Wer Böses in sich trägt - Lisa Unger - E-Book
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Lisa Unger

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Beschreibung

Manchmal ist die Wahrheit tödlicher als jede Lüge ...

Lana führt ein ruhiges und sorgenfreies Leben in der idyllischen Kleinstadt The Hollows, New York. Niemand ahnt, dass die junge Studentin hinter einem sorgfältig geknüpften Netz aus Lügen und Halbwahrheiten ein dunkles Geheimnis verbirgt. Bis plötzlich Lanas Freundin Beck spurlos verschwindet. Um ihr Geheimnis zu schützen, behält Lana die Wahrheit über die Nacht, in der sie Beck das letzte Mal sah, für sich. Damit gerät sie jedoch nicht nur in den Fokus der Ermittlungen. Jemand weiß um Lanas Lügen, verwickelt sie in ein gefährliches Spiel und lockt sie in eine tödliche Falle ...

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Buch

Lana Granger führt ein ruhiges und sorgenfreies Leben in der idyllischen Kleinstadt The Hollows, New York. Um finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, nimmt die junge Psychologiestudentin einen Nebenjob als Kindermädchen des zehnjährigen Luke an. Der kleine Junge wirkt auf den ersten Blick schüchtern und liebenswert, doch hinter der Fassade ist Luke manipulativ und scheint etwas zu verbergen. Lana, die selbst ein dunkles Geheimnis hütet, fühlt sich ihm dennoch verbunden und will ihm helfen. Sehr zum Missfallen ihrer besten Freundin Beck, die sich um Lana sorgt – und nach einem Streit plötzlich spurlos verschwindet. Um ihr eigenes Geheimnis zu schützen, behält Lana die Wahrheit über die Nacht, in der sie Beck das letzte Mal sah, für sich. Damit gerät sie jedoch nicht nur in den Fokus der Ermittlungen. Jemand weiß um Lanas Lügen, verwickelt sie in ein gefährliches Spiel und lockt sie in eine tödliche Falle …

Weitere Informationen zu Lisa Ungersowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Lisa Unger

Wer Bösesin sich trägt

Psychothriller

Aus dem amerikanischen Englischvon Eva Bonné

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »In the Blood« bei Touchstone, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung April 2015»In the Blood« Copyright © der Originalausgabe 2014 by Lisa UngerAll rights reserved.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe/German Translation copyright 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHPublished by arrangement with the original publisher,Touchstone, a Division of Simon & Schuster, Inc.Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Arcangel Images/Jarek Blaminsky, Swetlana Sewell; FinePic®, MünchenRedaktion: Friederike ArnoldKS · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-13144-9www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

FürOcean RaeIch liebe dich,wie die Kirschblüte den Wind liebt.

PROLOG

Der Lattenrost meines Bettes besteht aus zwölf Holzbrettern. Ich habe sie wieder und wieder gezählt. Einszweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölf. Ich flüstere die Zahlen, und der Klang meiner Stimme beruhigt mich, wie ein Gebet einen gläubigen Menschen tröstet. Erstaunlich, wie laut ein Flüstern klingen kann. Wenn ich dort unten liege, geschützt durch die leuchtend weiße Tagesdecke, und mein eigenes Flüstern im Ohr habe, kann ich das Geschrei, das furchtbare Wehklagen fast ausblenden. Und die Ruhe danach, die noch viel schlimmer ist.

In der Stille, die so plötzlich hereinbricht wie die Nacht, höre ich mein eigenes Herz gegen die Rippen schlagen. Ich zwinge mich, in den Teppich einzusinken, bis ich nicht mehr existiere. Unten regt sich etwas. Ein schwerer Gegenstand wird durchs Esszimmer geschoben. Was tut er da?

Ich war schon oft hier und habe mich vor den häufigen, schrecklichen Streitereien meiner Eltern versteckt. Ihre Stimmen drangen durch die dicken Mauern und die schweren, geschlossenen Türen bis zu mir. Normalerweise höre ich nur den wütenden Tonfall, selten einmal ihre Worte, die, ich weiß es aus Erfahrung, voller Hass sind, gespickt mit alten Verletzungen und bitterer Enttäuschung. Sie hängen in der Luft wie eine Giftwolke. Einszweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölf. Stöcke und Steine brechen dir die Beine, aber Worte brechen dir das Herz.

Doch heute Abend ist alles anders. Meine Handflächen sind klebrig und feucht. Ich halte sie mir vor die Augen, sehe schwarzrotes Blut und Linien in meiner Haut, die sich schneeweiß abheben. Verwirrung und Panik überwältigen mich. Was ist passiert? Schon entgleitet mir die Erinnerung an die letzten Stunden. Wenn meine Eltern zu streiten anfangen, setzt bei mir eine Art Amnesie ein. Ich will alles vergessen, und oft gelingt mir das auch. Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung?, hat meine Lehrerin mich neulich gefragt. Ja, habe ich gesagt, alles super. Und mein äußeres Ich meinte es ehrlich. Nur das andere, tief in mir vergrabene Ich wusste, dass es gelogen war. Ich hätte um Hilfe schreien sollen, aber stattdessen lächelte ich tapfer. Ich sehnte mich so verzweifelt nach Normalität. Ich musste sie mir hart erarbeiten.

Unten ächzt mein Vater vor Anstrengung. Was ist bloß passiert? Ich versuche, in meine Erinnerung einzudringen, aber ein großer Teil von mir hat dichtgemacht. Ich sehe meine (saubere) Hand nach der Türklinke greifen, höre das Zischen, als der Schulbus losfährt. Meine Freundin Joelle klopft an die Scheibe. Ich drehe mich zu ihr um; sie bedeutet mir mit einer Geste, sie später anzurufen.

Als ich das Haus betrat, spürte ich den altbekannten Druck der Angst in meiner Brust. Mein Dad war schon länger arbeitslos – ein Journalist im Zeitalter der digitalen Medien. Seine Abteilung wurde immer kleiner, bis er schließlich selbst in das Büro des Chefredakteurs gerufen wurde. Am Anfang war er noch optimistisch. Aber als aus den Monaten ein Jahr wurde, sank seine Stimmung. Meine Eltern waren den ganzen Tag zu Hause, und ich wusste nie, was mich nach der Schule erwartete. Ständig schwankten sie zwischen nervöser Euphorie und blanker Verzweiflung.

Wenn ich in meiner Erinnerung die Haustür öffne, sehe ich einen dunklen Tunnel. Einszweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölf. Jetzt höre ich wieder die Schritte meines Vaters. Er hat das Esszimmer verlassen. Langsam, aber zielstrebig durchquert er den Flur. Wie immer bleibt er vor dem Spiegel stehen. Ich höre das vertraute Knarzen der untersten Treppenstufe. Er kommt mit schweren Schritten herauf. Auf halber Strecke hält er inne und ruft meinen Namen, aber ich reagiere nicht. Ich zittere am ganzen Leib. Ich bin im Tunnel, ich falle, unaufhaltsam, ich winde und drehe mich wie vor einer Operation, wenn einem die Narkosemaske aufs Gesicht gedrückt wird und man von hundert abwärts zählen soll, es aber nicht einmal bis achtundneunzig schafft.

Er hat den oberen Treppenabsatz erreicht und geht auf mein Zimmer zu. Er ruft noch einmal meinen Namen, aber ich antworte nicht.

Wir müssen reden. Versteck dich nicht vor mir. Du kannst dich nicht verstecken.

Dann steht er in der Tür. Ich kann ihn atmen hören; es klingt wie Meeresrauschen, als mache meine Mutter auf der Veranda Yoga, oder wie der Wind in den Bäumen vor meinem Fenster.

Mit einem Mal fängt das Geschrei wieder an und scheint mich zu durchschneiden. Ich brauche einen Augenblick, um zu merken, dass ich es bin, die schreit, vor lauter Angst und Leid. Mein Vater fällt auf die Knie, und ich sehe sein Gesicht, fremd und kaum wiederzuerkennen. Dann schiebt er den Arm unter das Bett und greift nach mir.

ERSTER TEIL

Lana

EINS

An diesem grauen Wintertag war es nicht mehr ganz so kalt wie in den vergangenen Wochen. Ein typischer Januartag in Upstate New York – trostlos, frostig, trüb. Ich fuhr mit dem Fahrrad über den kleinen, menschenleeren Campus und genoss die Stille, kurz bevor alle aus den Winterferien zurückkamen. Die kahlen Bäume reckten ihre Äste in den trüben, wolkenverhangenen Himmel wie krumme Finger.

Ich war auf dem Heimweg von einem unerträglichen Weihnachtsbesuch bei meiner Tante und meinen Cousinen. (Ich weiß genau, dass sie für mich dasselbe empfinden.) Aber wir haben es miteinander ausgehalten, immerhin, denn so machen es Familien nun einmal, oder? Man hält es miteinander aus, egal, ob es einem gefällt oder nicht.

Sie erduldeten mich, den dunkelhaarigen, schmollenden Eindringling mit den schwarzen Augen, ein Gespenst inmitten ihres sonnigen, goldenen Reichtums. Und ich ertrug ihr schreckliches, demonstratives Glücklichsein. Dabei wusste ich genauso gut wie sie, dass sie mich nicht von Herzen willkommen hießen. Ich war die Kakerlake im Kuchenteig ihres süßen Lebens. Und weil sie zu höflich waren, mich auszusortieren, aßen sie einfach um mich herum.

Ich kann ihnen eigentlich keinen Vorwurf machen, weil sie nett und gut zu mir sind und mich trotz gut gemeinter Ratschläge und wider besseren Wissens bei sich aufgenommen haben. Also bemühe ich mich, wie sie freundlich zu sein. Wir haben alle Übung, Unglück zu ertragen, besonders meine Tante, von klein auf.

»Ich habe mir mein eigenes Leben aufgebaut«, sagte sie in einem jener quälenden Vieraugengespräche, die sie mir regelmäßig aufnötigt. »Und du bist clever und schaffst das auch.«

Sie glaubt es selbst, wirklich. Sie glaubt, dass wir formbar sind, dass wir nicht fertig auf die Welt kommen, dass wir unser Leben kraft unseres freien Willens selbst gestalten können. Mit ausreichend positiver Energie und einem guten Feng-Shui lässt sich so gut wie jedes Problem überwinden. So eine ist sie, ihr Denken ist tatsächlich magisch. Ehrlich gesagt beneide ich sie um ihre Naivität, auch wenn ich meine Verachtung manchmal kaum verbergen kann.

Ich befand mich in dieser Lebensphase kurz vor dem Universitätsabschluss, wenn jedermann wissen möchte, was man mit seinem Leben eigentlich anfangen will. Ich hielt es für das Beste, ein Aufbaustudium dranzuhängen, und sei es nur, um das Ende meines lockeren Studentenlebens hinauszuzögern und mich noch ein bisschen länger vor der Welt der klingelnden Wecker, des Ehrgeizes und der Festanstellung zu drücken. Ich konnte mir nicht vorstellen, in einem kleinen Büro zwischen Aktenschränken und läutenden Telefonen am Schreibtisch zu sitzen, mit von Papier zerschnittenen Fingerkuppen und Kollegen, die zu ihrem Geburtstag Kuchen mitbringen. Was bot sich für eine Psychologiestudentin Besseres an als eine Zusatzausbildung? Das menschliche Hirn in all seiner Rätselhaftigkeit bietet doch Material zum endlosen Studium. Oder?

Obwohl ich noch nichts entschieden hatte, wusste ich eines ganz genau: Ich brauchte einen Nebenjob. Das Geld war da – für Studiengebühren und Unterbringung, für Bücher und sonstige Ausgaben. Dafür hatten meine ansonsten so unfähigen Eltern gut gesorgt. Sie hatten ein Treuhandkonto für mich eingerichtet, und ich konnte jederzeit einen Anwalt anrufen, sobald ich etwas brauchte: Skylar Lawrence, den Mann mit dem Scheckbuch. Am Telefon klang er jung, fast wie ein Mädchen. Dabei war er alt, steinalt. Er ging gebeugt und war kahlköpfig, trug teure Anzüge und eine Brille mit Goldfassung. Er hatte meine Eltern gut gekannt und verwaltete das Vermögen meiner Mutter, das nun mein Erbe war. Wir waren uns im Laufe der Jahre einige Male persönlich begegnet, zu ernsten Zusammenkünften in seiner Kanzlei, bei denen er mir endlose Vorträge über den Zustand der Immobilien, Aktien und Konten und über die Bedingungen des Erbes hielt. Ich saß vor ihm, nickte verständig und hatte keine Ahnung, wovon er redete. Ich war zu schüchtern, Fragen zu stellen.

Wann immer ich an ihn dachte – was nur vorkam, wenn ich Geld brauchte –, sah ich einen Zwerg in einem riesigen Ledersessel sitzen, hinter sich den spektakulären Ausblick über Manhattan, einen glitzernden Lichterteppich. Mit seinem knotigen Finger drückte er auf eine Taste, und auf meinem Konto landete Geld. Ja, ich weiß. Eine reiche Erbin. Wie unsympathisch. Aber glauben Sie mir, Sie würden nicht mit mir tauschen wollen.

Bei meinem letzten Telefonat mit Sky schlug er mir vor, mir einen Nebenjob zu suchen.

»Das täte Ihnen gut«, sagte er. Ich hörte ihn scharf ein- und langsam wieder ausatmen. Er war Raucher; seine Stimme klang heiser, und manchmal wurde er von einem bellenden Husten geschüttelt. »Um Ihr eigenes Geld zu verdienen.«

»Okay«, sagte ich. Das sagte ich immer. Es war meine Standardantwort, wenn mir nichts Besseres einfiel.

»Sie sind jetzt erwachsen«, fügte er hinzu, als hätte ich ihm widersprochen. »Und Sie sollten sich überlegen, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollen. Eigenes Geld zu verdienen wäre ein erster Schritt.«

»Sie klingen wie meine Tante Bridgette.«

Ich hörte, wie ein Streichholz entzündet wurde und er pfeifend einatmete. Es wäre wohl nicht an den Haaren herbeigezogen zu glauben, dass die beiden unter einer Decke steckten. Wir bestimmen selbst, wer wir sind, hatte meine Tante während der Ferien nicht zum ersten Mal zu mir gesagt. Ich merkte, wie wichtig es ihr war, mich davon zu überzeugen. Nicht alles liegt in unseren Genen.

»Wird mein Geld knapp?«, fragte ich Sky.

»Noch nicht«, antwortete er. »Aber wie Sie wissen, wird Ihr Unterhalt nach dem Studium gekürzt. Ihr volles Erbe wird Ihnen erst an Ihrem dreißigsten Geburtstag ausgezahlt. Es war der Wunsch Ihrer Mutter, dass Sie Ihre Berufung finden und Ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.«

»Ach so«, sagte ich. Ich wusste es natürlich längst. Sky und Bridgette hatten es mir oft genug erklärt. Aber irgendwie war mir der Moment, in dem ich meine Flügel ausbreiten und allein durchs Leben gleiten würde, immer unendlich fern erschienen. Nun war ich dabei, das akademische Nest zu verlassen, und starrte in die Tiefe. Ich hatte keine Ahnung, ob ich davonschweben oder abstürzen und als Häuflein Knochen enden würde.

»Und mit gekürztem Unterhalt meinen Sie …?«

Er nannte mir eine niedrige Summe, die ich jährlich erhalten würde. Gerade genug Geld, um zurechtzukommen und sich ein paar Extras leisten zu können, vorausgesetzt, ich nahm einen Job an. »Ihre Mutter wollte, dass Sie sich selbst verwirklichen und Gutes tun. Sie hat immer gehofft, dass Sie sich für andere einsetzen und sich einen Beruf nicht nur wegen des Geldes aussuchen, sondern dass Sie etwas Sinnvolles mit Ihrem Leben anfangen.«

Von meinem Vater und seinen Wünschen für mich sprach natürlich niemand.

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe nichts anderes vor.«

Nachdem ich also an jenem Tag allein in Schlangenlinien über den Campus geradelt war, betrat ich das Studentensekretariat und betrachtete die Aushänge am Schwarzen Brett. Ich war seltsam aufgeregt. Mir gefiel der Gedanke eines Neuanfangs. Jahrelang hatte ich mit Hingabe studiert. In der Schule hatte ich den Abschluss als Jahrgangsbeste gemacht. Meine Leistungen an der Uni waren überdurchschnittlich. Mir Wissen anzueignen und es in Form von Aufsätzen und Klausuren wieder auszuspucken, lag mir sehr. Es war das restliche Leben, das mir Probleme bereitete.

Hundesitter? Bedienung im Café? Verkäuferin im Buchladen? Bibliotheksaushilfe? Nachhilfelehrerin für Mathe? Das Schwarze Brett war ein buntes Durcheinander aus Stellenangeboten, und meine Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Hinter mir saß die Sekretärin und tippte. Das Telefon klingelte dreimal, verstummte, klingelte erneut. Ich riss Zettel mit Telefonnummern ab. Ich stellte mir vor, wie ich von fünf Hunden über die Straße gezogen wurde, wie ich mich zwischen Bistrotischen hindurchzwängte und Leuten mit Koffeinmangel Espresso servierte oder in aller Stille Bücher in Regale einsortierte. Hätte meine Mom sich das für mich gewünscht? Half ich anderen mit diesen Jobs weiter?

»Wie wäre es damit?«

Ich schreckte aus meinem Tagtraum hoch und sah meinen Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie neben mir stehen. Er stand vor einem zweiten, ebenso vollgehängten Brett. Ziemlich viele Leute waren auf einfache Dienstleistungen angewiesen, auf Studenten, die sich ein Taschengeld dazuverdienen wollten. Es war ein eigener Wirtschaftszweig: anspruchslose Jobs für verwöhnte College-Kids aus reichem Hause. Das Ganze kam mir wie ein Witz vor. Während es mit der Wirtschaft des Landes bergab ging und die Leute trotz fester Jobs in Armut lebten, trieben wir, die Auserwählten, wie auf einer Wolke dahin, jeder Wunsch wurde uns von den Augen abgelesen. Oder vielleicht war ich einfach nur zynisch.

Ich stellte mich neben ihn. Er kniff die Augen hinter den Brillengläsern zusammen, zupfte ein Zettelchen ab und gab es mir.

»Alleinerziehende Mutter mit zehnjährigem Sohn sucht Kinderbetreuung für nachmittags«, las ich. »Von Schulschluss bis Abendessen, manchmal auch über Nacht.«

»Das ließe sich mit Ihrem Stundenplan vereinbaren«, sagte er.

Er war nicht nur mein Professor, sondern auch mein Studienberater. Er war, kurz nachdem ich mich hier eingeschrieben hatte, an die Uni gekommen. Wir hatten uns immer gut verstanden, fast wie gute Freunde, und jetzt, da ich älter war, pflegten wir einen noch ungezwungeneren Umgang.

Langdon Hewes war der Anstand in Person. Wir trafen uns nur an öffentlichen Orten, andernfalls ließ er die Tür zu seinem Büro weit offen stehen. Er war eigentlich zu jung, um so misstrauisch zu sein, deutete aber an, in der Vergangenheit eine schlechte Erfahrung gemacht zu haben. Ich bohrte nicht nach – weil ich selbst nicht gerne über die Vergangenheit sprach. Er fuhr sich mit der Hand durch die widerspenstigen, schwarzen Locken und sah auf mich herab.

»Kindermädchen?«, fragte ich skeptisch.

»Nein, eher Babysitter«, sagte er.

»Wo liegt der Unterschied?«

Er zuckte die Achseln und verdrehte die Augen. Manchmal suchte er am Himmel oder an der Zimmerdecke nach der Antwort. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte ins Nichts, so als schwebe das Wissen da oben in der Luft und müsse nur entdeckt werden.

»Kindermädchen kümmern sich um Kleinkinder«, erklärte er schließlich. »Das ist eine Vollzeitaufgabe. Babysitten ist eher ein Nebenjob.«

Sein ernstes Nicken erlaubte keinen Widerspruch. Obwohl er selbst garantiert nie als Kindermädchen oder Babysitter gearbeitet hatte, nahm ich ihn beim Wort. Immerhin hatte er einen Doktor in Kinder- und Jugendpsychiatrie und war ein renommierter Experte auf dem Gebiet kindlicher Persönlichkeitsstörungen. Er hatte Artikel in allen wichtigen Fachzeitschriften veröffentlicht und sogar in der New York Times, Psychology Today und Vanity Fair. Veröffentlichen oder untergehen, das war auch an unserer Universität die Devise. Zur Zeit arbeitete er an einem Buch, eine Sammlung von Fallstudien, die, wie er hoffte, eine gelungene Mischung aus wissenschaftlicher Untersuchung und Unterhaltung darstellte. Folglich musste er Ahnung haben. Wenigstens sagte ich mir das.

Ich hielt den Zettel in der Hand. Anders als die anderen, lustig bis aufwändig gestalteten Aushänge in Rosa, Grün oder Gelb handelte es sich um ein weißes Stück Papier mit zentriert gesetztem Text in Times New Roman. Der Zettel zeichnete sich einzig durch seine Schlichtheit aus. Ein Bedürfnis in Schwarzweiß, das erfüllt werden wollte.

»In diesem Semester belegen Sie nur drei Seminare«, sagte er. »Eines bei mir, dazu Kriminalpsychologie und Kunstgeschichte. Ein leichtes Programm. Zu viel Freizeit tut keinem Menschen gut.«

Ich hätte Langdon nicht direkt als gutaussehend bezeichnet, aber er hatte etwas Angenehmes. Seine gebeugte Haltung, seine makellos gebügelten Oxfordhemden und Chinos (manchmal Jeans), seine Trekkingschuhe von Merrell hatten etwas tröstlich Vorhersehbares. Mit Langdon war man vor Überraschungen sicher. Neben ihm fühlte ich mich chaotisch und wirr. Wie es wohl wäre, so ausgeglichen, so gelassen zu sein? Seine Gegenwart beruhigte mich.

»Ich stelle Ihnen ein Empfehlungsschreiben aus.«

»Ich habe keinerlei Erfahrung!«

»Sie haben einen Abschluss in Psychologie«, erwiderte er. »Und Sie haben ein Praktikum in der Fieldcrest gemacht und sind prima mit den Kindern ausgekommen.« Er sagte das mit einem Lächeln, so als wolle er sich über mich lustig machen. »In meinem Seminar haben Sie eine Eins bekommen.«

Meine Zeit an der Fieldcrest, eine an die Universität angeschlossene Schule für Kinder mit psychischen Problemen, war, um es vorsichtig auszudrücken, sehr aufregend gewesen. Es freute mich zu hören, dass er glaubte, ich hätte dort gute Arbeit geleistet. Er hatte das zum ersten Mal laut ausgesprochen, auch wenn er mich damals in seinem Bericht über den grünen Klee gelobt hatte. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und verspürte ein Kribbeln in der Magengrube. Es lag an dem Zettel in meiner Hand, an Langdons Anwesenheit, an der Aussicht, etwas Neues anzufangen im Leben.

Ich fischte mein Handy aus meinem Rucksack und wählte die Nummer, noch während wir auf dem Weg in sein Büro waren. Ich nahm ihm gegenüber Platz, als er sich an seinen Schreibtisch setzte, sich dem Computer zuwandte und zu tippen begann.

»Hallo, mein Name ist Lana Granger«, sagte ich, als sich am anderen Ende der Leitung eine Frau meldete. »Ich rufe wegen Ihrer Anzeige an.«

»Oh, wie schön«, sagte sie. Sie klang ein bisschen außer Atem. Im Hintergrund hörte ich Papier rascheln. »Können Sie heute zum Vorstellungsgespräch vorbeikommen?«

Ein Sonnenstrahl war durch die Wolkendecke gebrochen. Zum ersten Mal seit Monaten konnte ich ein kleines Stück vom blauen Himmel sehen.

»Äh«, antwortete ich unbeholfen. Mit einer so schnellen Einladung hatte ich nicht gerechnet. Aber warum nicht? Wenn man einen Babysitter sucht, braucht man ihn wahrscheinlich sofort. Ich warf einen Blick auf mein Handgelenk, obwohl ich keine Uhr trug. Ich besaß nicht einmal eine. Heute hatte ich ohnehin nichts mehr vor. Der Unterricht würde erst in der nächsten Woche beginnen. »Klar«, sagte ich.

»Perfekt.« Sie klang fröhlich und aufgeweckt. Wahrscheinlich war sie ganz nett. »Wie wäre es nach der Mittagspause, so gegen zwei?«

Wir besprachen das Nötigste und tauschten Kontaktdaten aus. Sie gab mir ihre Adresse (mit dem Fahrrad nur wenige Minuten vom Campus entfernt) und ihren Namen (Rachel Kahn, ihr Sohn hieß Luke), ich ihr meine Telefonnummer. Als ich das Gespräch beendet hatte, sah Langdon mich an. Sein Gesichtsausdruck war seltsam, nicht zu deuten. Aber so war er immer, ein Kopfmensch, sein Gehirn arbeitete unablässig, kombinierte, entwickelte Theorien.

»Gut gemacht«, bemerkte er.

»Ich habe gar nichts getan«, sagte ich. »Es war nur ein Anruf.«

»Heute fängt Ihr richtiges Leben an. Vielleicht wird das Ihr erster richtiger Fall.«

Ich wusste nicht genau, ob er sich auf seine typische, liebevolle Weise über mich lustig machte. Aber ich lächelte zurück. Es fühlte sich tatsächlich nach einem großen Schritt an, und vor lauter Glück wurde mir ganz flau im Magen. Ich war froh, jetzt, in diesem Augenblick mit ihm zusammen zu sein.

»Zur Feier des Tages lade ich Sie zum Essen ein«, sagte er. »Wie wäre es mit einer Pizza?«

Ich dachte an meine Tante Bridgette, die eigentlich gar nicht so unerträglich ist. Im Ernst. Sie ist eben nur nicht meine Mutter. Ich weiß, dass sie sich um mich sorgt, aber sie liebt mich nicht. Nur ein Kind, das seine Mutter verloren hat, kann verstehen, wie groß der Unterschied ist. Nur weil dir etwas Schlimmes passiert ist, heißt das nicht, dass du kein glückliches, normales Leben führen kannst, hatte sie einmal zu mir gesagt. Sie tat mir leid, meiner Ansicht nach irrte sie sich. Denn ich war gebrandmarkt, nicht wahr? Auf ewig. Aber als wir Langdons Büro verließen, fragte ich mich insgeheim, ob sie nicht vielleicht doch Recht hatte.

ZWEI

Ich hätte auf jedes College gehen können. Meine guten Noten und Testergebnisse, meine Bewerbungsaufsätze und Empfehlungen hätten mir Zutritt zu Harvard, Columbia und Stanford verschafft. Ich will nicht angeben. Es ist die Wahrheit. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, an einem dieser Orte zu leben. Ich fand sie riesig und unpersönlich und fürchtete, allein in Menschenmengen herumzustehen und in stadiongroßen Hörsälen in der letzten Reihe zu sitzen. Ich sah mich dort als einen kleinen, ungeliebten Schatten, fehl am Platz zwischen den Vertretern der finanziellen und intellektuellen Elite. Ich wäre dort verdorrt wie eine Rosine in der Sonne.

»Aber mit einem Abschluss von einer dieser Unis stünde dir die ganze Welt offen!«, hatte mein verzweifelter Onkel gesagt. »Deine Mutter wäre so stolz auf dich!«

Er hatte damals nicht verstanden, dass ich eigentlich nirgendwohin wollte. Ich wollte mich nur verstecken, mir eine sichere Höhle suchen und mich verkriechen. Ich wollte nichts Großes leisten, alle stolz machen oder mich beweisen, sondern einfach nur meine Ruhe.

Deshalb entschied ich mich für das Sacred Heart College in The Hollows, New York. Und obwohl die anderen enttäuscht waren, weil ich ein kleines, wenn auch angesehenes, linksliberales College in der Pampa gewählt hatte, überraschte sie es kaum. Den Mitgliedern meines Familienzweiges wurde ohnehin nichts anderes zugetraut als schlechte Entscheidungen mit bösem Ende. Ich war auf dem besten Wege, die Erwartungen zu erfüllen.

Als ich den kleinen, abgeschiedenen, keine fünfzig Hektar großen Campus zum ersten Mal betrat, fühlte ich mich angekommen, in Sicherheit. Hier, dachte ich erleichtert, wurde nichts Besonderes von mir erwartet. Niemand würde mich zu Höchstleistungen antreiben. Das Städtchen The Hollows und die Uni würden mich aufnehmen und beschützen. So, wie ich es mir gewünscht hatte. Meine Bewerbung war erfolgreich, und ich schrieb mich, ohne zu zögern, ein.

Neubauten mit funkelnden Glasfronten standen hier Seite an Seite mit historischen Gebäuden. In der Mitte des Campus ragte ein hoher normannischer Turm auf, der noch zu wachsen schien, wenn man auf der langgezogenen Allee auf die Uni zuradelte. Am Eingang des Campus waren in einem weitläufigen, fünfgeschossigen Bau im Kolonialstil die Büros der Universitätspräsidentin und ihrer Mitarbeiter untergebracht. Im prächtigen Foyer kamen Lehrkörper und Studenten zu Partys und feierlichen Anlässen zusammen. Und in einer Kapelle wurden regelmäßig Gottesdienste abgehalten. Daneben hatte man einen reichhaltigen Gemüse- und Kräutergarten angelegt. Da das College eine ehrgeizige Reitermannschaft hatte, gab es auf dem Campus sogar Stallungen für Pferde und andere Tiere, darunter Legehennen und drei Milchkühe.

Wander- und Joggingpfade schlängelten sich durch die umliegenden Wälder aus Eichen und Ahornbäumen, Platanen und Birken. Vier sanierte viktorianische Villen dienten als Studentenwohnheime – Evangeline, Dominica, Marianna und Angelica – , die Bewohner waren allerdings alles andere als Engel. Wahre Traumhäuser mit geschwungenen Treppengeländern, Erkerfenstern und originalgetreu restaurierten Holzelementen. Stellen Sie sich turmhohe Bücherregale mit dicken Wälzern im Ledereinband vor, geheime Kriechböden und winzige Wendeltreppen als Hinterausgang. Trotzdem gab es WLAN, Kabelfernsehen, eine Waschküche im Keller und moderne Haushaltsgeräte.

Die Unterrichtsräume und die Bibliothek, die Labors, die Sporthalle und ein zusätzliches Wohnheim waren in Neubauten aus viel Glas und Beton untergebracht. Mit Bedacht geplant, fügten sie sich nahtlos zwischen die alten Gebäude ein.

Irgendwie hoffte ich, diesen sicheren, abgeschiedenen Collegecampus nie verlassen zu müssen. Ich wusste, dass so etwas möglich war; Langdon gab selbst das beste Beispiel dafür ab. Er hatte an der Boston University studiert, einen Master und dann seinen Doktor in Kinder- und Jugendpsychiatrie gemacht und sich schließlich zum Psychotherapeuten und Psychoanalytiker ausbilden lassen. Und nun hatte er einen Lehrstuhl am Sacred Heart College.

»Lebenslänglich«, scherzte er.

Zusätzlich arbeitete er im nahe gelegenen Krankenhaus als Psychiater und behandelte die Schüler der Fieldcrest. Diese Schule nahm Kinder auf, die sonst niemand wollte – herein mit euch, ihr bipolar Gestörten, ihr ADHS-Kinder, ihr Traumatisierten und Schwererziehbaren.

Ich hatte an der Schule mehrere Praktika unter Langdons Aufsicht absolviert und einige der leichteren Fälle in Kunsttherapie und Lyrik unterrichtet. Ich konnte mir vorstellen, in Langdons Fußstapfen zu treten, anderen zu helfen und etwas Sinnvolles auf diesem Gebiet zu leisten. Und Weihnachten beging ich den großen Fehler, es laut auszusprechen. Die bleierne Stille, die sich ausbreitete, war durchdringender als jeder Schrei.

»Ja, aber«, sagte meine Tante mit einem gequälten Lächeln, ihr bevorzugter Gesichtsausdruck mir gegenüber, »es gäbe so viele andere Möglichkeiten für dich.«

Ich wurde sauer. Meine Cousine Rose besuchte das Fashion Institute of Technology, um Modedesignerin zu werden. Meine andere Cousine, Lily (ja, meine Tante ist passionierte Hobbygärtnerin), studierte Regie an der New Yorker Tisch School of the Arts. Beide waren blitzgescheit, kreativ und atemberaubend schön, voller Leben und Energie und großer Hoffnungen. Vielleicht weil meine Tante sich, im Gegensatz zu meiner Mutter, ihr Leben selbst aufgebaut hatte. Was sie zu betonen nicht müde wurde. Aber ich war nicht Bridgettes Tochter, oder?

»Ich möchte anderen Menschen helfen«, entgegnete ich schwach. »Meine Mutter wollte es so.«

»Deine Mutter wollte, dass du ein glückliches, freies und abgesichertes Leben führst«, sagte Bridgette in ungewöhnlich leidenschaftlichem Ton. Normalerweise war sie immer so zurückhaltend, so sanft, und ich habe mich gefragt, ob sie insgeheim Angst vor mir hatte. Ob sie der Überzeugung war, mich niemals reizen zu dürfen.

»Ich weiß nicht, was das heißen soll«, sagte ich.

Mein Onkel und meine Cousinen hatten sich verdrückt, wahrscheinlich, um mit ihren neuen iPads zu spielen. Santa Claus hatte jedem von uns eins gebracht.

»Es soll heißen, dass du dein Leben nicht zwischen Psychopathen verbringen sollst«, sagte sie. Sie war kurz davor zu schreien und schlug sich die Hand vor den Mund und senkte den Kopf, so dass ihre blonden Locken wippten und ihre Diamanten funkelten. »Verzeihung.«

Der Weihnachtsbaum strahlte, das Kaminfeuer knisterte (dabei waren wir in Florida, und die Klimaanlage lief auf Hochtouren – im Ernst, Leute, denkt mal an den Planeten!). Im Hintergrund lief dezente Klassik – Mozart, Beethoven, wer weiß? – aus versteckten Lautsprechern. Wir saßen auf Chintzsofas zwischen sorgfältig hingeworfenen Zierkissen. Ich entdeckte mich im Spiegel und erblickte eine schmale, schwarze Gestalt, die die Arme verschränkt hatte und die Stirn runzelte, ein Tintenfleck auf cremeweißer Seide.

»Aber was, wenn ich …«, fing ich an. Ich hatte noch keinem von meinem Plan erzählt. Und eigentlich wollte ich das auch nicht. Meine Tante starrte mich aus großen, besorgten Augen erwartungsvoll an.

»Wenn du?«, fragte sie. Sie versuchte, an mich herankommen, immer schon. Ich war diejenige, die sie auf Abstand hielt und mit kühler Reserviertheit und herzlosen Plattitüden zurückwies.

»Wenn ich tatsächlich helfen könnte?«, sagte ich. »Wenn ich einen Menschen von einer furchtbaren Tat abhalten könnte?«

Unsere Blicke verschmolzen – ihre dunkelblauen mit meinen kohleschwarzen Augen. Wir hatten ein Grauen durchlebt, das sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen können. Und wenn wir einander in die Augen sahen, merkten wir, dass es immer noch zwischen uns stand – außer an jenem Nachmittag. Ich nahm wahr, wie ängstlich und traurig sie im Grunde ihres Herzens war und dass die Sauberkeit und Ordnung, mit der sie sich umgab, nur als Schutzschild diente. Dahinter versteckte sich ein kleines Mädchen, dessen Herz vor Todesangst und Kummer raste.

»Dann bist du stärker als ich.«

Wir wussten beide, dass das die Wahrheit war, und so schwieg ich. Als sie zu weinen anfing, setzte ich mich neben sie und umarmte sie, und sie küsste mich auf den Kopf. So blieben wir noch eine Weile sitzen, ohne irgendetwas zwischen uns geklärt zu haben.

Komm mit gutem Vorsatz und finde deinen Weg. So lautete das Motto meines College, das mir seit meiner Rückkehr aus den Ferien in den Ohren klingelte. Nicht, dass ich im Babysitten unbedingt meinen Weg gesehen hätte. Aber als ich an diesem frostigen Wintertag mit dem Fahrrad auf geschwungenen Pfaden den Campus verließ und auf die Straße nach The Hollows einbog, fühlte ich neuen Schwung.

Skylar hatte Recht; es tat gut, sich einen Job zu suchen. Hätte sich nicht der Termin zum Vorstellungsgespräch ergeben, ich hätte mich bis zum Unterrichtsbeginn in Bücher vergraben oder meine Zeit im Fitnessraum totgeschlagen. Meine Mitbewohnerinnen waren noch nicht wieder da, und so konnte ich mich nicht von ihren Herzschmerz-Dramen ablenken lassen. Ständig ging es um irgendwelche Typen und was wer auf Facebook gepostet hatte, und, Lana, könntest du eine Hausarbeit für mich schreiben?

Die Kahns wohnten in einem kleinen hübschen weiß verputzten Haus nicht weit entfernt von dem großen Platz. Die Bewohner von The Hollows nannten diese Gegend SoHo, eine Abkürzung von South Hollows. In den Fenstern hingen Lichterkränze und rote Girlanden, Überreste des Weihnachtsfestes; die Fensterläden waren schwarz und die Haustür rot lackiert. Meine Tante hätte jetzt bestimmt gesagt, dass Rot eine fröhliche Farbe ist und eine rote Haustür in der Welt des Feng-Shui nur Gutes verheißt. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr aus reiner Nettigkeit eine SMS zu schreiben. Was ich natürlich bleiben ließ. Ich stieg die grauen Stufen zur Haustür hinauf und benutzte den schweren, goldenen Türklopfer, weil ich keinen Klingelknopf finden konnte.

Ein Vogel zwitscherte über mir im Baum, und ich schaute nach oben und entdeckte einen grau-schwarzen Spatz auf einem Ast.

»Was ist los?«, fragte ich. »Warum überwinterst du nicht im fernen Süden?«

Er stieß ein tiefes, gedehntes Zwitschern aus, so als ärgere er sich über die dumme Frage, die er nur aus Höflichkeit beantwortete. Wir, die etwas zu verbergen haben, legen großen Wert auf Höflichkeit und verlassen uns darauf, dass die anderen nicht zu genau hinsehen und nicht zu viele Fragen stellen. Nach einem kurzen Blickduell flatterte er davon.

Eine halbe Minute verstrich, eine ganze. Hatte ich mich in der Zeit geirrt? Ich klopfte noch einmal an. Dann hörte ich Absätze eilig über Parkettboden klackern, und die Haustür wurde aufgerissen. Die Frau war klein und drahtig, wie eine Ballerina, und hatte sich das dunkle Haar zu einem strengen Knoten zurückfrisiert. Ihr Gesicht strahlte wie ein heller Scheinwerfer, und ich spürte die Wärme auf meinen Wangen, als sie mich eindringlich musterte und lächelte. Ich ließ die Schultern sinken und wollte mich unter ihrem Blick wegducken, wie immer, wenn ich mich beobachtet fühle.

»Lana?« Wieder klang sie außer Atem. Die Frau war wohl ständig in Bewegung. »Was für ein schöner Name. So – romantisch!«

»Danke«, sagte ich. Das hatte ich noch nie gehört. Ich wurde rot wie ein Teenager.

»Rachel«, sagte sie und streckte mir ihre kleine Hand entgegen, deren Griff stahlhart war. »Rachel Kahn.«

Wieder fragte ich mich, ob mir der Name irgendwie bekannt vorkam. Aber wann immer ich meinte, die Erinnerung sei zum Greifen nah, entwischte sie mir. Ich mochte ihren Namen, mit dem man Großes vollbringen, ein Unternehmen gründen, einen Triathlon gewinnen, Kontinente erobern konnte. Drei abrupte Silben mit hartem Klang. Mein Name war ein einziger, geflüsterter Schnörkel, der Name einer Träumerin, einer Frau, die gerne verschlief und alles auf die lange Bank schob. Jede Wette, dass Mrs Kahn spätestens um fünf Uhr auf den Beinen war, ob sie früh aufstehen musste oder nicht.

Sie bat mich herein und entschuldigte sich für das Durcheinander aus ungeöffneten Kartons, die im Flur und im Wohnzimmer neben einer geschmackvollen, cremefarbenen Sitzgruppe herumstanden. Über dem Kamin hing ein Ölgemälde, das nach Jackson Pollock aussah und fast bis an die hohe Zimmerdecke reichte.

»Ich hatte gehofft, bis jetzt schon viel mehr geschafft zu haben«, sagte sie und legte die Hand an die Stirn. Sie seufzte frustriert. »Aber die Tage fliegen nur so dahin, nicht wahr?«

Nein, meine nicht. Meine Tage waren endlos lang und voller großer, gähnender Löcher, die ich mit nichts anderem zu füllen wusste als Lernen, Lesen, DVDs, Kneipenbesuchen mit Freunden und Mitbewohnerinnen und am Wochenende mit Partys, die bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Manchmal shoppte ich im Internet. Nein, meine Tage flogen nicht dahin.

»Ja«, sagte ich höflich. Am wenigsten Aufmerksamkeit zieht man auf sich, wenn man den anderen zustimmt. Zu schweigen wäre zu auffällig.

Ich folgte ihr in ein saalartiges Esszimmer, wo wir uns an einen langen Tisch setzten, der groß genug für das Festmahl eines Königs war. Solch einen Tisch sieht man nur in Designermagazinen. Er war klobig, fast schon rustikal, mit natürlicher Maserung und einer fast rauen Oberfläche voller Astlöcher und Risse. Als ich meine Hand darauflegte, konnte ich fühlen, dass er teurer gewesen sein musste als ein Kleinwagen. Ein schlichtes, schwarzbraunes Ding aus Holz, auf dem als geschmackvolles Highlight drei makellose, grüne Äpfel lagen.

Rachels schmales, graues Etuikleid, die silbernen Ballerinas, die Lesebrille mit dem schwarzen Gestell, die sie so langsam und sorgfältig aufklappte, als falte sie Origami, strahlten eine Stilsicherheit aus, wie man sie für kein Geld der Welt kaufen kann. Ich schob ihr meinen hastig zusammengetippten Lebenslauf über den Tisch. Während sie ihn überflog, schaute ich mich um. Selbst in der Unordnung nach dem Umzug lag noch eine gewisse Schönheit. Sogar das Handtuch an der Spüle sah lässig und cool aus, wie zufällig hingeworfen.

»Nun«, sagte sie nach einer Minute, »haben Sie Erfahrung mit Kindern?«

Sie legte beide Hände auf meinen Lebenslauf und schob ihn in die Tischmitte, wo er liegen blieb und völlig unzulänglich aussah. Da ich nicht wusste, ob sie es überlesen hatte oder aus meinem Mund hören wollte, berichtete ich ihr von den verschiedenen Praktika, bei denen ich auf die eine oder andere Weise mit psychisch labilen Kindern gearbeitet hatte. Aber hatte ich jemals ein Kind von der Schule abgeholt, Zeit mit ihm verbracht, ihm Sandwiches geschmiert? Nein, das musste ich zugeben.

Sie rieb sich den Nacken. Wahrscheinlich würde sie noch ein bisschen mit mir plaudern und mich dann hinauskomplimentieren. Ich hätte es mir denken müssen – natürlich war sie auf der Suche nach jemandem mit Erfahrung. Das Ganze war eine unnötige Übung, und auf einmal schämte ich mich, ihre kostbare Zeit gestohlen zu haben.

»Sehr interessant«, sagte sie. »Durch Ihre Praktika sind Sie möglicherweise besser auf den Umgang mit Luke vorbereitet, als ich zu hoffen gewagt habe.«

Als sie ihre Brille abnahm, sah ich einen Ausdruck in ihren Augen, den ich nur zu gut kannte – eine tiefsitzende, traurige Angst.

»Wissen Sie«, sagte sie, »wir sind aus der Stadt hierhergezogen, damit Luke die Fieldcrest besuchen kann, auch in den Sommerferien.«

»Oh«, sagte ich. »Verstehe.«

Okay, er hatte Probleme. Na und? Wer hatte die nicht? Ich meine, ich war selbst ein Problemkind gewesen, ohne dass ich Brände gelegt hatte. Meistens. Nein, war nur Spaß.

»Die meisten Jungs in seinem Alter wären in der Lage, auch mal einen Nachmittag allein zu verbringen. Aber ich habe ein ungutes Gefühl dabei, Luke sich selbst zu überlassen. Er ist clever und kann sich selbst versorgen, aber er braucht jemanden …« Sie unterbrach sich mitten im Satz.

»Der ihn davon abhält, Dummheiten zu machen?«

Sie wirkte erleichtert. »Ja.«

Gerade als ich nach einem möglichst taktvollen Weg suchte, mich nach der Art seiner Störung zu erkundigen, bot Rachel mir einen Tee an. Ich nickte. Sie bedeutete mir, ihr in die Küche zu folgen. Ich setzte mich in die Fensternische, von der aus man einen guten Blick auf den gepflegten Garten hatte – ein rechteckiges Rasengrundstück mit einem einzelnen Baum, unter dem ein einsames, schmiedeeisernes Tischchen mit zwei passenden Stühlen stand. Am Ende des Rasens begann dichter Wald. Ich wusste, dahinter standen weitere Häuser, die aber nicht zu sehen waren.

»Luke hat verschiedene Diagnosen bekommen«, sagte Rachel, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Sie schaltete den Wasserkocher ein. »Aber keine davon passt so richtig. Zuerst dachten wir, es wäre ADHS. Ein Arzt tippte auf klinische Depressionen, eine Krankheit, die in meiner Familie liegt.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Ein anderer meinte, Luke leide an einer bipolaren Störung. Er hat Therapien gemacht und verschiedene Medikamente genommen.«

Sie nahm zwei Teebeutel aus einer Holzkiste neben dem Wasserkocher und füllte zwei Becher mit heißem Wasser. Sie sagte, dass sie Schulen und Ärzte hätten wechseln müssen und ihre Arbeit (was sie machte, erwähnte sie nicht) gelitten habe, dass Luke immer schwieriger werde und sie es allein nicht mehr schaffe.

Irgendwann habe sie einen Artikel über Dr. Charles Welsh und seine Schule, die Fieldcrest, gelesen. Ich kannte Dr. Welsh, er war Langdons direkter Vorgesetzter, ein gütiger, immer ein wenig zerzauster Mann, den alle schätzten und achteten. Seine Behandlungsmethoden und seine Beiträge zur Kinder- und Jugendpsychiatrie waren bahnbrechend. Als Dr. Welsh sich bereiterklärt hatte, Luke als Schüler aufzunehmen, waren die Kahns sofort nach The Hollows gezogen.

ENDE DER LESEPROBE