Wer nicht stirbt zur rechten Zeit - Jan Eik - E-Book

Wer nicht stirbt zur rechten Zeit E-Book

Jan Eik

4,8

Beschreibung

Auf einem kleinen Podest, unter einem seiner überdimensionalen Gemälde, liegt die Leiche des Malers Seibold. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er »gesoffen hat wie ein Loch«. Starb er an den Folgen seiner Alkoholsucht? Oder hat jemand nachgeholfen? Vogelsang, ein berühmter Berufskollege, hasste ihn. Seine schöne Lebensgefährtin Lola, die bei ihm nicht gerade den Himmel auf Erden hatte, verfügt nun über sein Bankguthaben. Kommissar Timm hat allen Grund, misstrauisch zu sein. LESEPROBE: Im Fall Seibold war er keinen Schritt weitergekommen. Lola Belicke hatte auf eine Anzeige verzichtet, weil sie beim besten Willen nicht angeben konnte, was nach dem Einbruch fehlte. Gräfe hatte lediglich zwei schwache Abdrücke eines Turnschuhs etwa der Größe 36 gesichert. Also doch nur neugierige Kinder? Hätten die nicht mindestens Fingerabdrücke am Fenster hinterlassen? Timm hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Auf den endgültigen Obduktionsbericht musste er unter Umständen noch vierzehn Tage warten. Er fand nicht einmal Zeit, bei den Biologen nachzufragen. Nur auf den bloßen Verdacht hin, dass dem Inhalt einer Flasche Whisky Methylalkohol beigemengt gewesen sein konnte, ließ sich wenig unternehmen. Seibolds Todesanzeige fand er in der Sonnabend-Zeitung. Lola Belicke, deren Name ohne jede Ergänzung unter dem schlichten Text stand, musste über gute Beziehungen verfügen, dass die Annonce so schnell erschienen war. Am Mittwochnachmittag war schon die Trauerfeier im Krematorium Baumschulenweg. Auf der Kulturseite wurde Seibolds Tod nicht erwähnt. Timm las die Zeitung erst am Sonntagvormittag, als er vom Dienst heimgekehrt war und nicht wusste, wie er sich Heikes boshafter Vermutungen über seinen Dienstverlauf erwehren sollte. Sie war mit Steve zur Demonstration gegangen. Der erzählte munter davon. „Da hatte jemand eine Großmutter gemalt, mit ganz großen Zähnen und einem Kopftuch!“ „Großmutter, warum hast du so große Zähne.“ Heike bleckte ihre, die eher klein waren. „Gemeint war dein Freund Egon! Und auf der Rückseite Tapeten-Kutte mit einem Papierhelm.“ Timm hatte die Bilder im Fernsehen gesehen. „Du weißt genau, was ich von den beiden halte“, sagte er ärgerlich. Er war übermüdet, und er wagte noch immer nicht, Heike in die Augen zu blicken. Aus anderen Gründen allerdings, als sie vermutete. Seine Hoffnung, ihre Beziehung würde sich nach der gemeinsamen Nacht normalisieren, hatte sich nicht erfüllt.

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Impressum

Jan Eik

Wer nicht stirbt zur rechten Zeit

ISBN 978-3-95655-435-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1991 im Verlag Das Neue Berlin (DIE-Reihe).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Personen und Handlung sind erfunden, die Zeitumstände und die Zitate nicht.

1. Kapitel

Der Leichenwagen bahnte sich seinen Weg durch die menschenleere Allee und kam nicht von der Stelle. In dem schwarzen Metallbehältnis auf der Ladefläche klapperte es hohl. Der Motor dröhnte, und das Signalhorn jaulte ununterbrochen.

Ganz allmählich nur glitt Dietmar Timm in die Wirklichkeit des trüben Oktobermorgens. Direkt unter dem Fenster polterte das Mahlwerk des Müllfahrzeugs, ein Geräusch, gegen das der Wecker mit seinem schrillen Piepsen vergeblich ankämpfte. Ein Wunder, dass er den überhaupt eingeschaltet hatte. Schwerfällig richtete er sich auf. Sein Kopf schmerzte. Im Mund spürte er einen pelzigen Belag. Die Luft im Zimmer war grau wie Zigarettenrauch und schmeckte auch so. Vorsichtig schüttelte er die Schachtel auf dem Couchtisch. Sie war leer. Die Wodkaflasche daneben enthielt noch eine daumenbreite Neige.

Angeekelt zog Timm die Schulterblätter zusammen, gab sich einen Ruck und erhob sich. Er trug noch die Unterwäsche vom Vortag. Unsicher tappte er zum Fenster und riss es auf. Im Nu füllte ein Schwall von Dieselgestank den Raum. Das Müllauto schepperte unerträglich laut. Übelkeit überkam ihn. Er schloss das Fenster mit einem harten Knall.

Erst mal unter die kalte Dusche, dachte er. Wenn er sich nicht beeilte, war das Bad besetzt.

Er hatte kein Gefühl dafür, ob das Wasser zu heiß oder zu kalt auf ihn herabprasselte. Die Haut brannte, und er schloss die Augen, bis eine Stimme in sein Bewusstsein drang.

„Spritz bitte nicht alles voll!“

Er wandte seiner Frau den Rücken zu und antwortete nicht. Das eisige Wasser rann durch sein dichtes schwarzes Haar und kühlte schmerzhaft angenehm die Stirn.

Als er wieder ins Wohnzimmer trat, war sie dabei, das Bettzeug zusammenzulegen und in der Schlafcouch zu verstauen. „Guten Morgen“, sagte er so freundlich wie möglich.

„Räum deinen Schnaps weg“, antwortete sie rau und beugte sich weit vornüber. Ihr Nachthemd war sehr kurz.

„Heike ...“, sagte Dietmar Timm tonlos, aber sie reagierte nur mit einem unwilligen Laut. Für einen Moment war er versucht, sie anzufassen, sich an sie zu drängen, doch er beherrschte sich. Statt dessen griff er gehorsam nach Flasche und Glas, knüllte die Zigarettenschachtel zusammen und trottete in die Küche. Er goss den Wodkarest in den Ausguss und schob die Flasche hinter den Mülleimer. Wenn er jetzt auch noch zu saufen anfing, würde sie überhaupt nie wieder mit ihm schlafen.

Dabei hatte er den Wodka gekauft, um sich mit ihr auszusprechen und zu versöhnen. Wodka mit Kirschsaft, bei dem Getränk hatten sie sich kennengelernt. Sogar Kirschsaft hatte er aufgetrieben.

Und dann war sie während der Aktuellen Kamera durchs Zimmer in die Küche gefegt, nur mit einem Seitenblick auf den Bildschirm, auf dem der gerade gewählte Staatsratsvorsitzende die Zähne bleckte, und hatte durch die offenstehende Tür gerufen: Der muss auch noch weg! So schnell wie möglich!

Timm war nicht einmal zusammengezuckt. In den vergangenen Wochen hatte er sich von ihr noch ganz andere Sprüche anhören müssen. Außerdem mochte er den Mann auch nicht.

Man muss ihm wenigstens eine Chance geben, sagte er dennoch, so laut, dass sie es hören musste.

Sie steckte den Kopf durch die Tür. Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff, sagte sie in dem sarkastischen Ton, der ihn verletzte. Mit dem und deiner Partei wird das nie was. Wie lange willst du da noch mitmachen?

Gar nicht mehr, hätte er am liebsten entgegnet, aber so einfach war das alles nicht, und so sagte er, um sie wenigstens ein bisschen zu beruhigen: Ich habe schon seit zwei Monaten keinen Beitrag bezahlt.

Es war falsch, damit zu prahlen. Der gemütliche Abend endete in einer Auseinandersetzung mit Türenknallen und Heikes endgültigem Auszug ins Kinderzimmer. Ihm war der Wodka geblieben.

Er stand vor dem Kühlschrank und kämpfte gegen eine neue Welle von Übelkeit an. Er war es nicht gewohnt zu trinken. Und noch weniger war er es gewohnt, sich sein Frühstück selber zuzubereiten. Lustlos biss er in ein trockenes Knäckebrot. Er musste etwas essen, sonst würde ihm in der Straßenbahn schlecht werden.

Seit drei Wochen ging das so. Genauer: seit er über den 40. Jahrestag drei Tage und drei Nächte nicht nach Hause gekommen war. Ständige Bereitschaft. Dafür hatte sie bis dahin immer Verständnis gehabt. Sie wusste ja, dass sie nicht mit einem Buchhalter verheiratet war.

Aber auch nicht mit einem Schläger, hatte sie wütend gesagt, als er am 10. Oktober endlich todmüde zu Hause aufgetaucht war, und ihn für die Verletzten verantwortlich gemacht, die in der Praxis behandelt worden waren.

Eigentlich war es schon vor diesen Ereignissen nicht mehr gut gegangen in ihrer Ehe. Seit August vielleicht, oder seit Juli. Jeden Abend hatte Heike sich das angeguckt, wie die Leute die Zäune der Botschaften überkletterten, wie sie die Grenzsperren zu Österreich stürmten. Und sie hatte begonnen, von einer Ungarnreise zu schwärmen.

Oder hatte es bereits vor einem Jahr im November angefangen, als er noch versucht hatte, ihr das SPUTNIK-Verbot zu erklären?

Das kannst du deinen Toten erzählen, oder deinen Genossen, die keine Krempe am Hut haben! Ich habe den ganzen Tag mit normalen und lebendigen Menschen zu tun. Die lassen sich nicht länger für dumm verkaufen!

Gewiss, in so einer Arztpraxis verkehrten ganz durchschnittliche Menschen. Aber zu viele Rentner für einen repräsentativen Querschnitt. Und der Doktor selber, von dem Heike unaufhörlich sprach, das war auch kein ganz gewöhnlicher Bürger. Ein eingebildeter Fatzke und ein Reaktionär, wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was Heike erzählte.

Timm blies in den heißen Tee und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war nicht gut, dass dieser Doktor einen so starken Einfluss auf Heike ausübte.

„Bringst du Steve zur Schule?“

Ihre Stimme ließ jede Spur von Freundlichkeit vermissen. Hätte sie nicht wenigstens fragen können: Warum setzt du dich nicht hin beim Frühstück?

„Ich fahre nicht mit dem Auto“, sagte er. „Das entspricht doch deinen grünen Ambitionen, oder?“

Sie bedachte ihn mit einem Seitenblick und schwieg.

Der Junge hatte die Absage gehört und drängte sich an ihr vorbei in das Küchenkabuff. „Och, Pappa“, bettelte er, „bloß heute mal, ja?“

Timm stellte den Teetopf ab und beugte sich zu seinem Sohn. „Heute geht es wirklich nicht, Stevie.“

„Dein Vater ist noch besoffen“, sagte Heike in ihrer charmanten Art. Sie hatte sich einen Morgenmantel übergezogen und begann Brot zu toasten.

Der Junge guckte seinen Vater ungläubig an. Er hatte kupferrotes Haar und die gleiche volle Unterlippe wie seine Mutter. Die schob er jetzt vor, als wolle er in Tränen ausbrechen.

„Schtewe!“, mahnte Timm, doch der Junge fand das gar nicht komisch. Er hatte sich längst an diese Aussprache seines Namens gewöhnen müssen, wie Timm das von Anfang an befürchtet hatte. Er hatte Heike nachgegeben, die blass und schön in den Kissen gelehnt und auf Steve beharrt hatte. Von Georg, seinem Vorschlag, war nicht mehr die Rede gewesen.

Als er im winzigen Flur vor dem Spiegel seinen dunklen Schlips umband, tauchte unerwartet Heike neben ihm auf. In ihren Augen war zu viel Weiß zwischen der grünlichen Iris und dem unteren Lid. Das machte diesen besonderen Blick aus, der über alles hinweg in die Ferne gerichtet schien und dem Timm auch nach sieben Jahren Ehe noch verfallen war wie am ersten Tag ihrer Bekanntschaft. „Gib diesen Scheißjob auf, Didi. Das nimmt kein gutes Ende!“

Er griff nach seinem dunklen Trenchcoat und sagte, ohne sie anzusehen: „Was soll ich denn machen?“ Dass er gelernter Schweinezüchter war, wusste sie. Besamungsfacharbeiter. Hielt sie das in diesen Zeiten für eine Existenzgrundlage?

Sie wandte sich wortlos ab. Aus dem Zimmer krähte der Junge: „Aber morgen bist du nüchtern?“ Er wartete nicht auf den Fahrstuhl und stieg die drei Treppen hinunter. Im Kasten steckte die BERLINER ZEITUNG.

Das Zentralorgan hatte Heike abbestellt, ohne ihn zu fragen.

Er schlug die Zeitung auf. Der neue Vorsitzende blickte himmelwärts in die Zukunft. Um ihn herum standen die alten Figuren.

2. Kapitel

Es war ein ruhiger Vormittag bei der Firma LEBEN & TOD. Irgendein Scherzbold hatte ihnen diesen Namen angehängt, und dabei war es geblieben, weil es ja wie ein Witz klang, dass sie zur Abteilung GESUNDHEIT und LEBEN gehörten, obwohl sie sich ausschließlich mit Toten beschäftigten. Genauer gesagt: mit den nichtnatürlichen Todesfällen.

Im Jahr waren das ungefähr achthundert bis tausend Leichen, ohne die Verkehrsunfälle, und gut ein Viertel davon machten die Selbstmörder aus. Zwei solcher Fälle bearbeitete der Oberleutnant der Kriminalpolizei Dietmar Timm im Augenblick. Er fühlte sich deprimiert, wie so oft bei seiner Arbeit, und elend noch dazu nach dieser Nacht. Kein Wunder, dass er nicht recht vorankam mit dem Vorgang, der einen 79-jährigen Rentner betraf. Der hatte sich aus Furcht vor einem Umzug aufgehängt, wenn man dem Abschiedsbrief und den Nachbarn glauben durfte. Timm sah keine Veranlassung, den Indizien zu misstrauen, und schrieb unkonzentriert an der Endfassung des Untersuchungsberichts.

Er hatte das Zimmer ganz für sich. Lachmuth, der ihm sonst gegenübersaß und mit seinen Nichtraucherallüren und seiner trockenen berlinischen Nörgelei auf die Nerven ging, war seit September auf der Parteischule. Timm wollte es nicht wahrhaben - aber irgendwie fehlte ihm Lachmuth, zu dem er von allen aus der Gruppe noch den besten Kontakt hatte.

Timm hatte den Job in dieser Abteilung anfangs gewissermaßen als Sprungbrett für eine steile Karriere in der Hauptstadt betrachtet. Im Stillen hatte er gehofft, auf diesem kriminalistisch sicherlich schlecht beackerten Feld überraschende Spuren verborgener Untaten aufzuspüren und allein schon dadurch auf seine überragenden Fähigkeiten aufmerksam machen zu können.

Manchmal entsann er sich dieser geradezu kindlichen Erwartungen. Die raffiniert getarnten Morde waren in der Großstadt so dünn gesät wie daheim im Kreisgebiet, und er war froh, allmählich wenigstens seinen Blick für typische Situationsfehler geschult zu haben. Den brauchte man, um wirkliche Auffälligkeiten zu entdecken. Ein Blutbad beispielsweise war selten Zeichen einer Gewalttat. Ein Verblutender in Todesangst konnte eine Wohnung schlimm zurichten.

Dieberg kam herein, mit einem Zettel in der Hand. „Du wohnst doch in Hohenschönhausen“, sagte er auf seine grämliche Art. „Wir haben da einen toten Künstler. Der Arzt möchte das nicht alleine verantworten.“

„Wer möchte das schon“, entgegnete Timm und stand auf. „Alleine was verantworten. Das haben wir alle nicht gelernt.“

Dieberg runzelte die Stirn. Sein flächiges weißes Gesicht sah ein bisschen aus wie das eines der Zigtausend Klienten, die der Hauptmann im Verlauf von drei Jahrzehnten bei LEBEN & TOD begutachtet hatte.

Eine Leichenbittermiene, dachte Timm und guckte auf die Uhr. Gleich halb eins, seine übliche Mittagszeit. Leichensachen waren Sofortsachen, das predigte Dieberg oft genug. Aber bevor man einen Toten besichtigte, für den ein Mediziner keine Verantwortung übernehmen wollte, war es besser, etwas zu essen.

Er nahm seinem Vorgesetzten den Zettel aus der Hand. „Ich gehe durch die Kantine zum Fahrdienst. Ist die Technik informiert?“

Dieberg nickte. „Gräfe fährt mit.“

Timm hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Wie er Gräfe - genannt der Kellner - kannte, würde er den in der Kantine treffen, das Täschchen mit der allernotwendigsten Ausrüstung schon bei sich.

Der tote Künstler wohnte in einer besseren Gegend von Hohenschönhausen als Timm. In den stillen Straßen rings um die beiden Seen herum standen prächtige Häuser. Mit Steve im Kinderwagen war Familie Timm dort sonntags manchmal spazieren gegangen, doch Heike liebte die Gegend nicht. Bonzenviertel! äußerte sie so laut und abfällig, dass Timm befürchtete, jemand könnte es durch die messingverbrämten Wechselsprechanlagen hören, die einheitlich so viele Torpfosten zierten.

Am Gartentor des toten Künstlers fehlte eine solche Anlage. Klobige Kupferbuchstaben verrieten, wer hier wohnte: R. A. SEIBOLD. Timm entsann sich nur dunkel, den Namen im Zusammenhang mit Kunst gehört zu haben. Das besagte nichts. Seine Kenntnisse außerhalb von Kriminalistik, Gerichtsmedizin und Sport waren nicht eben berauschend, fand zumindest seine Frau.

Timm klingelte. In einer solchen Umgebung hieß das wohl Läuten; aber aus dem Haus, einem ockerfarbenen Würfelbau auf einem Klinkersockel, drang nur ein ordinärer Schrillton. Sonst blieb es still. Er klinkte. Das Tor war verschlossen. Unter einem Schleppdach aus ehemals durchsichtigen Kunststoffplatten stand ein roter Wartburg.

Gräfe verzog das sommersprossige Mondgesicht und machte seinem Beinamen alle Ehre. Er lümmelte an dem Torpfosten wie ein gelangweilter Kellner an der Theke. Erst als sich nach geraumer Zeit die Haustür öffnete und eine Frau auf die oberste Stufe der Vortreppe trat, nahm er so etwas wie Haltung an.

Die Frau war eine eindrucksvolle Erscheinung in einem lockeren dunklen Gewand, etwa einssiebzig groß und nicht ganz schlank und auch nicht mehr jung. Eben eine gut aussehende Dame, die in diese Gegend und in das Haus eines Künstlers passte.

„Frau Seibold?“, fragte Timm sicherheitshalber. Hinter ihm schnaufte Gräfe unwillig. Wer sonst sollte die Dunkelgekleidete sein als die Witwe des Verblichenen.

In der Hoffnung, dass nicht alle Nachbarn mithörten, stellte Timm sich in unterdrückter Lautstärke vor und unterließ es, Gräfes Namen und Dienstrang zu nennen.

Ihre Miene blieb unverbindlich. „Bitte, warten Sie“, sagte sie und schloss die Tür hinter sich wieder.

Timm blickte über die Schulter zu Gräfe. Der, von erstaunlich schneller Entschlusskraft, griff über das Gittertor, manipulierte einen Augenblick am Schloss herum, und das Tor schwang auf.

Sie hatten die sieben Stufen bis zur Haustür noch nicht erklommen, als die Frau aus der Tür trat, ein Schlüsselbund in der Hand. Sie sah auch von Nahem gut aus, ein wenig blass vielleicht unter der sorgfältig aufgetragenen Schminke. Wen wunderte das nach einem Todesfall in der Familie? Immerhin war ihre Wimperntusche nicht verlaufen, und die blauen Lidschatten kontrastierten wirkungsvoll zu ihrem schulterlangen dunklen Haar.

Frau Seibold sah die Eindringlinge aus ihrer etwas höheren Position kühl an und sagte: „Links herum zum Atelier bitte.“

„Der Arzt ist noch bei dem Verstorbenen?“, erkundigte sich Timm.

Frau Seibold ging ihnen voran um das abgestellte Auto herum. „Die Frau Doktor hatte es sehr eilig, zu ihren Patienten zurückzukommen“, sagte sie in einem Tonfall, dem Timm entnahm, was sie von der eiligen Medizinerin hielt.

Der Garten hinter dem Haus bestand im Wesentlichen aus einer ungepflegten Rasenfläche. Zwei Betonspuren führten auf einen flachen Bau mit einer breiten Fensterfront zu, der aussah wie ein Werkstattgebäude.

Sie schloss den rechten der beiden blechbeschlagenen Türflügel auf und ließ ihnen den Vortritt. Drinnen war es kühl, und es roch nicht gut. Ein strenger Geruch von Feuchtigkeit und kaltem Rauch, und kaum spürbar darüber die unverwechselbare süßliche Ausströmung, die Timms Nase vertraut war, und die ihm nur noch Übelkeit verursachte, wenn er sich so schlecht fühlte wie an diesem Tag.

„Ist das Atelier immer abgeschlossen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte nicht, dass jemand hereinkommt und einen Toten findet.“

Einen Toten, sagte sie. Nicht: meinen Mann. Timm registrierte es und ließ seinen Blick schweifen. Der Raum, ungefähr sechs mal acht Meter groß, war von gedämpftem Licht erfüllt. Die Leinenvorhänge vor der verglasten Front zum Garten filterten den schwachen Schein der Oktobersonne. Durch ein verschmutztes Oberlicht drang auch von oben Helligkeit herein.

Auf den ersten Blick sah es in dem großen Raum chaotisch aus. Zwei leere Staffeleien standen herum, bespannte Keilrahmen lehnten an den Wänden. Auf der Arbeitsfläche eines dreibeinigen Holzstativs war bräunlicher Gips so angehäuft, dass man sich mit etwas Mühe den Oberkörper einer weiblichen Figur vorzustellen vermochte. Der Rest der Modelliermasse trocknete in einem Gefäß auf den roten Bodenfliesen.

Timm fiel auf, dass die großformatigen Gemälde mit der Vorderseite zur Wand standen. Nur an der Längswand hing ein überdimensionales Bild, mit breiten Pinselstrichen in verwaschenen Farben gemalt. Es stellte einen Mann oder einen Jungen mit einer Fahne dar. Timm hatte im Augenblick andere Probleme, als sich mit der künstlerischen Qualität des Werkes auseinanderzusetzen. Direkt darunter, auf einem flachen Podest mit abgeschabten Cordsamtpolstern, lag der Tote, ein wenig zur Seite gekrümmt, bedeckt mit einer dünnen karierten Fransendecke. Er war unrasiert und wirkte trotz der kaum angegrauten Haare greisenhaft. Mit offenem Mund und halb geöffneten Augen bot er weiß Gott keinen erfreulichen Anblick.

Timm beugte sich nieder und hob die Decke. Der Mann trug ein olivfarbenes und an der Knopfleiste fleckiges Cordhemd, das aus dem offenen Hosenbund hing.

„Haben Sie ihn so gefunden?“

„Nein.“

Timm richtete sich auf und sah die Frau an.

„Sondern?“

„Er lag dort drüben.“ Die Frau wies zur rechten Wand, die bis zur Decke von einem Regal eingenommen wurde, in dem sich Bücher und Papierstöße mit Farbtuben und sonstigen Malerutensilien und tausenderlei anderen Gegenständen vermischten. Auf den beiden Arbeitstischen davor sah es nicht ordentlicher aus.

Gräfe schlenderte an dem Regal entlang und öffnete eine mit einem Plakat beklebte Tür, die Timm vorher nicht bemerkt hatte.

„Wo genau?“, fragte er die Frau.

Sie machte drei zögernde Schritte. „Ungefähr hier.“

Timm brauchte gar nicht zu Gräfe zu schauen, um zu wissen, dass der anklagend mit den Augen rollte.

„Wir konnten ihn schließlich nicht auf den kalten Steinen liegen lassen“, sagte die Frau und errötete. Wahrscheinlich wurde ihr bewusst, wie wenig die Kälte dem Atelierbesitzer noch schaden konnte.

„Wir?“, wiederholte Timm.

„Frau Loebe und ich. Unsere Haushaltshilfe. Sie hat ihn gefunden.“

Sie sagte wiederum nicht: meinen Mann.

„Verfügt Frau Loebe über einen eigenen Schlüssel zum Atelier?“

„Das Atelier ist immer offen. Ich glaube, ich habe es vorhin zum ersten Mal seit Jahren zugeschlossen.“

„Gut“, sagte Timm. „Dann brauche ich zuerst einmal den Personalausweis Ihres Mannes - und Ihren auch. Und die Frau Loebe - ist die noch da?“

„Ich habe sie nach Hause geschickt. Es ging ihr gar nicht gut nach diesem - Ereignis ...“

Sie wandte sich zur Tür. „Die Papiere sind drüben im Haus.“

In der offenen Tür blieb sie stehen. „Ich glaube, Sie verschwenden hier Ihre Zeit“, sagte sie hoheitsvoll. „Das Missverständnis beruht wohl darauf, dass diese Ärztin Rudolf Seibold nicht kannte. Sein Hausarzt weiß, dass er - zu viel trank.“

Sie zögerte kaum merklich vor dem Eingeständnis. Timm war ihr dankbar. Gewöhnlich fiel es den Angehörigen schwer, sich der Kriminalpolizei gegenüber zu einer solchen Mitteilung durchzuringen.

Frau Seibold hatte den Türflügel noch nicht hinter sich geschlossen, als Gräfe in seiner schleppenden Sprechweise sagte: „Ich wusste, dass wir hier nicht mal ’n Fotoapparat brauchen.“

Timm kehrte den Untersuchungsführer heraus. „Du machst trotzdem Bilder“, ordnete er unwirsch an. „Auffindungssituation und was sonst noch dazugehört.“

Gräfe begann seine Ausrüstung auszupacken. „Wir können ihn ja auf den Boden zurücklegen“, schlug er sarkastisch vor.

„Hier ist ein Fleck“, stellte Timm fest, als er an der von Frau Seibold angegebenen Stelle die Bodenfliesen betrachtete.

„Hier sind Hunderte von Flecken. Du willst doch in diesem Saustall nicht etwa ernsthaft nach Spuren suchen?“

Unter seinen Kollegen war Gräfe als der am meisten auf Effizienz bedachte, um nicht zu sagen faulste Techniker bekannt, der nie ein Bild mehr schoss, als man unbedingt brauchte. Am Ende aber stellte sich immer heraus, dass seine gestochen scharfen Fotos und die Spuren, die er auf seine unwillige Art gesichert hatte, alles Wesentliche für die Aufklärung enthielten. Timm verspürte deshalb wenig Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen.

„Wonach suchst du überhaupt?“, wollte Gräfe wissen, während er durch den Sucher den Leichnam anvisierte und das Blitzlicht aufleuchtete. „Nimm mal die Decke weg.“

Timm zog die Fransendecke von dem Körper. Gräfe hatte recht. Wie meistens. Das machte seine Bemerkungen besonders unerträglich. Wonach suchten sie hier? Ein Gewohnheitstrinker, der einen zuviel genommen hatte oder einfach an Herzversagen gestorben war - das passte durchaus zu dem äußerlichen Befund der Leiche. Der Mann wirkte ungepflegt. Die braune Tuchhose mit dem offenen Hosenbund und den ausgebeulten Knien war zerknautscht und ebenfalls fleckig. Durch ein Loch in der grob gestrickten grauen Wollsocke guckte der gelbliche Nagel der linken großen Zehe.

„Wir drehen ihn mal um“, schlug Timm vor.

„Wozu?“, knurrte Gräfe, war aber immerhin bereit, die Hosenbeine anzufassen und den Körper des Verstorbenen nach rechts zu drehen. „Zufrieden?“, fragte er, und man sah ihm deutlich an, für wie sinnvoll er Timms Aktion hielt.

Timm warf einen Blick auf die grauvioletten Totenflecke unter der Haut des Leichnams und zog das Hemd wieder über den hageren Leib.

Er richtete sich auf und sah sich noch einmal um. Gläser und Flaschen standen nirgends herum, soweit sich das bei der herrschenden Unordnung überhaupt überblicken ließ.

Er öffnete die Tür zu dem Nebengelass, das größer war, als er erwartet hatte. Links gab es eine Dusche und ein Klo, beides in einigermaßen sauberem Zustand. Geradezu stand unter einem kleinen Fenster auf einer Anrichte ein Elektrokocher. In dem Raum rechts, nur mit einem Vorhang abgeteilt, befanden sich ein altmodischer Kleiderschrank, ein Bücherregal, auf dem ein Fernseher stand, und eine breite Liege, ordentlich mit einer Diwandecke abgedeckt. Anscheinend hatte der Künstler hier seine schöpferischen Pausen verbracht.

In den beiden oberen Schrankfächern lagen, sorgfältig gestapelt, Unterwäsche und Pullover, auf der Garderobenstange hingen mindestens zehn Hemden und mehrere Hosen und Jacken. Timm begann die Kleidungsstücke zu durchsuchen, gab sein Vorhaben aber auf, als er im Nu mindestens ein Dutzend verschiedener Gegenstände zutage gefördert hatte.

Er griff hinter die Wäsche und fand eine flache Flasche, die einmal Gin enthalten hatte.

Ihm fiel auf, wie kühl es auch in diesem Raum war. Der Heizkörper unter dem Fenster war kalt.

„Was Interessantes?“, fragte Gräfe von der Tür her.

„Guck dich um.“ Timm wies den Flachmann vor. „Ich nehme inzwischen die Personalien auf und telefoniere, damit die Leiche abgeholt wird.“

Gräfe verzog das Gesicht wie ein Kellner, dem man zum zweiten Mal an diesem Tag zu wenig Trinkgeld gereicht hat.

Das Telefon stand in der Diele auf einem spinnenbeinigen ovalen Tischchen. War Seibold jedes Mal hier herüber ins Haus gelaufen, wenn er telefonieren wollte?

Die Frau erschien erst wieder, als Timm mit seinem Gespräch fertig war, und bat ihn ins Wohnzimmer. Der Raum, der gut zwei Drittel des Erdgeschosses einnahm, hätte Timms Frau gewiss zu Entzückensschreien hingerissen. Gemessen an ihrem Ordnungssinn, sah es allerdings auch hier aus wie bei Hempels unterm Sofa. Er selber war eher geneigt, Mobiliar und Stil der Einrichtung wie auch die Hausherrin als extravagant zu bezeichnen. In diesem Wohnsaal gab es nicht einmal eine Schrankwand.

Die Frau des Malers ging so dicht an Timm vorbei, dass ihm ihre frische Parfümnote in die Nase fuhr.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ Sie wies auf ein großblumig besticktes Sofa mit zierlichen Beinen, auf das Timm sich vorsichtig niederließ, nachdem er unauffällig ein Kleidungsstück beiseitegeschoben hatte.

Die Frau stand am Fenster und blickte schweigend hinüber zum Atelier. Timm ließ ihr Zeit. Außerdem war es nicht unangenehm, sie zu betrachten. Obwohl sie mindestens fünfzehn Jahre älter sein musste als er, gefiel sie ihm. Ja, etwa Mitte Vierzig mochte sie sein. Vielleicht auch schon fünfzig.

Ihr vermutliches Alter gemahnte Timm an seine Pflichten. „Die Personalausweise ...“, sagte er.

Sie ging nicht darauf ein. „Was glauben Sie denn, woran Rudolf gestorben sein soll?“

„Wir glauben gar nichts“, sagte Timm sachlich. „Sind Sie denn ganz sicher, dass es sich um die Folgen von Alkoholmissbrauch handelt?“

Bei dem Wort Missbrauch zuckte sie, sagte aber: „Was sonst? Seine Gesundheit war seit Langem angegriffen.“

„Nahm er irgendwelche Medikamente?“

Sie überlegte. „Simagel vielleicht. Er litt unter Sodbrennen.“

„Keine Schlaf- oder Beruhigungsmittel?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Hatte er erbrochen, als Sie ihn fanden?“

Sie wandte sich ab, sodass Timm nur ihr Profil bewundern konnte.

„Frau Loebe hat ihn gefunden“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Das muss so gegen halb elf gewesen sein. Sie rief mich völlig aufgelöst an, und ich kam selbstverständlich sofort. Ich habe versucht, den Arzt zu verständigen, und musste mich mit der Sprechstundenhilfe herumzanken, bevor die bereit war, wenigstens eine Vertretung zu schicken.“

„Frau Loebe rief Sie an?“, fragte Timm, als hätte er nicht recht verstanden.

„Im Geschäft. Ich betreibe in Karlshorst einen Kunsthandel.“

„Eine Boutique“, vermutete Timm.

Sie schien das Wort nicht zu mögen. „Eher eine kleine Galerie. Ich führe allerdings auch kunstgewerbliche Gegenstände, wenn Sie das meinen.“

„Sie verkaufen dort die Bilder Ihres Mannes?“

„Nein“, sagte sie, und ihr Missmut wurde noch deutlicher. „Er bevorzugte andere Sujets, als meine Kunden sie kaufen. Und andere Formate.“

„Bitte entschuldigen Sie meine Unkenntnis. Er ist ein sehr bekannter Maler?“

Zum ersten Mal lächelte sie, und das verschönte ihre Züge noch. „Sie sind zu jung“, sagte sie. Es klang so herablassend, wie es gemeint war. „Rudolf A. Seibold galt als einer der begabten Vertreter des jungen sozialistischen Realismus. Das war vor gut dreißig Jahren. Inzwischen hat sich mehr verändert, als Rudolf wahrhaben wollte. Noch vor Jahresfrist hätte das NEUE DEUTSCHLAND morgen einen halbseitigen Nachruf auf ihn veröffentlicht.“

Timm sagte mit aller gebotenen Zurückhaltung: „Es wäre also möglich, dass Ihr Gatte sich bewusst in einen Zustand versetzt hat, der ...“

Sie schüttelte zornig ihr schulterlanges Haar. „Was würde das für Sie ändern? Er war verbittert, gewiss. Und er hatte sich von allem zurückgezogen. Er lebte sein Leben, wie er es mochte.“

„Er wohnte also alleine in seinem Atelier“, vergewisserte sich Timm. Allmählich fühlte er sich auf diesem hochlehnigen Sofa höchst unwohl.

„Möchten Sie unsere Schlafzimmer inspizieren?“, fragte sie spitz. „Es ist sein Haus, und er hatte jederzeit Zutritt zu allen Räumen.“

„Wohnt außer Ihnen noch jemand hier?“

„Bis vor einigen Jahren lebte meine Tochter bei uns. Die lassen Sie bitte aus dieser Geschichte heraus.“