass auch die Sklavenmoral nur eine Setzung ist“.36 Die erneut auf einer Selbsttäuschung beruhende Beanspruchung absoluter Geltung zielt darauf ab, letztendlich auch die Starken zu unterwerfen, und kann daher auch als „hintersinniger und hinterlistiger Wille zur Macht“37 der Schlechtweggekommenen betrachtet werden. Diese triumphieren erst, sobald auch die Starken die Trauben verschmähen. Glaubt auch der Starke an die Werte des Schwachen, gibt er seine genuine Aktivität freiwillig zugunsten des „Ideal[s] der Passivität“38 auf und distanziert sich von seinen ursprünglichen, „im Takt des Lebens“39 schlagenden, vornehmen Werten.

Das Leiden des Ressentimentmenschen kann durch die imaginäre Rache jedoch nicht beseitigt, sondern nur gemildert werden. So bezeichnet Nietzsche die Schwachen als „Kellerthiere voll Rache und Hass“,40 in deren Inneren das Ressentiment beständig anwächst, und schreibt: „Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm bei einander hocken.“41 Schließlich ist die Sklavenmoral nicht mehr als ein „feinster, geistreichster, lügenreichster Artisten-Griff“,42 mit dem „der Klingklang, der Goldklang der Tugend“43 nur nachgemacht werden kann. Da die Herde der Schlechtweggekommenen zudem immer wieder „Lebensgeliebten“44 und Glücklichen begegnet, die sich der Sklavenmoral noch nicht unterworfen haben, wird ihnen das eigene Unglück, die „Hemmung und Ermüdung“45 stets aufs Neue bewusst. Dadurch entsteht ein Lebensüberdruss, der sich „mit dem Wunsche nach dem ‚Ende‘“46 verbindet.

Bei der Entschärfung des die Herde bedrohenden Ressentiments spielt der selbst vom Gift der Rache durchdrungene asketische Priester eine Schlüsselrolle. Mit dem Typus des Schwachen eng verwandt, unterscheidet er sich von diesem durch sein „seelisches Vorrangsgefühl“47 und seinen ungebrochenen Willen zur Macht. Als Hirt und Heiland der kranken Herde, „in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft“,48 vollbringt er das lebenserhaltende Kunststück der Auslegung des Leidens im Rahmen einer Theorie, dem sogenannten „asketischen Ideal“. Indem er dem Leben und dem Schmerz einen Sinn verleiht und dadurch die Leidensbereitschaft der Schwachen erhöht, gehört der „asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende, – er gerade gehört zu den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens“.49 Einen Sinn verleiht er dem Leiden, indem er es unter die Perspektive der Schuld stellt und somit die „Richtung des Ressentiment“50 verändert. Durch diese Richtungsumkehrung, die in Kapitel 5.4 ausführlich erörtert werden soll, kann er die Selbstzerstörung der Herde abwenden.

Im asketischen Ideal, das von den Werten der Sklavenmoral durchdrungen ist, wird die Passivität zum höchsten Wert erhoben. Gleichzeitig entwirft der asketische Priester eine leidfreie metaphysische „Hinterwelt“,51 in welcher diejenigen, die seinen Vorgaben folgen, Erlösung finden. Im Christentum handelt es sich dabei um das „Anderswo“52 des Paradieses, in das der leidende Sünder nach seinem Tode einziehen kann, sofern er ein passives, demütiges und gottgefälliges Leben gelebt hat.

Durch die Jahrhunderte währende Herrschaft des Christentums konsolidiert, hat die Sklavenmoral nach Nietzsche im Abendland ihren Siegeszug angetreten und zur Rechtfertigung der Existenzweise des „letzten Menschen“53 beigetragen, der die Passivität, Bequemlichkeit und das Vergnügen zu den höchsten Werten erhebt. In diesem Menschentypus, dessen „Anblick (…) müde“54 macht, erkennt Nietzsche das „Verhängniss Europa’s“.55

Das Vorliegen von Ressentiment ist am Grad der Unzufriedenheit eines Menschen zu erkennen. Es wird in dem Maße deutlich, wie der Mensch „von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht“.56 Nicht nur das nihilistische Nein zur Welt, sondern auch ein negatives Selbsturteil kann als Ressentimentindikator betrachtet werden, und liegt bei einem Menschen vor, der „über sich selbst, wie er ist, urteilt, er sollte nicht sein, und über sich, wie er sein sollte, urteilt, er existiert nicht“.57 Auch die Suche nach Schuldigen und das Bedürfnis, über andere schlecht zu reden, können als untrügliche Zeichen für eine ressentimentinduzierte Vergiftung betrachtet werden. Neben den immer wieder erkennbaren Herabsetzungsbedürfnissen sind auch Bitterkeit, Klagen, Jammern und Missgunst Hinweise auf das Vorliegen von Ressentiment. Auch übellaunige Unmutverbreiter, die „als leibhafte Vorwürfe“58 unter uns wandeln und immer bereit sind, „Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht“,59 gehören eindeutig zu den Menschen des Ressentiments.

2.3 Das Ressentiment nach Max Scheler

In Anlehnung an Nietzsche hat sich auch Max Scheler mit dem Phänomen des Ressentiments auseinandergesetzt, das er in seinem Buch Das Ressentiment im Aufbau der Moralen als „seelische Selbstvergiftung“1 definiert. Als „dauernde psychische Einstellung“2 entsteht diese „durch systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte“,3 wie zum Beispiel Rache, Haß oder Neid. Insbesondere die „Furcht und Angst vor jenen, auf welche die Affekte bezogen sind“,4 hat Scheler als Ausgangspunkt der Ressentimentgenese hervorgehoben, und so wird die Rache immer wieder verzagt auf einen späteren Zeitpunkt verlegt, ohne je ausgeführt zu werden.

Während sich der einfache Racheimpuls noch auf ein bestimmtes Objekt bezieht, geht es bei der zur Einstellung gewordenen Rachsucht um ein triebartiges Aufsuchen von Vorfällen, die Anlass zur Empörung geben können, und ein darauffolgendes „Herabziehen und Vom-Sockel-Reißen“5 ermöglichen. Da die gesamte Persönlichkeit des Schwachen vom Gift des Ressentiments durchflossen ist, sehnt dieser sich gemäß Scheler geradezu nach Anlässen zum Schimpfen, Schelten und Klagen und lehnt im Grunde seines Herzens „jede Abhilfe der als mißlich empfundenen Zustände“6 ab. Um seine Verbissenheit und „Verbitterung“7 stets aufs Neue zu rechtfertigen, verleumdet er Dasein und Welt durch eine dauernde „Fälschung des Weltbildes“.8 Beim Kontakt mit Ressentimenterfüllten warnt Scheler stets vor der Gefahr einer Übertragung und Ansteckung durch „das ungemein kontagiöse seelische Gift des Ressentiment“.9

Im Gegensatz zu Nietzsches Hypothese, insbesondere die christliche Moral sei aus dem Ressentiment erwachsen, verortet Scheler den Geist der Rache vor allem im „Kern der bürgerlichen Moral“.10 Auch wenn er die Scheinliebe vieler „Ressentimentchristen“11 und das „Apostatenressentiment[ ]“12 des sich an den inständig erhofften Qualen der Sünder im Höllenfeuer ergötzenden Tertullian einräumt, erscheint ihm „die Wurzel der christlichen Liebe von Ressentiment völlig frei“.13

Die bürgerlichen Gesellschaften hingegen, in denen sich aufgrund einer politisch-verfassungsmäßigen Gleichberechtigung jeder mit jedem vergleichen kann, ohne jedoch die gleiche faktische Macht erlangen zu können, sind seiner Ansicht nach geeignete Strukturen für die Erzeugung großer Mengen seelischen Dynamits. Im Gegensatz zum indischen Kastensystem, das jedem seinen festen Platz in der Gesellschaft zuweist, führen die durch moderne Rechtsstellung beim Einzelnen geschürten hohen inneren „Ansprüche (…) bei nicht angemessener äußerer sozialer Stellung“14 zwangsläufig zum Entstehen von Rachegefühlen. Da auch die bürgerlichen Gesellschaften der Gegenwart auf modernen Verfassungen mit vielfältigen Grundrechten aufbauen, sind Schelers Ressentimentanalysen für die vorliegende Untersuchung von Relevanz. Von dem „Sprengsatz“,15 der in der paradoxen Struktur moderner Ideologien begründet liegt, handelt auch Peter Sloterdijks letztes Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, das im Rahmen der Arbeit Erwähnung finden wird.

Besonders interessant für die folgende Untersuchung erscheint Schelers Beobachtung, dass die Werte der modernen bürgerlichen Moral tief im Ressentiment wurzeln. Im hohen Stellenwert der Arbeit in bürgerlichen Gesellschaften bekundet sich seiner Ansicht nach ein „spezifisch moderner Asketismus“,16 den er als Zeichen einer Umwertung der Werte im Rahmen der Sklavenmoral betrachtet. Während in der Antike und auch im Mittelalter das Nützliche in den Dienst des Angenehmen gestellt wurde, und die Arbeit lediglich der Steigerung des Genusses diente, erfolgte in der Moderne eine Werteverschiebung, bei der das Tätigsein zum Selbstzweck avancierte und dem Genießen übergeordnet wurde. Ursache dieser Umwertung war der Hass des genussunfähigen Schlechtweggekommenen auf die „höhere Genußfähigkeit“17 des Lebensreichen, welche den ursprünglichen Vorzugswert darstellte.

Auch den Wert des „Selbsterarbeiteten und -erworbenen“,18 der das Denken und Handeln der Bürger moderner Gesellschaften leitet, führt Scheler auf den geheimen Rachedurst der Schwachen an dem „Träger der besseren Natur“19 zurück. Die Genuss- und Konsumgüter, die von den Ressentimentmenschen durch unermüdliche Arbeit angehäuft werden, können sie letzten Endes jedoch nicht genießen, und so kommt es zum generalisierten Phänomen von „sehr traurigen Menschen“20 in modernen Spaßgesellschaften.

Auch in der „Erhebung des Nützlichkeitswertes über den Lebenswert überhaupt“21 erkennt Scheler die Wertungsweise der Sklavenmoral. Galt im Naturrecht der alten Moral allein das Dasein eines Menschen als Rechtfertigung seiner Existenz, so entstand in den bürgerlichen Gesellschaften die Vorstellung, jeder müsse sich sein Recht zum Dasein erst durch Arbeit verdienen. Ausschlaggebend war von nun an der Nutzen, den der Einzelne für die Gesellschaft darstellte. Diese die Vielgestaltigkeit des Lebens verleugnende Umwertung bildete eine der Grundlagen für das Entstehen der modernen Leistungsgesellschaften.

Die Idee der „modernen allgemeinen Menschenliebe“,22 deren Verbreitung in bürgerlichen Gesellschaften zum Ausbau von Einrichtungen der allgemeinen Wohlfahrt im großen Stil geführt hat, führt Scheler als weiteres Beispiel für im Ressentiment wurzelnde Wertschätzungen an. Im Gegensatz zu der, auf die Entfaltungsmöglichkeiten des anderen Menschen gerichteten, echten Liebe, orientiert sich die humanitaristische Schein- und Nächstenliebe seiner Ansicht nach am Niedrigen des Menschen, „was ‚verstanden‘ und ‚entschuldigt‘ werden muß“.23 In der verständnisvollen Feststellung, der andere sei „eben auch ein Mensch“,24 erkennt Scheler den „geheimen glimmenden Haß gegen die positiven höheren Werte“,25 welche nur von den wenigen „Glücksfälle[n]“26 der Menschheit verkörpert werden. Zudem betrachtet er die allgemeine Menschenliebe als verdrängte Ablehnung Gottes und der von ihm geschaffenen Welt voll „Schmerz, (…) Übel und Leid“.27 Für eine Untersuchung des Sprachspiels der Psychiatrie, das einen Teilbereich des Gesundheitssystems konstituiert und sich in unterschiedlichen Einrichtungen der modernen Wohlfahrt entfaltet, erscheinen Schelers Ressentimentanalysen von eminenter Bedeutung.

2.4 Das Ressentiment nach Peter Sloterdijk

Peter Sloterdijk ist der zeitgenössische Philosoph, der das Ressentiment erneut in den Fokus des öffentlichen Interesses gestellt hat. Besonders die in seinem Buch Zorn und Zeit vorgelegte Gegenwartsanalyse unter Gesichtspunkten des Ressentiments ist für die vorliegende Untersuchung von Relevanz, da sie den von Nietzsche prognostizierten neuzeitlichen Siegeszug der Sklavenmoral durch eine Darstellung der psychopolitischen Entwicklungen in der jüngeren Menschheitsgeschichte illustriert.

In seinem „[p]olitisch-psychologische[n] Versuch“1Zorn und Zeit führt Sloterdijk den Begriff des Thymos als eine der beiden Grundkräfte der menschlichen Psyche ein. Den begehrenden Affekten des Eros entgegengesetzt, sammeln sich im Thymos-Pol die „kämpferisch-rächerischen Energien“,2 zu denen neben dem Stolz, Mut, Geltungsdrang und Zorn auch die dunklen Energien des Ressentiments gehören. Sloterdijk unterstreicht die „Notwendigkeit einer doppelten psychischen Bildung“3 des Menschen und einer Ausbalancierung der erotischen und thymotischen Feldkräfte, die seiner Einschätzung nach seit der Antike von keiner der okzidentalen Gesellschaften mehr verwirklicht werden konnte. Durch ein Ungleichgewicht zwischen beiden Polen zugunsten des Eros konnte „die Rache zu einem epochalen Motiv“4 aufsteigen und schließlich „die aktivsten Ressentimentbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts“5 einleiten.

Bei seiner weltgeschichtlichen Betrachtung der letzten zweitausend Jahre unter dem Blickwinkel des Thymotischen legt Sloterdijk sein Augenmerk vor allem auf die Rolle des Zorns bei der Ressentimententstehung. Im Rahmen minutiöser historischer Analysen beschreibt er zudem die gezielte Nutzung und Vervielfachung der Ressentimentpotentiale aller „Erniedrigte[n] und Beleidigte[n]“6 durch Religionen und politische Parteien. Mit seiner Untersuchung der Verwaltung und ökonomischen Bewirtschaftung des Ressentiments in der Moderne wiederholt er „die von Nietzsche in Angriff genommene Arbeit“7 im Lichte einer tiefer ansetzenden politisch-psychologischen Reflexion.A

So stellt der Zorn den ersten Affekt dar, der in den Gekränkten und Beleidigten nach der erfolgten Verletzung aufsteigt. Wird diese „Primärenergie“8 an ihrem Ausdruck gehindert, führt der Entladungsaufschub zur Entstehung von Rachegedanken. Als Ausgangspunkt der Ressentimententwicklung erkennt Sloterdijk in der Rache die „Projektform des Zorns“.9 Diese stellt einen höheren Organisationsgrad des Zornaffekts dar, der durch die Hemmung haltbar gemacht und konserviert wird. Das zu „Haßkonserven“10 transformierte Zorngut nimmt gemäß Sloterdijks ökonomisch geprägter Terminologie die Form von Guthaben, Schätzen oder Vorräten an. Durch konsequente Entladungshemmung und „Haß-Kultur“11 kann dieses gepflegt, vermehrt und sogar an nachfolgende Generationen vererbt werden.

Die Entdeckung, dass die Sammlung der „lokalen Wutvermögen und der zerstreuten Haßprojekte“12 einzelner Besitzer in großen „Zornbanken“13 die Erwirtschaftung machtpolitisch relevanter Gewinne ermöglicht, inspirierte asketische Priester unterschiedlicher Zeitalter zur Errichtung von Depots „für moralische Explosiva und rächerische Projekte“.14 Dabei mussten die Zornagenturen die zahlreichen rächerischen Einzelgeschichten „zu einer vereinten Geschichte“15 zusammenfassen, die den Erniedrigten und Beleidigten eine bessere Welt und den rächerischen Ausgleich für erlittene Kränkungen versprach.

Sein Augenmerk auf die ökonomische Dynamik im Ressentimentgeschehen richtend, verweist Sloterdijk auf das, dem Konzept des Ressentiments zugrundeliegende Schema der Gleichwertigkeit von Schuld und Strafe. Dabei knüpft er an Nietzsches Herleitung des moralischen Hauptbegriffs „Schuld“ aus dem „sehr materiellen Begriff ‚Schulden‘“16 an. An die Idee des Gleichheitszeichens gekoppelt, ist der Gedanke der Gerechtigkeit nach Sloterdijk stets vom Geist der Zurückzahlung, Abzahlung und Heimzahlung geprägt und geht auf das Prinzip der Tilgung monetärer Schulden zurück. Bei der Beschreibung der Ressentimentdynamik orientiert er sich daher vor allem an wirtschaftlichen Modellen.

Als mächtigste Zornsammelstellen der Menschheitsgeschichte betrachtet Sloterdijk die metaphysische Zornbank der christlichen Kirche und die politische Weltbank des Zorns, die durch den Kommunismus errichtet wurde. Beide gründeten sich auf Narrative von der „Weltgeschichte (…) als (…) Weltgericht“,17 das den finalen Leidensausgleich herstellen sollte.

Erstere berief sich auf die Erzählung vom Zorn Gottes, der am Tage des Jüngsten Gerichts für Gerechtigkeit sorgen und die Unrechtskonten der Welt ausgleichen würde. Die Bezeichnung Gott ist dabei gemäß Sloterdijk „immer nur als Ortsangabe für das Depot menschlicher Zornersparnisse und gefrorener Rachewünsche zu verstehen“.18 Da der Einzelne durch eine „Ethik des Racheaufschubs“19 auf thymotische Impulse im Diesseits verzichten und stattdessen auf „verjenseitigte[ ] Rückzahlungsgeschäfte“20 spekulieren sollte, stand er nicht selten „unter hohen Ressentimentspannungen“.21 Durch die Verdammnisangst, die jeden potentiellen Sünder quälte, gelang den Priestern eine engmaschige Kontrolle des Heeres der Gläubigen.

Auch wenn Sloterdijk in der Erfindung der Ablassbriefe zur Tilgung transzendenter Schulden mit irdischem Geld die Anfänge eines „neuartigen Kreditsystems“22 und die Geburtsstunde der kapitalistischen Geldwirtschaft erkennt, kam die christliche Eschatologie seines Erachtens „über die Rolle einer Sparkasse nicht hinaus“.23 Erst der kommunistischen Zornbank sollte die Umwandlung der Zornguthaben in „verleihbare und investierbare Kapitale“24 gelingen. Der Tod Gottes stellte die Zäsur dar, welche die „Übernahme der Rache durch irdische Zornagenturen“25 ermöglichte.

Die kommunistische Weltsammelstelle des Zorns gründete ihre Versprechen auf das Narrativ des „hellsichtig geplanten weltgeschichtlichen Projekt[s] einer Revolution zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten“26 und ein damit verbundenes besseres Leben in einer neuartigen Weltordnung. War der Kleinanleger bereit, seine Ressentiment- und Zornkapitale zu investieren, so wurde ihm „eine thymotische Rendite in Form von erhöhter Selbstachtung und erweiterter Zukunftsmächtigkeit“27 in Aussicht gestellt.

Die Planung der Revolution als weitere Steigerung des Organisationsgrads und „Bankform“28 des Zorns übernahmen asketische Priester, die als „weitsichtige, hinreichend ruhige und diabolische“29 Bankangestellte „nicht nur zur akuten Wut der Menschen (…), sondern auch zu ihren tieferen Verbitterungen, nicht zuletzt ihren Hoffnungen und ihrem Stolz“30 sprachen. Ohne die „methodisch betriebene Zornförderung“31 und Kapitalbildung durch frühzeitige Eruptionen zu gefährden, mussten sie den Hass und das Ressentiment ihrer Klientel bis zu dem Moment schüren, in dem der Schlag „gegen den Weltzustand im ganzen“32 erfolgen konnte.

Die letztendliche „unverhohlene Selbstprivilegierung der Funktionäre“33 in den kommunistischen Ländern des Ostblocks war jedoch ein Hinweis auf die Instrumentalisierung des zorn- und ressentimentbasierten Betriebskapitals der Bank für eigene Zwecke. Statt das Volk nach der Revolution in das versprochene Theater zu führen, „dessen Zuschauersaal nur aus ersten Reihen“34 bestehen sollte, unterjochten sie es durch eine Praxis der „Tiefendespotie, (…) Zornenteignung, (…) Stolzbrechung und (…) Oppositionsvernichtung“.35 Die Tatsache, dass die Massen nach allen erfolgreichen Revolutionen von den besseren Plätzen ausgeschlossen blieben, führt Sloterdijk auf eine „strukturelle[ ] Knappheit von Vorzugsstellungen“36 zurück. Bei keiner der historischen Umwälzungen sei es jemals „zu einer Umkehrung von oben und unten, geschweige denn einer materiellen Gleichheit“37 gekommen.

Stattdessen identifizierten Lenin, Stalin und Mao, die nach Sloterdijk zu den größten politischen Zornbankiers des 19. und 20. Jahrhunderts gehörten, immer wieder leicht zu aktivierende Zornkapitale und beliebige neue „Ressentimentkollektiv[e]“38, um diese unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit auf ihre designierten Feinde zu hetzen. Die gezielte „Haßlenkung“39 und Entladung des ressentimentalen Furors sind Beispiele für die „schuldigen Mittel“ aus der Hausapotheke der asketischen Priester, von denen in Kapitel 6.5.2 noch ausführlich die Rede sein wird. Sie veranschaulichen Sloterdijks Beobachtung, dass die Gewalt im 20. Jahrhundert keineswegs „ausgebrochen“40 sei, sondern „von ihren Agenten nach unternehmerischen Kriterien geplant und von ihren Managern mit weiträumiger Übersicht auf ihre Objekte gelenkt“41 wurde.

Kennzeichen der post-kommunistischen Weltlage ist nach Sloterdijk das Fehlen umfassender politischer Zornsammelstellen zur narrativen Fortführung der „großen Rachehandlung namens Weltgeschichte“.42 Die in der Moderne entstandene Figur des Verlierers, welche die „unverstandene Größe in den Machtspielen der Demokratien“43 darstellt, breitete sich aus und formierte sich in riesigen Armeen von „Überflüssigen“,44 „Ausgeschlossenen, (…) Erfolglosen und Rachsüchtigen“.45 Gegen die hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Absenkung der sozialstaatlichen Leistungen regt sich jedoch bis heute kaum Protest, da den potentiellen Zornträgern der Postmoderne die Orientierung fehlt. In der globalisierten Situation ist nach Sloterdijk „keine Politik des Leidensausgleichs im Großen mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut, unter welchen welterlöserisch, sozialmessianisch oder demokratiemessianisch codierten Verbrämungen auch immer“.46 Ohne Visionen und Aufgaben jedoch zerstreuen sich die riesenhaften „Widerspruchspotentiale der Gegenwart“47 trotz weltweiter digitaler Vernetzung immer mehr. Die zunehmende soziale Isolierung lässt den Sinn für gemeinsame Aktionen verkümmern und stärkt den „Geist der Desolidarisierung“.48

Darüber hinaus führt eine starke Erotisierungstendenz in den neo-kapitalistischen Kernländern zu einer ständigen Aufreizung des Begehrens bei Vermögenden und Mittellosen. Im Inneren des europäischen Kristallpalastes „driften die Teilkulturen der Spaßpflege und der Depressionsbewirtschaftung“49 stetig auseinander und die Frustration und Unzufriedenheit der „nicht mehr Gebrauchten, Ausgemusterten und Abgespeisten“50 steigt zunehmend. Dies führt nach Sloterdijk zu einer „Epidemie der Negativität“,51 die mit politisch sammelbaren Zornquanten nicht mehr viel gemein hat. Sie wird gekennzeichnet durch einen Rückfall des Zorns auf die „diffus-universelle Unlust-Stufe“52 und ein Absinken „auf eine subthymotische Ebene, von der aus es keinen Anlauf zur Geltendmachung eigenen Werts und eigener Ansprüche mehr gibt“.53 Am Nullpunkt der Zornartikulation verortet Sloterdijk einen „Extremismus der Müdigkeit“,54 deren Vertreter er als sich jeder Gestaltung und Kultivierung verweigernde „Extremisten des Überdrusses“55 bezeichnet. Diese würden sich am liebsten totstellen und den Verdacht, „daß sie möglicherweise die stärkste der Parteien wären“,56 gar nicht erst aufkommen lassen. Stattdessen zerfällt die von ihnen gebildete „unmögliche[ ] Internationale“57 der Überdrüssigen „Nacht für Nacht (…) in Millionen von isolierten Betäubungen, jeden Morgen streicht sie sich selbst mitsamt ihren Anliegen formlos von der Tagesordnung“.58 Ihre „bodenlose Unlust an Mitwelt und Gesellschaft, ja an der Welttatsache überhaupt“,59 bestimmt Sloterdijk durch Begriffe wie „Misokosmie oder Misontie (…): Feindseligkeit gegen Welt und Seiendes im ganzen. Sie bringt die Unlust an der Existenz- und Koexistenzzumutung überhaupt zum Vorschein“60 und ist Zeichen eines ausgeprägten Ressentiments. Die Weigerung zu jedweder Kooperation bei der möglichen Überwindung von Müdigkeit und Besiegtheit bezeichnet Sloterdijk als „ihre intimste Rache an den Verhältnissen“.61

Wie Sloterdijk durch eine kontinuierliche Stärkung des Thymotischen, ein Denken der Großzügigkeit und eine Delegitimierung von Intelligenz und Ressentiment „zukunftsfähigen Paradigmen entgifteter Lebensweisheit“62 Raum verschaffen will, soll eines der Themen dieses Buches sein. Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise die Internationale der Überflüssigen, aus der sich nicht wenige Psychiatriepatienten rekruktieren, ihr Ressentiment vermindern und sich in die von Antonio Negri als „Multitude“63 bezeichnete Gruppe der „neuen Subjekte militanter Heiterkeit“64 verwandeln könnte. Ob sich die Aussortierten als Lachende, Marginale und Lebenskünstler der Erde „endgültig aus allen Dienstbarkeiten an den bestehenden Verhältnissen“65 emanzipieren können, wird zu zeigen sein.

 

 

 

 A Koenraad Hemelsoets Einwand, Sloterdijk wiederhole Nietzsches Arbeit nicht, da er im Gegensatz zu diesem nicht das Ressentiment, sondern den Zorn zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung mache, entschärft er selbst durch die Beobachtung, dass es oft „schwer zu bestimmen“ (Jongen et al. 2009, S. 305) sei, „wie sich die thymotischen Affekte (…) in den verschiedenen analysierten Kontexten jeweils genau zueinander verhalten“ (Ebd.). Da Sloterdijk sich mit den „höheren Organisationsgraden“ (Sloterdijk 2006, S. 96) des Zorns beschäftigt, die durchweg durch Entladungshemmung und Affektaufschub entstehen, handelt es sich bei seiner gesamten Untersuchung um Prozesse, die mit der Ressentimentbildung in engem Zusammenhang stehen.

3. Das Sprachspiel der Psychiatrie

Im Anschluss an die Beschreibung von Genese und Phänomenologie des Ressentiments soll im Folgenden das Sprachspiel der Psychiatrie dargestellt werden, das im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen wird.

Betrachtet man den medizinischen Fachbereich der Psychiatrie, so stellt man fest, dass sich dort zwei große Gruppen von Menschen begegnen: diejenigen, die als „psychisch krank“ gelten und die vermeintlich „gesunden“ Anbieter professioneller Hilfen. Die erste Gruppe besteht aus sogenannten Patienten bzw. Klienten, die zweite aus Psychiatern, Psychologen, Ergotherapeuten, Sozialarbeitern, Krankenpflegern und anderen Berufsgruppen des Gesundheitswesens.

Als offizielle Begegnungsstätten für beide am Sprachspiel der Psychiatrie beteiligten Gruppen fungieren zum Beispiel psychiatrische Kliniken, Reha-Kliniken, Krankenhäuser, psychotherapeutische oder ergotherapeutische Praxen, Beratungsstellen, psychosoziale Dienste und Einrichtungen des Ambulanten Betreuten Wohnens.

In psychiatrischen Institutionen vorstellig werden Menschen aufgrund von Befindlichkeiten, die als „Krankheiten“ oder „Störungen“ bezeichnet werden. Worin die „psychische Krankheit“ besteht und welche Rolle das Ressentiment bei der Erkrankung spielen könnte, soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden.

3.1 „Psychische Krankheit“ – Versuch einer Begriffsklärung

Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie wird heute von den meisten Menschen zunächst ohne große Vorbehalte verwendet. Die im psychiatrischen Fachbereich übliche Terminologie war jedoch seit jeher einem ständigen Wandel unterworfen und Ausdruck des herrschenden Zeitgeistes. Während in früheren Zeitaltern die Begriffe „Geisteskrankheit“, „Nervenleiden“, „Irrsinn“ oder „Wahnsinn“ verwendet wurden, spricht man heute eher von „psychischer Störung“, „psychischer Krankheit“ oder „seelischer Krankheit“.

Aktuell zu beobachten ist ein Vormarsch des Begriffs „psychische Störung“. Alle Menschen, die heute im Rahmen des deutschen Gesundheitssystems eine Dienstleistung psychiatrischer Institutionen in Anspruch nehmen, tragen eine Diagnose aus der, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen, Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10).B Um die in diesem Klassifikationsmanual beschriebene Gruppe von Menschen soll sich die folgende Untersuchung drehen.

In der Fach- und Umgangssprache, sowie in der Fachliteratur, werden die betroffenen Menschen allerdings nicht in Anlehnung an das Nomen als „psychisch Gestörte“ oder als „psychisch gestört“ bezeichnet, sondern gelten weiterhin als „psychisch Kranke“ bzw. in der adjektivierten Form als „psychisch krank“. Selbst im ICD-10 ist immer noch die Rede von „psychiatrischen Erkrankungen“1 und „psychisch Kranke[n]“.2

Über den Referenten der Begriffe „psychische Störung“ oder „psychische Krankheit“ gehen auch in Fachkreisen die Ansichten stark auseinander. Im Mittelpunkt der Diskussion steht häufig die Frage, ob diese Termini auf nosologische Entitäten verweisen, oder nicht. In verdinglichenden Begriffen, wie eine Psychose oder eine Depression, liegt nach Ansicht des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers ein „Rest jener alten Vorstellungen, nach denen die Krankheiten besondere Wesen waren, die von den Menschen Besitz ergriffen hatten“.3

Zur Veranschaulichung unterschiedlicher Standpunkte sollen nur einige Beispiele aufgezählt werden: Während der Philosoph und Psychologe Michel Foucault als wichtigster Vertreter der Antipsychiatriebewegung keinen „festen und bestimmten Begriff des ‚Wahnsinns‘“4 voraussetzte, und keinen „un- oder übergeschichtlichen Inhalt“5 dieses Terminus definierte, kritisiert der Psychiater Edward Shorter als Vertreter der biologischen Psychiatrie aufs Schärfste den Standpunkt, „daß Schizophrenie und Depression soziale Konstrukte ohne biologische Grundlage seien“.6 Eine Definition der Entität „Geisteskrankheit“ ist er dem Leser in seinem Werk Geschichte der Psychiatrie jedoch leider schuldig geblieben.

Persönlichkeitsstörungen, die laut ICD-10 als „psychische Störung“ gelten, definiert Shorter lediglich als „übersteigerten Ausdruck ganz gewöhnlicher Charaktermerkmale“7 und spricht von der „Pathologisierung eines normalen Verhaltens“.8 Im Bereich der Neurosen gebe es, laut Shorter, vielleicht „viele verschiedene psychische Störungen, vielleicht nur einige wenige oder auch gar keine“.9

Auch der Neurologe und Leiter der psychiatrischen Klinik der Berliner Charité Andreas Heinz hat sich in seinem unlängst erschienenen Buch Der Begriff der psychischen Krankheit mit diesem Thema auseinandergesetzt. Um die aktuell zu beobachtende, inflationäre Zunahme psychiatrischer Diagnosen einzudämmen, schlägt er Kriterien vor, nach denen nur „Psychosen sowie Suchterkrankungen als psychische Krankheiten im engeren Sinn“10 gelten sollen. Auf diesem Weg versucht er, die vielfältigen Weisen des menschlichen „In-der-Welt-Seins“11 zu schützen und zu bewahren.

Bei der Befragung von Patienten im Rahmen dieser Arbeit wurde deutlich, dass die Begriffe „psychische Krankheit“ und „psychische Gesundheit“ erst mit naiver Selbstverständlichkeit gebraucht wurden, bei genauerem Nachfragen und Bedenken jedoch die Unsicherheit über ihre Bedeutung stark anstieg.

So kam eine ältere Dame, die unter der Homosexualität ihres Sohnes sehr litt, und diesen als „psychisch krank“ bezeichnete, durch die im Rahmen der Therapie vorgeschlagene, gemeinsame Lektüre eines kurzen Aufsatzes des Kommunikationswissenschaftlers und Psychoanalytikers Paul Watzlawick ins Nachdenken. In einer Textpassage wird beschrieben, dass in den USA die Homosexualität beim Übergang vom DSM-IIC zum DSM-III nicht mehr als Störung klassifiziert wurde. Paul Watzlawick spricht davon, dass man so „mit einem Federstrich Millionen Menschen von ihrer ‚Krankheit‘ geheilt“12 habe und lobt diesen „therapeutischen Erfolg“13 als eine der größten Spontanheilungen der Menschheitsgeschichte.

Unser Gespräch führte dazu, dass sich die Frau in der Folgezeit bemühte, die „Erkrankung“ ihres Sohnes aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Monate später berichtete sie, dass ihr die neue Sichtweise geholfen habe, mit der „scheinbaren Krankheit“ ihres Sohnes, wie sie es nun selber nannte, Frieden zu schließen.

Auch die an unterschiedliche Patienten gerichtete Frage, ob ein erfolgreicher und an das Realitätsprinzip optimal angepasster Geschäftsmann, der sein Tagespensum nur durch die Einnahme von Medikamenten bewältigen könne, psychisch gesund sei, löste regelmäßig Zweifel aus. Einigkeit herrschte jedoch über die stigmatisierende Wirkung des Begriffes „psychisch krank“.

Am Beispiel der Sprachspieltheorie des Philosophen Ludwig Wittgenstein soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich die Sprachverwirrungen um den Begriff der „psychischen Krankheit“ erklären und infolgedessen vermeiden lassen. Diese die Spätphilosophie Wittgensteins konstituierende Theorie hat Peter Sloterdijk als eines „der mächtigsten Argumente des modernen und nachmodernen Pluralismus“14 und Wittgenstein selbst als „Sponsoren der künftigen Intelligenz“15 bezeichnet.

3.2 Exkurs: Die Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins

Zur bislang dargestellten definitorischen Problematik hätte Ludwig Wittgenstein vermutlich seine auf den ersten Blick enigmatische Formel: „Sage mir wie du suchst und ich werde Dir sagen was du suchst“1 in die Diskussion eingebracht.

In der Spätphilosophie Wittgensteins ist es „ein Kategorienfehler, den Gegenstand, auf den ein Wort sich bezieht, als seine Bedeutung zu behandeln“.2 In § 383 der Philosophischen Untersuchungen schreibt er:

„Wir analysieren nicht ein Phänomen (z.B. das Denken), sondern einen Begriff (z.B. den des Denkens), und also die Anwendung eines Worts. So kann es scheinen, als wäre, was wir treiben, Nominalismus. Nominalisten machen den Fehler, daß sie alle Wörter als Namen deuten, also ihre Verwendung nicht wirklich beschreiben, sondern sozusagen nur eine papierene Anweisung auf so eine Beschreibung geben.“3

Und in § 432 fügt er hinzu: „Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist der Gebrauch sein Atem?“4 In diesen Zitaten wird deutlich, dass nach Wittgenstein die Bedeutung eines Zeichens „nicht ein Bedeutungskörper, eine Entität“5 ist, sondern dass ein Zeichen erst dadurch sinnvoll wird, „daß es einen regelgeleiteten Gebrauch hat“.6

Diese Aussagen werden vor dem Hintergrund Ludwig Wittgensteins Sprachspieltheorie verständlich, mit der er am Ende der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts den linguistic turn der Philosophie einleitete. Mit dieser Theorie wandte er sich gegen die naive Selbstverständlichkeit, mit der wir die Sprache verwenden, ohne uns der „Verhexung unsres Verstandes“7 durch sprachliche Bilder, die uns gefangen halten, bewusst zu werden.

Diese Bilder beziehen sich auf einen mutmaßlichen semantischen Wesensbegriff, den, wie oben beschrieben, Experten und Laien spontan mit einem Term, wie dem der „psychischen Krankheit“, verbinden. Eine derartige Sprachauffassung, in der die Bedeutung eines Wortes sein „Gegenstand“8 ist, hatte Wittgenstein selbst im Rahmen seiner Frühphilosophie in Form der Abbildtheorie vertreten und in seinem Werk Tractatus logico-philosophicus dargelegt. Da er als Grundschullehrer im täglichen Gespräch mit seinen Schülern jedoch die Erfahrung machte, dass seine frühe Sprachphilosophie wenig mit der tatsächlich gesprochenen Sprache gemein hatte, postulierte er im Rahmen seiner Spätphilosophie, dass die Bedeutung eines Wortes „sein Gebrauch in der Sprache“9 sei. Diese Erkenntnis leitete er aus der Beobachtung ab, dass „das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“.10 Die kleinen Verständigungssysteme, mit denen Kinder ihre Muttersprache erlernen, und die immer mit Tätigkeiten verwoben sind, bezeichnet Wittgenstein als Sprachspiele. Auf diese einfachen Sprachspiele, die „in sich geschlossene Systeme der Verständigung“11 sind, bauen mit der Zeit komplexere Sprachspiele auf. Auch „das Ganze“,12 also die Sprache einer Kultur und Sprechergemeinschaft, nennt Wittgenstein Sprachspiel.

Durch die Spielanalogie hat Wittgenstein die Aufmerksamkeit auf verschiedene Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Spiel gelenkt. So hängen beim Spiel und bei der Sprache verbale und nonverbale Tätigkeiten zusammen. Wittgensteins Vergleich der Sprache mit einem Schachspiel ist in diesem Zusammenhang sehr anschaulich, denn ebenso, wie der Spieler die Bewegungen von Schachfiguren beimSpielen erlernt, lernen Kinder die Verwendung von Wörtern ihrer Muttersprache nicht über explizit gelernte Regeln, sondern in bestimmten Kontexten. Ein Satz ist dabei „ein Zug oder eine Bewegung im Spiel der Sprache; er wäre bedeutungslos ohne das System, von dem er ein Teil ist“.13 Die Tatsache, dass alle Sätze eines „sinnkonstituierenden Kontextes“14 bedürfen, wird als Kontextualismus bezeichnet.

Neben der Praxisverwobenheit fällt die Regelhaftigkeit der Tätigkeiten als weiteres gemeinsames Kriterium von Sprache und Spiel auf. Wie ein Spiel nach bestimmten Spielregeln abläuft, gibt es auch bei der Sprache „konstitutive Regeln, nämlich die Regeln der Grammatik“.15 Diese Regeln bestimmen, „was richtig und sinnvoll ist, und definieren damit das Spiel/die Sprache“.16

Die Bedeutung der Schachfigur ist somit nicht ihr Gegenstand, d.h., die hölzerne Spielfigur, sondern „die Summe der Regeln, die ihre möglichen ‚Züge‘ bestimmen“.17

In Analogie dazu ist auch die Bedeutung eines Wortes nicht sein Gegenstand, sondern „durch die Regeln bestimmt, die seine Funktion bestimmen“18. Durch Wittgensteins Vorschlag, dass Bedeutung Gebrauch ist, verwirft er die Suche nach einem Gegenstand jenseits des Zeichens.

Der Gebrauch erfolgt, wie bereits erwähnt, in Übereinstimmung mit grammatischen Regeln. „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“19

Aufgrund dieser Erkenntnisse vertritt Wittgenstein die Ansicht, dass „die scheinbare Struktur der Wirklichkeit nichts als ein ‚Schatten‘ der Grammatik“20 sei. Da die Grammatik „bestimmt, was als Darstellung der Wirklichkeit zählt“,21 ist sie einer „außersprachlichen Wirklichkeit nicht verantwortlich“.22 Dadurch kann sie „in einem philosophisch relevanten Sinn weder richtig, noch falsch sein“.23

Der unterschiedliche Umgang mit der Welt in verschiedenen Kulturen und Sprachen ist für Wittgenstein ein Beweis für die „Willkürlichkeit der Grammatik“.24 Somit entwickelte sich das „Abbildparadigma“25 des Tractatus zu einem „konstruktivistischen Paradigma“.26

In seinem Buch „Sprache und Lebensform“ hat der Philosoph und Psychologe Hans Rudi Fischer auf die „Doppelnatur des Sprachspielbegriffs“27