Wer gibt uns die Träume zurück - Elisabeth Schulz-Semrau - E-Book

Wer gibt uns die Träume zurück E-Book

Elisabeth Schulz-Semrau

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Beschreibung

Dieses Buch ist bereits das dritte Buch, mit dem die Autorin zurück führt in die Geschichte und Gegenwart ihrer Heimatstadt Königsberg. Bereits 1984 war „Suche nach Karalautschi“ erschienen und 1990 „Drei Kastanien nach Königsberg“. Im Titel dieses dritten Buches über Königsberg ist von Träumen die Rede, die zurückgegeben werden sollen. Welche Träume sind da gemeint? Es geht um die Träume aus Kindheit und aus der Zeit der Flucht. Es sind Geschichten wie die von Rudolf – dieser Name ist allerdings nur ein Ersatz für den wirklichen, den der Gesprächspartner nicht genannt haben möchte (Bruder NAMENLOS). Und beim Beschäftigen mit dem Schicksal anderer Menschen aus Kaliningrad kommt die Autorin fast zwangsläufig auf ihr eigenes Schicksal zu sprechen: Rudolf jedenfalls hatte es über alle, für normal Lebende kaum nachzuvollziehenden Schwierigkeiten in dieser Stadt, die inzwischen sein Vaterland nicht mehr zu sein hatte (1946 wurde Königsberg in Kaliningrad umbenannt), hinweggerettet. 1947 kam er dann mit jenem Waisenhaustransport im „schönen“ Vaterland - zwar ohne Schuhe, aber mit diesen Versen an. Vaterland also - aber welches? Das östliche, in das uns der Zufall nach dem Krieg verschlug, dem wir uns gläubig anvertrauten, weil es uns - nun eben - das Himmelreich auf Erden verhieß? Oder das, von dem man uns ein feindliches Bild zeichnete, in dem wir nun mehr oder weniger freundlich aufgehoben sind? Ich weiß, solche Überlegungen gehen über die Geschichte Rudolfs hinaus, entspringen meinen Grübeleien. Aber tun sie es wirklich, wenn ich mich an Rudolfs anfangs zitierten Brief erinnere? Und ich erwähnte ja schon, dass ein Finden Rudolfs auch ein Suchen nach mir ist. Dieses Buch erzählt von den Schrecken des Krieges – aus den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges und der folgenden Nachkriegszeit, ungeschönt und grausam: Der Abschied von unserer Heimatstadt Königsberg war ein tiefer, schmerzlicher Zusammenbruch für die meisten von uns. Wie viele Abschiede vermag ein Mensch zu ertragen? Aber diese Sammlung von Lebensgeschichten produziert auch Hoffnung: Am Ende ihres Buches der Geschichte und der Erinnerungen fasst die Autorin zusammen: Das Jahrhundert geht zu Ende, wir sind dabei, alt zu werden, wissen uns als die Letzten der benachteiligten Generation, die noch leben und möchten wenigstens das hinterlassen: Menschen liebt, achtet, helft einander. Der Krieg ist kein Gesetz der Natur!

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Impressum

Elisabeth Schulz-Semrau

Wer gibt uns die Träume zurück

Schicksal Ostpreußen

ISBN 978-3-86394-713-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1995 bei Langen Müller, München.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderrufliches Veto:

Es soll kein Krieg sein ...

Immanuel Kant

Eine gute Menschenart kann eine fremde Menschenart allein verstehen und trösten und ahnen.

Johann Gottfried Herder

Der Gram unserer Geschichte harrt noch seiner gerechten Aufarbeitung, also nicht der Vergeltung, sondern des Mitleidens und des Eingestehens. Ich wäre froh, wenn jeder Mensch diese Pflicht auf seine Weise erfüllte.

Daniil Granin

Die alten Kinder aus Königsberg

Die alten Kinder

tappen durch die Straßen.

Sie suchen

den Kopf

ihrer Puppe,

das Bein ihres

Schaukelpferdes.

Als der letzte

Pfiff

von Haus zu Haus

gellte,

vergruben sie Ihres

rasch,

aber sicher.

Wenn ich komm,

wenn ich komm,

wenn ich wieder wieder komm ...

Die alten Kinder

dieser Stadt

stolpern über die Steine

des Vergessens.

Sie klimmen Stufen hinauf,

Stufen hinunter,

steigen Treppen,

die es nicht mehr gibt.

Und wo auch

sie anklopfen,

ruft’s:

Ich bin all hier!

Wer hat auf meinem

Stühlchen gesessen,

von

meinem Löffellein geschleckt?

Die alten Kinder

führen einander

sorgsam

über ihre sieben Berge

zu Toren, Türmen,

Schlössern,

die im Monde liegen

oder im Meer. -

Lautlos

weinen welche,

andere fluchen

ohne Worte.

Wenige aber vermögen

die sieben Brücken

über den Pregel

in einen Spiegel

zu bannen.

Sind sie

die Hansel im Glück?

Wir alten Kinder

aus Königsberg,

Jungen - Mädchen,

Mädchen - Jungen,

wie Murmeln

aus verlässlicher Hand

über

die Erde gekullert...

Wer gibt uns

die Puppen,

die Jahre,

die Träume

zurück?

Bruder NAMENLOS

Es ist eine dieser endlos währenden, ungeschlafenen Nächte, als mich aus dem Dickicht meiner Grübeleien jener Satz aufstört:

...so wurde mir 1948 die FDJ mein Leben und 1954 die Partei Vater und Mutter...

Ich hatte ihn vor etwa einem Jahr im Brief eines mir bisher fremden Mannes gelesen, der mit mir im gleichen Jahr, in der gleichen Stadt geboren worden war, aber nach ihrem Untergang drei Jahre länger als ich darin leben musste.

Hatte ich diese Formulierung für mich auch als überzogen abgetan, so schien sie mir für ihn, nachdem ich aus seinen Briefen wenigstens eine Ahnung von seiner Jugend erhalten hatte, irgendwie verständlich.

Was aber machte so einer jetzt, wo es mich doch schon, lax gesagt, fast aus den Pantinen kippen ließ? Für ihn mochte ja vielleicht nicht einmal eine bestimmte Phase der letzten Wochen des Jahres ’89 als fröhliche Revolution gelten? Oder vielleicht gerade?

... Was fühlt einer, der nun feststellen muss, dass die Eltern, die er sich selbst erwählte, Betrüger, wenn nicht gar Verbrecher waren?

Oder haben sie dich an ihrem guten Leben teilhaben lassen?

Hast du eine Villa mit Swimmingpool, ein dickes Bankkonto?

Gab dir die Partei Ämter, Macht?

Bist du für deine Treue belohnt worden?

Zugegeben, es war ein provozierender Brief, zu dem ich mich im Morgengrauen entschloss.

Rückblickend erscheint es mir so, als habe ich mehr mit mir ins Gericht gehen müssen als mit meinem armen Landsmann. Denn wenn ich in jenem Brief bat, ihn besuchen zu dürfen, um zu erfahren, wie er die politische Umwälzung aufzuarbeiten vermochte, erhoffte ich mir doch wohl vor allem Antworten auf eigene Ratlosigkeit.

Wie hätte aber dieser einfache, geradlinige und verwundbare Mensch meine psychologische Spitzfindigkeit durchschauen können?

Er stellte sich. Die kurzfristige Rückantwort sowie die Länge seines Briefes ließen erkennen: Da war einer krank wie ich!

Er schrieb: Wir sind noch sehr darnieder durch die große Enttäuschung '89. Ich verkrafte sie schwer, da ich mit solch massiver Korruption nicht gerechnet habe. Unsere Sensibilität ist dafür eine Ursache. Mein Zustand hat sich dadurch negativ entwickelt, nicht zuletzt der meiner Frau.

... Aus unserer Kindheit bis 1948 können wir viel erzählen, danach wird es dünn. Die Jugendfreunde der FDJ von 48-54 sind alle arme Teufel geblieben. Ich kenne keinen, welcher hochgeklettert ist. Die Genossen von 54 sind auch meistens Arbeiter geblieben, ohne Reichtum und Orden. Wir können uns heute noch ehrlich in die Augen sehen. Viele, wie auch ich, sind jetzt parteilos vor Enttäuschung. Sie schämen sich für den Reinfall. Sie waren alle für Frieden und Menschenrechte. Ab 1972 kam darin eine andere Sorte Mensch rein mit Holzhammer und beginnender Korruption. Sie machten ihre Gehälter groß und schoben sich Posten zu. Sie traten mit 40Jahren ein, um einen hohen Posten im Betrieb zu erhalten. Der Kampf um den Sessel begann. Sogar ein alter Jungstammführer, solche, welche uns für den Krieg reif machten, schaffte es auf den Sessel des Ersten Kreissekretärs. Als es zu heiß wurde, hat man ihn in einem anderen Kreis auf den gleichen Stuhl gesetzt, wo keiner ihn kannte. Es sind so Gedanken, welche ich aber nicht veröffentlicht sehen möchte. Es erfuhr wenig Interesse, Kritik nach oben anzubringen. Die Kritik von unten blieb da schon hängen. So eine Sippschaft habe ich schon einmal, 1945 in Königsberg, auffliegen sehen. Die soffen nur noch in ihren Weinkellern auf dem Tragheim. Wir Kinder sollten den Feind aufhalten. Mit dreizehn Jahren! Sie waren ja auch Postenjäger, und wer dagegen was sagte, kam an die Front. Das auf die Partei als Mutter bezog sich nur auf die Jahre 1954-60. Es waren ehrliche Arbeiter in der Leitung - bei einem Lohn von 300 bis 500 Mark. (Wieso reduziert er hier auf Mutter? Ich vergleiche mit dem ersten Brief. Wirklich, es steht dort: So wurde mir die Partei Mutter! Warum? Ich werde ins Grübeln kommen, wenn ich später von seinem gespaltenen Verhältnis zur leiblichen Mutter erfahre. Andererseits hatte er sie zu früh verloren, um nicht einen Ersatz zu ersehnen ...) Das >Gesetz<, das 1972 den Mund verbot, war für mich unverständlich und unnötig. Es hemmte jede Entwicklung von Kritik und Selbstkritik, dem Grundstein der Entwicklung - führte zu Scheinversammlungen und Befehlsempfang. Es durfte nicht von Schlaglöchern und Schlangen vor den Läden gesprochen werden, obwohl sie objektiv vorhanden waren. Die Ersatzteilfrage wurde erstickt. Nur Zustimmungsschreiben gingen durch für jede kleine Selbstverständlichkeit.

Ich war für die Kinder da, Tag und Nacht, um sie zu behüten. Wir sorgten für Freude und Frohsinn in Schule und Ferienlager. Im Schulhort war es nicht anders.

Es war ein Stück Kindheit, das ich nachholen wollte und es auch tat. Um die große Politik sich zu kümmern, hatte man gar keine Zeit. Die Kinder erforderten meine ganze Kraft. Ich weiß nicht, ob du daraus was machen kannst, ich habe da keinen Überblick.

Aber - mit meinem Namen möchte ich nicht an die Öffentlichkeit!

... Meine Frau hat ihre Flucht von der Memel bis Tilsit angetreten. Auch ihre Geschichte ist traurig und aufregend. Sie hat Weberin gelernt und ist heute Sachbearbeiterin. Sie steht, wie auch unser Sohn, wegen Pleite des Betriebes vor der Arbeitslosigkeit.

Wir hatten nur eine alte Laube aus Kistenbrettern, 1950 gebaut. Unsere AWG-Wohnung bauten wir 1958 mit Kachelöfen und Kaltwasser. So leben wir noch heute. Die Möbel sind die billigsten. Ohne Erbschaft reichte das Geld nur von der Hand in den Mund.

Nun werden wir ein zweites Mal beschissen. Die Zukunft ist ja nur noch der Friedhof. Auf was sollten wir uns noch freuen? Es sind nur noch Tage, welche mir zum Leben bleiben (hundert? tausend?). Dieselben werden von Armut und Betteln gezeichnet sein. Ich sehe für unsere Generation keine Zukunft mehr.

Wir sind schwach und verbraucht. Wir waren immer nur die Zaungäste des Lebens ...

Ich sitze im Zug zu meinem namenlosen Landsmann. Daran wird er mich später noch einmal mahnen. Er will unbedingt unbekannt - ungenannt - bleiben. Ängste? Wer weiß, wie viele und wie geartet?

Seine Briefe sichert er mit einem grauen Deckblatt ab, ehe er sie in den Umschlag steckt.

Grübeln. Haben solche Ängste nicht ihre Ursache in den Kindheitserlebnissen in unserer ehemaligen Heimatstadt Königsberg?

Haben vielleicht sie uns dazu prädestiniert, Unterschlupf in einer Gesellschaft zu suchen, die uns - mit Heine - verhieß, schon das »Himmelreich auf Erden« errichten zu wollen?

Landsmann NAMENLOS scheint mir ein Beispiel dafür.

Und ich - nicht auch ich?

Am 15. 4. 1989 erreichte mich, vermittelt durch eine gemeinsame Kaliningrader Freundin Julia, sein erster Brief:

Liebe E.! Bitte entschuldige, wenn ich Dich so anspreche, aber wir sind ja Jahrgang 1931, und ich halte es für überflüssig, ein »SIE« zu verwenden. Ich bin ein Königsberger Bowke vom Sackheim, genauer: Sackheimer Mittelstraße 13. Es war bis Ende August mein Zuhause, bis alles verbrannte. Was dann kam, war nur ein Herumziehen und Betteln ...

Herumziehen und Betteln?

Es dauerte für ihn bis zum November 1947.

Dann konnte er mit einem Waisenhaustransport unsere Heimatstadt, die seit einem Jahr Kaliningrad hieß, verlassen.

Was dazwischen lag, war -Hölle auf Erden.

...Es gibt Hunderte von Erlebnissen, die an einem haften geblieben sind, schrieb er.

... die Hilferufe der Frauen höre ich heute noch. Sie waren doch unschuldig, denn die Schuldigen sind mit ihren Familien mit dem Flugzeug getürmt. Es wirkte sich alles auf das arme Volk aus, all der Hass ...

... An einer der vielen Kommandanturen standen täglich 100 bis 200 Menschen nach einer Arbeit an. Für 100 Gramm Brot und 150 Gramm Pferderwurst wurden einem Beschäftigungen, wie Feldarbeiten, Minensuchen, Aufräumarbeiten, Dachreparaturen, Panzer putzen oder Leichen vergraben, vermittelt.

Wir waren vier Jungen von dreizehn Jahren und wurden ins Fort 5 gefahren. Wir musste tote Teile von deutschen Soldaten, Beine, Körper usw., mit den Händen raustragen. Sie waren bei Temperaturen im Juli/August schon ohne Haut, nur stinkendes Fleisch. Die Hundemarken lagen daneben. Keiner hat sie aufgehoben. Die Männer sind heute noch vermisst. Die MP und das »daiwei! dawei« im Rücken. Diese Bilder wollen nicht aus dem Gedächtnis. Sie haften wie Pech und Schwefel ...

Mit einem geheimen Grausen hatte ich vor Jahren die kargen Berichte meiner Tante angehört, die - wie NAMENLOS - nach 1945 noch drei Jahre in der Stadt vegetierte. Bestimmt wäre ich daran gestorben, wie die hunderttausend anderen Menschen auch, hatte ich gedacht.

Wie lebt man damit? denke ich heute.

Ein bisschen überfalle ich NAMENLOS, seine Antwort auf die Ankündigung meines Kommens enthielt eine etwas vage Zustimmung zu meiner Absicht, seine Geschichte womöglich aufzuschreiben. Von bestimmten Tagen, an denen in seiner Wohngegend die Restaurants geschlossen seien, war die Rede und dass man eigentlich zu Verwandten nach Westdeutschland reisen wolle.

Da hatte ich einfach ein Telegramm geschickt.

Außer mir verließen noch drei Personen den Zug. Sie verloren sich in den an den Bahnhof angrenzenden Wiesen.

Und ich stand da. Waldstraße? Der Bahnbeamte, wahrscheinlich Vorsteher und Gepäckaufbewahrer in einem, sprach von etwa fünf Kilometern, das läge im Neubaugebiet außerhalb der Stadt. Taxi? Da habe doch eins bis eben gewartet, sei dann wieder weg. Aber: Rufen Sie doch an!

Es gab wirklich ein Telefon in dieser Minihalle eines Bahnhofs, und die Vermietung versprach, ihr Taxi in den nächsten zwanzig Minuten zu schicken.

Gegen 10 Uhr 30 hält das Taxi vor dem entsprechenden AWG-Block. Als ich die Autotüre zuschlage, sehe ich im obersten Stockwerk des Hauses einen großen Männerkopf sich durch ein Bodenfenster zwängen.

Ich weiß nicht, warum es mir scheint, als habe der Mann heimlich nach mir Ausschau halten wollen.

Erinnerung an Kindheit und Flucht. So äugten wir damals aus Kellern oder Dachluken, um als erster den heranrückenden Feind anzukündigen. Und obwohl ich spüre, dass der Kopf mir weismachen will: ich bin gar nicht da! spreche ich ihn an: Sind Sie?

Hier nun entscheide ich mich, einen Ersatznamen für NAMENLOS zu benutzen: Rudolf - er beginnt, wie sein wirklicher Name endet und hat wie dieser zwei Silben.

Rudolf öffnet die Wohnungstür. Ich erschrecke vor der erkennbaren Verunsicherung, die ihm mein Besuch zu bereiten scheint.

Er ist groß, mehr als einsachtzig, hat einen länglichen Kopf, das Gesicht wirkt krank, die Wangen sind aufgeschwemmt, was die tief liegenden Augen klein erscheinen lässt. Sein Händedruck ist kraftlos. Als ich die auch etwas aufgequollenen Hände im Zimmer in Aktion erlebe, bemerke ich, wie sie zittern.

Nachdem wir einander einige Stunden kennen, gesteht er ein: Er habe furchtbare Angst vor mir gehabt. Seine Frau hat sich sogar einen Tag freinehmen müssen, um daheim zu sein, wenn ich komme.

Das Zimmer, in das mich Rudolf führt, unterscheidet sich wenig von den meisten Zimmern in den meisten Wohnungen in diesem Teil Deutschlands. Schrankwand, Couch, Tisch, Sessel, Essplatz vor dem Fenster - Standards, mit denen die meisten von uns ihre Sehnsüchte nach Einmaligkeit und ästhetischen Freiräumen begrenzen mussten. Von billigen Möbeln hatte Rudolf geschrieben.

Erst die Enthüllungen über die gepolsterteren Lebensbedingungen unserer OBERSCHICHTEN haben Rudolf wohl an seiner bisherigen Genügsamkeit zweifeln lassen.

Dennoch weisen ausgewählte Pflanzen in einem selbst gebauten Blumenständer, Bilder, Leuchter, Vasen, Sächelchen in den Regalen, die ich so rasch im Detail nicht zu erfassen vermag, auf ein liebevolles Bedürfnis nach Individualität auch in dieser Familie hin. Sicher hatte Rudolfs Frau dafür gesorgt. Sie hatte sich nach der Begrüßung so rasch zurückgezogen, dass ich, hätte ich sie beschreiben sollen, außer einem: Sie war mir auf Anhieb sympathisch, vom Typ her sogar vertrauter als mein »Landsmann«, nichts zu sagen gewusst hätte. Rudolf nahm jetzt Packen von Büchern und Papieren aus der Schrankwand und breitete sie vor sich auf dem runden Tisch aus.

Als ich wusste, du kämst, habe ich Tag und Nacht gegrübelt, was ich dir alles zu erzählen habe.

Wieder dieses DU, das mich - zugegeben - zuerst etwas irritierte. Nun hab dich man nicht so, stutze ich mich zurecht: Er ist ein Sackheimer Bowke - oder willst du plötzlich die Tochter aus GUTEMHAUS spielen? ... Sieh mal, das male ich im Winter aus dem Gedächtnis. Ich hab ja keine Bücher oder Bilder von Zuhause. Rudolf legt mir Blätter im DIN-A-5-Format vor, auf denen, stark vereinfacht, gezeichnete Motive unserer Stadt zu erkennen sind.

Obwohl er behauptet, keine Vorbilder benutzt zu haben, schienen doch die gängigen Ansichten von Postkarten in seinem Kopf gespeichert. Da sind die Universität, der Kaiser-Wilhelm-Platz, der Schlossteich, das Kant-Grab, der Dom.

Es war nichts gestrichelt oder improvisiert, mit geraden Bleistiftlinien, die vielleicht beim Zeichenvermögen seines dreizehnten Lebensjahres stehen geblieben waren, hatte Rudolf sich Heimat herangeholt.

Ich hab ja nie im Leben gezeichnet. Hier, er wies auf einen zweirädrigen Karren, den er links auf den Münzplatz neben das Schloss gemalt hatte, auf solche Karren haben sie damals die Leichen geladen. Auch meine Mutter wurde mit sechs anderen darauf geworfen und irgendwo in einer Grube verscharrt. Du, nein, ich weiß nicht, wohin sie sie gebracht haben. Irgendwo auf den Hufen vielleicht.

Er schiebt mir aus seinem Erinnerungspacken ein Buch zu: Evangelisches Feldgesangsbuch, lese ich. Im Impressum: Verlag E. Smitter & Sohn, Berlin SW 68.

Solche Bücher haben wir aus einem etwa einen Meter hohen Berg an Drucksachen herausgesucht. Wir haben sie bei den Kranken in der Barmherzigkeit gegen ein Stück Brot eingetauscht. Die guckten doch den ganzen Tag an die Decke, sie hatten sonst nichts. Besonders beliebt waren russische Wörterbücher für Soldaten, damit die sich in Russland zurechtfanden. Hände hoch, oder: Wohin geht der Weg nach Moskau ...so etwas stand da neben dem russischen Alphabet. Hier - ein Kalender von 1947. Ja, das sind meine Beweise von Zuhause.

Ich verstehe sehr genau, dass es für Rudolf Schätze sind, wertvoller als Familiensilber oder die Zinnsammlung eines begüterten Großvaters. Und ich beneide ihn fast, besitze ich doch selbst nur noch eine vergilbte Decke, die meine Mutter stickte.

Nachdem sie mir in der >Barmherzigkeit < ’46 das Leben retteten, war ich 1946/47 dort in der Schule bei den evangelischen Schwestern. Damit wir deutschen Kinder unsere Sprache nicht vergessen, mussten wir Sätze in Druckschrift aufschreiben.

Er zeigt mir eine Heftseite. DER HERR IST UNSER RICHTER, DER HERR IST UNSER MEISTER, ich schaffe es nicht, mehr zu notieren, womit diesen armen Kindern die Vielseitigkeit Gottes in seinem Herrschaftsbereich vermittelt wurde.

Später überlege ich, dass diese im Glauben beschäftigten Frauen für sich und die elternlosen Kinder einen Trost darin suchten, im HERRN einen zu benennen, der die Ungeheuerlichkeiten, mit und in denen sie leben mussten, sah und richtete

Ein Auge ist, das alles sieht, auch was in dunkler Nacht geschieht ...

lernte ich als kleines Mädchen in meiner katholischen Propstei-Kirche. Die stand nicht weit vom Krankenhaus der »Barmherzigkeit« entfernt.

Nun reicht mir Rudolf ein Stück Papier, das mich auf seltsame Weise erregt. Ein einmaliges Dokument, wenn ich nur versuche, die tödlichen Tage jener Zeit in unserer Stadt zu erahnen. Auf einem offensichtlichen Krankenblatt, die bedruckte Seite enthält einen Bericht über die Obduktion eines Leichenfundes aus dem Oberteich (das muss noch aus dem heilen Königsberg stammen), hat Rudolf auf die andere leere Seite unter Anleitung der Schwestern ein Gedicht geschrieben. Als Rudolf sich nach dem Mittagessen für eine halbe Stunde ausruht, finde ich Zeit, es abzuschreiben:

26. 3. 47

Vaterland

Ich hatte einst ein schönes Vaterland da liegt mein Saitenspiel ich habs zerschlagen. Wenn sie mich draußen nach der Heimat fragen, ich winke müde mit der Hand und sage abgewandt: Ich hatte einst ein schönes Vaterland.

Wer wollte noch mit Stolz von Deutschland sprechen, der Gram will mir das Herz, die Adern brechen, ich lehn’ den Kopf an fremde Wand, Fass meines Kindes Hand, wir hatten einst ...

Und dennoch lieb ich dich mein teures Vaterland! Wach auf mein Kind für Deutschland sollst du leben, um die zertretne Heimat aufzuheben. Deutsch sind wir beide, Sohn, frei sei es bekannt, trotz Schmach und Schand. Wir haben doch ein schönes Vaterland.

Erst auf der Heimfahrt beim Durchsehen meiner Notizen finde ich Zeit, mich über dieses seltsame Gedicht zu wundern. Rudolf wusste von keinem Verfasser, und auch ich erinnerte mich nicht, es irgendwo gelesen zu haben. War es den Schwestern zufällig untergekommen, hatten sie es bewusst auswählen können? War womöglich unter ihnen oder den Patienten ein Dichter gewesen? Mein germanistisches Empfinden würde einen Verfasser in der Nachkriegszeit des I. Weltkrieges suchen. Aber traf sein Inhalt nicht ebenso für die Zeit des II. Weltkrieges und danach zu?

Egal - wichtig nur, wie es auf die heruntergekommenen, halb verhungerten Kinder gewirkt haben mag.

Rudolf jedenfalls hatte es über alle, für normal Lebende kaum nachzuvollziehenden Schwierigkeiten in dieser Stadt, die inzwischen sein Vaterland nicht mehr zu sein hatte (1946 wurde Königsberg in Kaliningrad umbenannt), hinweggerettet. 1947 kam er dann mit jenem Waisenhaustransport im »schönen« Vaterland - zwar ohne Schuhe, aber mit diesen Versen an.

Vaterland also - aber welches? Das östliche, in das uns der Zufall nach dem Krieg verschlug, dem wir uns gläubig anvertrauten, weil es uns - nun eben - das Himmelreich auf Erden verhieß? Oder das, von dem man uns ein feindliches Bild zeichnete, in dem wir nun mehr oder weniger freundlich aufgehoben sind?

Ich weiß, solche Überlegungen gehen über die Geschichte Rudolfs hinaus, entspringen meinen Grübeleien. Aber tun sie es wirklich, wenn ich mich an Rudolfs anfangs zitierten Brief erinnere? Und ich erwähnte ja schon, dass ein Finden Rudolfs auch ein Suchen nach mir ist.

Auf einer alten Fotografie, sie steht auf der Blumenbank, sind eine Frau und ein kleiner Junge zu sehen.

Mutter und ich, erklärt Rudolf, das muss 1937 gewesen sein. Ich hab’s von Verwandten. Oder war’s 36, da lebte Vater noch? Meine ersten bewussten Erlebnisse sind die, dass wir jeden Sonnabend und Sonntag bei Vater im Krankenhaus in der Drummstraße verbrachten. Er hatte Krebs. Es ist so, als habe es in jener Zeit für mich nur Krankenzimmer gegeben. Von dem, was ich gern spielte, weiß ich nichts. Nur die weißen Eisenbetten weiß ich, in denen lauter Männer lagen, sechs oder acht, ich konnte ja damals noch nicht zählen. Es roch so komisch, ich war nicht gern dort. Und immer wurde mir gesagt: sei still, hample nicht herum. Mama brachte dem Vater Fleisch und Pudding vom Mittag. Er bekam auch die großen Kuchenstücke. Manchmal winkte er mich an sein Bett und steckte mir was in den Mund, auch wenn Mama schimpfte. - Ach, die schimpfte überhaupt immerzu, haute auch ganz schnell ...

Fangen wir also mit dem Jahr 1936 an, die Geschichte Rudolf Mietlewskis (Nachname natürlich auch fingiert) aus der Stadt Königsberg zu erzählen.

Fünf Jahre ist er da, wie auch ich es war. Ich bin nur fünf Monate früher geboren. Vielleicht haben unsere Mütter im gleichen Krankenhaus gelegen, in der Langen Reihe? Zu schaffen hatten beide Frauen wohl kaum etwas miteinander. Wir haben im östlichen Teil Deutschlands gelernt, es Klassenunterschiede zu nennen ...

Als sich Renate Mietlewski 1931 noch einmal schwanger fühlte, war sie zweiunddreißig. Heinz, ihr Erstgeborener, war zehn, gerade aus dem Gröbsten heraus. Und nun sollte alles noch einmal von vorn beginnen? Edgar, ihr Mann, vierunddreißig, hatte nach einer Durststrecke von zwei Jahren und fünf Monaten gerade wieder eine Arbeit bekommen, als Schlosser auf dem Flugplatz Devau. Vorübergehend, hatte man gesagt. Zu so einer Zeit also ein Kind?

Aber es würde ja vielleicht ein Mädchen werden, Mädchen ließen sich billiger hübsch anziehen und waren im Alter eine Stütze.

Als die Schwester ihr das Baby, männlichen Geschlechts, in den Arm legte, weinte Renate Mietlewski. Es war keine glückliche Erschütterung. Als sich Heinzi daheim in der Sackheimer Mittelstraße etwas verstört über den plötzlich hinzugekommenen Bruder beugte, zog die Mutter ihren nun Ältesten an sich, sagte tröstend, was Rudolfs ganzes Leben überschatten würde: Bleibst doch mein bestes Lorbasschen ...

Die Wohnung besteht aus zwei Zimmern, einer Kammer, die als Zimmer für Heinz eingerichtet wird, das Vorderzimmer bleibt tabu, muss vermietet werden, das Bett des Schreihals’ wird erst einmal in der Küche untergebracht.

Vater Mietlewski arbeitet inzwischen als Heizer, steigt zum Lokführer auf. Er tritt der Flügelradgewerkschaft der Eisenbahner bei, nicht aber der Partei, die sich rühmt, die Arbeitslosigkeit beseitigt zu haben, was ja für ihn zutrifft, und Deutschland zum Erwachen zu bringen. Er ist sozialdemokratisch eingestellt und religiös. Man besucht in der Sackheimer Kirche früh den sonntäglichen Gottesdienst, damit Vater Mietlewski anschließend noch Zeit hat, für die Volksfürsorge zu kassieren. Ein zusätzlicher Verdienst, die Familie hat also ihr Auskommen.

Heinz wird in der Yorkstraße in der Sackheimer Mittelschule angemeldet. Als er 1935 konfirmiert wird, richtet der Vater das Zimmer für 20 Gäste her. Daran kann ich mich nur nach Erzählungen erinnern. Aber das größte und eindrucksvollste Fest meines Lebens war Vaters Beerdigung, sagt der jetzt Neunundfünfzigjährige. Das vergesse ich nie: Vater hatte selbst eine hohe Versicherung abgeschlossen, und so organisierte mein Onkel etwas ganz Besonderes: Drei Taxen fuhren uns und Hunderte von Eisenbahnern folgten dem Sarg. Wir hatten eine Grabstätte für zwei Personen gekauft. Für den Grabstein reichte dann allerdings das Geld nicht mehr. Wir stellten so’n bissel Bank auf ... Jedenfalls hatten die Träger schwarze Mäntel und Stiefel an. Als sie das Grab zuschaufelten, zogen sie die Mäntel aus, so seh ich sie bis heute. Wie viele Gäste sich dann in der Kneipe einfanden, weiß ich nicht, nur, dass wir viele waren. Immer war ich stolz darauf gewesen, dass wir so ein Fest feiern konnten!

Mutter hätte wohl lieber von dem Geld was übrig behalten. >Onkel ist ein richtiger Lebemann<, lamentierte sie. Meine Mutter verstand sich mehr mit der Tante, beide waren sehr kirchlich. Mein ganzes voriges Leben ging durch die Kirche. Erst hier, nach 1947, musste ich aus der Kirche austreten. Meine Verwandten sagten: Für Kirchensteuer ist kein Geld übrig!

Nach dem Tod des Vaters übernimmt Frau Mietlewski die Kassierung für die Volksfürsorge. Jeden Nachmittag ist sie von 16 bis 19 Uhr unterwegs. Wenn Rudi sie nicht begleitet, wartet er in der Küche am Fenster und spielt mit dem Schlittschuhnuddler Straßenbahn. Denn unbedingt würde er Straßenbahnfahrer werden - wie der Onkel, der ihn oft auf seiner Tour ohne Geld mitfahren ließ.

1938 in der Schenkendorfschule eingeschult, erlebt er eine kurze, glückliche Zeit mit einem Lehrer, der ... wie ein Vater... war.

Er fuhr mit uns Kindern an die See, nahm auch die Mütter mit. Da musste auch meine Mama nett zu mir sein. Das war sie nämlich meist nicht. Sie hatte so eine Art, mir Dresche anzudrohen, indem sie den ganzen Weg kein Wort mit mir redete. Ich erinnere mich noch, wie wir auf der Weißgerberbrücke über den Schlossteich gingen, und ich bettelte: >Bitte, Mama, hau mich doch nicht, ich werd ’ auch ganz artig sein.< Ich küsste ihr sogar die Hand. Es half nichts, kaum schloss sich die Wohnungstür, bezog ich die obligatorische Kloppe. Sie liebte wohl bloß meinen Bruder.

Der wurde 1939 eingezogen, geriet in englische Gefangenschaft und blieb nach dem Krieg in England. Im gleichen Jahr kam Rudi an die Bülowschule, die Lehrer unterrichteten in Uniform, und als sie eingezogen wurden, kam, so erinnert er sich, eine Lehrerin, die in einem schwarzen Kleid unterrichtete, dessen einziger Schmuck das Parteiabzeichen war. Als die Schule als Lazarett gebraucht wird, geht’s im Schichtunterricht an die Schenkendorfschule zurück.

Überhaupt bewegt sich das Leben dieses Jungen, wie das der meisten anderen Kinder dieser Stadt, zwischen den unreflektierten Widersprüchen ihrer damaligen Historie. Vom Dach seines Hauses sieht Rudolf die Synagoge brennen, hört davon, wie man die jüdischen Waisenkinder barfuß, im bloßen Hemd durch die Straßen trieb.

Seine Mutter ist nicht in der Partei, aber der FENSTERTEPPICH (ich lasse mich aufklären, dass es sich dabei um die Hakenkreuzfahne handelt) wird bei Feiern und Siegesmeldungen herausgehängt. Als alleinstehende Frau ... Oft hält die Grüne Minna in seiner Straße, Arbeiter werden eingeladen, es wird geflüstert, das seien diese berüchtigten Kommunisten, und einige Jungen verweigern sich der Hitlerjugend. Versuchen es zumindest.

Rudolf kommt 1942 zum JUNGVOLK - es ist ihm wahrhaftig im Kopf geblieben: FÄHNLEIN 17, JUNGSTAMM 2. Aber da kann er von zu Hause weg, und die Mutter muss schweigen. Sie haben Dienst hinter der KDF-Halle, biwakieren in Rundzelten, und es macht ihm Spaß. Zuerst jedenfalls. Sogar die militanter werdenden Spiele wie Späher oder Melder sind nach seinem Geschmack. Bis - ja, bis darauf im Kampf um Königsberg ein Dreizehnjähriger »Soldat« zu werden hat.

Zweimal besucht er mit der Mutter Veranstaltungen in der KDF-Halle; eine hieß: Das ist die Berliner Luft! und dann fahren sie auch mit einem KRAFTDURCHFREUDESCHIFF nach Kahlberg, eine Kapelle spielt. Mutter Mietlewski hat sich schick gemacht, sie achtet nicht so auf Rudi - der Mieter des Vorderzimmers ist auch mit. Den mag der Junge, hat er ihm doch einen herrlichen Kaufmannsladen aus Streichholzschachteln gebaut. Er arbeitet in einem Zigarettenladen. Als er später eingezogen wird, zieht ein Polizist in das Zimmer, mit dem ist die Mutter besonders befreundet.

Überhaupt beginnt der Krieg, die mütterliche Strenge aufzuweichen, und es werden einfache, normale Vergnügungen für den Jungen möglich. Er angelt mit Freunden am Kupferteich, hockt mit vier anderen in einem Kajütenboot am Pregel. Ihrem Piratenschiff. Oder - sie knüpfen von langsam dahingleitenden Flussschiffen den Rettungskahn ab und karjohlen damit tagelang auf dem heimatlichen FLÜSSCHEN.

Ein Tennisball verhilft manchmal zwanzig Kindern zu einem Fußballmatch. Aber es gibt auch Straßenschlachten, wo sie mit Latten aufeinander losprügeln, eine Straße gegen die andere.

Im Winter wird in den Glacis gerodelt und der Weihnachtsmarkt auf dem Paradeplatz unsicher gemacht. Im Sommer ist Rudis Lieblingsplatz auf der Treppe eines Bäckerladens. Da sieht er auch die Gefangenen, die ein P oder U auf dem Rücken haben und die darauf warten, dass ihnen einer ein Brötchen schenkt.

Die Großmutter hat einen Gemüsekeller in der Manteufelstraße, so finden Verwandtenbesuche mal auf dem Tragheim, mal auf dem Sackheim statt. Einmal hat die Mutter aus diesem Anlass Rudolf Hose und Weste aus Vaters altem Anzug nähen lassen. Es bleibt einer der wenigen Pluspunkte für die Mutter in der Erinnerung des fast Sechzigjährigen ...

Die Angriffe im August 1944 erlebt Rudolf als HJ-Melder beim Volkssturm zwischen Tragheimer Kirchenstraße, Steindamm, Paradeplatz. Als er in der Wrangelstraße von drei Kettenhunden angehalten wird, ruft er: Goldfisch. Und die antworten: Wasser. Hätte ich die Losung nicht gewusst, wär ich bestimmt abgeknallt worden ... , sagt er.

Gegen Morgen heimkommend, findet er die Sackheimer Mittelstraße 13 nur noch als rauchenden Trümmerhaufen. Mutter und Sohn ziehen zu den Großeltern in die Tragheimer Pulverstraße.

Im Herbst 44, als die Russen Ostpreußen Stück um Stück erobern, bauen beide an einer Panzersperre in der Wrangelstraße, Ecke Tragheimer Kirchenstraße mit.

Als er dieses Detail erzählt, überlege ich, ob dieser Umstand nicht womöglich die Ursache dafür war, dass mein Haus in der Tragheimer Kirchenstraße 17, das die Terrorangriffe doch verschont ließen, für mich heute unauffindbar ist?

Immer ernsthafter hat Rudolf nachts durch die Straßen zu traben, dabei erlebt er einigemale die Adressaten seiner Meldung grölend und saufend in der Ortsgruppe am Paradeplatz.

Einmal - und der Mann gerät in Erregung, als sei es gestern gewesen - trifft das magere Bengelchen im Rundfunkhaus auf einen dicken Gelben, der ihn zusammenbrüllt, weil er nicht zackig genug grüßte.

Bekannte Klischees, könnte man sagen, aber dem Einzelnen passiert, hinterlassen sie Schwären, die in ähnlichen Situationen wieder aufbrechen ...

Im Schauspielhaus wird täglich mehrmals der Film »Kolberg« als Pflichtveranstaltung gezeigt. So werden schon die Pimpfe auf die Verteidigung der Heimatstadt eingestimmt, und auf dem Nordbahnhof hängen und liegen zur Abschreckung erschossene deutsche Soldaten. »Verräter«.

Am 29. Januar 1945 versuchen Rudi und die Familie, nach Pillau durchzukommen. Schneesturm, Kälte, der zunehmende Beschuss der Stadt - am 29.1. brechen die Russen bis Metgethen durch - machen die Flucht für sie unmöglich. Dann können wir auch in Königsberg sterben, befindet der Großvater. Was sie dann auch alle, bis auf Rudi, tun werden ...

In den letzten Tagen vor der Kapitulation hatte die Mutter ihren Polizistenfreund überredet, sie alle beim Einmarsch der Russen zu erschießen.

Der wurde gottseidank kurz zuvor abkommandiert, erzählt Rudolf. Das kann ich meiner Mutter nie verzeihen. — Sie wird von Metgethen erfahren haben, sage ich. Er: Aber doch nicht uns alle ...

Als die Russen am 9. April in den Keller kommen, legen die Frauen als ersten Tribut ihren Schmuck ab.

Einige Polen, auch im Keller, verhandeln mit den Russen, vermögen sie anfangs mit ein paar Keksen zu beschwichtigen. Aber schon eine Stunde später werden alle Frauen abgeholt, auch Frau Mietlewski.

Die Großeltern und Rudolf bleiben noch kurze Zeit im Keller, werden dann mit anderen Menschen aus den umliegenden Häusern in Richtung Stresemannstraße getrieben.

Als der Großvater das Tempo nicht mithalten kann, trifft ihn ein Kolbenschlag ins Kreuz. Seitdem war Opa nicht mehr derselbe, erinnert sich Rudolf. Man hatte ihm wohl damit sein Rückgrat gebrochen ... Er war ein stolzer Mensch.

Aus einem vorbeifahrenden Jeep griff ein junger Offizier Rudis Koffer. In der Schleiermacherstraße, wo sie in einem Keller drei Stunden an der Wand stehen müssen, entdeckt ein Soldat Rudolfs Stiefel, er würgt ihn so lange, bis der sie von den Füßen hat. Auf den Schienen in Richtung Rauschen wird ihm der Rucksack vom Rücken abgeschnitten. So bleibt ihm nur der Beutel mit einem Glas Honig, einer Büchse Fleisch, in einer Bierflasche abgefüllter Schnaps. Aber auch das nicht lange ...

Nach einigen Kilometern Weg Richtung Samland muss Rudi eine Entscheidung treffen: Die Großeltern konnten nicht mehr. Ich zog zu den Jüngeren, rannte dem Treck hinterher.

An dieser Stelle meldet sich mein Gewissen. Wie konnte er die alten Leute alleinlassen? Natürlich schweige ich, ich will nur Chronist seiner Geschichte sein. Später fallen mir eigene Verformungen während der Flucht ein.

Die Jungen irren ungefähr zehn Tage im Samland umher, fallen nachts irgendwo in einem Heuschober oder Stall in erschöpften Schlaf. In einem Haus nächtigen sie unterm Dach, darunter wohnen Russen, die Schreie der Frauen ertragen sie, drei Jungen, die sich gefunden haben, verkrampft aneinander geklammert. Schließlich gelangen sie nach Korben, einen großen Gutshof. Sieben Tage ohne Verpflegung. Sie kratzen in der Tenne Erbsen aus den Ritzen, essen ungekochte Kohlrüben. Durchfall schwächt die ohnehin ausgemergelten Menschen. Verhöre. Bei Rudolf nicht so schlimm, was hat ein dreizehnjähriges Kind schon zu berichten.

Weiter geht die Kolonne Richtung Osten, alle fürchten, nach Sibirien. Dazwischen immer wieder die Sache mit den Frauen ...

An einem Tag, sie lagern auf einer Weide an einem Bach, sind die Posten plötzlich nicht mehr da. Die drei Bürschchen hauen ab, zurück nach Königsberg. Gierig wird nach Essbarem gestöbert. In einer Küche finden sie Haufen von Puddingpulvern, ihn zu kochen, verbietet die Furcht, die Russen könnten sie wieder verschleppen. Endlich, am Rande der Stadt, trauen sie sich, an eine Tür zu klopfen. Welches Wunder - Großmutter öffnet.

Eine Waschschüssel voll Pudding tröstet die Jungen über den notwendigen Abschied voneinander. Rudolf zieht mit den Großeltern in ein Zimmer in der Beydritter Straße. Es beginnt sein Arbeitsleben.

Täglich meldet er sich auf der Kommandantur, macht alle Arbeiten, die anfallen, für eine Scheibe Brot und einen Taler Pferdewurst. Im Brief hatte er aufgezählt: Minenräumarbeiten, Dachdeckertätigkeiten, Panzer säubern, Feldbestellung, Leichen begraben.

Schließlich erhält Rudolf im Sommer jenen für ein dreizehnjähriges Kind entsetzlichen Auftrag, der mich beim Lesen des Briefes schon schaudern ließ, die verwesten Leichenteile gefallener Soldaten im Fort 5 mit den Händen herauszuklauben, um sie wegen der Seuchengefahr tiefer einzugraben ...

Während eines Arbeitseinsatzes findet Rudolf seine Mutter wieder. Sie zieht zu ihnen. Nie spricht sie über ihre Erlebnisse. Wer will die auch wissen ...