Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - E-Book

Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

"Ich will nicht vergessen." Von Anton verlassen, gefangen zwischen Zeitsprüngen und ihrer prunkvollen Welt, nimmt Chrona ihre Bestimmung an. Mit gebrochenem Herzen scheut sie kein Mittel, um ihre Macht zu festigen. Achim an ihrer Seite beschreitet Chrona den Weg, vor dem sie sich einst am meisten fürchtete, und schließt einen Deal ab, der ihren Untergang bedeuten könnte.

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VorMitternacht

OderDer erste Schachzug des Grauen Mannes

© 2021 Celina Weithaas

2., vollständig überarbeitete Auflage 2021

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-40037-5

ISBN e-Book: 978-3-347-40038-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für jeden Einzelnen, der dieses Buch unterstützt hat. Ohne euch wäre die Geschichte nicht das geworden, was sie heute ist.

1

Leise wird die Tür geöffnet. Mit brennenden Augen sehe ich auf. Eine Angestellte bringt mir einen heißen Tee. Wortlos überprüft sie die piependen Monitore, ehe sie mich und Anton allein lässt. Ich lege das iPad beiseite und schließe die Ansicht. Die hämischen Schlagzeilen überrollten mich, sobald ich die erste Website öffnete.

Der Fall der Börsenkönigin.

Das war wohl ein Satz mit X, Miss Clark.

Mord auf Charityevent – die Ermittlungen laufen.

Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark spurlos verschwunden – ist sie tot?

Die Nachrichten schwanken zwischen schwachsinnig und beinahe unerträglich. Die Medien scheinen mich aus diesem kleinen, sterilen Raum kitzeln zu wollen, damit ich Stellung beziehe. Zu dem Desaster vor vier Nächten. Ich denke nicht daran, mich zu rühren. Die Presse kann warten, die Gerüchteküche brodeln. Verstreicht genügend Zeit, wird das Geschwätz sich legen. Solange Anton kein Auge aufgetan hat und sich die Vitalwerte nicht ändern, werde ich hier gebraucht.

Manchmal meine ich im Halbschlaf zu hören, wie das Piepen des Monitors, der seine Herzfrequenz aufzeichnet, sich beschleunigt. Wann immer ich die Augen öffne, lässt sich keine Veränderung erkennen.

Anton liegt da wie tot. Wann immer man seine Verbände wechselt, wird mir vorgeschlagen, mich frischzumachen oder einen Spaziergang zu unternehmen. Ich gehe selten auf den gut gemeinten Rat ein. Wenn Anton aufwacht, möchte ich bei ihm sein. Möchte ihm beweisen, dass ich ihn nie gänzlich allein gelassen habe. Zumindest diese Geste schulde ich ihm.

Von Tag zu Tag sparen sie mehr an Verbänden, allerdings nicht an antibiotischen Salben und Flüssigkeiten, die ich nicht zuordnen kann. Heute Früh haben sie sein Gesicht freigelegt. Die Augen sind zugeschwollen, die Lippen aufgerissen und ein pechschwarzer, handtellergroßer Abdruck zieht sich von seiner rechten Schläfe zu seiner Wange. Stumpf klebt ihm das Haar an der verkrusteten Stirn. Ich kann mir nicht ausmalen, was Anton durchleben musste.

Der Wunsch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, raubt mir den Schlaf. Ich will sehen, dass der Graue Mann büßt. Er soll durchleben, wozu er Anton verdammt hat. Soll erahnen, was er mir antut.

Bedauerlicherweise könnte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht weiter davon entfernt sein, meine Rache zu genießen. Ich habe meine Berater angewiesen, Echnaton Ralowskowitsch zu kontaktieren oder ausfindig zu machen. Bisher scheiterten alle Versuche. Es scheint, als müsse ich mich damit abfinden, dass der Graue Mann nicht meinen Regeln folgt – sondern ich seinen. Eine neue Facette seines Psychospiels.

Langsam beginne ich zu begreifen, warum meine Arroganz bezüglich des Grauen Mannes den Rektor zur Weißglut trieb. Aus welchem Grund mir dieser ungebändigte Zorn entgegenbrandete.

Ich muss mir eingestehen: Der Rektor hatte Recht: Ich habe keine Vorstellung davon, wozu Echnaton Ralowskowitsch fähig ist. Und wie weit er bereit ist zu gehen.

Der beruhigende Duft von Salbei steigt mir in die Nase, als ich einen kleinen Schluck aus der dampfenden Tasse nehme. Die warme Flüssigkeit windet sich von innen durch meinen Körper. Ich genieße jede noch so sanfte Berührung. Seufzend lehne ich mich gegen die weiche Rückenlehne des Sofas und sehe an die Decke. In einem ständigen, mir nicht erklärlichen Lufthauch, schwingt die helle Lampe leicht hin und her. Rhythmisch, wie ein Pendel. Ich schlief ein um das andere Mal ein, während ich sie erschöpft betrachtet habe und darauf wartete, dass das Gedankenkarussell sich legt.

Das mechanische Piepen ist einschläfernd. Das leise Zwitschern, das durch das angelehnte Fenster schwirrt, auch. Wenn Anton aufwacht, wird er sich wie zu Hause fühlen. In dem Park nisten die Vögel in den Bäumen und bunte Beete wurden angelegt, an denen die Patienten die Zeit verbringen dürfen. Insofern es ihre Verfassung zulässt.

Selbst Kräuter haben sie angebaut, direkt unter Antons Fenster, behütet von einer schlanken Birke. Während Anton reglos in dem farblosen Bett liegt, male ich mir aus, wie er dort entlanghumpelt und behutsam über die grünen Blätter und zarten Blüten streicht. Sobald er sich auf den Beinen halten kann, wird niemand Anton davon abhalten können, den Park zu betreten und sich in dem Duft der Pflanzen zu verlieren.

Eine Amsel stakst durch das Blättermeer hindurch, den gelben Schnabel zum Boden gerichtet, während sie konzentriert die Erde mit Blicken aus den kleinen Knopfaugen abtastet. Ich meine das leise Rascheln, verursacht durch ihre Bewegungen, bis hierher hören zu können.

Neben den orangenen Blüten der Ringelblumen bleibt der schlanke Vogel stehen, neigt leicht das schwarze Köpfchen, bevor er in den groben Sand piekt. Konzentriert wischt die Amsel wenige Blütenblätter fort auf der Suche nach etwas Essbaren. Anton wird vom Krankenhaus versorgt. Momentan noch durch die Bauchdecke. Ein weiterer Grund, aus dem ich bei ihm sein möchte, sobald er aufwacht. Das hier ist neu für ihn. Auf eine gute Art und Weise? Wer weiß das schon.

Die Amsel macht ihren Fang und hält den Wurm für einen Moment wie einen Pokal in die Höhe. Dann verschlingt sie ihn, bevor ein anderer auf sie aufmerksam wird. Womöglich sollte man es so mit Siegen halten, egal wie klein sie doch sind. Wenn sie wahrhaft von Bedeutung sein sollen, muss man sie behüten wie den schönsten Schatz. Nichts davon darf an die Öffentlichkeit dringen. Andererseits folgen die Schlagzeilen. Ich bin sie so leid geworden. Mit jeder ein Stück mehr. Es scheint, als gäbe es nichts anderes als mich, worüber man sich das Maul zerreißen könnte. Man findet mein Gesicht auf jeder Zeitung, jeder Zeitschrift, in jeder Sendung. Nur nicht in dem Licht, in dem ich es sehen wollte. Ich nehme noch einen kleinen Schluck aus meiner Tasse, ehe ich mich auf meine winzige Wanderung zu Anton begebe. Von hier aus, der anderen Seite des Raumes, gegenüber seinem Fußende, sind es genau zwölfeinhalb Schritte, die ich täglich mindestens fünfzig Mal abgehe. Alle zwanzig Minuten. Hat sich sein bleicher Zustand verändert? Blinzelt er womöglich?

Hin und wieder spreche ich mit ihm, nur um sofort wieder zu verstummen. Es ist dumm und sentimental mit jemandem zu konversieren, der einen ohnehin nicht verstehen kann. Aber dennoch tue ich es. Von Zeit zu Zeit. Dadurch kommt Anton mir nicht ganz so fern vor. Nicht so verloren.

Ich genieße die absolute Ruhe, die mir das Krankenzimmer schenkt. Keine ungewollten Besucher, kein Lärm um nichts. Kein Achim.

Nur die Möglichkeit abzuschalten und an nichts zu denken. Ein Urlaub, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn dringend brauche.

Zwölfeinhalb Schritte. Ich stütze mich vorsichtig an dem Fußende ab und sehe Anton in das schlafende Gesicht. Sein Körper versucht krampfhaft die Kraft zu tanken, die ihm der Graue Mann geraubt hat. Die Anton dem bloßen Überleben widmete.

„Bist du wach?“, frage ich in die Stille hinein. Eine Frage, die nie mit Ja beantwortet wird. Nicht einmal mit einem Augenzwinkern. Auch dieses Mal bleibt er ruhig.

Ich warte an seinem Bett, bis meine Füße schmerzen, dann setze ich mich zurück an das Fenster. Der Tee ist nur noch lauwarm. Angewidert schiebe ich ihn fort. Man soll mir neuen bringen.

„Miss, würden Sie gern in den Park gehen wollen?“ Matt sehe ich zu der Schwester im weißen Kittel auf. ‚Bethany‘ steht in ordentlichen schwarzen Buchstaben auf ihrem Schildchen. Ich schließe demonstrativ die Augen und lasse mich wieder in die warmen, weichen Polster sinken. „Die Sonne würde Ihnen guttun.“

„Ich hatte um absolute Ruhe gebeten“, sage ich, ohne die Augen zu öffnen.

„Ich weiß, ja, Miss. Aber ich muss mich um die Verbände kümmern.“ Zwei Mal täglich. Früh und abends. Der fünfte Tag ist beinahe rum. Seit fünf Tagen kämpft Anton ums Aufwachen. Seit einer guten Woche bin ich nicht in der Zeit gesprungen zuzüglich der Tage, an denen ich nicht wusste, ob ich noch lebe oder die Kälte mich längst vernichtet hat.

In wenigen Tagen werde ich einen Mann heiraten, den ich momentan nicht ansehen kann. Besagter Verlobter hat mir am gestrigen Nachmittag den abgeänderten Ehevertrag zukommen lassen. Er wurde ausreichend gelockert, damit man auf ihn verzichten könnte. Dieses Pamphlet ist ein juristisches Friedensangebot. So dringend ich es auch versuche, es gelingt mir nicht, Achims ausgestreckte Hand anzunehmen. Nur einen Schritt auf Achim zuzugehen, würde sich falsch anfühlen. Menschen begehen Fehler, jederzeit. Auch uns sollte dieses Privileg vergönnt sein und schlussendlich kann ich seine Anwesenheit trotzdem nicht ertragen.

Also warte ich, lasse die Mails unbeantwortet und beobachte Anton beim Schlafen. Ruhe selbst, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Trinke Tee.

„Ich bleibe hier.“ Mein Tonfall duldet keinen Widerspruch.

„Kann ich Ihnen denn etwas zu Essen bringen? Oder einen Tee?“

„Einen Tee bitte und eine Obstplatte.“ Ich sollte versuchen, zu essen. Die letzten Tage habe ich die Aufmerksamkeiten der Küche unangetastet zurückgehen lassen. Der bloße Geruch genügte, um die Übelkeit zu wecken.

„Natürlich, Miss. Wollen Sie vielleicht auf den Balkon gehen?“

Ich öffne die Augen einen Spalt breit und linse zu der Glastür. „Sie ist verschlossen.“

„Oh, das ist kein Problem. Ich schließe Ihnen ganz schnell auf. Dann können Sie rausgehen und Ihren Freund beobachten.“ Der Kittel raschelt, als sie die Hände in den bestickten Taschen verstaut.

„Tun Sie das, Bethany.“ Ich lasse die Augen wieder zufallen. Die sanfte Dunkelheit schaukelt mich tiefer in die Schläfrigkeit.

Ich höre ihre leisen Schritte, als sie an mir vorbeigeht, die alte Tasse leise klirrend in die Hände nimmt und die Tür zu dem Balkon aufschließt. Allein, dass man sie mir nicht bereits am ersten Tag öffnete, ist eine Beschwerde wert.

Der Duft von frischer Luft drängt sich mir in einem Schwall entgegen. Ich atme tief ein. Die Wärme der Sonne scheint sich darin zu verbergen. Ich meine, sie auf der Haut zu spüren. Geht es Anton ähnlich?

Meine Tasse wird einer Angestellten übergeben. Sie solle mir frischen Tee bringen und die besagte Obstplatte. Ich höre keinen Widerspruch. Während ich in dem Sofa lehne und durch meine Wimpern hindurch zu Anton spähe, schlägt Bethany routiniert die Decke zurück.

„Sie sollten auf eine Hilfskraft warten.“

Die Schwester schenkt mir ein Lächeln, während sie behutsam die ersten Klammern zu lösen beginnt, um die Verbände abwickeln zu können. Ich mache mich auf den Gestank gefasst, der gleich folgen wird.

Antons Füße sind am furchtbarsten betroffen. An zwei Zehen wurden Haut und Fleisch bis zu den Knochen verbrannt, an anderen Stellen sind sie dermaßen mitgenommen, dass die Ärzte rätseln, ob die Wunden überhaupt vernarben werden.

Über den Heilungsprozess sorge ich mich nicht. Anton wird sich eine Tinktur brauen können, kaum dass er wieder bei Bewusstsein ist. Die Schmerzen, die ihn aktuell begleiten, sind es, die mir Albträume bereiten.

„Die meisten Verletzungen haben sich gut genug geschlossen, damit er sich in keiner unmittelbaren Gefahr befindet, sollte ich einen falschen Handgriff machen“, sagt die Schwester. „Ich habe seit Jahren keinen Fehler gemacht.“ Ein Zusatz, der mich wohl beruhigen sollte. Ich presse die Lippen fest aufeinander. Ist ihr lange Zeit keine Unachtsamkeit unterlaufen, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass es heute geschieht.

„Wenn Ihnen etwas an Ihrem Beruf liegt, sollten Sie absolute Vorsicht walten lassen“, sage ich nur.

Bethany wirkt nicht im Mindesten eingeschüchtert.

„Natürlich, Miss“, lautet ihre fröhliche Antwort, bevor sie seine Fußsohlen freilegt.

Das Wundwasser tritt noch immer aus, die entzündete Rötung hat sich kaum gelegt. Während die Schwester schweigend ihre Arbeit verrichtet, ohne eine einzige Frage zu stellen, schwanke ich zwischen dem Bedürfnis wissen zu wollen, was mit Anton geschehen ist, und der Freude darüber, dass ich durch den Grauen Mann nur eine vage Ahnung erhalten habe. Die Brandwunden ziehen sich wie grausige Mandalas über seine Sohlen. Es wird lange brauchen, bis Anton wieder laufen kann. Tage, wenn nicht Wochen. Bis er sich sein eigenes Heilmittel gebraut hat.

„Ihre Bestellung, Miss Clark.“ Das schüchterne Stimmchen einer jungen Frau lässt mich aufsehen. Sie kann noch nicht lange in dieser Abteilung arbeiten. Mein alleiniger Anblick, so erbärmlich er im Moment auch sein mag, bringt sie dazu, die Schultern nach oben zu ziehen. Ihre Hände zittern so sehr, dass der Tee überzuschwappen droht.

„Platzieren Sie beides bitte auf dem Balkon.“ Ich deute auf das fragile Tischlein. „Ich wünsche dort zu speisen.“ So schnell, wie es ihr mit einer vollen Tasse Tee möglich ist, huscht sie durch den Raum. Er schwappt wie ein tobendes Meer, gesperrt in einen winzigen Behälter.

Schwester Bethany bedeckt die Wunden mit Salben, dann mit Verbänden. Die Frequenz auf dem Monitor ändert sich nicht eine Sekunde. Die Angestellte eilt aus dem Raum, als Bethany sich an den zweiten Fuß macht. Er sieht ebenso grausig aus wie der erste. Rote Kreise, die sich bis ins Schwarze ziehen, unendlich aneinandergereiht, bis man vergisst, dass man einen Fuß vor sich hat. Und ich sehe die Verletzung nur aus der Ferne.

Als sie am Rumpf angekommen ist, beginnt die Schwester zu summen. Ich kenne die Melodie nicht. Eine beruhigende Wirkung hat sie dennoch.

Sie unterbricht ihr Summen erst, als sie an Antons rechter Hand angelangt ist. Schnitte ziehen sich über die Haut wie über ein Brotschneidebrett. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass es diese Momente waren, in denen Anton nachgab. Nichts liebt er mehr als seine Hände. Mit seinen Fingern braut er. Ohne seine Tinkturen ist er nur eine weitere vergessene Seele längst vergangener Zeiten.

„Möchten Sie ein Bad nehmen, Miss? Ich verspreche Ihnen bei Ihrem Freund zu bleiben und Sie zu rufen, sobald er die Augen aufschlägt.“ Mein Tee hat schon wieder aufgehört zu dampfen. Auf der Obstplatte haben sich Wespen niedergelassen. Das Abendessen ist offiziell beendet.

Ich lecke mir über die Lippen und stelle diese eine Frage, vor deren Antwort ich mich bitterlich fürchte. „Wann, glauben Sie, wird er in der Verfassung sein, aufzuwachen?“

Bethany zuckt die Achseln und massiert Anton behutsam Blut in die Finger. „Das ist schwer zu sagen, Miss. Wann immer er dazu bereit ist. Ich lasse Ihnen Kleidung in den Spa-Bereich bringen und rufe Sie, sobald er Anstalten macht, aufzuwachen. Ist das in Ordnung für Sie?“ Ich rieche an meiner Schulter. Der Duft des gestrigen Badezusatzes hat sich verflüchtigt.

„Ich möchte hier sein, wenn er aufwacht“, betone ich. Die Schwester nickt nur.

„Natürlich. Ich werde alles dafür tun, damit das auch so ist. Darf ich Ihnen eine russische Schokolade an den Whirlpool bringen lassen? Etwas für die Nerven“, setzt sie mit einem Augenzwinkern hinzu. Ich presse die Lippen fest aufeinander. Mein Körper benötigt diese Energie dringend. Also nicke ich.

„Veranlassen Sie das.“ Ich zupfe mir einige verirrte Strähnen aus dem Gesicht. „Und lassen Sie eine warme Suppe bringen und jemanden, der mir die Nägel manikürt und die Haare macht.“

Sie nickt, vollkommen konzentriert darauf, jeden Finger einzeln wieder einzuwickeln. „Natürlich, Miss. Wenn Sie wiederkommen, wird ein frischer Tee bereitgestellt sein. Genießen sie dann noch die letzten Sonnenstrahlen.“

Ich antworte ihr nicht. Es genügt, dass ich akzeptiere, wie Bethany mich des Raumes verweist.

Den schokoladenübertünchten Geschmack des Wodkas noch im Mund, die Hitze der Suppe und des Alkohols im Magen, betrete ich gut zwei Stunden später Antons Raum. Der Monitor piept gelangweilt vor sich hin, zeichnet die immer gleichen Linien auf. Eine sanfte, frühlingshafte Note liegt in der Luft. Durch die spaltbreit geöffnete Tür hat sich der Duft des Gartens geschlichen. Ob Anton gerade davon träumt, im Klostergarten zu liegen und sich die Sonne auf das Gesicht scheinen zu lassen?

Die letzten Strahlen verspiegeln die Glastür in einem wunderbar tiefen Orange. Seufzend schließe ich die Augen und lasse die abgestrahlte Wärme auf mich wirken. Womöglich sollte ich ein paar Schritte ins Freie wagen, bevor die kalten Wände mich ersticken. Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Anton trete ich auf den Balkon.

Die ersten Momente blinzle ich in die Helligkeit. Die Sonne steht auf Augenhöhe. Ich wende den Blick ab und suche nach einem der zwei Stühle. Der Duft von Salbeitee liegt in der Luft. Als ich mich endlich setze, haben sich meine Augen langsam an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Ein unterschwelliger Kopfschmerz sticht mir gegen die Schläfen. Ich bekämpfe ihn mit einem Schluck Tee. Er ist angenehm warm, nicht kochend heiß, bei weitem nicht kalt.

Seufzend lasse ich mich in den Stuhl zurücksinken und beobachte Anton durch die angelehnte Tür hindurch. Das Piepen des Monitors ist deutlich zu hören. Ich habe mich noch immer nicht entscheiden können, ob es einer Warnung oder einem Dank gleicht.

„Es ist wirklich schön hier, nicht wahr?“

Ich fahre herum. Mit einem gequälten Lächeln sitzt Jeanne mir gegenüber. Wie kommt es, dass ich sie nicht bemerkt habe? „Ich empfange keinen Besuch.“ Nur wenn er Adrianas Namen trägt und gewillt ist, zu helfen.

Die Frau des Rektors seufzt leise und stützt das Kinn in die Hände. „Du brauchst Ruhe, das verstehe ich.“

„Warum gibst du sie mir dann nicht?“ Meine Finger zittern kaum merklich. Ich stelle die Tasse ab, ehe ich den Tee verschütte. Als ich Jeanne das letzte Mal sah, lag sie dem Rektor weinend in den Armen und hat jeden Zentimeter seiner geschundenen Haut berührt. Ihr Blick war erschreckend intensiv gewesen, während die Finger sein mit Brandwunden übersätes Gesicht abtasteten, ohne es tatsächlich zu berühren.

Jeanne ist aus mehreren Gründen ähnlich unerwünscht wie Achim. Ich hätte ihren Mann geopfert. Sie weiß das ebenso gut wie ich. Wie sie mich das bezahlen lassen möchte, bin ich noch nicht bereit zu erfahren.

Jeanne darf wieder in den Armen ihres Mannes liegen. Er ist bei Bewusstsein und heilt. Anton schläft noch immer und niemand weiß, ob und wann er die Augen wieder aufschlagen wird. Und wenn es so weit ist, wie er mit dem, was er durchstehen musste, umgehen wird. Die Ärzte, mit denen ich gesprochen habe, machten keine vielversprechenden Diagnosen. Einige schlugen vor, Anton vorerst in psychologische Behandlung zu übergeben. Dabei ahnt niemand, dass Anton aus einer Zeit stammt, in der er an Verletzungen dieser Art mit Sicherheit verstorben wäre. In seinem Jahrhundert gibt es weder Gnade noch Wunder.

In meinem?

Womöglich. Sollte Anton die Augen wieder aufschlagen.

Dass Jeannes Mann eine Psychotherapie benötigt, wage ich zu bezweifeln. Als ich ihm vor wenigen Tagen gegenüberstand, wies er eindeutig Spuren der Folter auf. Berührt zu haben, schien ihn diese Form der Strapazen nicht. Weil dem Rektor unerträgliche Schmerzen bekannt sind? Der Graue Mann sei fantasievoller gewesen als sein großer Bruder…

Jeannes bloßer Anblick treibt mich zur Verzweiflung. Weil ich mich schuldig fühle. Weil die Eifersucht wie ein wildes Tier an mir nagt. Wie ist es möglich, dass sie und ihr Mann heil vereint sind, während ich in schwachen Stunden noch immer um Antons Leben bange? Nicht zu vergessen die Anspannung wegen der anstehenden Hochzeit.

Jeanne seufzt leise und pustet in ihren eigenen Tee. Man hat sie eingelassen, obwohl ich ausdrücklich auf das Gegenteil beharrte. „Ich dachte, vielleicht möchtest du mit jemandem reden.“

„Ich habe ausreichend Personen, die ich in diesem Fall kontaktieren könnte“, sage ich kühl. „Deine Sorge ist überflüssig.“ Ihr leicht verletzter und noch immer besorgter Blick, lässt mich absolut schrecklich fühlen. Ich trinke meine Tasse in zwei tiefen Zügen aus. Sie beobachtet mich unverwandt.

„Du kannst gehen“, betone ich, als sie sich nicht rührt. „Ich benötige keine Gesellschaft.“

„Du musst dich nicht schuldig fühlen.“ Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Was du getan hast, war das Richtige. Ich hätte es dir selbst dann verziehen, wenn er nicht zurückgekommen wäre.“

Ich glaube ihr kein Wort. Niemand kann über diese Form von Pragmatismus hinwegsehen. Nicht sie, nicht ich.

„Ich fühle mich nicht schuldig. Das war die richtige Entscheidung“, erwidere ich eisig. „Wenn du jetzt gehen würdest? Ich möchte meine Ruhe haben.“

Sie rührt sich keinen Zentimeter. „Die Erlöse deiner Wohltätigkeitsveranstaltung haben die Familien erreicht. Man beginnt mit den Arbeiten.“

Ich zucke die Schultern. „Das ist nichts, was mich momentan vordergründig interessiert.“ Wieder sehe ich zu Anton. Hat der Monitor für einen Moment schneller gepiept? Die regelmäßige Aufzeichnung straft mein Wunschdenken Lügen.

Jeanne folgt meinem Blick. „Möchtest du die Hochzeit verschieben?“, fragt sie leise. „Bis du die Dinge klarer siehst?“ Ich schüttle den Kopf. Die Ehe mit Achim ist vernünftig. Ich werde danach kaum etwas mit ihm zu tun haben. Wer weiß, womöglich beantrage ich sogar die alte Version des Ehevertrages, womit geregelt wäre, dass ich niemanden so selten zu Gesicht bekomme wie meinen Ehemann. „Chrona, du liebst ihn nicht. Das ist mehr als offensichtlich. Die Ehe sollte …“

„Du solltest nicht versuchen, etwas zu definieren, das du nicht begreifst“, sage ich und stehe auf. Die Sonnenstrahlen schieben sich sanft unter meine Haut und Wärmen das Blut. „Vertrauen muss ebenso wenig die Basis einer Ehe sein wie Liebe und Zuneigung“, zitiere ich meine Eltern, Achim. Monsieur Depót. „Gehorsam und Loyalität in jeder Lebenslage sind allein von Wichtigkeit.“

„Glaubst du das wirklich?“

Ich sehe sie mit nach oben gezogenen Brauen an. „Du siehst die Möglichkeiten nicht. In meinen Kreisen bedeutet eine Ehe nicht, dass man jemandem treu ergeben sein muss. Wen interessiert schon, was der andere Ehepartner treibt? Es geht um den Einfluss. Mit niemandem sichere ich ihn mir mehr als mit Achim.“

„Aber das möchtest du nicht länger, oder? Nicht wirklich.“ Ihre geflüsterten Worte verbannen den letzten Rest der angenehmen Wärme aus meinem Körper. Stocksteif klammere ich mich an das zarte Geländer im Jugendstil.

„Es gibt Zeiten, da spielt es keine Rolle, was man will und was nicht“, sage ich und beobachte die letzten Vögel dabei, wie sie sich einen Platz zum Schlafen suchen. „Die Ehe mit Achim ist am gesündesten für meinen Ruf. Mein Ruf ist meine oberste Priorität.“ Ich werfe Jeanne ein kühles Lächeln zu. „Nicht alle Mädchen können als Pfarrerstochter aufwachsen. Hin und wieder gibt es Menschen, die zu größerem bestimmt sind als zum bloßen Existieren.“

Leise zwitschert eine Meise, bevor sie zwischen den satten, grünen Blättern einer Buche verschwindet. Der Baum legt schützend die Äste um das kleine Tier.

„Ich dachte wirklich, du hättest dich verändert.“ Als Jeanne wieder spricht, klingt sie ebenso distanziert wie ich. Ich sehe sie skeptisch an.

„Verändert?“, spotte ich. „Inwiefern?“

„Dass du dich nicht mehr an erste Stelle stellst.“

Mit nach oben gezogenen Brauen sehe ich zurück in den Park. Dort hinten, direkt neben der Buche, plätschert ein kleines Bächlein paradiesisch vor sich hin. Anton würde es lieben. Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich in dem kristallklaren Wasser. Fast scheint es, als würden sie von dem Bach gefangen genommen werden, damit er bis in die späte Nacht leuchten kann.

„Für den Fall, dass es dir entgangen ist: Ich habe mich bemüht, über mich hinauszuwachsen. Wirklich und aufrichtig und mit ganzem Herzen. Aber es gibt Dinge, die haben in meinem Leben keinen Platz. Sich selbst hintenanzustellen, gehört dazu.“ Eine Lektion, die nicht nur ich schmerzhaft lernen musste. Auch Anton. Sobald man mehr besitzt als das Nötigste, ist Selbstlosigkeit nichts weiter als ein Schwert, das man gegen sich selbst richtet. Diese desaströse Wohltätigkeitsveranstaltung hat mich das gelehrt, wovor Achim mich schützen wollte, ebenso wie meine Eltern.

Einige Träume sind in meiner Position schlichtweg verboten. Für mich sind Diamanten und Immobilien erschwinglich, gekaufte Freunde und brillante Lebensmittel. Echte Hilfe, ein offenes Herz gehört nicht dazu. Ich habe eine Nacht zu lange gebraucht, um das zu begreifen. Es täte Jeanne gut, diese unumstößlichen Tatsachen zu verstehen, bevor etwas, das ihr viel bedeutet, verloren geht. Oder bevor eine Veranstaltung, die der Öffentlichkeit die Augen öffnen sollte, den Fokus auf einen unglücklichen Todesfall lenkt. Der mir zugeschrieben wird.

„Glaubst du das wirklich?“, fragt sie leise.

Ich verziehe keine Miene. „Selbstverständlich.“

„Warum?“

Weil das die einzige Wahrheit ist, bei der der Graue Mann nicht seine Finger im Spiel hat.

2

„Darf ich Ihnen die Hochzeitsplaner reinschicken?“, fragt Bethany mich, nachdem sie Antons Verbände gewechselt hat und er wieder regungslos auf seinem Kissen liegt, das Gesicht weiß wie das Laken. Ich zucke die Achseln. Noch wenige Tage bis zur Trauung.

Anton hat die Augen noch immer nicht aufgeschlagen. Seine Wunden verheilen quälend langsam. Adriana ist nicht erreichbar, ebenso wenig wie Jeanne, Casper oder der Rektor. Seit meiner Auseinandersetzung mit Jeanne vor zwei Tagen scheinen alle vier wie vom Erdboden verschluckt. Ich kann nicht behaupten, dass mich dieser Umstand tatsächlich kümmern würde. Sie sind Teil eines Traums gewesen, der niemals Wirklichkeit werden wird.

„Wie steht es um die Wundheilung?“, erkundige ich mich, kaum dass Bethany mein Einverständnis weitergegeben hat. Sie schenkt mir ein kleines Lächeln.

„Er macht Fortschritte.“

„Und warum wacht er dann nicht auf?“

Behutsam breitet die Schwester die Decke über ihm aus. „Er wird noch nicht dazu bereit sein.“

Ich verkrampfe mich. Oder all das ist nur ein weiterer Trick des Grauen Mannes, um mich zur Verzweiflung zu treiben. Damit ich mich ihm endlich beuge. Nach seinen korrupten, perfiden Regeln.

„Sie dürfen gehen.“

Bethanys Mundwinkel zucken. Wann immer ich ihr dieses Zugeständnis mache, scheint es sie ausgenommen zu amüsieren. „Natürlich, Miss.“ Während ihre Schritte sich im Gang verlieren, straffe ich die Schultern und stehe von der weichen Couch auf. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark sitzt weder kraftlos auf einem Sofa, noch wartet sie Tage darauf, dass jemand die Augen aufschlägt. Sie flaniert aus geschäftlichen Gründen an den Fenstern entlang und wirft hin und wieder einen wegwerfenden Blick in Richtung des Kranken. Aber, egal wie nebensächlich ich versuche Anton anzusehen, mein Blick verharrt immer an seinem geschundenen Gesicht. Die Augen sind weiterhin leicht zugeschwollen, die Lippen so blau, dass man meinen könnte, er erfriert unter seiner warmen Daunendecke.

Ich gehe von ganz allein auf ihn zu. Hier ticken die Uhren anders. Während ich gewöhnlich für Stunden still sitzen und mich meinen Aufgaben widmen kann, verlerne ich diese Tugend hier jeden Tag aufs Neue. Behutsam streiche ich Anton eine stumpfe, dunkle Strähne aus der Stirn. Die Haut fühlt sich rau unter meinen Fingern an, auf eine seltsame Weise wie Pergament. Ich habe sie wärmer in Erinnerung, lebendiger. Ich habe ihn wärmer in Erinnerung.

Lebendiger.

Mit ausdrucksstarken Augen und seiner fesselnden Gewohnheit, einen von seinen Ideen zu überzeugen. Jeden Tag, den ich neben Antons schlafender Gestalt wache, vermisse ich seine warme Stimme mehr, das kleine Lächeln und das weiche Lachen, das mir zu jeder Zeit unter die Haut ging. Kann Warten wirklich so schmerzhaft sein, wenn einem jemand wichtig ist? Derart zermürbend und bekümmernd?

Vorsichtig berühre ich seine Lippen. Sie sind rauer und die Haut spannt sich über der Schwellung. Wie heftig er sich dagegen gewehrt hat, dem Grauen Mann zu gehorchen. Wie viel er für seinen Stolz hinnehmen musste. Und das Schockierendste erwartet Anton erst noch, wenn er die Augen öffnet und sieht, dass man ihn an Maschinen anschloss, die er sich nicht ausmalen kann.

Ich werde die kleine Besprechung auf dem Balkon abhalten. Wenn er ausgerechnet in dieser Stunde meiner Hochzeitsvorbereitungen die Augen aufschlägt und ich nicht bei ihm bin, könnte ich es mir nicht verzeihen. Obwohl Anton doch nur schläft, ist sein Haar schweißnass, immer, zu jeder Zeit, als hätte sein Kampf nie geendet. Gegen die Schmerzen oder die Albträume, die der Graue Mann ihm in den Kopf pflanzte? Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Es ist ein unangenehm ungewohntes Gefühl hilflos zusehen zu müssen. Kein Geld der Welt kann Antons Bewusstsein kaufen. Wäre das möglich, ich hätte es längst getan. Als Wiedergutmachung dafür, dass ich ihn in den Fängen des Grauen Mannes gelassen hätte. Ihn diesen Strapazen bis zum Tod ausgesetzt hätte.

Meine Finger beben leicht, als ich ihm über die Wimpern fahre. Sie sind genauso weich, wie ich es mir vorgestellt habe. Keine meiner Berührungen lockt ihn aus seinem schwarzen Nichts. Er verharrt dort beharrlich und treibt mich in den Wahnsinn.

Ich spiele gerade mit dem Gedanken, Anton einen Kuss zu geben, als man leise anklopft. „Begeben Sie sich bitte auf den Balkon“, weise ich die Hochzeitsplaner an, ohne mich umzudrehen. Vorsichtig stopfe ich die Decke noch etwas fester um Anton und gebe ihm den obligatorischen Kuss auf die verschwitzte Stirn.

„Darf ich dir einen Saft bestellen?“

Ich zwinge mich, bei seiner Stimme nicht zusammenzuzucken. Mit vor der Brust verschränkten Armen, drehe ich mich zu Achim um. Er steht vor der Tür zum Balkon und obwohl er mir den Rücken zugewandt hat, eine Hand in der Tasche und sich gewohnt aufrecht hält, kommt er mir schrecklich verloren vor. Ich spiele mit dem Gedanken, einen Funken Mitleid zuzulassen. Antons Zustand lässt mich dagegen entscheiden. Ich werde Achim heiraten, das genügt. Damit ist meinem Ruf geholfen und ich habe freie Hand in meinen künftigen Entscheidungen. Ein netter Bonus? Abstand. Mit etwas Glück kann ich einige Termine in die Flitterwochen legen.

„Selbstverständlich. Das Personal ist äußerst freundlich. Es wird dir eine Aufmerksamkeit zukommen lassen, wenn du darum bittest.“

Achim nickt. Er legt den Kopf leicht schief, während er in den lebendigen Park blickt. Beobachtet er die Vögel, so wie ich es in meinen freien Minuten tue? Fragt er sich, wie die Menschen im Rollstuhl nur so ausgelassen lachen können, obwohl ihnen ein großer Teil der Lebensqualität genommen wurde?

„Dann werde ich das tun, sobald jemand hereinkommt.“

„Ich habe dich nicht erwartet“, sage ich kühl. Bethany hat die Hochzeitsplaner angekündigt. Nicht den Mann, dem ich nicht mehr in die Augen sehen kann. Der mir nah genug war, damit es meine Enttäuschung rechtfertigen könnte, aber den ich bis ans Ende meiner Tage an meiner Seite wissen wollte. Destotrotz. Weil ich nie gelogen habe, als ich sagte, dass ich ihn liebe.

„Wenn du mich erwartet hättest, hättest du mich nicht eingelassen.“

Ich höre das traurige Lächeln in seiner Stimme. Mit festen Schritten gehe ich auf Achim zu und öffne die Tür. „Wärst du so gut?“ Ich deute mit einem Kopfnicken auf einen der Stühle. Er hebt teilnahmslos die Schultern und spaziert hinter den fragilen, weißen Tisch. Vielleicht ist es das, was ihn so verloren wirken lässt. Diese Gleichgültigkeit jeder seiner Bewegungen, die ihn automatisiert erscheinen lässt. Achim ist bestimmt, nicht verloren.

Zu jeder anderen Zeit.

„Werden in den nächsten Stunden Hochzeitsplaner erscheinen?“, erkundige ich mich angelegentlich und lasse mich auf den freien Platz sinken. Der Duft von Kräutern, Pflanzen, Früchten steigt mir in die Nase. Wie im Klostergarten. Nur, dass mir dort ein anderer Mann gegenübersaß.

Durch die saubere Glasscheibe behalte ich den guten Blick auf Anton. Die Tür bleibt offen. Ich möchte die Geräte hören. Nur falls sich sein Puls beschleunigen sollte.

„Ich habe die Materialien hier“, sagt Achim und faltet die Hände auf dem Tisch. Meine Lippen verziehen sich zu einem bitteren Lächeln.

„Ist der Tag schon durchgeplant?“ Das letzte perfekte Event hat mich von meinem Thron gestoßen.

„Ja.“ Mehr sagt er nicht. Stattdessen sieht Achim mich mit einer Intensität an, die meine Hände kribbeln lässt. Ich versuche seinem Blick standzuhalten. Erfolglos. Ich wende meine Aufmerksamkeit den Meisen zu. Sie huschen durch das dichte Laub und rasen mit voller Geschwindigkeit zurück unter die Sonne.

„Warum bist du dann hier? Meine Aufgabe besteht darin, einen Eheschwur auswendig zu lernen, drei schöne Kleider zu tragen und die Gäste beim Namen zu nennen.“ Unter denen Monsieur Depót nicht sein wird. Dafür Gioseppe Riva, wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, die durch die Medien geistern. Die wildesten Mutmaßungen werden angestellt, bis zu der, dass Gioseppe mein heimlicher Geliebter sei und diese Festlichkeit boykottieren will. Auch an der Presse sind die Spannungen zwischen Achim und mir nicht vorbeigegangen. Wie könnten sie auch? Ich bin allein und steif zurück auf meine eigene Veranstaltung gekommen. Momente bevor jemand vergiftet wurde. Soweit ich informiert bin, verfolgen sowohl Achims als auch meine Anwälte eine strikte Spur aus Recht, Grauzonen und Korruption, um unsere Unschuld zu beweisen. Dabei hat der Mann mir gegenüber das Gift in den Wein gemischt, ganz gleich ob er bei Sinnen war oder nicht.

Als Achim schweigt, zucke ich die Achseln. „Wenn du nicht mit mir reden möchtest, steht es dir frei zu gehen. Mir widerstrebt nichts mehr, als mich mit Menschen auseinandersetzen zu müssen, die nicht fähig sind, mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken." Diesen Satz nutzt Achim selbst häufig. Den einen oder anderen Politiker, Aktionär und Diplomat hat diese Aufforderung bereits schwer irritiert. Achim gegenüber ist diese Waffe stumpf.

„Es ist schön hier“, sagt er. „Ich verstehe, warum du viel Zeit an diesem Ort verbringst.“

„Die Aussicht ist sekundär.“

„Ich weiß.“ Er fährt sich durch die sorgfältig gestylten Haare. Eine nervöse Geste? „Wie geht es dir, Liebste?“

Mein Blick huscht zu Anton. Der Monitor neben ihm piept in dem immer gleichen Takt. „Bis du mich Liebste nanntest, ging es mir bedeutend besser.“

Die Muskeln an Achims Unterarmen treten hervor und er sieht fort. Wenn ich nicht so unglaublich wütend auf ihn wäre, dann würde ich Mitleid mit ihm empfinden und mich ihm annähern. So aber? Während Anton bewusstlos in diesem Zimmer liegt und kein Wort sagt? Nicht einmal blinzelt und mir niemand wirklich sagen kann, wie es ihm geht? Ich bin wütend. Nicht nur auf Achim, auf alles. Auf mich selbst. Auf meine Naivität zu glauben, dass ich etwas verändern könnte. Wie viele Menschen haben mehr Geld als sie ausgeben können? Es hat einen Grund, dass keiner von ihnen die Welt retten will.

„Bist du nur hier, um dich nach meinen Befindlichkeiten zu erkundigen?“, frage ich. Achim schüttelt den Kopf. Sein Blick schweift zu der Birke vor uns. Ein leeres Vogelnest steht fast auf Augenhöhe. Hin und wieder flattert jemand darüber hinweg oder sucht zwischen den Zweigen nach etwas Nützlichem, weitestgehend wird es aber ignoriert.

„Nein.“ Er räuspert sich und streckt den Arm aus. Behutsam streicht Achim über eines der blassgrünen Blätter. Es wellt sich leicht unter seiner Berührung. „Es geht um essentiellere Angelegenheiten.“

Hat sich das Piepen kurz beschleunigt? Ich sehe zu dem Monitor. Alles gleichmäßig, keine Veränderung.

„Ist dein Wunsch, mich zu heiraten, noch immer aktuell?“

Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Sie gibt mir viel mehr Freiraum, als wir uns beide herausnehmen sollten.

„Ja“

„Warum?“ Seine Frage kommt prompt. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und schenke Achim das gleiche liebliche Lächeln wie jedem meiner zweitrangigen Geschäftspartner. Etwas zu kühl, etwas zu abschätzig, ein wenig zu spottend.

„Weil es das Vernünftigste ist, was ich tun kann, findest du nicht auch?“ Zwitschernd stürzt sich eine Blaumeise aus dem Blätterdach und saust auf die Erde zu. Zentimeter über den ersten Grashalmen beginnt sie hektisch mit den Flügelchen zu schlagen. Millimeter vor dem sicheren Tod fängt sie sich und steigt wieder zum Himmel empor. Die Sonne tanzt in dem gelblichen Gefieder.

„Ich war stets davon überzeugt, dass du diese Form der Eheschließung ablehnst.“

„Unsere Gesellschaft befürwortet sie. Ich sehe nicht länger ein Problem darin, sich dem zu fügen.“ Ich falte die Hände und lache leise. „Bist du nicht der gleichen Auffassung, Liebster?“

Achim seufzt leise und vergräbt das Gesicht in den Händen. „Ist das deine Form der Rache? Dass du mir genau das gibst, was ich mir gewünscht habe, um mir damit alles zu nehmen, wovon ich zu träumen wagte?“

Das ist ein weiterer Grund für meine Entscheidung, ja.

„Warum sollte ich das tun?“, frage ich und schlage die Knöchel übereinander.

„Weil ich es verdient habe.“

Dieses Eingeständnis lässt mich blinzeln. Er sieht es ein? Diese Tatsache erscheint mir nahezu surreal. Man streitet ab, alles. Man gesteht niemandem einen Fehler ein. Und dennoch hat Achim es soeben getan. Für mich. Weiß er denn nicht, dass ich mein Herz über nichts und niemanden entscheiden lassen kann, während Anton in diesem Zustand ist und ich meinen Abschied nicht aussprechen durfte? Achim behauptet dort gewesen zu sein und inzwischen glaube ich ihm jedes Wort. Ich glaube ihm, dass er im Schatten wartete, während ich die Wachen auf Knien anflehte. Während ich kopflos durch die Stadt lief, tränenüberströmt und desorganisiert. Wenn Achim nur ein winziges Bisschen Empathie besitzt, müsste er dann nicht wissen, dass mein Herz zu nichts mehr fähig ist? Zu nichts mehr als zum bloßen Funktionieren. Ich verlasse mich auf meinen Kopf, weil mir nichts anderes bleibt. Was soll mein Verstand mit seinen Zugeständnissen anfangen?

„Ja“, sage ich nur.

Er nickt und presst sich die Finger auf die Augen. „Ja“, wiederholt er leise. „Ich nehme an, es gibt nichts, womit ich die Geschehnisse wieder gut machen kann?“

Ich zucke die Schultern. „Eine glatte Eheschließung käme uns beiden entgegen. Ich möchte sehen, dass die Presse beruhigt ist. Wir benötigen beide positive Schlagzeilen.“

„Ich kenne die Fakten, Chrona.“

„Dann sollten wir darüber nicht sprechen müssen. Gibt es weitere Gründe, aus denen du deinen Weg hierher gefunden hast?“

Ein leises Kopfschütteln. Sein Blick schweift in die Ferne zu einem Punkt, den nur er erkennt. Achim wirkt so leer. Fast als hätte der Graue Mann ihm alles genommen, was ihm lieb und teuer ist, kurz nachdem er es ihm gegeben hat. Fühlt Achim das Gleiche wie ich, nachdem mir mein Abschied gestohlen wurde? Tobt in ihm die gleiche hilflose Wut, die mich um den Schlaf bringt?

„Es steht dir frei, zu gehen“, wiederhole ich. Wieder ein Nicken. Rühren tut er sich nicht, stattdessen wirft er erstmals einen Blick in das Krankenbett und damit auf Anton.

„Geht es ihm gut?“, fragt er nach einigen schweigsamen Sekunden, in denen er das Bild auf sich hat wirken lassen.

„Sieht er so aus?“

Keine Antwort. Achim räuspert sich erneut und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich hätte erwartet, dass er zu dieser abwehrenden Geste an einem runden Tisch nicht fähig ist. Beabsichtigt er es, mich zu überraschen? Versucht er auf diese Weise ungeschehen zu machen, was seinetwegen geschehen ist?

„Er bedeutet dir wirklich viel. Man könnte fast meinen mehr als ich.“

„Könnte man wohl, ja.“

Er nickt. „Ist es denn so?“ Ich wiederhole diese Frage stumm. Ist es denn so? Ratlos sehe ich in Achims leere, blaue Augen. Frauen schwärmen davon, dass man sich in ihnen verlieren könnte, bis nichts mehr von einem übrig bliebe. Er sei der attraktivste und begehrenswerteste Mann der Welt und damit mein natürliches Gegenstück. Und manchmal, manchmal ist es auch wirklich gut zwischen uns. Schön. Wenn ich an den Abend in dem französischen Restaurant denke, läuft mir noch immer ein Schauder über den Rücken. Ich habe seine Nähe so sehr genossen, seine angetrunkenen Worte und danach seine Küsse. Ohne die Zeitsprünge hätte ich die ganze Nacht in seinen Armen verbringen können, ohne zu glauben, dass mir etwas fehlt.

Mit Anton, da ist es anders. Fast schon beängstigend. Eine Berührung und ich vergesse mich. Ein schiefes Lächeln und ich habe das gefährliche Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es ist vollkommen irrational, alles was je zwischen mir und Anton war, so unglaublich naiv und dumm. Wir haben für diese Beziehung so viel gegeben. Zu viel. Alle beide. Kann ein Traum einen in den Ruin treiben? Wir sind das lebende Beispiel dafür, dass Sehnsüchte töten können. Anton liegt bewusstlos in seinem Bett, ich kann im Schlaf aus Angst nicht mehr atmen. Kann das wirklich Liebe sein? So schmerzhaft? Nicht in meinem Leben.

„Ich bezweifle es“, antworte ich steif.

Achim schließt die Augen. Erleichtert lacht er auf und fährt sich durch das Haar. „Das ist … das ist gut.“

„Wenn du meinst.“

Über den Tisch hinweg greift er nach meinen Händen. Ich zucke zusammen, er ignoriert es und streicht über meine Fingerknöchel. Die vertraute Wärme seiner Haut sickert langsam in meinen Körper und nimmt mir einen Teil der Anspannung.

„Wir bekommen das wieder hin“, flüstert er und sucht meinen Blick. Ich weiche ihm aus. Was, wenn ich darin einen Teil von dem finde, was der Graue Mann in Achim deponiert hat? „Ihm bleiben vier Tage.“

Achim weiß sofort, wovon ich spreche. „Das muss nichts bedeuten.“

„Tut es aber. Ich kann dir nicht vertrauen, solange er die Kontrolle über dich gewinnen kann.“ Vertrauen muss ebenso wenig die Basis einer Ehe sein wie Liebe und Zuneigung. Gehorsamkeit und Loyalität in jeder Lebenslage sind allein von Wichtigkeit.

„Ich weiß.“ Achim macht keine Versprechungen, sucht keine Ausflüchte. Er streicht mir nur über die Fingerknöchel und scheint diese kleine Berührung mindestens so sehr zu genießen wie ich. Eine ungewohnte Wärme strahlt durch seine sonst so pragmatischen Augen. Es ist irritierend. Während er jede Sekunde schmerzhaft intensiv in sich aufzusaugen scheint, bleibt mein Herz kalt. Weil es gerade nur an Antons Seite sein kann, in steter Sorge um ihn?

Achim folgt meinem Blick. „Es wird ihm bald besser gehen“, flüstert er und drückt mir einen kleinen Kuss auf den Handrücken. „Wer weiß, vielleicht ist er noch vor unserer Hochzeit wohlauf?“ Ich weiß nicht, ob ich darauf hoffen sollte.

„Vielleicht.“

Er beugt sich noch näher über den kleinen Tisch, bis seine Stirn meine berührt. Ihm so nah zu sein, nach den letzten Tagen ist befremdlich geworden. Nicht aus Angst. Ich versuche mir immer einzureden, die Furcht vor dem Grauen Mann wäre es, was mich zurückscheuen lässt, aber das ist es nicht. Achim selbst ist der Grund. Sein zumeist glattes Verhalten. Und dabei war es genau diese Selbstbeherrschung, in die ich mich verliebte. Ich hasse den Grauen Mann dafür, dass er mir Anton vorgestellt hat. Ich verabscheue ihn dafür, dass er in dem einzigen, was ich für besonders hielt, von dem ich glaubte, dass es nur mir gehört, seine Hände im Spiel hatte und es damit auf eine Art beschmutzte, die unwiderruflich ist. Ich bleibe hier bei Anton, jeden Tag, jede Nacht. Nicht weil ich darauf hoffe, dass er und ich eine Zukunft haben könnten. Nichts könnte ich mir weniger vorstellen als ein Leben mit Anton an meiner Seite. Seine und meine Zweisamkeit wäre von dem Grauen Mann geplant, ich würde an seinen Fäden tanzen.

Nein. Ich wache neben ihm, um eine Schuld zu begleichen. Ich glaube, dass Achim das begreift. Anton wird es verstehen. Wie könnte er mich lieben, nach allem was er durchleben musste?

„Ich liebe dich“, flüstert Achim und lehnt sich nah zu mir. „Ich will dich nicht verlieren.“ Eine kleine Stimme fragt sich, ob es für diese Bitte längst zu spät ist. Zittrig atmet Achim ein und fährt mit der Nase über meinen Hals. Ich rühre mich nicht. Die Meise startet einen zweiten Versuch, stürzt sich hinab, nur um sich in aller letzter Sekunde zu fangen, den Wind durch die Flügel pfeifend und das Köpfchen stolz gehoben. Wie erleichtert sie scheint, wie unglaublich glücklich, als sie der Sonne entgegenschwebt.

„Warum habe ich nur das Gefühl, dass du für mich unerreichbar wirst, sobald ich dich heirate?“ Achim lacht leise über sich selbst. Ich spüre den warmen Atem an der empfindlichen Haut unter meinem Ohr. Er sollte nicht lachen. Er müsste wissen, dass genau das geschehen wird. Das war der Plan, von Anfang an. Eine Trennung durch eine Eheschließung. Man findet sich zu wichtigen Veranstaltungen zusammen.

Ende.

„Wir schaffen das alles, oder?“, wispert er und sucht meinen Blick. Sind das Tränen in seinen Augen? Ich muss mich irren. „Ich habe damals eine falsche Entscheidung getroffen und die Folgen kann man kaum als Kollateralschäden bezeichnen, aber wir schaffen das, nicht wahr, Liebste?“ Ich kann dieses Wort nicht aus seinem Mund hören. Es klingt so falsch, gelogen.

Trotzdem ringe ich mir ein Lächeln ab und lege eine Hand auf seine Wange. Sie ist ebenso warm wie Antons, ein wenig glatter und die Haut weicher und gepflegter. Achim riecht anders, weniger nach zu Hause, viel mehr wie eine Entscheidung, die man nur zu leicht bereuen kann.

„Wollen wir den Hochzeitstanz üben oder ihn dem Zufall überlassen?“ Sein schiefes Lächeln erinnert mich ein winziges bisschen an Anton. Bei Anton war es herzlicher und unkalkulierter und charakteristischer, aber sie beide ziehen den linken Mundwinkel dabei seltsam nach oben.

„Mutter würde das nicht akzeptieren.“

„Ich kann ihr garantieren, dass wir Stunden damit zugebracht hätten, zu üben.“ Skeptisch sehe ich Achim an. Lügen? Wegen einer Kleinigkeit wie dieser? Ich bringe ihn nicht von dem Gedanken ab. Achim interpretiert mein Schweigen als Zustimmung. Er kommt mir noch näher. Als er mich küsst, zieht sich mein Herz zusammen. Ich sollte ihn wegstoßen und des Raumes verweisen. Ich bin nur dazu in der Lage, ihn näher an mich zu ziehen. Er ist so bekannt, so herzerweichend. Ich liebe seine Nähe und die Art und Weise wie er mich küsst. Es ist nicht wie mit Anton. Ich verliere mich nicht, bleibe hier, an Ort und Stelle, kann noch klar denken, und habe trotzdem das Gefühl sicher zu sein. Achim wird auf mich achtgeben. Solange Echnaton Ralowskowitsch seine Finger nicht im Spiel hat.

Antons Geräte piepen gleichmäßig. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht aufwachen, und selbst wenn, er weiß von meiner Verlobung. Und nach all den einsamen, kalten Stunden gibt es nichts Beruhigenderes als die Nähe von jemandem, den man kennt.

3

Das Räuspern einer Angestellten lässt uns auseinanderfahren. Ihre Wangen sind fiebrig gerötet und sie sieht nervös auf ihre Füße. Zumindest scheint sie zu wissen, dass sie völlig fehl am Platz ist. „Ich wollte nur fragen, ob Sie etwas brauchen.“ Bitter presse ich die Lippen aufeinander. Noch einen Kuss, noch eine Umarmung. Während wir uns geküsst haben, hat Achim mich zu sich auf den Schoß gezogen. Würde ich behaupten, dass mich die plötzliche Nähe gestört hätte, löge ich. Achims gewisperten Worte haben mein Hirn vernebelt wie zwei, drei Gläser schlechter Wein.

Achim räuspert sich und schiebt mich ein Stück von sich. Sein Haar, noch vor einigen Minuten perfektioniert gestylt, stehen wirr in alle Richtungen ab. Es verleiht ihm eine Facette, die Achim schlichtweg nicht ausfüllen kann.

„Zwei warme Mahlzeiten, einen Erdbeersaft und zwei Tee, bitte.“ Seine Stimme klingt belegt. Gefällt es mir, dass er sich meinetwegen so anhört? Ich denke über diese Möglichkeit einige Momente nach, während die Angestellte hastig nickt und mit zittrigen Fingern ein Smartphone aus ihrer Rocktasche zieht. Die Antwort ist ernüchternd einfach: Achims aktuelle Verfassung könnte mir kaum gleichgültiger sein. Achim hilft mir, mich gut zu fühlen, und dafür bin ich ihm dankbar. Im Moment allerdings? Bräuchte ich keinerlei emotionale Bestätigung seinerseits. Sie prallt ohnehin von meiner Kränkung und der Sorge um meinen Ruf und Anton ab.

„Darf ich Ihnen ein Gericht aus der Küche empfehlen?“ Das Mädchen klingt furchtbar nervös.

Achim sieht mich fragend an. Ich zucke die Achseln und rutsche von seinem Schoß, um mich ihm gegenüber auf meinen eigenen Stuhl zu setzen. Der fragile Tisch steht zwischen uns und mit jeder Sekunde, die die Angestellte mit auf dem Balkon steht, scheint er sich mehr auszudehnen. „Eine Hühnersuppe, die wurde mir von Bethany empfohlen. Dazu eine Variation an Broten und exotischen Früchten, selbstverständlich mit einer Auswahl an Käse. Vergessen Sie den Feigensenf nicht.“ Eine kulinarische Katastrophe? Nur so kann ich mir ihr überraschtes Blinzeln erklären, ehe die junge Frau mit den wirren, rötlichen Haaren endlich notiert, was ich diktiert habe.

Achim räuspert sich. „Einen Wildbraten für mich, bitte.“

„Darf ich einen Wein empfehlen?“ Er schüttelt bestimmt den Kopf. Weil sein Verstand ähnlich vernebelt ist? Ähnlich wie meiner? Vor wenigen, himmlischen Momenten. Für eine viel zu kurze Zeit.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Unsere Bestellungen weiterreichen. Das wäre äußerst hilfreich“, sage ich kühl. Sie fährt zusammen. „Natürlich, Miss. Verzeihen Sie bitte, Miss.“

„Man braucht Sie in der Küche.“

„Verzeihen Sie.“ Die Angestellte knickst hastig, bevor sie auf dem Absatz kehrt macht und davonstürmt, als fürchte sie, ihr Leben zu verlieren, wenn sie nicht sofort verschwindet. Ein eisiger Schauer kriecht mir über den Rücken. Ich bin nicht der Graue Mann.

Achim lächelt mich warm an. „Das habe ich vermisst“, sagt er leise. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. Anton hätte bei meinem Verhalten abschätzig den Mund verzogen oder begonnen mich mit Beleidigungen zu überhäufen, die ihresgleichen suchen. Und, aus einem mir unerfindlichen Grund, wäre mir seine Reaktion lieber gewesen.

„Dass ich Menschen umherscheuche?“

Er wiegt nachdenklich den Kopf. „Nein“, entscheidet Achim dann. „Dass du Du selbst bist. Das tust, was du immer getan hast. Es tut gut, wieder dich zu sehen und nicht jemanden, den Echnaton Ralowskowitsch mühevoll erschaffen wollte.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und löse die Zähne einen Atemzug später wieder. Diese kleinen Gesten, ich muss sie mir schnellstens abgewöhnen. Sie zeigen mehr von dem, was mich bewegt, als an den Verhandlungstisch gehört. Die Person, die ich geworden bin, ist unfähig, einen Dialog erfolgreich zu absolvieren. Ein Event ist schon zu viel für diese Frau! Ich bin ein Schatten meines Selbst. Finde ich nicht zu mir selbst zurück, verliere ich mehr als nur Anton.

„Es tut gut wieder ich selbst zu sein“, sage ich mechanisch. Mein Blick schweift zu den piependen Monitoren. Antons Herzschlag. Langsam, regelmäßig, schlafend. Es hat keinen Zweck länger an seinem Bett zu wachen. Er wird die Augen nicht aufschlagen und wenn doch, wird er sich wünschen tot zu sein. All diese Apparaturen grenzen an Hexerei und ich habe eindrucksvoll gelernt, wie sehr er sich vor ihr fürchtet. Dabei hat er die eigentlichen magischen Mixturen in seinem düsteren Nebenzimmer gebraut. Wenn Anton aufwacht, wird er sich von seinem geliebten Verstand verabschieden müssen. Gut möglich, dass er mich nicht sehen möchte.

Wer weiß, was der Graue Mann ihm eingeflüstert hat.

Warum soll ich an seiner Seite bleiben, wenn es für mich nichts mehr zu hoffen gibt? Ein Besuch in der Woche genügt völlig. Das wäre angemessen.

Tatsache ist, ich kann weder Achim noch Anton in die Augen sehen, aber mich selbst besser ertragen, wenn ich in Achims Nähe bin. Dann bin ich Ich. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Die Göttin, die über Zahlen und Gelder herrscht. Vor Anton bin ich ein Nichts. Ich habe All In gespielt und alles verloren.

Für einen Mann.

Es ist erbärmlich.

„Beabsichtigst du demnächst nach Hause zu kommen?“

Ich sehe Achim mit schiefgelegtem Kopf an. „Zu meinen Eltern oder zu dir?“

„Zu mir. Nach Hause.“

Ich lächle bitter. Rhythmisches Piepen. Es bringt mich um den Verstand. Glaubt Achim wirklich, dass nach allem, was er mit angesehen und angerichtet hat, er noch ein Zufluchtsort für mich ist? Der einzige Platz, an dem ich mich Daheim gefühlt habe, wurde von dem Grauen Mann vergiftet. Es fühlt sich an, als würde Säure durch Anton laufen und ihn in stinkenden, tödlichen Schwaden umgeben, sodass ich gezwungen bin zurückzuweichen.

„Beizeiten“, antworte ich glatt. Achims Lächeln wird breiter und er greift wieder nach meinen Händen. Am liebsten würde ich sie wegziehen. Soll er mich küssen und mich damit etwas besser fühlen lassen, aber alle Berührungen, so zart sie sein mögen, sind winzige Dolche in meiner Seele. Auch Achim hat der Graue Mann mir genommen. Nur auf eine andere, subtilere Weise. Anton hat er mir gestohlen. Die Entscheidung, Achim gehen zu lassen, hat er mir binnen angstvoller Sekunden aufgezwungen. Nachdem einige Meter unter mir einem Mann das Herz in der Brust verkümmert ist.

„Das freut mich zu hören. Ich werde deine Zimmermädchen sofort anweisen, ihr Bestes zu tun, um dich angemessen Willkommen zu heißen.“

„In meinen Räumlichkeiten im Clark-Tower?“ Allein der Gedanke daran, dieses Gebäude wieder zu betreten, dreht mir meinen Magen um. Alles Schlechte ist mir dort widerfahren. Wer weiß, vielleicht lauert Echnaton Ralowskowitsch in meinem Schlafgemach und wartet darauf seinen nächsten Schachzug zu spielen?

„Natürlich. Ich werde die nächsten vier Wochen in den Staaten bleiben. Die Geschäftspartner reisen an. Ich habe ihnen diverse Ultimaten gestellt.“ Meine Augen brennen. Ich blinzle die Tränen fort. Dazu war er nie in der Lage, als ich ihn um mich haben wollte?

„Das ist aufmerksam von dir. Danke.“

Achim folgt meinem Blick. „Er wird heute nicht aufwachen.“ Ich nicke nur. Das wird er nicht, nein. Auch nicht morgen oder übermorgen. Er ist noch nicht bereit dazu. Wer weiß, ob er es jemals wieder sein wird.

„Denkst du, ich sollte mich bereits um eine Grabstätte sorgen?“ Die Worte verätzen mir die Zunge. Allein sie auszusprechen, gleicht Hohn. Als würde ich alles verraten, wovon ich jemals zu träumen gewagt habe. Träume sind Schäume, so heißt es doch. Dünn, vergänglich und von Beginn an dazu verdammt, sich im Nichts zu verlieren. Anton ist die Personifikation all meiner Hoffnungen. Es wäre nur allzu passend, würde ich ihn zu Grabe tragen.

„Es muss keine große Veranstaltung werden und ich würde sie gern einige Wochen nach der Hochzeit abhalten“, fahre ich fort. „Wir würden lediglich einen Liegeplatz benötigen und einen Grabstein.“ Ich kenne weder seinen vollen Namen noch das Geburtsdatum. Im Ganzen weiß ich nichts über Anton. Weniger als nichts. Keine Eckdaten, kaum Fakten. Wie skurril, dass man sich um jemanden sorgen kann, der in der kognitiven Datenbank kaum existiert. „Ein kleines Fest, ohne Medienpräsenz. Wir könnten es auf den Tag von Monsieur Depóts Beerdigung legen.“ Zwei Wochen nach unserer Hochzeit. „Man würde unserer Beisetzung kaum Beachtung schenken.“

Achim umfasst meine Hände fester. Schmerzhaft intensiv. Ich rolle einmal den Kopf, ehe ich ihn ansehe. „Noch ist er nicht tot“, sagt Achim leise. „Wir sollten noch lange nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass er zurückkommt. Seine Wunden sind schwer, aber man kann sie überstehen.“ Weiß er, was der Graue Mann ihm angetan hat? Diese Frage brennt mir auf der Zunge. Ich bin zu feige, sie zu stellen.

„Anton ist bereits seit Jahrhunderten tot“, stelle ich nüchtern fest. „Er gehört nicht in unser Jahrtausend.“

„Also möchtest du mit der Ungewissheit leben, ob er jemals wieder aufgewacht wäre?“

Ich lache leise auf. „Er ist seit Jahrhunderten tot“, wiederhole ich langsam, als spräche ich mit einem kleinen Kind. „Es wäre nur fair, es dabei zu belassen.“ Ich lehne mich nah zu Achim. Sein warmer Atem tastet behutsam über meine Wange. „Meine Entscheidung sollte dich erfreuen.“

Er seufzt leise und gibt mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. „Ich verstehe dich“, flüstert Achim. „Und genau aus diesem Grund empfinde ich Enttäuschung. Ich dachte einst ebenfalls, dass ich Geschehenes rückgängig machen könnte, wenn ich das verschwinden lasse, was er mir gegeben hat.“ Er. Der Graue Mann. „Aber es bringt rein gar nichts. Darauf spielt er an. Das ist sein Ziel. Er will, dass wir uns selbst ausreichend verletzen, damit wir ihm flehend zu Füßen fallen.“

Meine Schultern verspannen sich unwillkürlich, während ich Achims stechendem, klarem Blick standhalte. Seine Iriden sind kalt wie Eis und so unsagbar leer. Ich sehe mich selbst darin. Meine sterbenden Hoffnungen und Träume, jede der Hybris entwachsene Fantasie. Es ist ein schmerzhaftes Bild, schneidend und einprägsam. Genau aus diesem Grund ist er ein brillanter Anwalt. Es braucht nur einen Blick in seine klaren Augen und schon ist man mit all dem konfrontiert, was man nicht mehr sehen kann. Jeder knickt ein, wenn er seinen eigenen Abgründen gegenübersitzt. Facetten, die man erst mit dem Tod verscharren wollte und die gedacht waren, denjenigen mit einem einzigen Flehen wieder aus der maroden Grabstätte zu zerren.

„Ich habe mich ihm entzogen“, sage ich. „Er hat keine Macht über mich und er hatte sie nie. Ende.“

„Das klingt wie aus dem Mund eines störrischen Kindes.“ Achim wirkt so sanft, als er halb aufsteht, um mich von meinem Stuhl zu ziehen und auf seinen Schoß zu führen. Widerstrebend setze ich mich. Sein Geruch verursacht mir Übelkeit. Er soll mich küssen oder loslassen. „Ich liebe dich so sehr, Chrona. So sehr. Ich würde nie zulassen, dass du etwas tust, das er gegen dich verwenden kann.“

„Er wird Antons Leben verwenden, um mich für sich zu gewinnen.“

„Möglich“, gibt Achim zu. „Aber viel mehr seinen Tod, wenn du es warst, die sein Leben beendet hat. Du könntest kein Auge mehr zu tun.“ Schlafen? Schon jetzt ein Wunschdenken.

„Wenn du meinst.“ Meine Gleichgültigkeit ist endgültig.

„Lass ihn wenigstens noch zwei, drei Monate leben, Liebste. Besuche ihn. Er besaß eine Affinität für dich.“

„Du hast keine Ahnung, was du da sagst.“

Achim streicht mir eine Strähne hinter das Ohr. „Vielleicht.“ Ein hauchzarter Kuss in meinen Nacken, der mir eisige Schauer über den Rücken jagt. „Vielleicht aber auch nicht.“ Ich rolle die Augen. Diese Möglichkeiten werde ich nicht mit ihm diskutieren. Entschlossen drehe ich mich zu Achim um, vermeide seinen Blick zu streifen und drücke meine Lippen ohne Umschweif auf seine. Ablenkung.

Achim seufzt leise. Anton hat das nie getan. Man hätte fast meinen können, er hat Angst vor dem gehabt, was da zwischen uns war. Genauso wie ich. Achim aber, er kennt keine Sorge, wenn er mich küsst. Er vergisst sich, während er sich näher zu mir lehnt, die Augen geschlossen und eine Hand an meiner Wange.

Gut möglich, dass ich ein Parasit bin, der ihm alle Hoffnungen und Wünsche aus dem Körper zieht, um sie in mich aufzunehmen. Um den nächsten Tag zu überstehen. Gut möglich, dass ich ein Engel bin, der Achim genau das gibt, was er verdient.

„Ich liebe dich“, flüstert er erneut. Die Worte klingen unwirklich. So lange wollte ich sie aus seinem Mund höre, jetzt fühlt es sich an wie ein weiterer Faden in dem geplanten Wollknäul des Grauen Mannes. Der Gedanke, dass ich, egal was ich tue, Echnaton Ralowskowitsch in die Karten spiele, macht mir furchtbare Angst. Mehr als Achim jemals verstehen könnte.

Es ist wieder ein Räuspern, das uns auseinanderfahren lässt. Dieses Mal stammt es von Bethany. Sie wirkt amüsiert, als sie die Platten abstellt und die Getränke dazu serviert. Von dem frischen Brot steigt ein göttlicher Duft auf, der Käse wurde liebevoll in Röschen angeordnet. „Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit“, sagt sie. „Darf ich Ihnen noch eine Aufmerksamkeit bringen?“

„Bei Bedarf rufen wir Sie“, nimmt Achim mir das Reden ab. Ich komme nicht umhin, Dankbarkeit zu verspüren. Mir lag eine weitere bissige Bemerkung auf der Zunge. Bethany hat sie aktuell nicht verdient.

„Natürlich. Genießen Sie das Dinner.“ Sie knickst vor uns, ehe sie gemessenen Schrittes geht. Einen kurzen Blick wirft sie noch auf Anton, sicher verkabelt und daliegend wie tot. Es würde weniger schmerzen, wenn ich nur noch seinen Grabstein besuchen müsste. Ganz bestimmt. Einmal im Jahr, um zu überprüfen, ob er noch steht, bevor das Grab nach zwanzig Jahren geräumt wird. Anton ist lange tot und begraben. Daran ändert kein Wunschdenken der Welt etwas. „Möchtest du bleiben?“, fragt Achim mich leise. Seine Mundwinkel zucken amüsiert, als er auf seinen Schoß deutet. Wortlos gebe ich ihm einen Kuss und setze mich auf meinen eigenen Stuhl.

„Ich nahm an, wir wollten essen.“

Seine Antwort ist ein weiteres überglückliches Lachen. Als er den Kopf schüttelt, fallen ihm die wirren blonden Haare in die Stirn. Es steht ihm nicht. Ganz und gar nicht.

Als ich am Abend meine eigenen Räumlichkeiten betrete, ist es wie ein Schritt in fremde Welten. Die weiten Zimmer, aneinandergereiht in schierer Unendlichkeit, perfektioniert durch architektonisch brillant angeordnete Spiegel und makellos gesetzte Fenster, geleiten mich über Meter und Meter, die durch Luxus nicht brillanter glänzen könnten.