Weinbergbunker - Wolf S. Dietrich - E-Book

Weinbergbunker E-Book

Wolf S. Dietrich

4,8

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Hanna Wolfs dritter Fall Der Tod eines Jugendlichen führt die Kasseler Hauptkommissarin Hanna Wolf und ihr Team auf die Spur einer rechtsextremen Gruppierung. Je weiter die Kripo mit ihren Ermittlungen vordringt, desto deutlicher werden Bezüge zum Jahr 1945. Offenbar hat ein hoher Nazi-Funktionär in den letzten Kriegstagen versucht, das Vermögen der Partei vor den heranrückenden amerikanischen Streitkräften in Sicherheit zu bringen. Ein Brief aus den USA legt die Vermutung nahe, ein geheimer Goldschatz könne noch heute in der Stadt verborgen sein ...

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Seitenzahl: 329

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WolfS.Dietrich

Weinbergbunker

Kassel Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Kassel und Umgebung.

Personenliste

•Hanna Wolf - Erste Kriminalhauptkommissarin, Leiterin des Fachkommissariats für Tötungsdelikte

•Nina Wolf - Hannas Tochter

•Jonas Roth - Journalist und Hannas Freund

•Florian Stöber - Kriminalkommissar, Hannas engster Mitarbeiter

•Klaus Starzinsky - Kriminaloberkommissar, genannt »Starsky«

•Andreas Huth - Kriminaloberkommissar, genannt »Hutch«

•Isabella Rodriguez - Sekretärin im Fachkommissariat für Tötungsdelikte

•Gernot Wenzel - Kriminaloberrat, Hannas Vorgesetzter

•Klaus Schubert - Kriminalhauptkommissar im Staatsschutzkommissariat

•Dr. Frank N. Stein - Pathologe

•Dr. Julia Engelhardt - Steins Mitarbeiterin

•Carl von Bredow - Oberstaatsanwalt

•Benjamin Bandele - jugendlicher Sohn von Benadou Bandele, Ingenieur bei ThyssenKrupp

•Karin Siebert - Witwe, Besitzerin eines Mehrfamilienhauses

•Philipp Siebert - ihr Enkel

•Torben Heintze - Anführer einer Neonazi-Gruppe

•Marc Brenner - Mitglied einer Neonazi-Gruppe

•Sascha Rudolph - Mitglied einer Neonazi-Gruppe

•André Olewski - Mitglied einer Neonazi-Gruppe

•Daniel Heimbruch - Mitglied einer Neonazi-Gruppe

•Friedrich Nissen - NSDAP-Hauptbereichsleiter

•George Andersson - Sergeant der amerikanischen Armee

•Günther und Ursula - Kasseler Kriegswaisen

•Pieter de Boer - Zwangsarbeiter

•Joachim Reske - Oberleutnant der Luftwaffe

•Hilde Berghaus - ein Mädchen aus dem Sauerland

•Werner Siepenbeck - ihr Verehrer

Prolog

Nichts deutete darauf hin, dass sich im Leben der Anderssons so rasch etwas ändern könnte. Georges Enkelkinder waren mit Freunden zum See gefahren. Sie würden dort grillen und erst spät nach Hause kommen. Sein Sohn hatte sich mit einem Budweiser in der Hollywood-Schaukel auf der Terrasse niedergelassen, während Jessica in der Küche das Abendessen vorbereitete.

Ein typischer Sommerabend in Minneapolis. Mit milder Wärme. Wie an den Abenden zuvor.

Zufrieden begutachtete George die gestutzten Zweige eines Ahorns. Er zog die groben Handschuhe aus und klemmte sie unter eine Achsel. Obwohl Jessica und Paul ihn davon abzuhalten suchten, sich als Gärtner und Hausmeister zu betätigen, fand er immer wieder Sträucher, die ausgelichtet, Bäume, die zurückgeschnitten, und Schäden am Haus, die repariert werden mussten. Doch für heute war Schluss, denn er hatte noch etwas vor. Wenn er an Liz dachte, fühlte er sich so jung wie schon lange nicht mehr. Trotz seiner sechsundachtzig Jahre. Irgendwann würde er sie Paul und seiner Familie vorstellen. Vielleicht war Weihnachten eine gute Gelegenheit. Aber bis dahin würde noch viel Wasser den Mississippi hinunterfließen.

»Kann ich deinen Wagen benutzen?«, fragte er, als er die Terrasse betrat. »Ich möchte noch mal rüber zu ... zur ... Chicago Avenue.« Sorgfältig legte er die Arbeitshandschuhe übereinander auf einer Fensterbank ab.

»Selbstverständlich. Du kannst den Century nehmen, mit dem Metro sind die Kinder unterwegs.«

»Danke. Ich bin vor Mitternacht zurück.«

»Also dürfen Jessica und ich den Abend mal wieder allein verbringen.« Paul leerte die Bierdose. »Obwohl wir eine sechsköpfige Familie sind.«

»Sei froh, dass du deine Frau mal für dich allein hast«, knurrte George. »Ich in deinem Alter ...«

Paul hob abwehrend die Hände. »Ist schon in Ordnung, Dad. Apropos Alter. »Werden wir deine ... Bekannte gelegentlich kennen lernen? Ihr könntet euch doch auch mal hier treffen.«

George zuckte vage mit den Schultern. »Vielleicht. – Wo sind die Wagenschlüssel?«

George Andersson drehte das Autoradio lauter, um die 18-Uhr-Nachrichten nicht zu verpassen. Auf der Interstate 35 ging es nur mit mäßiger Geschwindigkeit voran. Kurz vor der Brücke behinderten Bauarbeiten den Verkehr. Nur noch zwei Fahrspuren standen zur Verfügung. Andersson fiel es schwer, sich auf die Ansagen zu konzentrieren, mit seinen Gedanken war er bereits jenseits des Flusses.

Den Century hatte er länger nicht gefahren. Er fühlte sich plötzlich ungewohnt schwammig in der Lenkung an. George nahm Gas weg, beschleunigte wieder. Nein, alles in Ordnung. Aber im nächsten Augenblick begann der Wagen leicht zu zittern. Versetzte ein Schwertransporter die Brücke in Schwingungen? Er sah sich um, doch weit und breit war kein ungewöhnliches Fahrzeug zu erkennen. Nur der übliche Feierabendverkehr. Überwiegend Mittelklassewagen. Dazwischen ein paar Pickups, Vans und die eine oder andere Luxuslimousine. Neben ihm fuhr der gelbe Schulbus einer Kirchengruppe mit Kindern. Sie schnitten Grimassen hinter den Scheiben. George streckte ihnen rasch die Zunge heraus und wandte den Blick wieder nach vorn.

Weit voraus erkannte er einen Lieferwagen mit dem Schriftzug einer Supermarktkette. Plötzlich verschwand der kastenförmige Aufbau wie von Zauberhand von der Straße. Gleichzeitig setzte ein dumpfes Grollen ein, und vor ihm leuchteten sämtliche Bremslichter auf. Auch Andersson trat auf die Bremse. Schon krachten mehrere Fahrzeuge ineinander. Doch was dann geschah, überstieg selbst das Fassungsvermögen des kampferprobten ehemaligen Soldaten. Die Brücke bebte, die Straße senkte sich, brach in gewaltige Stücke, auf denen die Autos wie Spielzeuge abwärts glitten. George fühlte sich wie auf einem dieser neuen mörderischen Karussells. Obwohl er mit aller Kraft auf die Bremse trat, rutschte der Century auf der kippenden Fahrbahn hinunter. Ein heftiger Schlag traf das Heck des Fahrzeugs und beschleunigte den mit kreischenden Reifen abwärts taumelnden Wagen. Gleichzeitig setzte um ihn herum ein ohrenbetäubendes Knirschen und Krachen ein. Aus den Augenwinkeln sah George die Schilderbrücke mit den grünen Tafeln herabstürzen. Die Trümmer schlugen hinter ihm auf die Fahrbahn und krachten auf die nachfolgenden Fahrzeuge. Er dachte an die Kinder im Schulbus. Doch im nächsten Augenblick erstarrte alles Denken. Der Century hatte die Bruchstelle erreicht und schrammte über die Kante.

Das ist das Ende. Für einen Augenblick sah George Andersson das erschreckte Gesicht von Liz, dann raste das dunkle Wasser des Mississippi auf ihn zu. Der Wagen schlug auf, Anderssons Kopf prallte gegen den Holm. Dann umschlossen ihn Dunkelheit und Stille.

Benommen hing er in den Gurten und versuchte, sein Bewusstsein zurückzugewinnen. Es dauerte einige Minuten, bis er halbwegs zu sich kam. Sanftes Zischen und Gluckern drang an seine Ohren. Das Wasser hatte das Innere des Wagens nahezu gefüllt. In wenigen Sekunden würde es seinen Mund erreichen. Bilder seines Lebens zogen an seinem inneren Auge vorüber. Szenen aus der Kindheit. Dann aus dem Krieg. Es war in dieser von Bomben zertrümmerten Stadt in Deutschland. Kassel. Ein Nazi richtete seine Pistole auf einen seiner Kameraden. In der nächsten Sekunde wandte er sich um und rannte davon. Der Film riss in dem Augenblick, als George sein Gewehr hob und den Flüchtenden erschoss.

1

»Die Amerikaner kommen!«

Das fünfjährige Mädchen mit den blonden Zöpfen wusste nicht, was dieser Satz bedeutete, den die Erwachsenen an diesem Tag so häufig und in einem eigenartigen Tonfall aussprachen. Doch Karin spürte, dass damit etwas ganz Besonderes gemeint war. Überhaupt schienen Veränderungen vor sich zu gehen. Das wiederkehrende Grollen in der Luft war an- und abschwellendem Kanonendonner gewichen. Onkel Friedrich, der stets seine braune Uniform mit den goldenen Abzeichen trug, erschien nur noch gelegentlich für kurze Besuche. Und Karins Mutter stieß ein ums andere Mal Seufzer der Erleichterung aus. »Gott sei Dank. Jetzt ist der Krieg vorbei. Und vielleicht kommt dein Vater bald nach Hause.«

Als sich auf der Straße ein ungewohntes Motorenbrummen näherte, krabbelte Karin trotz Verbotes aus dem Kellerfenster und spähte neugierig in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Auf der von zerbombten Häusern gesäumten Fahrbahn kroch im Schritttempo eine Kolonne von Fahrzeugen, die von Männern in Uniform und mit Gewehren begleitet wurden. Soldaten. Aber diese sahen anders aus als alle, denen Karin zuvor begegnet war. Einige von ihnen hatten schwarze Gesichter. Obwohl sie wusste, etwas streng Verbotenes zu tun, ließ sie sich von ihrer Neugier zum Straßenrand treiben.

Mit offenem Mund betrachtete das kleine Mädchen die seltsamen, vorbeiziehenden Männer. Das mussten die Amerikaner sein. Die Unbekannten, in denen Onkel Friedrich so etwas wie Teufel sah, ihre Mutter dagegen Friedensbringer.

Einer der schwarzgesichtigen Soldaten lächelte ihr zu, zog ein Päckchen aus der Tasche und hielt es ihr aufmunternd lächelnd hin. Verlockend leuchtete buntes Papier aus einer Hand, die außen schwarz und innen hellbraun war. Karin streckte zögernd ihre Finger aus. Der Soldat legte die Packung hinein und sagte etwas, das Karin nicht verstand. Aber die Laute, die sie hörte, brannten sich in ihr Gedächtnis. Tschocklitt.

Fasziniert befühlte sie das glatte Papier und bestaunte die leuchtenden Farben. Dann umschlossen ihre Finger das Päckchen, und sie rannte so schnell sie konnte zum Haus zurück und kletterte durchs Kellerfenster hinein.

»Schau mal, Mama, was ich habe!«

Der erschrockene Blick der Mutter wanderte zwischen dem fremdartigen Gegenstand in der Hand ihrer Tochter und deren strahlenden Augen hin und her. »Schokolade!«, sagte sie schließlich. »Das sieht aus wie Schokolade. Wo hast du das her?«

Karin zögerte. »Gefunden«, murmelte sie, denn sie ahnte, dass die Wahrheit ihr eine Rüge, vielleicht sogar eine Ohrfeige einbringen würde.

»Jetzt fangen sie an, unsere Kinder zu vergiften«, schimpfte Onkel Friedrich aus dem Hintergrund.

Karins Mutter neigte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie nahm ihrer Tochter das Päckchen aus der Hand. »Setz dich!« Dann zog sie ein Messer aus der Schublade des Küchentisches, den sie aus den Trümmern des zerbombten Hauses gerettet hatte, nahm einen Teller aus der Geschirrkiste und begann, die Packung zu öffnen. Zuerst kam glänzendes Silberpapier zum Vorschein, dann eine dunkelbraune Masse, die einen verführerischen Duft verströmte.

»Tatsächlich: Schokolade!«

Karin schüttelte energisch den Kopf. »Tschocklitt«, behauptete sie.

»Das ist dasselbe.« Aus dem Lächeln ihrer Mutter wurde plötzlich ein strenger Blick. »Woher hast du diesen Ausdruck?«

Noch während das Kind über eine unverfängliche Antwort nachdachte, begann die Mutter, den Schokoladenstreifen in Stücke zu schneiden.

»Lasst die Finger davon!«, rief Onkel Friedrich, während er in seiner Kleiderkiste kramte. »Wer weiß, was die da reingetan haben.«

Anscheinend hatte die Mutter ihre Frage vergessen, denn sie wandte sich ihrem Schwager zu. »Das werden wir gleich haben.«

Sie steckte ein kleines Stück in den Mund und schloss die Augen. Nach einiger Zeit, die Karin unendlich lang erschien, begann sie zu lächeln. Sie öffnete ihre Augen, sah ihre Tochter an und hielt ihr den Teller hin. »Jetzt darfst du ein Stück nehmen. Aber nicht kauen. Langsam auf der Zunge zergehen lassen. Dann ist es am schönsten.«

Plötzlich stand der Onkel neben ihnen und riss der Mutter den Teller aus der Hand. Die braunen Stücke segelten zu Boden. »Lass dieses Dreckszeug, Gertrud! Der Feind will damit unsere Moral untergraben.«

»Welche Moral?« Ungerührt sammelte Karins Mutter die Schokoladenstücke wieder ein und drückte ihrer Tochter den Teller in die Hand. »Der Krieg ist doch längst verloren, Friedrich. Und wir können froh sein, dass Kassel an die Amerikaner fällt und nicht an die Russen. Die einzigen, die jetzt noch etwas zu befürchten haben, sind du und deinesgleichen. Ich hoffe für dich, dass du rechtzeitig alle Spuren deiner Parteikarriere beseitigst. Trotzdem musst du damit rechnen, dass sie dich kriegen. Hier in Oberzwehren kennt dich zwar kaum jemand, aber in Kassel sieht das anders aus.«

»Noch ist nichts verloren!«, schrie der Onkel. »Noch gibt es aufrechte Kameraden, die sich dem Feind entgegenstellen.«

Karin duckte sich unter den Tisch und schob ein Stück Schokolade in den Mund. Lautstarke Auseinandersetzungen zwischen ihrer Mutter und Onkel Friedrich hatte es in letzter Zeit öfter gegeben. Karin war dann immer unter den Tisch gekrochen. Dort hatte sie auch gehockt, als einmal zwei fremde Männer gekommen waren, um mit ihrem Onkel zu reden. Sie hatten mit ihm am Tisch gesessen und von einem wichtigen Auftrag gesprochen. Und davon, dass es um Deutschlands Zukunft ginge. Obwohl sie sehr leise gesprochen hatten, war jedes Wort zu Karin gedrungen. Sie hatte zwar nicht begriffen, worum es ging, aber ein Bild hatte sich in ihrer Erinnerung festgesetzt: Das vom Hans im Glück, der einen fetten Klumpen reinen Goldes besaß. Ihrer Mutter hatte sie nichts davon erzählt, denn die wäre sehr böse geworden. Weil Karin Gesprächen von Erwachsenen gelauscht hatte. Das hatte sie ihr oft genug verboten.

Nach einem weiteren, gepresst geflüsterten Wortwechsel kramte Onkel Friedrich lange in seiner Kleiderkiste, legte Gegenstände davor ab, sortierte einiges wieder ein und packte anderes in eine lederne Aktentasche.

Schließlich warf er einen dunklen Mantel über seine Uniform, nahm einen weiteren Gegenstand aus seiner Kleiderkiste, ließ ihn in die Tasche gleiten und verabschiedete sich von Karins Mutter. Dabei klang er anders als sonst. Als ob es ein Abschied für immer war. Schließlich eilte er nach draußen, ohne seiner Nichte auf Wiedersehen zu sagen.

Die Mutter blieb eine Weile regungslos sitzen. Dann beugte sie sich unter den Tisch. »Na, meine Kleine, schmeckt es dir?«

Karin nickte strahlend. Noch nie hatte sie einen so himmlischen Geschmack im Mund gehabt.

Gauamtsleiter Friedrich Nissen bewegte sich abseits der Frankfurter Straße in Richtung Stadtzentrum. Gelegentlich gaben Lücken in der Trümmerwüste den Blick frei auf eilig errichtete Panzersperren oder eine Panzerabwehrkanone, die von jungen Männern in Stellung gebracht wurde. Kassel war durch Führerbefehl zur Festung erklärt worden, und der Kampfkommandant der Stadt, Generalmajor von Erxleben, hatte von seinem Befehlsstand im Weinbergbunker die Losung ausgegeben, bis zum letzten Mann zu kämpfen.

Bis in die Stadt war der Feind jedenfalls noch nicht vorgedrungen. Nissen warf den Kleppermantel ab und rollte ihn zusammen. Er stopfte das Kleidungsstück in die Aktentasche und rückte seine Uniform zurecht, deren Kragenspiegel ihn als NSDAP-Hauptbereichsleiter auswiesen.

Eine Bewegung auf einem Trümmergrundstück ließ Nissen innehalten. Er duckte sich hinter einen Mauerrest und heftete seinen Blick auf die Gestalt in Wehrmachtsuniform, die sich nur schwach vom bewachsenen Hintergrund abhob. Auch der Soldat verharrte. Sein Gewehr trug er über der Schulter, unter dem Arm hielt er ein Bündel. Suchend sah er sich um. Schließlich ließ er seine Waffe zu Boden gleiten und verschwand hinter einem Mauervorsprung.

Nissen ahnte, was dort vor sich ging. Er zog seine P 38, entsicherte sie und wartete. Nach weniger als einer Minute trat der Soldat in ziviler Kleidung aus seinem Versteck und suchte erneut die Umgebung ab. Schließlich bewegte er sich zögernd vorwärts. Als er die Grundstücksgrenze erreicht hatte, erhob sich Nissen und richtete seine Pistole auf den Mann. »Verräter sind des Todes!«, rief er. Der Soldat riss die Arme in die Höhe, öffnete den Mund und starrte den Fremden aus aufgerissenen Augen an. Nissen drückte ab und sah zu, wie sein Opfer zu Boden sackte.

Mit wenigen Schritten erreichte er den Sterbenden, setzte seine Waffe auf dessen Stirn und drückte ein weiteres Mal ab. Dann wandte er sich um und setzte seinen Weg fort.

Im Weinbergbunker herrschte Gedränge. Entgegen der vorgesehenen Nutzung als Luftschutzraum für die Bevölkerung des Stadtteils während eines Bombardements hatten in den letzten Tagen obdachlos gewordene Familien in den Stollen dauerhaft Zuflucht gesucht. Eigentlich sollte das nicht geduldet werden, fand Friedrich Nissen. Aber er hatte jetzt andere Sorgen.

Der geheime Auftrag von Gauleiter Gerland verursachte ihm Kopfzerbrechen. Um ihn erfüllen zu können, benötigte er die Unterstützung von Generalmajor von Erxleben. Zumindest von einem Offizier seines Stabes. Im Thüringer Wald, hatte Gerland angedeutet, gebe es geheime Orte, an denen man Vermögenswerte einlagern könne. Nur mit einem von Soldaten begleiteten LKW der Wehrmacht war der Transport sicher durchzuführen. Vielleicht auch per Bahn, aber dafür benötigte er ebenfalls einen Begleitschutz der Wehrmacht. Zwar hatte Nissen die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Festung Kassel den heranrückenden Amerikanern Widerstand leisten würde, aber er war realistisch genug, um auch das Unaussprechliche einzukalkulieren. Falls widrige Umstände es dem Feind ermöglichen sollten, die Stadt vorübergehend zu besetzen, durfte ihm keinesfalls das Vermögen der Partei in die Hände fallen.

Der Befehlsstand befand sich im ehemaligen Eiskeller des Gewölbes, einem hohen, kreisrunden Raum mit einer hölzernen Zwischendecke für die Nachrichtenzentrale. Generalmajor von Erxleben wurde durch zwei Vorzimmerdamen abgeschirmt und von bewaffneten Soldaten vor Eindringlingen geschützt. Jeder, der sich unbefugt der Kommandozentrale genähert hätte, wäre auf der Stelle erschossen worden.

Obwohl Friedrich Nissen als Kasseler Gauamtsleiter den Mitgliedern des Stabes bekannt war und er immerhin den Dienstgrad eines NSDAP-Hauptbereichsleiters bekleidete, musste er seinen Ausweis vorlegen und fast eine halbe Stunde warten, bis er vorgelassen wurde. Seine Gedanken kreisten um den Auftrag. Wenn er keine Hilfe von der Wehrmacht bekommen würde, musste er auf ein Fahrzeug der Partei zurückgreifen. Doch gab es nur noch wenige, die fahrbereit und in so gutem Zustand waren, dass sie den Weg bis zum Thüringer Wald ohne Panne überstehen würden. Also müsste die Ladung auf zwei oder drei Fahrzeuge verteilt werden. Und die mit zuverlässigen Männern zu besetzen, war schier unmöglich. Nur wenige der in Kassel verbliebenen Parteigenossen waren körperlich für einen solchen Einsatz zu gebrauchen. Und ob sie vertrauenswürdig waren, konnte niemand vorhersagen. Mancher hatte sich in den letzten Tagen dazu entschlossen, Führer, Volk und Vaterland zu verraten und sich abzusetzen.

Eines der Mädchen an den Schreibmaschinen erinnerte Nissen an seine Schwägerin. Auch sie trug die blonden Haare zu einem am Hinterkopf gewundenen Knoten. Eigentlich hatte er seinem Bruder versprochen, Gertrud und das Kind in Sicherheit zu bringen, wenn die Lage in Oberzwehren für die Zivilbevölkerung gefährlich werden würde. Aber die junge Frau war eigensinnig und neigte zu zersetzendem Gedankengut. Insgeheim wünschte er ihr jene Erfahrung, die Frauen überall dort machen mussten, wo feindliche Teufel auf deutschen Boden vorgedrungen waren. Wenn sie zuließ, dass ihre Tochter aus der Hand des Feindes fraß, hatte sie es auch verdient. Andererseits war sie eine arische Mutter, die noch Kinder bekommen konnte und als solche vor dem Feind zu schützen war.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als aus dem Allerheiligsten ein schmächtiger Mann in der Uniform eines Hauptmanns auf ihn zutrat. »Bitte fassen Sie sich kurz. Der Herr Generalmajor hat nur wenig Zeit.«

Nissen richtete sich auf, nickte knapp und folgte dem Hauptmann in die Kommandozentrale.

Johannes von Erxleben saß an einem Tisch, auf dem eine Karte ausgebreitet war. Der Offizier war offensichtlich von den Strapazen seiner Aufgabe gezeichnet. Er mochte Anfang fünfzig sein, wirkte aber wie ein Sechzigjähriger. Nissen fragte sich, ob er vielleicht sogar krank war. Aber die Augen des Kommandanten blickten entschlossen.

»Bitte!« Von Erxleben wies auf einen Stuhl. »Ich höre.«

Hauptbereichsleiter Friedrich Nissen erläuterte seinen Geheimauftrag in aller Kürze und unterstrich die Notwendigkeit, das Eigentum des Volkes vor dem Feind in Sicherheit zu bringen. An dieser Stelle runzelte der Generalmajor die Stirn, und Nissen beeilte sich zu versichern, dass es sich um eine vorsorgliche Maßnahme handele und er selbstverständlich davon ausgehe, dass die Festung Kassel nicht fallen werde.

Dennoch entspannte sich die Miene des Offiziers nicht. Kurz und bündig beschied er: »Kann unmöglich Männer und Material entbehren. Auch nicht für einen Bahntransport. Habe Kassel um jeden Preis zu verteidigen. Empfehle den Transport auf dem Luftwege durchzuführen. Wenden Sie sich an die Fieseler-Werke. Vielleicht gibt es dort noch einsatzbereites Fluggerät. Guten Tag.«

Generalmajor von Erxleben winkte einige Offiziere heran, die sich im Hintergrund gehalten hatten, und beugte sich wieder über die Karte.

Friedrich Nissen verließ die Kommandozentrale und eilte durch die Gänge des Bunkers, vorbei an Frauen, Kindern und Alten, deren Blicke ihm mit Angst, Verachtung oder Gleichgültigkeit folgten. Er ignorierte sie und stellte sich vor, wie er an der Seite eines Piloten, die wertvolle Ladung im Gepäckraum, in einem Flugzeug die zerstörte Stadt hinter sich ließ und Kurs auf die Rhön nahm. Eine grandiose Vorstellung. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Der Gauleiter würde stolz auf ihn sein. Und ihm vielleicht sogar einen Orden verleihen.

2

Wenn sich die Straßenbahn in die Kurven zwängte, begannen Räder und Schienen leise wimmernd gegen die Gewalt aufzubegehren. Sekunden später ließen sie ein metallisches Kreischen hören, das rasch anschwoll und ebenso schnell wieder erstarb.

Früher hatte ihn das Geräusch erschreckt, aber inzwischen war er längst daran gewöhnt. Benjamin genoss die Fahrt durch die abendliche Stadt. Obwohl ihm der Sommer mehr zusagte als die kalte Jahreszeit, liebte er das Lichtermeer unter dem schwarzen Himmel. Wie immer, wenn er vom Cineplex zur Wohnung seiner Eltern am Warteberg fuhr, beobachtete er die Menschen durch die Scheiben der Straßenbahnfenster. In der Königsstraße führten elegante Damen kleine Hunde aus. Männer in dunklen Anzügen eilten zu den Taxis am Friedrichsplatz. Paare betrachteten die Auslagen in den erleuchteten Schaufenstern von Heinsius und Sander oder vom Kaufhof, Gruppen von Jugendlichen in dunklen Jeansjacken, die mit Ketten und allerlei Metallstücken behängt waren, zogen lärmend durch die Innenstadt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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