Wer dich "Schwester" nennt, ist nicht immer dein Bruder - Sahira Awad - E-Book

Wer dich "Schwester" nennt, ist nicht immer dein Bruder E-Book

Sahira Awad

4,6

Beschreibung

Sahira Awad ist aufstrebende Hip-Hop-Sängerin und aktive Muslima, als sie 2005 ihr Debütalbum Frei Schnauze herausbringt und einen echten Achtungserfolg landet. Doch sie gerät an falsche Freunde und rutscht immer tiefer in eine extremistische Glaubensgemeinschaft hinein. Kurz vor Fertigstellung ihres zweiten Albums Mit reiner Absicht verliert sie sich im maßlos dogmatischen Glauben, lässt sich einreden, dass Musik im Islam verboten sei, und beendet – kurz vor dem Durchbruch – ihre Musikkarriere. Sie heiratet einen religiösen Fanatiker, trägt Vollverschleierung und muss in dieser Ehe Gewalt, Misshandlung und Erniedrigung ertragen. Nach einer Zeit des Martyriums trennt sie sich 2012 von ihrem Mann und schafft den Ausstieg aus der fundamentalistischen Szene. Schritt für Schritt kämpft sie sich jetzt zurück in ihr altes Leben. In ihrem Buch erzählt sie davon, wie radikale Fundamentalisten Menschen manipulieren, bis diese nicht mehr zwischen Richtig und Falsch unterscheiden können, und wie diese Fanatiker den Glauben missbrauchen, um Gewalt zu säen und die Menschen zu spalten und gefügig zu machen. Ein bewegendes Schicksal und ein authentischer Erfahrungsbericht, wie Radikalisierung geschehen kann.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2017

© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Erlaubt mir eine Bemerkung vorab. Sie betrifft die Groß- und Kleinschreibung der Ansprache. Liebe Leser, liebe Freunde und Familie. Ich hätte Euch gerne großge-schrieben. In meinem Buch geht es um Respekt – und mir ist es fremd, Men-schen, an die ich mich wende, kleinzuschreiben. Ihr habt meinen Respekt! In meinem Herzen schreibe ich Euch groß. Ich habe mich aber dazu entschlossen, mich an die Regeln der deutschen Rechtschreibung zu halten. Bei der Transkrip-tion aus dem Arabischen halte ich mich an Formen, die mir lieb und geläufig sind.

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Melanie Melzer

Umschlagabbildung: © Julia Zimmermann

Satz: inpunkt[w]o, Haiger, (www.inpunktwo.de)

ISBN Print 978-3-86882-701-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-979-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-980-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Inhalt

INTRO

S wie Sehen

A wie Allah

L wie Lyrics

I. DER ISLAM MEINER ELTERN

II. Deso

III. Meine Jugend

Brüder und Schwestern

Aus dem Takt

Puls der Straße

Zweifelszeit

Berlin Love

Leben

IV. Deso Dogg

V. Mein perfektes Leben – meine ersten eigenen Schritte zum Islam

Der 11. September – aufgerüttelt

Die rechte Faust erheben

Perfekte Bindung

Frei Schnauze

Erster Moscheebesuch – erste Enttäuschung

VI. Abu Maleeq

VII. Abschiede ohne Abschied

VIII. Mehr als eine fehlende Taste – Heirat ohne Liebe

IX. Sie machen Vieh aus sich

X. Abu Talha Al Almani – ein anderer Mensch

OUTRO

Bonustrack

Dank und Liebe geht raus an

INTRO

S wie Sehen

Salam.

Friede sei mit euch.

Ich bin Sahira.

Sahira bedeutet die Wachsame, Achtsame. Sahar bedeutet Aufwachen, wach bleiben, über etwas oder jemanden wachen. Mit offenen Augen durchs Leben gehen. Ich habe das Wort auch im Koran gefunden (Koran Sura (Kapitel) 79/Aye (Vers) 14). Sahira ist ein Ort, eine Zeit oder ein Zustand des Erwachens.

Heute weiß ich, wie wichtig Worte sind. Heute trage ich meinen Namen mit Stolz, aber es gab eine Zeit, da habe ich seine Bedeutung verleugnet. Da habe ich nicht mehr klar gesehen. Ich bin falschen Propheten gefolgt wie ein Schaf seinen Schlächtern.

»Deine Bücher sind nicht gut in den Augen Allahs«, haben sie gesagt, und ich habe sie hergegeben.

»Musik ist Sünde«, haben sie gesagt, und ich habe mein erstes eigenes Album vor den Augen meines kleinen Sohnes im Hinterhof unseres Mietshauses in Wedding in die Mülltonne geschmissen, habe vor Saleem ein Lächeln aufgesetzt, während mir das Herz brach.

»Die Stimme der Frau bringt Verderben«, haben sie gesagt, und beinahe wäre ich verstummt.

In dieser Zeit war ich nicht ich selbst. Ich habe verraten, was mir lieb und teuer war. Der Gedanke daran treibt mir Tränen in die Augen, und zugleich spornt er mich an.

Ich will nach vorn gehen und den Mund aufmachen, so wie damals, als ich neben Big Sal, Deso Dogg oder Bushido im Studio ans Mikro trat und der Bass in meiner Brust schlug wie mein Herz. Der Bass, mein Herz, der Bass ist tief und klar, der Herzschlag jeden Songs. Er treibt dich und er trägt dich. Dem Bass kannst du nichts vormachen. Er bleibt immer cool. Endlich spüre ich ihn wieder. Endlich bin ich wieder da. Ich atme wieder.

Ich kenne die Straße und die Moschee, ich bin Deutsche und Palästinenserin, aufgewachsen in einer männerdominierten Welt.

Als Muslima engagiere ich mich im großen Djihad.

Mein Djihad hat nichts mit den Verbrechern in Syrien zu tun, die Terror säen und die Welt entzweien. Djihad bedeutet Anstrengung. Es ist das Bemühen eines Gläubigen um ein gottgefälliges Leben, um innere Einkehr, Güte und Gerechtigkeit. Der Begriff ist einer von vielen, die dem Terror zum Opfer fallen, wenn wir es nicht verhindern. Terroristen schänden unsere Sprache. Lasst uns gegen diesen Missbrauch anschreiben und ansingen.

Lasst uns reden.

Es ist Zeit.

A wie Allah

Es ist Mitte Juni, und wir haben Ramadan. Ramadan ist »der heiße Monat«, die Fastenzeit. Der Begriff leitet sich vom Verb verbrennen ab. Vielleicht, weil deine Kehle brennt, wenn du sie nicht mit Wasser ablöschst.

Fasten ist unser Geschenk an Allah. Hallo, Allah hat uns das Leben geschenkt, was ist da schon ein Monat? Im Übrigen ist Ramadan eine gute Zeit. Gesund. Halal. Es heißt, für vier Wochen würden alle Teufel weggesperrt – alle, bis auf einen. Dein Qareen. Ich nenne ihn den Egoteufel. Er begleitet dich seit deiner Geburt wie ein Schatten, er flüstert dir etwas ins Ohr, er folgt dir, lässt sich nicht abschütteln, und wenn du nicht aufpasst, macht er sich in deinem Herzen breit. Dieser eine ist immer da. Auch jetzt, während ich beginne zu erzählen.

Durst, Hunger, Mundgeruch und ein Gefühl von spiritueller Leichtigkeit. Allah hat gesagt, der Mundgeruch des Gläubigen an Ramadan sei schön wie Moschusduft. Mir gefällt das. Diese Sicht. Moschusduft!

Ramadan, das heißt auch Wachsein. Alle Sinne schärfen. In sich hineinfühlen. Essen, Rauchen, Trinken und Konsumieren im Allgemeinen, das alles entfällt, zumindest bis die Sonne untergeht. Sich Ablenken ist nicht mehr. Wenn du fastest, siehst und hörst du besser, klarer.

Es sind Tage der Besinnung und des Wieder-zu-sich-Kommens. Eine gute Zeit für die Erinnerung.

Die Luft flimmert. Ich stehe auf dem Balkon unserer Wohnung und sehe hinunter auf die Straße. Der Asphalt schwitzt, als würde die Straße irgendetwas ausdünsten. Eine junge Frau schimpft mit ihrem Kind, ein Mädchen trägt Hotpants, die kaum ihren Po bedecken, ich denke, sie ist erst 13, vielleicht 12, junge Augen, sie sieht mich nicht, ein Obdachloser sucht nach Pfandflaschen. Ein Mann heftet den Blick auf den Po des Mädchens, meine Hände schwitzen, ich habe Durst, an der Ecke unterhalten sich zwei Türkinnen mit blondem Haar, Milchkaffee und Zigaretten, wisst ihr nicht, heute ist Ramadan?, ich dränge diesen Gedanken zurück wie einen unliebsamen Gast, den ich von früher kenne, Hollywoodtürkinnen, so hätte ich damals gedacht in meinem Hochmut. Heute denke ich, sie begehen andereSünden als ich, nicht unbedingt mehr, vielleicht sogar weniger …

Meine Hände kleben an der Brüstung, ich will zurück ins Halbdunkel der Wohnung. Wachsam sein, das ist auch anstrengend. Manchmal wird es mir zu viel. Sehen ist Kopfschmerz. Zu viel Input.

Hollywoodtürkinnen? Wie konnte ich glauben, dass mir ein Urteil zustünde? Was wusste ich von den Menschen, die ich auf der Straße sah?

Wenn ich mich früher über andere Muslime aufgeregt habe, weil sie den Glauben nicht so lebten, wie ich es für richtig hielt, wenn ich auf 180 war in meinem Hochmut, hat meine Seelenschwester mich runtergeholt.

»Im Glauben gibt es keinen Zwang, Habibtie«, hat Rahsan gesagt. Ich wollte das nicht immer hören. Deso hätte mich verstanden!, dachte ich. Ich wünschte, er wäre noch da!

Heute weiß ich, dass sie recht hat.

Wo hat sie nur die Weisheit her?

Und woher kam meine Wut?

Unser Prophet, Sallaa Allahu‚alaihi wa sallam, Friede und Segen sei auf ihm, war nicht so. Er hat niemanden vorschnell verurteilt. Es gibt eine Geschichte, einen Hadith, der mir nahegeht.

Stellt euch eine Moschee vor. Den Männer-Betraum. Der Prophet (s) (das (s) steht für »Friede und Segen sei auf ihm«) und seine Gefährten beten. Neben ihnen kniet ein Betrunkener. Die Gefährten des Propheten empören sich, lautstark fordern sie den Mann auf, zu gehen und sich auszunüchtern.

»Er wird in die Hölle kommen, weil er betrunken die Moschee betritt«, entrüstet sich der Wortführer.

Da gebietet der Prophet, Friede und Segen sei auf ihm, dem Wortführer, still zu sein.

»Lass ihn sein Dua (Bittgebet) beenden. Gewiss wird er im Paradies empfangen«, sagt er. »Weißt du, wie oft dieser Mann bereut hat? Dass er bei jedem Schluck Alkohol, den er trank, geweint hat?«

Wenn ich diese barmherzige Überlieferung lese, kommen mir die Tränen.

Warum ich weine?

Weil ich bereut habe.

Ich habe bereut.

Oft.

L wie Lyrics

Meine Schwester Futun hat gesagt: Es ist alles da, du musstnur genau hinsehen. Das Gute, das Böse, das Laute, dasLeise und das Dazwischen.

Heute ist ihr Rat mir teuer. Ich will herausfinden, wie alles anfing und warum ich so von meinem Weg abkam. Warum habe ich, eine glückliche Sängerin, die ihren Platz in der Musikszene gefunden hatte, alles hinter mir gelassen und mich in einem Kreislauf der Gewalt verfangen? Warum werden Menschen »extrem« und feindselig?

Ich will genau hinsehen.

Dieses Buch ist kein Unterhaltungsroman. Es ist keine Geschichte mit Anfang und Ende, keine Herz-Schmerz-Story mit Happy End.

Ich bin Sängerin und Songwriterin und mein Medium ist die Musik. Singen ist meine Therapie und mein Brückenschlag zur Welt. Songtexte nennt man auch »Lyrics« – und »lyric« bedeutet so viel wie poetisch und gefühlvoll. Das gefällt mir. Musik erlaubt uns, Gefühle, Gedanken und Erfahrungen in Wort und Klang zu übersetzen. Für mich ist das die schönste Form von Poesie.

Ein Song hat ein Intro, Strophen, eine Hook und ein Fade-out. Im Intro klingen die wichtigsten Themen an. Die Strophen reden, sie erzählen. »Hook« kommt aus dem Englischen und bedeutet »Haken«. Die Hook ist der Refrain. Sie ist der Aufhänger. Wie ein Anker. Sie ist eingängig und klingt nach, sie ist, was übrig bleibt und sich im Gedächtnis festsetzt, die eine Zeile, die du weitersummst, wenn das Lied zu Ende ist. Mit Fade-out bezeichnen wir das Ausklingen des Songs. Den Moment, in dem Musik in Stille übergeht.

Ich will schreiben, wie ich singe. Dieser Text ist mein Protest- und Friedenssong in Prosa. Ein Lied darüber, was mit mir geschehen ist und was in diesem Land und in der Welt geschieht. Ein Lied über den friedlichen Islam, einen Glauben, der auf Liebe und Barmherzigkeit basiert. Ein Lied für Deutsche und Araber, für Gläubige und Nichtgläubige, für alle jungen Menschen, die auf der Suche sind, wie ich es einmal war.

Ein Lied gegen Gewalt und Missbrauch. Eine Warnung vor dem lieblosen Islam, wie er heute von vielen gepredigt wird, und vor jeder Form von Extremismus und Fanatismus. Vor Frauenhass, der sich unter dem Deckmantel der Religion verbirgt.

Auf den folgenden Seiten wird vieles nebeneinanderstehen. Die Sprache des Glaubens und das Arabisch meiner Eltern, der Klang des Gebetsrufs und der Sound, den ich der Straße abgelauscht habe. Der coole Beat des Hip-Hops. Der Herzschlag der Angst. Und die ruhige Stimme meiner Schwester Futun.

Alles ist da, ihr müsst nur genau hinhören.

Ich hoffe, ihr hört die Hook und ihr mögt meinen Ton.

I. DER ISLAM MEINER ELTERN

Ich liebe meine Eltern.

Und ich weiß, dass meine Geschichte auch mit ihnen zu tun hat.

Dass ihre Geschichte mit Palästina zu tun hat.

Dass Palästinas Geschichte mit Deutschland zu tun hat.

Dass Deutschlands Geschichte mit dem Krieg zu tun hat.

Mein Vater war Anfang 20, als er das umkämpfte Palästina verließ und nach Deutschland einreiste. Das war in den Sechzigerjahren, vor dem Sechstagekrieg. Er studierte in München Architektur, und als er sein Diplom in der Tasche hatte, war noch immer Krieg in seiner Heimat. Ich weiß nicht, warum alle vom Israel-Palästina-Konflikt sprechen. Das klingt, als würden Palästinenser und Israelis beim Tee sitzen und über ein Thema reden, in dem sie uneins wären. Ein Konfliktthema. Dort herrscht jedoch seit Jahrzehnten Krieg, nicht weniger.

Also ließ er – mein Baba – meine Mutter nachkommen. Sie trafen sich in Berlin, bezogen eine 4-Zimmer-Standard-Wohnung in Wilmersdorf, und bekamen acht Kinder. Sechs Mädchen und zwei Jungen. Ghusun, Futun, Malak, Samar, Angham, mich, Shadie und Belal.

Malak bedeutet Engel. Angham die Melodien. Samar ist die Person, die sich nicht scheut, die Nacht zum Tag zu machen, wenn es um die gute Sache geht. Belal, der Junge mit der schönen Stimme. Belal war nämlich der Name unseres ersten Gebetsrufers. Shadie. Shadie zu beschreiben, ist nicht so einfach. Mein Vater sagt, Shadie sei ein Mensch, dem andere gerne zuhören und dessen Rat sie sich zu Herzen nehmen, weil er einen guten Ton anschlägt. Gibt es ein deutsches Wort für Shadie? Das Übersetzen aus dem Arabischen fällt mir nicht immer leicht. Oft nähere ich mich Wortbedeutungen mithilfe von Bildern und Beschreibungen an. Mein Vater hat immer darauf bestanden, mit uns Kindern auch zu Hause Deutsch zu sprechen. Er ist nahezu unfehlbar, und doch hört man den Unterschied. Nicht am Satzbau oder an der Art, wie er Konsonanten und Vokale bildet, nicht an seinem Zungenschlag. Mein Vater spricht in Bildern, darin liegt der Unterschied.

»Wenn meine Tochter mit neun Männern in einem Kaffee sitzt, ist sie der zehnte Mann«, sagt er oft zu mir. Damit meint er, dass ich »meinen Mann stehe«, er lobt meine Unabhängigkeit. Seine Sprache kommt ohne das Dritte des Vergleichs aus, ohne »wie« oder »gleichsam«. Ich mag dieses Sprechen in Bildern, es klingt nach meiner Herzens-Heimat, nach Palästina.

Ich würde sagen, Shadie, das ist ein feiner Mensch. Mein Bruder ist ein feiner Mensch. Oder: DerTon macht die Musik.

Nicht nur das, was Shadie zu sagen hat, ist schön – seine Botschaft –, sondern auch die Art, wie er sie rüberbringt.

Und dann ist da noch Ghusun, ein Name, der nach dem Geburtsort meiner Mutter klingt. Ghusun bedeutet auch die Äste eines Baumes.

In den Namen, die unsere Eltern wählten, klingt ihre Heimat an. Es sind gute Namen. Namen für ein gutes Leben.

Während wir Kinder in Deutschland aufwuchsen, mit gepudertem Hintern, mit Problemen wie »Ich muss unbedingt auf das neue Paar Sneakers sparen oder auf mein Lieblings-Make-up«, kämpfte unsere Familie in Palästina ums Überleben. Mein Onkel wurde gefoltert. Mein Cousin starb. Und mein Vater, ein gebildeter Mann, der mit uns Kindern Bayerisch sprach, wenn er gut aufgelegt war, ein Mann, der Integration großschreibt und deutsche Kreuzworträtsel liebt, mein Vater war in Sicherheit, aber er trug den Krieg im Herzen. Seine Zerrissenheit war unsere Zerrissenheit.

Wir sollten Palästina nie vergessen. Das haben wir auch nicht.

Ich war drei Jahre alt, als er und Mama sich Aufnahmen des Massakers von Sabra und Schatila ansahen. Hinter dem Sofa war eine Zimmerecke, von der aus wir Kinder oft unbemerkt mit ansahen, was auf dem Bildschirm vor sich ging.

Ich weiß nicht, ob Baba und Mama gesehen haben, dass ich es gesehen habe.

Haben sie es mitbekommen, aber nicht verhindert?

Oder waren sie so gebannt, dass sie nicht auf mich achteten?

Damals war Krieg im Libanon. Es hatte Opfer auf allen Seiten gegeben. Zwei Tage nach dem gewaltsamen Tod eines hohen Generals drangen Milizen in das Flüchtlingslager ein. Eindringen ist das falsche Wort. Das Lager war von israelischen Soldaten umstellt, und sie ließen die Milizen passieren. Mehr noch, sie riegelten das Lager ab, sobald die Männer drinnen waren. Der Deal, den Sharon und der Verteidigungsminister eingegangen waren, war folgender: Die Milizen würden die vermeintlich in den Flüchtlingslagern befindlichen Verantwortlichen des Anschlags ausfindig machen und an die israelische Regierung übergeben.

Die israelischen Posten riegelten die Lagerausgänge ab und erhellten das Lager mit Leuchtraketen, während die Milizen Zivilisten folterten und ermordeten. Sie verstümmelten Kinder und Greise und vergewaltigten Frauen.

Was ich mit drei Jahren gesehen habe, kann ich nicht vergessen. Die Bilder haben sich in meiner Seele eingebrannt. Das gespenstische Licht der Leuchtraketen ist wie ein Flimmern auf der Netzhaut meiner Seele.

Meine Geschwister und ich sollten Palästina nie vergessen.

Wie könnten wir?

Zu Hause, in unserer Vierzimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf, war alles nebeneinander: Liebe, Angst, Stolz und Scham. Freiheit und Zwang. Glaube und Allah. Allah war da, seit ich denken kann. In unserer Küche, in den Kinderzimmern, im Wohnzimmer und auch in dem Vorgarten, der so üppig blühte. Rosen, Beerensträucher und Weintrauben. Meine Mutter hat den grünen Daumen, mashaAllah, schon immer liebte sie Pflanzen. Und sie liebt Gott.

Allah trug sie im Herzen und auf der Zunge. »Allah Habibie!«, rief sie manchmal, wenn es Grund zur Freude gab: »Allah, mein Schatz!« Wir fanden das komisch. »Mama, wie sprichst du mit Gott?«

Meine Mutter war und ist eine schöne Frau. Früher trug sie ihr Haar offen, dichtes schwarzes Haar, das ihr schmales Gesicht umrahmte und ihr weich auf die Schultern fiel. Manchmal wurde sie im Bus angesprochen: »Gute Frau, wollen Sie vielleicht einen Kaffee mit mir trinken?« Dann nickte sie und lächelte. Stets gab sie dieselbe Antwort: »Wenn ich meinen Mann und meine acht Kinder mitnehmen kann, sehr gern!«

Sie hatte das gewisse Extra, mashaAllah, sie hatte einfach Chic, und sie sang so schön, dass mir das Herz aufging. Meine Mutter sang immer, beim Putzen, beim Bügeln, beim Kochen und bei Veranstaltungen der arabischen Community. Klassischer arabischer Gesang. Mama liebte Oum Kalthoum – und fiel mit ihrer starken, warmen Stimme ein, wann immer eine ihrer Kassetten lief. Wenn ich heute Oum Kalthoum höre, singe ich mit, ich kenne jedes Lied auswendig, jedes Wort, und immer habe ich Mamas Bild vor Augen.

Wenn sie auftrat, saß mein Vater in der ersten Reihe und klatschte sich die Hände wund. Seine Augen glänzten vor Freude. Wie stolz wir auf sie waren.

Meine Mutter ist sehr spirituell. Das zeigt sich in ihren Worten und Gesten und in ihrem Gesang. Als ich einmal solche Zahnschmerzen hatte, dass ich nicht mehr klar denken konnte, bettete sie meinen Kopf in ihren Schoß und malte mir den Koran auf die Wange, wo der Schmerz war. Es gibt Suren, die heilsam sind. Während sie mit dem Zeigefinger Worte auf meine Wange malte, entspannte sich mein Körper und der Schmerz ließ nach. Natürlich suchte ich am nächsten Tag den Zahnarzt auf.

Der Islam meiner Eltern war einfach und friedlich wie die Fastenzeit. Ich weiß noch, dass wir Kinder uns auf Ramadan freuten. Natürlich mussten wir nicht fasten, im Gegenteil, wir durften, wenn wir wollten. Das hatte beinahe etwas Spielerisches. Eine harte Prüfung waren die Werbespots im Fernsehen. Cornetto-Eis. Magnum. Damals begriff ich, was eine süße Versuchung ist. Und, dass es sich gut anfühlt, stark zu bleiben.

Rückblickend habe ich das Gefühl, als wären wir Kinder an Ramadan ruhiger gewesen und hätten weniger gestritten. Der heiße Monat war eine friedliche Zeit. Ich habe ihn immer geliebt.

Meine Eltern fasteten, sie trugen Gott im Herzen, aber sie beteten nicht vor uns Kindern und gingen nicht mit uns in die Moschee. Glauben war wie Atmen, etwas Selbstverständliches.

Heute denke ich, mehr zu wissen, hätte mir vielleicht gutgetan. Vielen von uns Kindern von Wilmersdorf bis zum Wedding, die zwischen den Kulturen aufwuchsen, hätte es gutgetan, mehr zu wissen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Meine Eltern lebten einen toleranten Islam.

Augenblick. Warum habe ich jetzt »tolerant« gesagt? Ich mag diesen Begriff nicht. Weder das Adjektiv noch das Verb. Tolerieren ist ein verräterisches Wort.

Wenn ich zum Beispiel erkläre, ich toleriere, dass mein Azubi einen Nasenring trägt, oder ich toleriere, dass ein Schwarzer in meinem Betrieb arbeitet, heißt das, ich dulde es. Das ist Hochmut. Es ist die Sprache eines Heuchlers.

Wer wirklich offen ist, verliert kein Wort über einen Nasenring oder die Hautfarbe eines anderen Menschen.

Toleranz bedeutet Duldung. Und etwas oder jemanden dulden bedeutet, dass du dich und dein Denken für etwas Besseres hältst, aber ein Auge zudrückst.

Diese Haltung gibt es im Islam nicht.

Noch etwas anderes stört mich an dem Wort, das ich gebraucht habe.

Wenn ich sage, meine Eltern lebten einen toleranten Islam, impliziere ich, dass es einen anderen, intoleranten Islam gibt. Den gibt es nicht. Unbewusst habe ich den Glauben meiner Eltern gegen den Wahnsinn der syrischen Sektenführer verteidigt.

Damit wird inshaAllah Schluss sein.

Richtig ist:

Meine Eltern lebten den wahren Islam.

Auf unseren Wunsch durften wir in den Wilmersdorfer Bibelkreis, wo wir zusammen mit evangelischen und katholischen Kindern bastelten, malten und sangen. Baba erzählte mit Rührung von einer Zeit, als Friede war in Palästina. Als Christen, Juden und Muslime friedlich zusammenlebten. An religiösen Feiertagen habe man sich gegenseitig gratuliert. Christen hätten Bonbons unter muslimischen Kindern verteilt, wenn die Fastenzeit zu Ende war und das Zuckerfest begann. Muslime hätten ihren christlichen Nachbarn an Weihnachten Gebackenes vorbeigebracht. An Ostern seien Muslime und Christen Hand in Hand den rituellen TareeqAlAlaam (Schmerzensweg) in Jerusalem gegangen, der für Christen so wichtig ist. Und Christen und Muslime hätten die Ruhe respektiert und eingehalten, in der Juden den Sabbat begingen.

Früh brachte er uns bei, dass Kriege nicht aus religiösen Gründen geführt werden, sondern aus machtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen. Der Krieg in seiner Heimat war für ihn kein Glaubenskrieg, und Juden waren nie unsere Feinde.

Baba und Mama machten auch keine Unterschiede zwischen verschiedenen »Zweigen des Islams«. Ob einer Sunnit oder Shiit war, wurde gar nicht erst thematisiert. Für sie gab es keine Spaltungen im Glauben.

Sobald jemand bezeugt, dass es keine Gottheit neben Allah gibt und dass Muhammad (s) sein Prophet ist, ist er Moslem.

Unabhängig davon, wie dieser Mensch praktische Glaubensfragen im Alltag für sich auslegt und welche Sünden er verantwortet. Khallas (Schluss und basta)!

Wenn Nikolaustag war, stellten wir Kinder Schuhe in den Flur. Das waren auch mal Babas Stiefel. Er hatte schließlich die größten Füße. Am nächsten Morgen waren sie prall gefüllt mit Schokolade und Süßigkeiten.

Ab und an führte das kulturelle Durcheinander allerdings zu Verwirrung. Ich weiß noch, wie ich an meinem ersten Schultag glücklich Sucuk aus meiner Schultüte holte – scharf gewürzte Würstchen, die in der Türkei, aber auch in vielen arabischen Ländern gegessen werden – und die halbe Klasse, auf jeden Fall alle deutschen Kinder, in Lachen ausbrach. Ich hatte mir die Sucuk gewünscht, nicht ahnend, dass ich damit eine Art Fauxpas beging. Völlig unerwartet spürte ich, dass ich anders war – und auch, wie weh das tat.

Unser Weihnachtsbaum hielt locker mit den Tannen mit, die unsere christlichen Nachbarn in ihren Wohnzimmern aufstellten. Mama mag es bunt – Lametta, Glitzer und Lichterketten. Ihre Kinder sollten auf nichts verzichten müssen.

Meine Geschwister und ich wuchsen buchstäblich mit zwei Kulturen und in zwei Sprachen auf. Das war schön, aber es war auch widersprüchlich und verstörend. Je älter wir wurden, desto mehr Fragen brannten uns auf der Seele und wir fanden keine Antworten.

Baba und Mama waren wie zwei Pole: heiß und kalt, ruhig und impulsiv. Rational und aus dem Bauch heraus. Meine Mutter war es, die die Koffer packte und allein mit uns Kindern nach Palästina reiste, als ich vier war. Baba bekam kein Visum, und sie wollte nicht länger warten. Meine Mutter wollte, dass wir endlich ihre Heimat sahen! Ich werde Nablus nie vergessen.

Im Hof lebten Hühnerküken, und Oliven und Zitronen pflückten wir aus den Ästen der Bäume, die in unmittelbarer Nähe des Hauses wuchsen. Das Leben dort hatte eine ganz andere Unmittelbarkeit, etwas Ursprüngliches und Schönes.

Ich weiß noch, wie wir Kinder erschraken, als zwei Hofhühner im Kochtopf landeten. Futun weigerte sich zu essen. Mir leuchtete ein, dass es keinen Unterschied gab zwischen diesen Hühnern und den abgepackten, die Mama aus dem LIDL mitbrachte. Solange es nicht meine Freunde, die Küken, waren …

Mit zwölf Jahren reisten wir erneut in den Nahen Osten, diesmal nach Jordanien. Die meisten unserer Verwandten waren dorthin gezogen, weil das Leben in Palästina inzwischen fast unmöglich geworden war. In Irbid habe ich zum ersten Mal den Adhān gehört. Wir waren bei Verwandten untergebracht, die in der Nähe einer Moschee lebten. Der Gebetsruf klang durch die morgenleeren Gassen und über die Plätze der Altstadt, durch die Lehmwände des Hauses, in dem wir wohnten, bis in mein Zimmer.

Da rief ein Fremder zum Gebet. Ich wusste nichts von dem Mann, gar nichts, und er wusste nichts von mir und den anderen Kindern, Frauen und Männern, die ihn in diesem Moment hörten – aber er lud uns alle ein.

»Allahu Akbar! Allahu Akbar!«

Allah ist Der Größte! Allah ist Der Größte!

»Ashhaddu an la illaha illa llah!«

Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt neben Allah.

»Ashhaddu anMuhammadan rasulu llah!«

Ich bezeuge, dass Muhammad sein Gesandter ist.

»Hayya ala s-salah!«

Eilt zum Gebet.

»Hayya alal-falah!«

Wendet euch dem Guten zu.

»As-Salatu khayrunmina n-naum!«

Das Gebet ist besser als der Schlaf.

Diesen letzten Satz, der nur einmal am Tag, nur wenn der Morgen graut, gerufen wird, liebe ich besonders.

Allah ruft uns an, er sagt, wacht auf und kommt zu mir, die Nacht ist zu Ende. Macht die Augen auf. Ob wir ihn anhören und ihm folgen, liegt bei uns. Ob wir beten oder schlafen wollen.

Für mich war der Adhān ein Klangerlebnis. Seelenklang. Der Gebetsruf hat einen eigenen Rhythmus und eine eigene Melodie. Er geht tief, er geht dir in den Bauch und berührt etwas in dir.

Meine Tante brachte mir die Eröffnungssure des Gebets bei, die sogenannte Fateha.

Zum ersten Mal sah ich Erwachsenen bei den rituellen Gebeten zu.

Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Mein Onkel war ein großer, schwerer Mann. Wenn er bei Tisch die Stimme erhob, wurde es still im Raum, er wusste immer etwas zu sagen, und sein Wort war Gesetz. Jetzt verneigte er sich genau wie meine Tante voller Demut vor Allah. Er beugte seinen Rücken und berührte mit der Stirn den Boden! Mein Onkel verneigte sich vor dieser einen höheren Instanz. Ich begriff, dass im Glauben alle gleich waren. In Gottes Augen waren alle gleich: Männer und Frauen, junge und alte Menschen, Schwarze und Weiße. Wie schön das war! Wie tröstlich!

Jordanien war ein Aha-Erlebnis, eine Erweckung und zugleich verstörend. Ich war gerade mal zwölf, aber auf der Straße wurde ich manchmal von Männern angeguckt wie eine Frau. Ich durfte nicht in kurzen Hosen vor die Tür. Nicht ohne die Begleitung meines Cousins.

Nicht ohne die Begleitung meines Cousins? Der Junge war zwei Jahre jünger und einen halben Kopf kleiner als ich. Wie sollte er mich beschützen? Und wovor? Wovor oder besser: Vor wem musste ein kleines Mädchen mitten in den Gassen der Altstadt in unmittelbarer Nähe einer Moschee beschützt werden?

Als ich aus Jordanien zurückkam, wollte ich Gott nah sein. Und ich suchte Schutz. Mir gefiel die Vorstellung, Hijab zu tragen. Mit zwölf Jahren malte ich mir aus, wie schön das wäre, ein Tuch zu tragen. Ich könnte mir die Wimpern tuschen und die Lippen leicht konturieren in einer zu meinem Hijab passenden Farbe.

Mama bereitete meinen Mädchenträumen ein Ende. Damals verbot sie mir, mich zu verhüllen. Sie fand mich noch nicht reif genug und fürchtete, ich könnte die Entscheidung irgendwann bereuen.

»Weißt du, es ist Sünde, den Hijab anzuziehen und dann wieder abzulegen«, erklärte sie mir.

Ironischerweise ist es viele Jahre später genau so gekommen.

Ya Allah, bitte verzeih mir meine Sünden – Ameen.

Für viele Deutsche ist ein Kopftuch einfach ein Kopftuch. Mir hat dieses Wort noch nie gefallen. Genauso wenig wie »Hausfrau«. Ich bin kein Freund von zusammengesetzten Wörtern. Sie haben etwas Pragmatisches. Sie geben vor, alles Notwendige mitzuteilen, aber in Wirklichkeit enthalten sie dir das Wichtigste vor.

Das arabische Wort Hijab bedeutet so viel wie »Schutz« oder »Bedeckung«. Im Islam bedecken sich nicht nur Frauen. Auch Männer tun das. Wer glaubt, der Bart eines Gläubigen ähnelte einem Hipster-Bart, der irrt. Der Bart eines Gläubigen ist nicht immer schön. Er ist ein Zeichen. Er zeigt den anderen, dass der Träger gläubig ist, aber er erinnert ihn vor allem selbst daran. Wenn du deine Wangen mit einem Bart bedeckst oder dein Haar mit einem Hijab, ist es, als würdest du deinen Glauben am Leib tragen. Mit Hijab bist du mehr bei dir, zumindest habe ich das so erlebt. Du bist weniger mit deiner Außenwirkung beschäftigt, du bist ganz generell weniger »außer dir« als sonst. Hijab hat viel mit Innerlichkeit zu tun.

Damals, als ich zwölf war, begann eine schwierige Zeit. Das Erwachsenwerden. Du schaust dich um, und plötzlich hat sich deine Welt verändert. Alles sieht anders aus. Du siehst mehr, und du spürst auch mehr. Versuchst, dich zu behaupten. Draußen, in der Schule, auf der Straße und zu Hause, im Nahbereich.

Der Nahbereich, das waren meine Eltern, Futun, Shadie und ich. Meine jüngeren Geschwister waren noch nicht auf der Welt. Das war unser Leben zwischen Palästina und Deutschland, zwischen Weihnachten und Zuckerfest, zwischen arabischer Tradition und einer westlichen »Freiheit«, die mir fremd war. War das, was man uns im Fernsehen verkaufte, bei H&M und in der Bravo, Freiheit?

Und wenn ja, warum war ich nicht frei? Mit 12, 13 Jahren fühlte ich mich beengt und unter Druck gesetzt. Zu Hause und in der Schule wurden Widersprüche offenbar, die ich als kleines Mädchen nur unklar gefühlt hatte. Der Spagat zwischen westlicher und traditionell arabischer Lebensform, den meine Eltern versuchten, wollte nicht gelingen.

Das fing schon in den eigenen vier Wänden an. Nur wir Mädchen mussten im Haushalt helfen. Wir mussten das Essen zubereiten und auftragen, während die Männer es sich auf der Couch bequem machten, die Nachrichten schauten und sich bedienen ließen.

Erlebe ich diese Situation heute, kann ich anders damit umgehen. Wenn ich zu Besuch bei meinen Eltern bin, bleibe ich nicht in der Küche an der Spüle stehen, während die Männer sich ausruhen. In regelmäßigen Abständen platze ich ins Wohnzimmer, stelle mich vor den Fernseher und frage freundlich: »Na, Herrschaften, habt ihr Palästina schon befreit mit eurem Rumgesitze vor den Nachrichten?«

Dann lache ich, und auch die Männer lachen, gegen ihren Willen. Eigentlich setzen sie ja gerade eine ernste Miene auf.

Damals hatte ich diese Möglichkeiten nicht.

Meine Schwestern und ich durften nicht mal daran denken, einen Freund zu haben, aber Shadie brachte Freundinnen nach Hause. Abends sollten wir auf unseren Zimmern bleiben, während er mit Freunden in den Club ging.

Ich begriff das nicht.

Hatten Jungen nicht genau wie wir zwei Hände, die sich zum Tellerabräumen und Geschirrspülen gebrauchen ließen? Hatten wir nicht wie sie ein Herz in der Brust? Hatten wir nicht dieselben Bedürfnisse und Gefühle wie sie? Wo lag der Unterschied – abgesehen von dieser einen winzigen Kleinigkeit?

Das Schlimmste war, dass es niemanden gab, der uns erklärte, warum wir zurückstanden. Mich traf das unvorbereitet. Unsere Mutter war Sängerin. Sie stand auf der Bühne und Baba klatschte. In der Community hatte sie einen Namen, eine Stimme. Sie war jemand.

Mama war unser Vorbild.