Wespennest - Lee Child - E-Book
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Wespennest E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Eine Stadt lebt in Angst - bis ein einsamer Fremder auftaucht und den Tyrannen entgegentritt: Jack Reacher!

Ein angeschlagen und ungelenk wirkender Mann betritt die Bar eines Motels in Nebraska: Es ist Jack Reacher. Dort bekommt er zufällig mit, dass der Dorfarzt einen Notruf entgegennimmt, sich jedoch weigert, der Anruferin zu helfen. Kurzerhand zwingt Reacher ihn dazu, seine Pflicht zu erfüllen – und lernt eine Frau kennen, die nicht zum ersten Mal von ihrem Mann verprügelt wurde. Er stellt den Schläger im örtlichen Steakhouse und löst damit eine Lawine aus. Denn der Schläger ist niemand anderes als einer der Duncan-Brüder. Seit Jahren führen sie mit eiserner Faust ein Regime der Einschüchterung und der erpresserischen Ausbeutung …

Die Fortsetzung von "61 Stunden".

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Lee Child

Wespennest

Ein Jack-Reacher-Roman

Aus dem Englischen von Wulf Bergner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Worth Dying For« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, A Random House Group Company, London.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Lee Child Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.   Published by arrangement with Lee Child Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Redaktion: Irmgard Perkounigg HK – Herstellung: Sabine Müller Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-12333-8V004www.blanvalet.de

Für meine Tochter Ruth

1

Eldridge Tyler fuhr auf einer langen geraden Landstraße in Nebraska, als sein Handy klingelte. Das war am Spätnachmittag, fast schon abends. Er brachte seine Enkelin nach Hause, nachdem er ihr Schuhe gekauft hatte. Sein Pick-up war ein elfenbeinweißer Chevrolet Silverado mit Doppelkabine, und seine Enkelin lag auf der schmalen hinteren Sitzbank auf dem Rücken. Sie schlief nicht. Sie lag hellwach dort und hielt die Beine in die Luft gestreckt. Sie starrte ihre riesigen weißen Sneaker, die gut einen halben Meter über ihrem Gesicht hin und her wankten, fasziniert an. Dabei ließ sie eigenartig glucksende Laute hören. Sie war acht Jahre alt. Tyler vermutete, sie entwickle sich etwas langsamer als andere Kinder.

Tylers Handy war einfach genug, um keine exotischen Funktionen zu haben, aber komplex genug, um einzelnen Rufnummern verschiedene Klingeltöne zuordnen zu können. Meist erklang der vom Hersteller eingestellte Klingelton, aber vier Nummern lösten ein halblautes dringendes Klingeln aus, das ungefähr in der Mitte zwischen einer Feuerwehrsirene und dem Tauchalarm eines U-Boots lag. Und diesen Ton hörte Tyler am späten Nachmittag auf einer langen geraden Landstraße in Nebraska, zehn Meilen südlich des Outlet Stores und zwanzig Meilen nördlich seines Hauses. Also fummelte er das Handy aus dem Ablagefach der Mittelkonsole und drückte die grüne Taste, hob es ans Ohr und sagte: »Ja?«

Eine Stimme sagte: »Vielleicht brauchen wir dich.«

Tyler sagte: »Mich?«

»Na ja, dich und dein Gewehr. Wie schon mal.«

Tyler sagte: »Vielleicht?«

»Dies ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

»Was ist passiert?«

»Ein Kerl schnüffelt herum.«

»Nah an euch dran?«

»Schwer zu sagen.«

»Wie viel weiß er?«

»Einen Teil davon. Noch nicht alles.«

»Wer ist er?«

»Niemand. Ein Fremder. Bloß irgendein Kerl. Aber er hat sich eingemischt. Wir glauben, dass er in der Army war. Wir glauben, dass er Militärpolizist war. Vielleicht hat er noch die alten Cop-Gewohnheiten.«

»Wie lange liegt seine Militärzeit zurück?«

»Vorgeschichte.«

»Verbindungen?«

»Keine, so viel wir feststellen können. Ihn vermisst keiner. Er ist ein Drifter. Wie ein Landstreicher. Der Wind hat ihn wie Steppenläuferkraut angetrieben. Jetzt muss er wieder fortgetrieben werden.«

»Beschreibung?«

»Er ist groß «, sagte die Stimme. »Mindestens einen Meter fünfundneunzig. Schätzungsweise hundertzehn Kilo. Zuletzt in einem alten braunbeigen Parka und einer Wollmütze gesehen. Er bewegt sich irgendwie komisch, als wäre er steif. Als täte ihm jede Bewegung weh.«

»Okay«, sagte Tyler. »Also wo und wann?«

»Wir möchten, dass du morgen die Scheune überwachst«, sagte die Stimme. »Ganztägig. Was in der Scheune ist, darf er nicht sehen. Nicht jetzt. Erwischen wir ihn heute Abend nicht, kriegt er irgendwann alles raus. Dann fährt er rüber, um sich dort umzusehen.«

»Er geht einfach rein, ohne sich irgendwas dabei zu denken?«

»Er denkt, dass wir zu viert sind. Er weiß nicht, dass wir fünf sind.«

»Das ist gut.«

»Erschieß ihn, sobald du ihn siehst.«

»Mach ich.«

»Ziel nicht daneben.«

»Hab ich das schon mal getan?«, fragte Tyler. Er beendete das Gespräch, legte das Handy wieder ins Ablagefach und fuhr weiter: mit den sich hin und her bewegenden neuen Schuhen des kleinen Mädchens im Innenspiegel, kahle Winterfelder vor sich, kahle Winterfelder hinter sich, Dunkelheit auf seiner Linken, die untergehende Sonne auf seiner Rechten.

Die Feldscheune war vor vielen Jahren erbaut worden, als mäßige Größe und eine Holzkonstruktion für die Landwirtschaft in Nebraska angemessen gewesen waren. Ihre Funktion hatten längst riesige Metallschuppen übernommen, die an abgelegenen Orten allein auf Grundlage logistischer Untersuchungen errichtet wurden. Aber der alte Bau hatte sich gehalten, obwohl er allmählich außer Form geriet, langsam verwitterte und windschief wurde. Umgeben war er von einer uralten Asphaltfläche, die von Winterfrösten rissig geworden war, in der Sommerhitze Blasen geworfen hatte und aus der an vielen Stellen drahtiges, hartes Unkraut spross. Das Haupttor war ein Schiebetor aus massiven Balken, die von Eisenbändern zusammengehalten wurden, und besaß Eisenräder, die auf einer Schiene rollten. Aber wegen der allmählichen Neigung des Gebäudes ließ das Tor sich längst nicht mehr aufschieben. Den einzigen Zugang bot das in das Scheunentor eingelassene »Judasloch«, wie man hierzulande sagte: eine gewöhnliche kleine Tür etwas links der Tormitte, etwas niedriger als ein Mann.

Diese kleine Tür starrte Eldridge Tyler durchs Zielfernrohr seines Gewehrs an. Er war schon vor einer Stunde, lange vor Tagesanbruch, in Stellung gegangen – eine Vorsichtsmaßnahme, die er für klug hielt. Er war ein geduldiger Mann. Und gründlich. Und pedantisch. Er hatte mit seinem Pick-up die Straße verlassen, war in der Dunkelheit auf Traktorspuren, die sich über die Felder schlängelten, weitergefahren und hatte in einem alten auf einer Seite offenen, früher als Regenschutz für Rupfensäcke mit Dünger dienenden Unterstand geparkt. Der Boden war hart gefroren, sodass er keine Staubwolke hinter sich herzog und keine Spuren hinterließ. Er hatte den großen V-8 abgestellt und an der offenen Seite des Unterstands einen Signaldraht quer über die Einfahrt gespannt: ein fast unsichtbares dünnes schwarzes Elektrokabel in Schienbeinhöhe eines großen Mannes.

Dann war er zu seinem Pick-up zurückgegangen und auf die Ladefläche geklettert, anschließend aufs Dach des Fahrerhauses gestiegen und hatte sein Gewehr und eine Sporttasche aus schwarzem Nylon auf den Zwischenboden gelegt, der sich wie ein Regal unter dem Spitzdach des Unterstands hinzog. Er war nachgeklettert, nach vorn gekrochen und hatte ein loses Brettchen aus der Lüftungsjalousie in der Giebelwand gezogen, um einen unverstellten Blick auf die genau hundertzehn Meter nördlich von ihm stehende Scheune zu haben, sobald es Tag wurde. Das war kein Zufall. Diesen Ort hatte er schon vor vielen Jahren ausgekundschaftet, als seine vier Freunde ihn erstmals um Hilfe baten. Er hatte sich damals gut vorbereitet, indem er zwei Nägel für den Signaldraht eingeschlagen, die Entfernung zu der Scheune abgeschritten und das Jalousiebrettchen gelockert hatte. Heute hatte er es sich wieder auf dem Zwischenboden bequem gemacht, sich so warm wie möglich gehalten und darauf gewartet, dass die Sonne aufging, was sie schließlich blass und schwach auch tat.

Sein Gewehr war das Modell Grand Alaskan, das von der Arnold Arms Company hier in Amerika hergestellt wurde. Es war für Patronen des Kalibers .338 Magnum ausgelegt und hatte einen sechsundsechzig Zentimeter langen Lauf sowie eine Schulterstütze aus ausgesuchtem englischem Walnussholz. Es handelte sich um ein Siebentausenddollarteil, das gut gegen fast alle Vierbeiner und besser als gut gegen alle Zweibeiner war. Das Zielfernrohr war von Leica, ein fünfzehnhundert Dollar teures ER 3,5-14 x 42 Leica Plex mit eingraviertem Standardfadenkreuz. Tyler hatte die Vergrößerung auf ungefähr zwei Drittel eingestellt, sodass es ihm auf hundertzehn Meter Entfernung einen Zielkreis mit etwa drei Meter Durchmesser zeigte. Die blasse Morgensonne stand tief über dem östlichen Horizont, und ihr sanftes Licht legte sich fast waagrecht über das schlafende Land. Später würde sie etwas höher steigen und im Süden stehen, um dann allmählich im Westen zu versinken, was alles ganz ausgezeichnet war, weil es bedeutete, dass selbst eine Zielperson, die einen braunbeigen Parka trug, sich den ganzen Tag lang gut vor dem Graubraun der verwitterten Balken abheben würde.

Tyler ging davon aus, dass die meisten Menschen Rechtshänder waren – folglich würde die Zielperson etwas links der Mitte stehen, um ihre ausgestreckte rechte Hand auf die Klinke in der Mitte der schmalen Schlossplatte der Personentür legen zu können. Die Tür selbst war ziemlich genau einen Meter achtzig hoch, aber weil man sie in das große Schiebetor eingesetzt hatte, begann sie schätzungsweise erst zwanzig Zentimeter über dem Erdboden. Bei einem Mann, der einen Meter fünfundneunzig groß war, lag die Kopfmitte ungefähr in einer Höhe von einem Meter fünfundachtzig, was wiederum bedeutete, dass der optimale Zielpunkt vertikal gesehen ungefähr fünfzehn Zentimeter unter dem Oberrand der kleinen Tür lag. Und ein Mann, der hundertzehn Kilo wog, würde breitschultrig sein, sodass sich seine Kopfmitte in dem Augenblick, in dem er die Tür zu öffnen versuchte, ungefähr einen halben Meter links neben der rechten Hand befände. Somit lag der ideale Zielpunkt horizontal gesehen etwa fünfzehn Zentimeter vom linken Türrahmen entfernt.

Fünfzehn Zentimeter tiefer, fünfzehn Zentimeter rechts. Tyler griff hinter sich und holte zwei Kunststoffbeutel mit Langkornreis aus seiner schwarzen Sporttasche. Er stapelte sie unter dem Schaft und drückte das auf Hochglanz polierte Walnussholz sanft hinein. Dann zog er die Schulterstütze ein, brachte sein Auge wieder ans Zielfernrohr und verschob das Fadenkreuz auf die linke obere Türecke. Er ging damit etwas tiefer, etwas weiter nach links und ließ seinen Zeigefinger leicht auf dem Abzug ruhen. Er atmete langsam ein und aus. Unter ihm knackte der Motor seines Pick-ups leise, weil er abkühlte. Der lebende Geruch von Benzin und kalten Abgasen stieg in die Höhe und vermischte sich mit dem toten Geruch von Staub und altem Holz. Draußen wanderte die Sonne langsam höher, und das Licht wurde etwas kräftiger. Die Luft war feucht und schwer – die Art Luft, die verhindert, dass ein Baseball aus dem Stadion geschlagen wird, aber auch die Art Luft, die ein Geschoss umhüllt und es schnurgerade ins Ziel fliegen lässt.

Tyler wartete. Er wusste, dass er vielleicht den ganzen Tag würde warten müssen, und war darauf vorbereitet. Er war ein geduldiger Mann. Er nutzte die Zeit, um sich den möglichen Ablauf der Ereignisse auszumalen. Er stellte sich vor, wie der große Mann in dem braunbeigen Parka ins Blickfeld des Zielfernrohrs trat, dort haltmachte, sich umdrehte und seine Hand auf die Türklinke legte.

Hundertzehn Meter.

Ein einzelnes Hochgeschwindigkeitsgeschoss.

Ende der Straße.

2

Jack Reacher war der Mann in dem braunbeigen Parka, und für ihn hatte diese spezielle Straße vier Meilen entfernt mitten am Abend mit dem Klingeln eines Telefons in der Lobby eines Motels begonnen, vor dem ihn ein Autofahrer, der ihn als Anhalter mitgenommen hatte, abgesetzt hatte, bevor er in eine Richtung weiterfuhr, in die Reacher nicht wollte. Das umliegende Land wirkte dunkel und flach, tot und leer. Das Motel war das einzige Gebäude in Sichtweite. Es sah aus, als wäre es vor vierzig oder fünfzig Jahren in einem Ausbruch kommerzieller Euphorie errichtet worden. Vielleicht hatte man einem Motel an dieser Straßenkreuzung glänzende Aussichten vorhergesagt, die sich aber nie realisierten – wenn sie nicht von Anfang an Illusionen gewesen waren. An einer der vier Straßen erhob sich das Gerippe einer aufgegebenen Tankstelle. An einer anderen erkannte man das Fundament eines Gebäudes – vielleicht das eines Supermarkts oder einer kleinen Einkaufspassage –, das aber nie errichtet worden war. Nur an der vierten Straße war anscheinend nie gebaut worden.

Doch das Motel hatte irgendwie überdauert. Bemerkenswert war sein futuristisches Design. Es wirkte wie die Zeichnungen von Kolonien auf dem Mond oder dem Mars, die Reacher als kleiner Junge in Comicheften gesehen hatte. Das runde Hauptgebäude war mit einer Kuppel überdacht. Die Bungalows dahinter, wieder runde kleine Einheiten mit je einer Kuppel, entfernten sich in einem sanften Bogen vom Mutterschiff und wurden dabei kleiner, um die Perspektive zu betonen. Mehrbettzimmer in der Nähe des Empfangs, Einzelzimmer weiter rückwärts. Alle Außenwände waren silbergrau gestrichen, und die Senkrechten von Tür- und Fensterrahmen wurden mit Aluminiumprofilen betont. Neonröhren unter den runden Dachvorsprüngen tauchten die Haupt- und Nebengebäude in geisterhaft bläuliches Licht. Die Fußwege waren mit grauem Kies bedeckt und von ebenfalls silbergrau gestrichenen Balken eingefasst. Der Betonmast für das beleuchtete Namensschild des Motels war so mit bemaltem Sperrholz verkleidet, dass er wie eine auf drei schlanken Flossen stehende Rakete wirkte. Erwartungsgemäß hieß das Motel Apollo Inn, und sein Name war in einer Schrift geschrieben, die an die Zahlen in der untersten Zeile eines Schecks erinnerten.

Drinnen bestand das Hauptgebäude aus einem einzigen offenen Raum, von dem nur ein Segment für ein Büro und zwei kleinere Räume abgetrennt war, die Reacher für die Toiletten hielt. Es gab eine bananenförmige Empfangstheke und dreißig Meter gegenüber eine bananenförmige Bar. Der Laden stellte im Prinzip eine Cocktaillounge dar, mit einer runden Tanzfläche aus versiegeltem Parkett und kleinen Gruppen roter Samtsessel, gruppiert um Cocktailtische mit Lampen, deren Schirme am unteren Rand Quasten zierten. Das Innere der Kuppel war ein konkaves Rundgemälde in rotem Neonlicht. Auch sonst gab es überall viel indirekte Beleuchtung, immer mit Leuchtstoffröhren in Rot und Pink. Aus versteckt angebrachten Lautsprechern perlte leise Klaviermusik. Der Gesamteindruck war bizarr, als wäre eine Vision von Las Vegas aus den sechziger Jahren in den Weltraum versetzt worden.

Und der große Raum war leer bis auf einen Mann an der Bar und einen dahinter. Reacher wartete an der Empfangstheke, und der Typ hinter der Theke kam herübergehastet und wirkte echt überrascht, als Reacher ein Zimmer verlangte, als würde das selten passieren. Aber er kam diesem Wunsch rasch nach und händigte Reacher gegen dreißig Dollar in bar einen Zimmerschlüssel aus. Er war vielleicht Mitte fünfzig oder sechzig, nicht groß, nicht schlank, mit vollem Haar, das in einem lebhaften Rotbraun gefärbt war, das Reacher eher mit Französinnen in einem gewissen Alter in Verbindung brachte. Er legte Reachers drei Zehner in eine Schublade und kritzelte etwas in ein Kontobuch. Wahrscheinlich der Erbe der Verrückten, die das Motel gebaut hatten. Vermutlich hatte er sein Leben lang nie woanders gearbeitet und kam finanziell nur über die Runden, weil er als Geschäftsführer, Portier, Barkeeper, Haustechniker und Zimmermädchen fünferlei Aufgaben übernahm. Er klappte das Buch zu, legte es in eine andere Schublade und ging zurück zur Bar.

»Gibt es dort drüben Kaffee?«, fragte Reacher.

Der Kerl drehte sich um. »Klar doch«, antwortete er mit einer gewissen Befriedigung, als hätte eine lange zurückliegende Entscheidung, jeden Abend die Kaffeemaschine von Bunn einzuschalten, sich endlich als gerechtfertigt erwiesen. Reacher folgte ihm durch das Neongewaber und setzte sich drei Plätze von dem anderen Gast entfernt auf einen Barhocker. Der andere war ein Mann Anfang vierzig. Er trug ein dickes Tweedsakko mit Lederflecken an den Ellbogen. Diese Ellbogen waren auf die Theke gestützt, während seine Hände schützend ein Whiskeyglas mit einer bernsteingelben Flüssigkeit, in der Eiswürfel schwammen, umfasste. Er starrte mit nicht ganz fokussiertem Blick hinein. Vermutlich war das nicht das erste Glas dieses Abends. Vielleicht nicht mal sein drittes oder viertes. Auf seiner Stirn standen winzige Schweißperlen. Er schien ziemlich hinüber zu sein.

Der Kerl mit dem gefärbten Haar goss Kaffee in einen Porzellanbecher mit dem NASA-Logo und schob ihn stolz und mit großer Zeremonie über die Theke. Der Becher war vermutlich eine unbezahlbare Antiquität.

»Sahne?«, fragte er. »Zucker?«

»Weder noch«, sagte Reacher.

»Auf der Durchreise?«

»Will nach Osten weiter, sobald ich kann.«

»Wie weit nach Osten?«

»Ganz nach Osten«, sagte Reacher. »Virginia.«

Der Kerl mit dem gefärbten Haar nickte weise. »Dann müssen Sie erst nach Süden. Bis Sie die Interstate erreichen.«

»Das ist der Plan«, sagte Reacher.

»Wo sind Sie heute aufgebrochen?«

»Nördlich von hier«, antwortete Reacher.

»Mit dem Auto?«

»Per Anhalter.«

Der Kerl mit dem gefärbten Haar schwieg, weil es nichts mehr zu sagen gab. Barkeeper bleiben gern gut gelaunt, und es gab keine gut gelaunte Richtung, in die ihre Unterhaltung sich hätte entwickeln können. Mitten im Winter als Anhalter auf abgelegenen Straßen des Bundesstaats, der in Bezug auf Bevölkerungsdichte auf Platz einundvierzig der fünfzig Staaten rangierte, unterwegs zu sein, würde Probleme mit sich bringen, aber der Kerl war zu höflich, um das zu sagen. Reacher griff nach dem Kaffeebecher und versuchte ihn ruhig zu halten. Als Test. Das Ergebnis war nicht gut. Jede Sehne, jede Muskelfaser von den Fingerspitzen bis zum Brustkorb zitterte und brannte, und die mikroskopisch kleinen Bewegungen seiner Hand erzeugten konzentrische Kreise auf dem Kaffee. Er bemühte sich noch mehr und führte den Becher zum Mund, hoffte auf eine geschmeidige Bewegung, erreichte aber nur einen stockenden, unregelmäßigen Ablauf. Der betrunkene Kerl betrachtete ihn kurz und sah dann wieder weg. Der Kaffee war heiß und vom langen Stehen etwas bitter, aber er enthielt Koffein, und nur darauf kam es an. Der Betrunkene nahm einen kleinen Schluck aus seinem Glas, stellte es auf den Untersetzer zurück und starrte es bedrückt an. Seine Lippen waren leicht geöffnet, und in den Mundwinkeln begannen sich Schaumbläschen zu bilden. Er trank noch einen kleinen Schluck. Auch Reacher nahm noch einen. Keiner sprach. Der betrunkene Kerl leerte sein Glas und ließ sich nachschenken. Jim Beam. Bourbon, mindestens ein dreifacher. Reachers Arm fing an, sich etwas besser zu fühlen. Kaffee, ein wahres Wundermittel gegen alle Plagen.

Dann klingelte das Telefon.

Tatsächlich klingelten zwei Telefone. Eine Nummer, zwei Apparate, einer drüben an der Empfangstheke, der andere in einem Regal hinter der Bar. Fünffache Pflichten. Der Kerl mit dem gefärbten Haar konnte nicht überall gleichzeitig sein. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Hier ist der Apollo Inn« – so stolz, diensteifrig und enthusiastisch, als wäre dies der erste Anruf, der am Eröffnungsabend des Motels einging. Dann hörte er kurz zu, drückte die Sprechmuschel an seine Brust und sagte: »Doktor, der Anruf ist für Sie.«

Reacher sah sich automatisch nach einem Arzt um. Aber er entdeckte keinen. Neben ihm fragte der betrunkene Typ: »Wer ist dran?«

Der Barkeeper sagte: »Mrs. Duncan.«

Der Betrunkene fragte: »Was fehlt ihr?«

»Sie hat Nasenbluten. Es will nicht aufhören.«

Der Betrunkene sagte: »Sagen Sie ihr, dass Sie mich nicht gesehen haben.«

Der Kerl mit dem gefärbten Haar gab die Lüge weiter und legte den Hörer auf. Der betrunkene Kerl sank so tief in sich zusammen, dass sein Gesicht sich fast auf gleicher Höhe mit dem Rand seines Glases befand.

»Sind Sie Arzt?«, fragte Reacher ihn.

»Was kümmert Sie das?«

»Ist Mrs. Duncan Ihre Patientin?«

»Im Prinzip.«

»Und Sie wimmeln sie ab?«

»Wer sind Sie, der Ethikausschuss? Sie hat bloß Nasenbluten.«

»Das nicht aufhören will. Könnte was Ernstes sein.«

»Sie ist dreiunddreißig und gesund. Hat nie Bluthochdruck oder irgendeine Blutkrankheit gehabt. Sie nimmt keine Drogen. Also besteht kein Grund zur Beunruhigung.« Der Kerl griff nach seinem Glas. Nahm einen kräftigen Schluck, dann noch einen.

Reacher fragte: »Ist sie verheiratet?«

»Was, verursacht Verheiratetsein jetzt Nasenbluten?«

»Manchmal«, antwortete Reacher. »Ich war bei der Militärpolizei. Manchmal sind wir von außerhalb des Stützpunkts angerufen worden oder sollten in die Unterkünfte für Verheiratete kommen. Frauen, die geschlagen werden, nehmen viel Aspirin gegen die Schmerzen. Aber Aspirin verdünnt das Blut, sodass sie nicht mehr zu bluten aufhören, wenn sie wieder geschlagen werden.«

Der betrunkene Kerl schwieg.

Der Barkeeper schaute weg.

Reacher sagte: »Was? Das passiert häufig?«

Der betrunkene Kerl sagte: »Sie hat bloß Nasenbluten.«

Reacher entgegnete: »Sie fürchten sich davor, bei einem Ehestreit zwischen die Fronten zu geraten?«

Keiner sprach.

»Sie könnte weitere Verletzungen haben«, erklärte Reacher. »Vielleicht weniger sichtbar. Sie ist Ihre Patientin.«

Keiner sprach.

Reacher sagte: »Nasenbluten unterscheidet sich nicht von irgendeiner anderen Blutung. Hört es nicht auf, wird sie früher oder später bewusstlos. Wie nach einem Messerstich. Mit einem Messerstich würden Sie sie auch nicht unbehandelt lassen, stimmt’s?«

Keiner sprach.

»Wie auch immer«, sagte Reacher. »Geht mich nichts an. Und Sie wären ohnehin nicht imstande. Sie könnten nicht zu ihr rausfahren, wo immer sie wohnt. Aber Sie sollten jemanden anrufen.«

Der betrunkene Kerl erwiderte: »Es gibt keinen. Das nächste Krankenhaus ist sechzig Meilen entfernt. Aber bloß weil jemand Nasenbluten hat, schickt es keinen Krankenwagen her.«

Reacher nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Der Betrunkene ließ sein Glas jetzt stehen und sagte: »Klar, mit dem Fahren hätte ich ein Problem. Aber wenn ich dort wäre, käme ich zurecht. Ich bin ein guter Arzt.«

»Dann möchte ich keinen schlechten sehen«, meinte Reacher.

»Ich weiß zum Beispiel, was bei Ihnen nicht in Ordnung ist. Körperlich, meine ich. Ihren Geisteszustand will ich nicht kommentieren.«

»Übertreiben Sie’s nicht, Kumpel.«

»Sonst?«

Reacher schwieg.

»Sie hat bloß Nasenbluten«, wiederholte der Doktor.

»Wie würden Sie’s behandeln?«, fragte Reacher.

»Unter schwacher lokaler Betäubung. Die Nase mit Gazetupfern füllen. Der Druck würde die Blutung zum Stehen bringen, Aspirin hin oder her.«

Reacher nickte. Diese Behandlungsweise kannte er von früher, aus der Army. Er sagte: »Also kommen Sie, Doktor. Ich fahre.«

3

Der Doktor war unsicher auf den Beinen. Er bewegte sich in einer für Betrunkene typischen Manier: leicht nach vorn gebeugt, als ginge er bergauf, obwohl er auf ebenem Boden unterwegs war. Aber er schaffte es ganz gut auf den Parkplatz hinaus, bis dann die kalte Luft zu wirken begann, und er wieder einigermaßen zur Besinnung kam. Er klopfte eine Tasche nach der anderen ab und zog zuletzt einen dicken abgewetzten ledernen Schlüsselanhänger heraus, auf dem in abblätternder GoldschriftDuncan Transportationstand.

»Derselbe Duncan?«, fragte Reacher.

Der Doktor sagte: »In diesem County gibt’s nur eine Familie Duncan.«

»Sie behandeln alle?«

»Nur die Schwiegertochter. Der Sohn fährt nach Denver. Vater und Onkel kurieren sich mit Wurzeln und Beeren selbst, soviel ich weiß.«

Der Wagen war ein Subaru Outback, der als einziges Fahrzeug auf dem Parkplatz stand. Er war ziemlich neu und einigermaßen sauber. Reacher fand die Infrarotfernbedienung an dem Schlüsselanhänger und entriegelte die Türen. Der Doktor machte eine große Show daraus, dass er erst auf die Fahrertür zusteuerte und dann reumütig den Kurs änderte. Reacher stieg ein, fuhr den Sitz zurück, ließ den Motor an und fand den Lichtschalter.

»Nach Süden«, sagte der Doktor.

Reacher hustete.

»Versuchen Sie, mich nicht anzuhauchen«, sagte er. »Oder die Patientin.«

Er legte die Hände aufs Lenkrad wie jemand, der versucht, zwei Baseballhandschuhe zu manövrieren, die an langen Stangen stecken. Als sie endlich dort waren, umklammerte er das Lenkrad mit den Fingern und hielt sich daran fest, um seine Schultern zu entlasten. Er fuhr langsam über den Parkplatz und bog nach Süden ab. Draußen herrschte finstere Nacht. Es gab nichts zu sehen, aber er wusste ja, dass das Land um sie herum sich flach und endlos ausdehnte.

»Was wird hier angebaut?«, fragte er, nur um den Doktor wach zu halten.

»Natürlich Mais«, antwortete der Kerl. »Mais und noch mehr Mais. Unmengen von Mais. Mehr Mais, als ein vernünftiger Mann jemals sehen möchte.«

»Sind Sie von hier?«

»Ich stamme aus Idaho.«

»Kartoffeln.«

»Besser als Mais.«

»Was hat Sie also nach Nebraska verschlagen?«

»Meine Frau«, sagte der Mann. »Hier geboren und aufgewachsen.«

Sie schwiegen einen Augenblick, dann fragte Reacher: »Was ist mit mir nicht in Ordnung?«

Der Doktor sagte: »Was?«

»Sie haben behauptet, Sie wüssten, was mit mir nicht in Ordnung ist. Zumindest körperlich. Also los!«

»Was soll das sein, eine Überprüfung?«

»Tun Sie bloß nicht so, als bräuchten Sie keine.«

»Zum Teufel mit Ihnen. Ich funktioniere ganz normal.«

»Beweisen Sie’s.«

»Ich weiß, was Sie gemacht haben«, sagte der Kerl. »Ich weiß nur nicht, wie.«

»Was habe ich gemacht?«

»Sie haben sich alles vom Flexor digiti minimi brevis bis zum Quadratus lumborum gezerrt, beidseitig, ziemlich genau symmetrisch.«

»Was heißt das in Alltagssprache?«

»Sie haben sich sämtliche Muskeln, Bänder und Sehnen gezerrt, die für Arm- und Handbewegungen gebraucht werden – von den kleinen Fingern bis zur Verankerung an der zwölften Rippe. Sie haben Beschwerden und Schmerzen, und Ihre Feinmotorik ist beim Teufel, weil alle Systeme aufbegehren.«

»Prognose?«

»Das gibt sich wieder.«

»Wann?«

»In ein paar Tagen. Vielleicht in einer Woche. Sie könnten’s mit Aspirin versuchen.«

Reacher öffnete sein Fenster einen Spalt weit, damit die Bourbondämpfe entweichen konnten. Sie kamen an einer kleinen Gruppe von drei Wohnhäusern vorbei, die ungefähr hundert Meter von der Landstraße entfernt am Ende einer gemeinsamen Zufahrt ziemlich dicht beieinanderstanden. Ein Zaun aus tief eingerammten Pfosten und massiven Planken umschloss dieses Ensemble. Die Häuser waren schon alt, einst elegant, noch immer stabil, nur etwas vernachlässigt. Der Doktor drehte den Kopf zur Seite und musterte sie sekundenlang forschend, bevor er wieder nach vorn sah.

»Wie haben Sie das angestellt?«, fragte er.

»Was angestellt?«, sagte Reacher.

»Wobei haben Sie sich die Arme verletzt?«

»Sie sind der Arzt«, erklärte Reacher. »Sagen Sie’s mir.«

»Solche Symptome sind mir erst zweimal untergekommen. Vor ein paar Jahren war ich mal nach einem Hurrikan als Freiwilliger in Florida. Ich bin nämlich kein schlechter Kerl.«

»Und?«

»Leute, die ein Orkan mit hundert Meilen in der Stunde im Freien überrascht, kollern mit dem Wind die Straße entlang … oder sie bekommen einen Streckmetallzaun zu fassen und versuchen, sich daran festzuklammern. Dazu müssen sie das eigene Körpergewicht gegen den enormen Winddruck bewegen. Unglaublich anstrengend. Dabei kommt es zu solchen Verletzungen. Aber wie Sie sich bewegen, sind Ihre erst ein paar Tage alt. Und Sie haben gesagt, dass Sie aus dem Norden kommen. Nördlich von hier gibt’s keine Wirbelstürme. Und jetzt ist ohnehin keine Hurrikansaison. Ich wette, dass es diese Woche auf der ganzen Welt nirgends einen einzigen Wirbelsturm gegeben hat. Keinen einzigen! Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie das angestellt haben. Aber ich wünsche Ihnen rasche Genesung. Das tue ich wirklich.«

Reacher schwieg.

Der Doktor sagte: »An der nächsten Kreuzung links.«

Fünf Minuten später erreichten sie das Haus der Duncans. Es verfügte über eine Außenbeleuchtung, zu der zwei Strahler gehörten, die einen weißen Briefkasten von beiden Seiten anstrahlten. Auf dem Briefkasten standDuncan. Das Gebäude selbst schien ein restauriertes Farmhaus zu sein. Es war von der Größe her bescheiden, aber äußerlich und bestimmt auch innerlich in makellosem Zustand. Auf der winterlich dürren Rasenfläche vor dem Haus stand ein alter Buggy, ein leichter einspänniger, vierrädriger Wagen. Hohe Speichenräder, leere Stangen. Eine lange gerade Einfahrt führte zu einem Nebengebäude, das groß genug war, um früher einen Pferdestall samt einer Werkstatt beherbergt zu haben. Jetzt diente es als Garage. Sie besaß drei Kipptore nebeneinander. Eines der Tore stand offen, als sei jemand eilig weggefahren.

Reacher hielt an dem zur Haustür führenden Kiesweg.

»Ihr Auftritt, Doktor«, sagte er. »Wenn sie noch da ist.«

»Das ist sie«, sagte der Kerl.

»Okay, dann los.«

Sie stiegen aus dem Wagen.

4

Der Doktor holte eine schwarze lederne Arzttasche aus dem Laderaum. Dann wiederholte er die Pantomime eines Betrunkenen, der bergauf stolpert – nur diesmal aus besserem Grund, weil der Kies das Gehen erschwerte. Aber er schaffte es ohne Hilfe bis zur Haustür, die sich als schönes Stück aus glänzend weiß lackiertem altem Holz erwies. Reacher fand einen Knopf aus Messing und drückte darauf. Drinnen war eine elektrische Klingel zu hören; danach blieb es eine Weile still, bis jemand langsam über die Bodendielen heranschlurfte. Dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet und ließ ein Gesicht sehen.

Was für ein Gesicht! Es wurde von schwarzem Haar eingerahmt und wies oben blasse Haut und ängstliche Augen auf. Darunter war ein mit Blut durchtränktes Taschentuch zu sehen, das fest auf die Nase gedrückt wurde. Das Blut war an den Mundwinkeln vorbeigeflossen und auf den Hals und die Seidenbluse hinuntergetropft. Auch die Perlenkette war blutig. Die Frau nahm das Taschentuch von der Nase, sodass aufgeplatzte Lippen und Blutränder an den Zähnen zum Vorschein kamen. Die Nase blutete weiter.

»Sie sind gekommen«, sagte sie.

Der Arzt blinzelte zweimal, kniff angestrengt die Augen zusammen, ließ die Mundwinkel hängen und nickte. Er sagte: »Das sollten wir uns mal ansehen.«

»Sie haben getrunken«, stellte die Frau fest. Dann sah sie zu Reacher und fragte: »Wer sind Sie?«

»Ich bin gefahren«, antwortete Reacher.

»Weil er betrunken ist?«

»Er kommt schon zurecht. Ich würde ihn keine Gehirnoperation machen lassen, aber diese Blutung kann er zum Stehen bringen.«

Die Frau dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte sie, drückte das Taschentuch wieder an ihr Gesicht und öffnete die Haustür ganz.

Sie gingen in die Küche. Der Doktor war ziemlich blau, aber der Mann beherrschte die nötigen Handgriffe aus jahrelanger Praxis gut genug, um zurechtzukommen. Reacher feuchtete Geschirrtücher mit warmem Wasser an und reichte sie nacheinander dem Arzt, der Mrs. Duncans Gesicht abtupfte, ihre Nasenlöcher mit Gaze verschloss und Klammern verwendete, um ihre aufgeplatzten Lippen zu behandeln. Das Betäubungsmittel vertrieb die Schmerzen, sodass sie in einen ruhigen, leicht verträumten Zustand verfiel. Ihre Nase war schon früher einmal gebrochen worden, das war klar. Ansonsten hatte sie einen makellosen Teint, ein fein geschnittenes Gesicht und hübsche Augen. Sie war schlank und ziemlich groß, gut angezogen und solide wohlhabend. Genau wie ihr ganzes Haus. Es war warm. Der Fußboden bestand aus breiten Dielen, die von hundert Jahren Wachspolitur glänzten. Überall gab es Schnitz- und Drechslerarbeiten, sorgfältig gearbeitete Details und subtile Pastelltöne. Bücher in den Regalen, Gemälde an den Wänden, Teppiche auf den Böden.

Auf dem Sideboard im Wohnzimmer stand ein Hochzeitsfoto in einem Silberrahmen. Es zeigte eine jüngere und intakte Version der Frau mit einem großen, hageren Mann, der einen grauen Cut trug. Er war schwarzhaarig, hatte eine lange Nase, hellwache Augen und einen sehr selbstgefälligen Gesichtsausdruck. Kein Sportler oder Arbeiter, kein Professor oder Dichter. Auch kein Farmer. Vermutlich ein Geschäftsmann. Ein Manager, irgendeine Art Führungskraft. Ein Typ, der nicht viel an die frische Luft kam, jemand mit Energie, aber ohne Kraft.

Als Reacher in die Küche zurückkam, wusch der Arzt sich die Hände im Ausguss, während Mrs. Duncan sich ohne Spiegel das Haar bürstete. Er fragte sie: »Geht’s wieder besser?«

Sie sagte: »Nicht zu schlecht.« Langsam, nasal und undeutlich.

»Ihr Mann ist nicht zu Hause?«

»Er ist zum Abendessen gefahren. Mit seinen Freunden.«

»Wie heißt er?«

»Sein Name ist Seth.«

»Und wie heißen Sie?«

»Eleanor.«

»Sie haben Aspirin genommen, Eleanor?«

»Ja.«

»Weil Seth so was oft tut?«

Sie machte eine sehr lange Pause, dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich bin gestolpert«, sagte sie. »Über die Teppichkante.«

»Binnen wenigen Tagen mehr als einmal? Immer über denselben Teppich?«

»Ja.«

»Ich an Ihrer Stelle würde den Teppich auswechseln.«

»Es passiert bestimmt nicht wieder.«

Sie warteten zehn Minuten in der Küche, während Mrs. Duncan nach oben ging, um zu duschen und sich umzuziehen. Sie hörten, wie Wasser lief und wieder abgedreht wurde, dann rief sie die Treppe hinunter, mit ihr sei alles Ordnung und sie gehe jetzt ins Bett. Also verließen sie das Haus. Der Doktor stolperte zu seinem Wagen und ließ sich mit seiner Arzttasche zwischen den Beinen auf den Beifahrersitz fallen. Reacher startete den Motor und fuhr die Einfahrt rückwärts bis zur Straße entlang. Dort schlug er das Steuer scharf ein, stellte den Wählhebel auf D, gab Gas und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Gott sei Dank«, sagte der Doktor.

»Dass ihr nicht mehr gefehlt hat?«

»Nein, dass Seth Duncan nicht da war.«

»Ich habe sein Foto gesehen. Mich hat er nicht sehr beeindruckt. Ich wette, sein Hund ist ein Pudel.«

»Sie haben keinen Hund.«

»Das ist nur eine Redewendung. Ich könnt’s verstehen, dass ein Landarzt Schiss davor hat, in einen Ehekrach zu geraten, bei dem der Kerl Dosenbier trinkt, ein ärmelloses T-Shirt trägt und auf seinem Hof voller Schrott und Autowracks ein paar Pitbulls hält. Aber das alles tut Seth Duncan offenbar nicht.«

Der Doktor schwieg.

Reacher sagte: »Aber Sie haben trotzdem Angst vor ihm. Also kommt seine Macht woandersher. Vielleicht finanziell oder politisch. Er hat ein hübsches Haus.«

Der Doktor schwieg.

Reacher fragte: »Ist er’s gewesen?«

»Ja.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ja.«

»Und er hat’s schon früher gemacht?«

»Ja.«

»Wie oft?«

»Verdammt oft. Manchmal sind’s die Rippen.«

»Hat sie die Cops alarmiert?«

»Wir haben keine Cops. Wir verlassen uns aufs County. Die sind gewöhnlich sechzig Meilen weit weg.«

»Sie könnte anrufen.«

»Sie erstattet niemals Anzeige. Das tun sie nie. Bleiben sie beim ersten Mal untätig, tun sie’s nie mehr.«

»Wohin fährt ein Kerl wie Duncan, um mit seinen Freunden zu Abend zu essen?«

Der Arzt gab keine Antwort, und Reacher fragte nicht noch mal.

Der Doktor sagte: »Fahren wir zu der Lounge zurück?«

»Nein, ich bringe Sie nach Hause.«

»Danke. Das ist nett von Ihnen. Aber der Rückweg ins Motel ist ganz schön lang.«

»Ihr Problem, nicht meines«, sagte Reacher. »Ich behalte den Wagen. Sie können morgen früh zu Fuß rüberkommen und ihn sich holen.«

Fünf Meilen südlich des Motels starrte der Doktor wieder zu den drei alten Häusern hinüber, die in einer kleinen Gruppe am Ende ihrer Einfahrt standen. Dann sah er wieder nach vorn und dirigierte Reacher links, rechts und wieder links entlang abgeernteter Felder zu einem neuen Ranchhaus auf anderthalb Hektar ebenem Grund, der mit einem Plankenzaun umgeben war.

»Haben Sie Ihren Schlüssel?«, fragte Reacher.

»Der hängt am Schlüsselbund.«

»Haben Sie noch einen?«

»Meine Frau lässt mich rein.«

»Hoffentlich«, sagte Reacher. »Gute Nacht.«

Er beobachtete, wie der Doktor die ersten zehn Meter seiner Einfahrt entlangstolperte, dann wendete er und fuhr auf derselben verschlungenen Route zu der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Landstraße zurück. Im Zweifelsfall links abbiegen, das war sein Motto, deshalb fuhr er eine Meile weit nach Norden, bevor er anhielt, um in Ruhe nachzudenken. Wohin würde ein Kerl wie Seth Duncan fahren, um mit Freunden zu Abend zu essen?

5

Steakhaus, so lautete Reachers Schlussfolgerung. Ein ländliches Gebiet, mitten im Farmland, eine Bande wohlhabender Typen, die Good Old Boys spielten, die Ärmel aufkrempelten, ihre Krawatten lockerten, einen Krug einheimisches Bier bestellten, ihre Rumpsteaks englisch gebraten bestellten und über die Feiglinge an der Ost- und Westküste lachten, die sich Sorgen wegen Cholesterin machten. Countys in Nebraska waren vermutlich riesig und dünn besiedelt, sodass zwischen einzelnen Restaurants zwanzig oder dreißig Meilen liegen konnten. Aber die Nacht war finster, und Steakhäuser hatten immer Leuchtreklamen. Das gehörte zu ihrer Kultur. Entweder das Wort Steakhouse in Frakturschrift und von Neonleuchten umrahmt auf dem Dachfirst oder auf einer modernen Werbetafel, die von gleißend hellen Halogenscheinwerfern angestrahlt wurde.

Reacher schaltete die Scheinwerfer aus und stieg aus dem Subaru, packte eine Dachreling, kletterte auf die Motorhaube und kletterte von dort aufs Autodach. Weil er so groß war, befand seine Blickachse sich dreieinviertel Meter über dem in dieser Gegend völlig flachen Erdboden. Er drehte sich langsam um die eigene Achse und starrte dabei in die Dunkelheit. Sah das geisterhaft blaue Leuchten des Motels weit im Norden und danach im Südwesten einen rosa Lichtschein, der schätzungsweise zehn Meilen entfernt war. Vielleicht nur eine Tankstelle, aber dies schienen die beiden einzigen Lichter zu sein. Also fuhr Reacher erst nach Süden, dann nach Westen. Unterwegs machte er noch zweimal halt, um seinen Kurs zu korrigieren. Das Leuchten wurde heller, je näher er ihm kam. Rotes Neonlicht, vom Nachtnebel leicht rosa gefärbt. Das konnte alles Mögliche sein. Ein Spirituosengeschäft, ein weiteres Motel, Exxon.

Es war ein Steakhaus. Reacher erreichte ihn von der Rückseite aus, einen langen niedrigen Bau mit Kerzen in den Fenstern und einer Schindelfassade wie alte Scheunen und einem leicht eingesunkenen Dachfirst, der an eine alte Mähre erinnerte. Es stand allein auf einem halben Hektar festgewalzten Boden. Auf dem Dachfirst verkündete eine komplizierte Konstruktion aus Glasröhren und Metallständern das Wort Steakhouse in roter Frakturleuchtschrift. Umringt war das Gebäude von Autos, die alle vorwärts eingeparkt standen – wie saugende Ferkel oder Jets an einem Terminal. Es handelte sich um Limousinen, Pick-ups und Geländewagen, manche neu, manche alt, die meisten aus amerikanischer Produktion.

Reacher stellte den Subaru des Doktors etwas abseits in der Nähe der Ausfahrt ab. Er stieg aus, blieb einen Augenblick in der Kälte stehen, rollte mit den Schultern und versuchte, seinen Oberkörper zu entkrampfen. Er hatte noch nie Aspirin genommen und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Nach Verletzungen war er mehrmals im Krankenhaus gelandet und an einen Morphiumtropf angeschlossen aufgewacht, woran er sich gut erinnern konnte. Aber außerhalb einer Intensivstation wollte er sich auf Zeit und Willenskraft verlassen. Keine andere Option.

Er ging zum Eingang des Steakhauses. Drinnen gab es einen kleinen quadratischen Vorraum mit einer weiteren zweiflügligen Tür. Gleich dahinter stand das nicht besetzte Pult eines Maître d’hôtel mit einer Leselampe und einem Reservierungsbuch. Rechts lag ein kleiner Gastraum, in dem fünf oder sechs Paare ihre Mahlzeit beendeten. Links befand sich das Gegenstück dazu. Geradeaus führte ein kurzer Flur in einen größeren Raum. Niedrige Decke, holzgetäfelte Wände, Messinglampen. Ein warmer, gemütlicher Ort.

Reacher ging an dem Reservierungstisch vorbei und warf einen Blick in den größeren Raum. Gleich hinter dem bogenförmigen Durchgang stand ein Zweiertisch, an dem ein Mann in einer Jacke der Cornhuskers aß: das Footballteam der University of Nebraska. In der Mitte des Raums saßen sieben Männer in Sakko und Krawatte an einem Tisch für acht Personen, drei und drei gegenüber, dazu der Kerl von dem Hochzeitsfoto an der Stirnseite. Er wirkte etwas älter als auf dem Foto, knochiger, noch selbstgefälliger, aber derselbe Typ. Ganz ohne Frage. Er war unverkennbar. Auf dem Tisch standen die Reste einer üppigen Mahlzeit. Teller, Gläser, Messer mit Wellenschliff und abgenutzten Holzgriffen.

Als Reacher den Raum betrat, stand der Kerl, der allein an dem Zweiertisch saß, auf und versperrte ihm den Weg. Er hob eine Hand wie ein Verkehrspolizist. Dann legte er diese auf Reachers Brust. Er war ein großer Mann. Fast so groß wie Reacher selbst, aber viel jünger, vielleicht etwas schwerer, mit gewisser primitiver Intelligenz im Blick. Kraft und Hirn. Eine gefährliche Kombination. Reacher bevorzugte die gute alte Zeit, in der Muskelmänner dumm gewesen waren. Daran war das heutige Bildungssystem schuld. Dass man Sportler dazu zwang, Vorlesungen zu besuchen, hatte seinen genetischen Preis.

Von dem großen Tisch sah niemand zu ihnen herüber.

Reacher fragte: »Wie heißen Sie, Dicker?«

Der Kerl fragte: »Wie ich heiße?«

»Das ist keine schwierige Frage.«

»Brett.«

Reacher sagte: »Die Sache sieht folgendermaßen aus, Brett. Sie nehmen Ihre Hand von meiner Brust, oder ich breche Ihnen das Handgelenk.«

Der Kerl ließ seine Hand sinken. Aber er machte den Weg nicht frei.

»Was?«, fragte Reacher.

Der Kerl sagte: »Wollen Sie Mr. Duncan sprechen?«

»Was geht Sie das an?«

»Ich arbeite für Mr. Duncan.«

»Tatsächlich?«, meinte Reacher. »Was machen Sie für ihn?«

»Ich vereinbare seine Termine.«

»Und?«

»Sie haben keinen.«

»Wann kann ich einen bekommen?«

»Wie gefällt Ihnen ›niemals‹?«

»Nicht sehr gut, Brett.«

»Sir, Sie müssen jetzt gehen.«

»Sind Sie vom Sicherheitsdienst? Ein Bodyguard? Wer, zum Teufel, ist er?«

»Er ist ein Privatmann. Ich bin einer seiner Assistenten, das ist alles. Und jetzt müssen Sie zu Ihrem Wagen zurückgehen.«

»Sie wollen mich auf den Parkplatz hinausbegleiten?«

»Sir, ich mache nur meine Arbeit.«

Die sieben Männer an dem Tisch saßen alle auf ihre Ellbogen gestützt und nach vorn gebeugt, verschwörerisch. Sechs von ihnen hörten sich eine Story an, die Duncan erzählte, lachten auf Stichwörter hin, amüsierten sich prächtig. Hinter Reacher waren Küchengeräusche, das helle Klappern von Besteck auf Porzellan und das dumpfe Geräusch von Gläsern zu hören, die auf Holztische gestellt wurden.

Reacher fragte: »Wollen Sie das wirklich?«

Der junge Mann antwortete: »Damit täten Sie mir einen Gefallen.«

Reacher zuckte mit den Schultern.

»Okay«, sagte er. »Gehen wir also.« Er machte kehrt und marschierte an dem Reservierungspult vorbei und hinaus in die kalte Nachtluft. Der große Kerl blieb die ganze Zeit dicht hinter ihm. Reacher zwängte sich zwischen zwei Pick-ups hindurch und ging quer über den Parkplatz zu dem Subaru. Der Mann folgte ihm noch immer. Reacher blieb drei Meter vor dem Wagen stehen und machte kehrt. Auch der Typ machte halt, sodass sie sich jetzt gegenüberstanden. Er wartete lässig dastehend, entspannt, geduldig, kompetent.

Reacher sagte: »Darf ich Ihnen einen Rat geben?«

»In Bezug auf was?«

»Sie sind clever, aber Sie sind kein Genie. Sie haben gerade eine gute taktische Situation gegen eine weit schlechtere eingetauscht. Drinnen hat es beengten Raum, Zeugen, Telefone und mögliche Interventionen gegeben, aber hier draußen existiert nichts dergleichen. Sie haben freiwillig einen großen Vorteil aus der Hand gegeben. Hier draußen könnte ich Sie in aller Ruhe fertigmachen, ohne dass Ihnen jemand zu Hilfe kommen könnte.

»Heute Abend braucht niemand fertiggemacht zu werden.«

»Richtig. Aber ich muss Mr. Duncan trotzdem etwas klarmachen.«

»Was denn?«

»Er schlägt seine Frau. Ich muss ihm erklären, warum das nicht gut ist.«

»Sie täuschen sich bestimmt.«

»Ich habe den Beweis dafür gesehen. Jetzt muss ich Duncan sprechen.«

»Sir, seien Sie vernünftig. Sie können hier niemanden sprechen. Nur einer von uns beiden geht heute Abend ins Lokal zurück – und das sind nicht Sie.«

»Macht es Ihnen Spaß, für so einen Kerl zu arbeiten?«

»Ich habe keine Klagen.«

»Vielleicht haben Sie später welche. Irgendjemand hat mir erzählt, dass die nächste Notaufnahme sechzig Meilen entfernt ist. Sie könnten eine Stunde lang hier draußen liegen.«

»Sir, Sie sollten sich in Ihren Wagen setzen und sofort losfahren.«

Reacher vergrub die Hände in den Parkataschen, um seine Arme ruhigzustellen, damit sie nicht weiter Schaden nahmen. Er sagte: »Letzte Chance, Brett. Noch können Sie einfach weggehen. Sie brauchen nicht für einen Scheißkerl den Kopf hinzuhalten.«

»Ich habe meine Pflicht zu tun.«

Reacher nickte, dann sagte er ganz leise: »Hören Sie mal zu, Kid«, und der große Mann beugte sich leicht nach vorn, um den nächsten Teil des Satzes zu hören – und Reacher trat ihm mit aller Gewalt in den Schritt, mit dem rechten Fuß, ein schwerer Stiefel am Ende eines hochgerissenen Beins. Dann trat er zurück, während der Mann nach vorn zusammenklappte, würgte und kotzte, keuchte und schnaubte. Dann trat Reacher erneut zu, ein massiver Tritt an die linke Kopfseite wie ein Fußballspieler, der einen Querpass volley nimmt und ins Tor hämmert. Der Kerl kreiselte auf seinen Fersen und ging zu Boden, als versuchte er, sich ins Erdreich zu schrauben.

Reacher behielt die Hände in den Taschen und machte sich wieder auf den Weg zum Steakhaus.

6

Die Party im Hinterzimmer war noch in vollem Gang. Keine auf den Tisch gestützten Ellbogen mehr. Alle sieben Männer lehnten sich jetzt großspurig zurück, amüsierten sich und taten so, als gehörte das Lokal ihnen. Vom Bier und der Wärme hatten alle leicht gerötete Gesichter, während sechs von ihnen nur halb zuhörten, wie der siebte Mann mit irgendetwas prahlte, weil sie sich schon darauf vorbereiteten, ihn mit der nächsten Anekdote zu übertreffen. Reacher kam hereingeschlendert, trat hinter Duncans Stuhl und nahm die Hände aus den Taschen. Er legte sie Duncan auf die Schultern. In dem Raum herrschte schlagartig Schweigen. Reacher stützte sich auf die Hände und zog sie leicht zurück, bis Duncans Stuhl unsicher auf zwei Beinen balancierte. Dann ließ er los, und der Stuhl krachte wieder nach vorn. Duncan schnellte hoch, richtete sich auf und fuhr mit halb ängstlicher, halb wütender Miene herum, während er zugleich versuchte, vor seinen Freunden cool zu wirken. Dann schaute er sich um und konnte seinen Kerl nirgends finden, woraufhin ein Teil der Coolness und der Wut verschwand, während die Angst ganz erhalten blieb.

Reacher fragte: »Seth Duncan?«

Der hagere Mann gab keine Antwort.

Reacher sagte: »Ich habe eine Nachricht für Sie, Kumpel.«

Duncan fragte: »Von wem?«

»Von der Nationalen Vereinigung von Eheberatern.«

»Gibt’s die überhaupt?«

»Vermutlich.«

»Wie lautet die Nachricht?«

»Sie ist mehr eine Frage.«

»Okay, wie lautet die Frage?«

»Die Frage ist, wie gefällt Ihnen das?« Reacher schlug zu, eine Gerade mitten auf die Nase, ein brutaler Schlag, bei dem seine Faust auf Knorpel und Knochen traf, sie zerquetschte und flach drückte. Duncan kippte nach hinten und landete auf dem Tisch. Er prallte schwer auf und zuckte mehrmals, sodass Teller und Gläser zerbrachen und Besteck klirrend zu Boden fiel.

Duncan versuchte nicht einmal aufzustehen.

Reacher machte kehrt und ging erneut an dem Reservierungspult vorbei auf den Parkplatz hinaus.

Der Schlüssel, den der rothaarige Mann ihm gegeben hatte, trug eine große Nummer sechs, also parkte Reacher neben dem sechsten Bungalow, ging hinein und fand sich in einer Miniaturversion der Lounge wieder: in einem kreisrunden Raum mit nur einem quadratischen Bereich für Bad und Toilette. Die Decke war eine indirekt beleuchtete Kuppel. Das Bett stand an der Wand – auf einer nach Maß gefertigten Plattform, die sich ihrer Krümmung anpasste. Neben dem Bett befand sich ein altmodisches Telefon. Es hatte noch eine Wählscheibe. Das Bad mit einem Duschkopf über der Wanne war klein, aber ausreichend, und die Toilette fast so groß wie das Bad.

Alles, was er brauchte, und nichts, was überflüssig gewesen wäre.

Reacher zog sich aus und ging unter die Dusche. Er stellte das Wasser so heiß, wie er es aushalten konnte, und richtete den Wasserstrahl auf Genick, Schultern, Arme und Rippen. Er hob erst den einen und dann den anderen Arm, dann beide gemeinsam. Sie bewegten sich, aber mit den ruckartigen Bewegungen einer neu konstruierten Maschine, die noch weiterentwickelt werden musste. Das Gute war, dass seine Faust überhaupt nicht wehtat.

Seth Duncans Arzt befand sich über zweihundert Meilen weit entfernt in Denver, Colorado. Ein erstklassiger Mediziner, keine Frage, aber aus praktischen Gründen nicht als Notarzt einsetzbar. Und die nächste Notaufnahme war eine Autostunde weit weg, doch kein vernünftiger Mensch würde zu dem hiesigen Quacksalber gehen. Also ließ Duncan sich von einem Freund zum Haus seines Onkels Jasper Duncan fahren. Weil sein Onkel Jasper ein Mann war, der zu ungewöhnlichen Zeiten ungewöhnliche Dinge erledigen konnte. Er wohnte fünf Meilen südlich der Motelkreuzung in dem nördlichsten der drei alten Häuser, die am Ende ihrer langen gemeinsamen Zufahrt standen. Sein Haus war ein Labyrinth voller Krempel, der aufgehoben wurde, weil er irgendwann vielleicht einmal nützlich sein konnte. Onkel Jasper selbst war über sechzig, stämmig wie eine Eiche, ein Mann mit vielerlei geheimnisvollen Fertigkeiten, ein Reservoir an Volksweisheit und Hinterwäldlerwissen.

Jasper setzte Seth Duncan auf einen Küchenstuhl und begutachtete die Verletzung. Dann ging er hinaus, wühlte in Schränken herum und kam mit einer Injektionsspritze und einem braunen Fläschchen mit einem Lokalanästhetikum zurück. Das Zeug war ein für Schweine bestimmtes tierärztliches Mittel, aber Säugetiere waren Säugetiere, und es wirkte einwandfrei. Sobald das Gesicht betäubt war, benutzte Jasper seinen kräftigen Daumen und Zeigefinger, um die Nase wieder in Form zu bringen; dann wühlte er in weiteren Schränken herum und kam mit einer alten Nasenschiene aus Aluminium zurück. Wieder eines dieser verrückten Dinge, die Jasper im Notfall aus dem Hut zaubern konnte. Er passte sie seinem Neffen an und befestigte sie mit Heftpflaster auf dessen Nase. Dann stopfte er zusammengerollte Gaze in die Nasenlöcher und benutzte warmes Wasser und einen Schwamm, um das Blut abzuwaschen.

Anschließend ging er ans Telefon und rief seine Nachbarn an.

Neben ihm wohnte sein Bruder Jonas Duncan und neben Jonas der dritte Bruder Jacob Duncan, der Seth’ Vater war. Fünf Minuten später saßen alle vier Männer an Jaspers Küchentisch, und der Kriegsrat begann.

Jacob Duncan sagte: »Das Wichtigste zuerst, Sohn. Wer war der Kerl?«

Seth Duncan sagte: »Ich habe ihn noch nie gesehen.«

Jonas sagte: »Nein, das wirklich Wichtigste zuerst – wo, zum Teufel, war dein Boy, dieser Brett?«

»Der Kerl hat ihn auf dem Parkplatz zusammengeschlagen. Brett hat ihn rausbegleitet. Der Kerl hat ihm in die Eier und dann an den Kopf getreten. Hat ihn einfach liegen lassen.«

»Wie geht’s ihm?«

»Er hat eine Gehirnerschütterung. Weiß nicht, welchen Tag wir haben. Wertloses Stück Dreck. Ich will, dass er ersetzt wird.«

»Wo er herkommt, gibt’s solche Typen reichlich«, meinte Jonas.

Jasper fragte: »Wer war der Kerl also?«

»Ein großer Mann in einem braunbeigen Parka. Mit einer runden Strickmütze auf dem Kopf. Mehr hab ich nicht gesehen. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Er ist einfach reingekommen und hat zugeschlagen.«

»Weshalb?«

»Keine Ahnung.«

»Hat er irgendwas gesagt?«

»Bloß irgendwelchen Scheiß. Aber Brett sagt, dass er den Subaru des Doktors gefahren hat.«

»Er weiß nicht, welchen Tag wir haben, aber er erinnert sich an das Auto des Kerls?«

»Gehirnerschütterungen sind unberechenbar, schätze ich.«

»Und du weißt bestimmt, dass der Angreifer nicht der Doktor war?«

»Ich sage euch, ich habe den Kerl noch nie gesehen. Den Arzt kenn ich. Und der verdammte Doktor würde mich niemals schlagen. Das würde er sich nicht trauen.«

Jacob Duncan sagte: »Was verschweigst du uns, Sohn?«

»Ich habe schlimme Kopfschmerzen.«

»Die hast du bestimmt. Aber du weißt genau, dass ich etwas anderes meine.«

»Ich will jetzt nicht reden.«

»Aber du weißt, dass du musst. Etwas wie diese Sache können wir nicht einfach so hinnehmen.«

Seth Duncan schaute nach links, schaute nach rechts. Dann sagte er: »Okay, ich hab heut Abend Streit mit Eleanor gehabt. Bevor ich weggefahren bin. Keine große Sache. Aber ich musste sie schlagen.«

»Wie fest?«

»Na ja, sie hatte dann Nasenbluten.«

»Wie schlimm?«

»Du weißt, dass sie zart ist.«

In der Küche herrschte einige Augenblicke lang Schweigen. Dann sagte Jonas Duncan: »Okay, versuchen wir, den Ablauf zu rekonstruieren. Deine Frau hat den Doktor angerufen.«

»Sie hat Anweisung, das nicht zu tun.«

»Aber vielleicht hat sie’s trotzdem getan. Weil sie zart ist. Aber vielleicht war der Doktor nicht zu Hause. Vielleicht war er wie gewöhnlich in der Motellounge, hatte wie gewöhnlich eine halbe Flasche Jim Beam intus. Vielleicht hat Eleanor ihn dort erreicht.«

»Er hat Anweisung, sich von ihr fernzuhalten.«

»Aber vielleicht hat er auch nicht gehorcht. Ärzte kommen manchmal auf komische Ideen. Und vielleicht war er zu betrunken, um zu fahren. Das ist er meistens. Wegen des Bourbons. Also hat er vielleicht jemand anders gebeten, ihn zu fahren. Weil er sich Sorgen gemacht hat.«

»Wen anders?«

»Einen anderen Typen in der Lounge.«

»Das würde sich keiner trauen!«

»Keiner von hier, das stimmt. Aber ein Fremder könnt’s getan haben. Schließlich ist das Apollo ein Motel. Dafür sind Motels da. Für Fremde auf der Durchreise.«

»Okay, und was dann?«

»Vielleicht hat dem Fremden nicht gefallen, was er in deinem Haus gesehen hat, und er hat sich auf die Suche nach dir gemacht.«

»Eleanor hat mich verpfiffen?«

»Das muss sie wohl. Woher hätte der Kerl sonst gewusst, wo du zu finden bist? Er kann sich hier nicht auskennen, wenn er ein Fremder ist.«

Jacob Duncan fragte: »Was genau hat er zu dir gesagt?«

»Irgendeinen Scheiß wegen Eheberatung.«

»Da haben wir’s«, sagte Jonas Duncan nickend. »So ist die Sache abgelaufen. Wir haben’s mit einem Moralapostel auf der Durchreise zu tun. Mit einem Gast aus dem Motel.«

Seth Duncan sagte: »Ich will, dass er zusammengeschlagen wird.«

Sein Vater sagte: »Das wird er, Sohn. Er wird zusammengeschlagen und fortgejagt. Wen haben wir dafür?«

Jasper sagte: »Nicht Brett, schätze ich.«

Jonas sagte: »Wo er herkommt, gibt’s solche Kerle reichlich.«

Jacob Duncan sagte. »Schick zwei von ihnen los. Bevor sie hinfahren, sollen sie mich anrufen, um ihre Anweisungen entgegenzunehmen.«

7

Nachdem Reacher geduscht hatte, zog er sich wieder an, auch den Parka, weil das Zimmer kalt war, schaltete das Licht aus, setzte sich in den Stahlrohrsessel und wartete. Er rechnete nicht damit, dass Seth Duncan die Cops rufen würde. Die Cops gehörten offenbar zum County, dessen Verwaltungssitz sechzig Meilen entfernt war. Keine hiesigen Verbindungen. Keine hiesigen Loyalitäten. Und um die Cops rufen zu können, brauchte man eine Story, und aus einer Story konnte unabsichtlich ein Geständnis werden, dass man seine Frau geschlagen hatte. Kein selbstgefälliger Kerl würde sich für diesen Weg entscheiden.

Aber ein selbstgefälliger Kerl, der gerade seinen Leibwächter verloren hatte, konnte Zugriff auf Ersatz haben, vielleicht auf zwei oder drei Typen. Und während Bodyguards im Allgemeinen nur reagierten, konnten diese zwei oder drei Ersatzleute vielleicht dazu gebracht werden, nur in dieser Nacht aktiv zu werden – vor allem wenn sie Bretts Freunde waren. Und Reacher wusste, dass es nicht schwierig sein würde, ihn aufzuspüren. Der Apollo Inn war vermutlich das einzige Motel im Umkreis von fünfhundert Quadratkilometern. Und wenn die Trinkgewohnheiten des Doktors hier allgemein bekannt waren, würde es einfach sein, den vermutlichen Ablauf zu rekonstruieren. Der Anruf, die Behandlung, die Intervention.

Deshalb zog Reacher sich wieder vollständig an, schnürte seine Stiefel, saß im Dunkeln und horchte auf das Knirschen von Reifen im Kies.

Über siebenhundert Kilometer nördlich von Reachers Position hörten die Vereinigten Staaten auf und Kanada begann. Die längste Landgrenze der Welt folgte dem 49. Breitengrad über Berge und Straßen, Flüsse und Bäche, durch Kleinstädte, Felder und Wälder, wobei ihr westlicher Teil schnurgerade verlief, fast dreitausend Kilometer weit vom Bundesstaat Washington bis nach Minnesota. Jeder Meter davon war im militärischen Sinn unverteidigt, größtenteils kaum markiert, aber vielerorts genauer überwacht, als die meisten Leute ahnten. Zwischen Washington State und Minnesota gab es vierundfünfzig offizielle Grenzübergänge, davon siebzehn Tag und Nacht, sechsunddreißig nur tagsüber besetzt und einer unbesetzt, aber mit Telefonen ausgestattet, die mit den nächsten Zollstellen verbunden waren. Überall sonst patrouillierte eine unbekannte Anzahl von Grenzpolizisten; an einsamen Stellen gab es Kameras, und auf weiten Strecken waren Bewegungsmelder im Erdreich vergraben. Die Behörden auf beiden Seiten der Linie hatten eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was entlang der Grenze passierte.

Eine ziemlich gute, aber keine perfekte Vorstellung. Im Bundesstaat Montana, östlich der Rocky Mountains, unterhalb der Baumgrenze, fiel das Gelände auf einer Strecke von über hundertfünfzig Kilometern von schroffen Gipfeln zu sanften, überwiegend von dichten Nadelwäldern bewachsenen Ebenen ab, in denen es nur stille Seen, rauschende Bäche und vereinzelt sandige Wege gab. Einer dieser Wege schlängelte sich viele Meilen weit bis zu einer zur Feuerbekämpfung angelegten Makadamstraße, die nach Süden führte und in eine kurvenreiche Forststraße mündete, die nach vielen Meilen weit nördlich der unbedeutenden kleinen Gemeinde Hogg Parish unauffällig von links kommend auf eine zweitklassige Landstraße stieß.

Ein neutraler grauer Kastenwagen benutzte diese Abzweigung nach links. Er rollte langsam über den Schotter, schwankte wegen Spurrillen und wechselnder Fahrbahnneigung nach links und rechts, war mit ausgeschalteten Scheinwerfern nur mit Standlicht unterwegs. So drang er endlos lange tiefer und tiefer ins bitterkalte Dunkel ein, bis er schließlich auf die Makadamstraße abbog. Nun hatte er eine glattere Fahrbahn unter den Rädern, während auf beiden Seiten mit Raureif bedeckte Bäume vorbeizogen, die nur einen schmalen Himmelsstreifen sichtbar werden ließen – mit Myriaden von Sternen, ohne Mond, aber mit GPS-Satelliten in zwanzigtausend Kilometer Höhe, die den Lieferwagen bei perfekter Empfangsqualität führten, ihm die Grenzen zeigten, innerhalb derer er sich ohne Gefahr bewegen konnte.

Der Wagen kroch weiter, viele Meilen weit, bis die Forststraße in den sandigen Weg überging. Er kam nur noch mit Schrittgeschwindigkeit voran und blieb dabei in den Spuren zahlloser früherer Fahrten. Er folgte ihnen nach links und rechts durch viele scheinbar willkürliche Kurven und zwischen eng stehenden Bäumen hindurch, deren Äste die Wagenwände streiften. So fuhr er über eine Stunde lang und machte dann an einem vorher festgelegten Punkt genau zwei Meilen südlich der Grenze halt. Wo man die Bewegungsmelder vergraben hatte, wusste niemand genau, aber nach allgemeiner Auffassung waren sie beiderseits der Grenze in einem Abstand von höchstens einer Meile konzentriert. Wie ein Minenfeld. Die zusätzliche Meile diente als Sicherheitsabstand, und an dieser Stelle war das Unterholz auf einer kleinen Fläche gerodet worden, damit der Lieferwagen wenden konnte.

Das Fahrzeug stieß zurück, wendete und blieb auf dem sandigen Weg stehen: mit dem Kühlergrill nach Süden, jederzeit abfahrbereit. Das Standlicht erlosch, und der Motor wurde abgestellt.

Es wartete.

Reacher wartete in der Dunkelheit in seinem Stahlrohrsessel sitzend, vierzig Minuten, eine Stunde, während er sich vorstellte, wie die nächste Tagesetappe ablaufen würde. Nach Süden zur Interstate, dann nach Osten weiter. Auf der Interstate würde er gut vorankommen. Dort gab es Einfahrten und Rastplätze und regen Verkehr, teils beruflich, teils privat, und nicht wenige Fahrer, die sich langweilten und gern jemanden mitnahmen, um Gesellschaft zu haben. Das eigentliche Problem würde darin bestehen, überhaupt zur Interstate zu gelangen. Seit er hier an der Kreuzung abgesetzt worden war, hatte er keinerlei Verkehr wahrgenommen. Nachts war natürlich immer weniger los als am Tag, aber in Amerika kam es trotzdem selten vor, dass man sich so nahe an einer Straße befand, ohne irgendetwas zu hören. Tatsächlich hörte er überhaupt nichts, keinen Wind, keine Nachtgeräusche, obwohl er aufmerksam auf das Knirschen von Reifen im Kies horchte. Als ob er taub geworden wäre. Reacher hob unbeholfen eine Hand und schnalzte neben seinem Ohr mit den Fingern, nur um sicherzugehen. Nein, er war nicht taub. Er hielt sich nur mitten in der Nacht auf dem Land auf, das war alles. Er stand auf, benutzte die Toilette und ließ sich wieder in den Sessel fallen.

Dann hörte er etwas.

Kein vorbeifahrendes Auto, keinen Wind, keine Nachtgeräusche.

Keine Reifen auf Kies.

Schritte auf Kies.

8

Schritte auf Kies. Ein Paar. Leichte, zögernde Schritte, die näher kamen. Reacher beobachtete das Fenster und sah draußen eine Gestalt vorbeihasten. Klein, schlank, den Kopf im Mantelkragen vergraben.

Eine Frau.

Dann wurde an die Zimmertür geklopft: leicht, zaudernd und gedämpft. Eine kleine nervöse Hand in einem Handschuh. Vielleicht ein Köder. Nicht auszuschließen, dass der oder die Angreifer jemanden vorausschickten, der nicht bedrohlich wirkte, damit die Zielperson sich sicher fühlte und die Tür öffnete. Ebenfalls wahrscheinlich, dass jemand, dem diese Rolle zufiel, sie nervös und nur zögernd spielte.

Reacher durchquerte den Raum lautlos und verschwand im Bad. Er schob das Fenster hoch, nahm das Fliegengitter heraus und lehnte es an die Wanne. Dann zog er den Kopf ein, kletterte übers Fensterbrett ins Freie und stand nun im Kies. Er balancierte lautlos auf einem der silbern angestrichenen Balken weiter, die den Kiesweg begrenzten. So umrundete er den kleinen Bungalow entgegen dem Uhrzeigersinn und kam von hinten an die Frau heran.

Sie war allein.

Kein Auto auf der Straße, niemand auf dem Parkplatz, niemand neben der Tür an die Wand gedrückt, niemand unter dem Fenster hockend. Nur diese Frau, die allein vor seiner Tür stand. Sie schien zu frieren. Sie trug einen leichten Wollmantel mit Schal. Keine Mütze. Sie war schätzungsweise vierzig, klein, schwarzhaarig und besorgt. Jetzt hob sie die Hand und klopfte erneut.

Reacher sagte: »Hier bin ich.«

Sie holte erschrocken Luft, wandte sich abrupt um und legte eine Hand auf ihre Brust. Ihr Mund blieb offen und bildete ein kleines O. Er sagte: »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ich habe keinen Besuch erwartet.«

Sie sagte: »Das hätten Sie aber tun sollen.«

»Na ja, vielleicht hab ich’s getan. Aber ich habe nicht Sie erwartet.«

»Können wir reingehen?«

»Wer sind Sie?«

»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich bin die Frau des Doktors.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Reacher.

»Können wir reingehen?«

Reacher fand den Schlüssel in seiner Tasche und sperrte die Tür von außen auf. Die Frau des Doktors trat über die Schwelle. Er folgte ihr, schloss die Tür, durchquerte den Raum und machte die Badezimmertür zu, um die durchs offene Fenster hereinströmende Luft auszusperren. Als er sich umdrehte, stand die Besucherin mitten im Zimmer. Er deutete auf den Sessel und sagte: »Bitte!«

Sie setzte sich. Knöpfte ihren Mantel nicht auf. Sie war noch immer nervös. Hätte sie eine Handtasche gehabt, hätte sie sie auf den Knien umklammert. Sie sagte: »Ich bin die ganze Strecke zu Fuß gegangen.«

»Um den Wagen zu holen? Das hätten Sie Ihrem Mann überlassen sollen. Ich habe mit ihm vereinbart, dass er ihn morgen früh abholt.«

»Er ist zu betrunken, um fahren zu können.«

»Aber morgen früh bestimmt nicht mehr.«

»Morgen ist’s zu spät. Sie müssen fort. Jetzt gleich. Sie sind hier nicht sicher.«

»Glauben Sie?«

»Mein Mann sagt, dass Sie nach Süden zur Interstate wollen. Ich fahre Sie hin.«

»Jetzt? Das sind bestimmt hundert Meilen.«

»Hundertzwanzig.«

»Mitten in der Nacht?«

»Sie sind hier nicht sicher. Mein Mann hat mir erzählt, was passiert ist. Sie haben sich mit den Duncans angelegt. Sie haben etwas gesehen, das Sie nicht hätten sehen sollen. Dafür werden sie ihn bestrafen, und wir fürchten, dass sie’s auch auf Sie abgesehen haben.«

»Sie?«

»Die Duncans. Es sind vier.«

»Wie bestrafen?«

»Oh, irgendwie. Letztes Mal durfte er einen Monat lang nicht hierherkommen.«

»Hierher? In die Lounge?«

»Die ist sein Stammlokal.«

»Wie konnten sie ihm das verbieten?«

»Sie haben Mr. Vincent angewiesen, ihn nicht zu bedienen. Er ist der Besitzer.«

»Wieso würde der Motelbesitzer tun, was die Duncans ihm sagen?«

»Die Duncans haben ein Fuhrunternehmen. Sie transportieren alle Lieferungen, die Mr. Vincent braucht. Er hat einen Vertrag unterschrieben. Das musste er praktisch. So arbeiten die Duncans nämlich. Spielt Mr. Vincent also nicht mit, kommen ein paar Lieferungen verspätet an, während andere verloren gehen oder beschädigt werden. Das weiß er. Dann müsste er das Motel zumachen.«

Reacher fragte: »Was haben sie mit mir vor, glauben Sie?«

Die Frau des Doktors erwiderte: »Sie heuern Footballspieler frisch vom College an. Cornhuskers. Spieler, die gut genug waren, um ein Sportstipendium zu bekommen, aber nicht gut genug, um es in die NFL zu schaffen. Nur ehemalige Abwehrspieler. Große Kerle.«

Brett, dachte Reacher.

Die Frau fuhr fort: »Sie werden eins und eins zusammenzählen und sich ausrechnen, wo Sie sind. Ich meine, wo könnten Sie sonst sein? Sie werden Ihnen einen Besuch abstatten. Vielleicht sind sie schon unterwegs.«

»Von wo kommen sie?«

»Die Garage der Duncans ist zwanzig Meilen von hier entfernt. Die meisten ihrer Leute wohnen dort in der Nähe.«

»Wie viele Footballspieler haben sie?«

»Zehn.«

Reacher schwieg.

Die Frau sagte: »Mein Mann hat Sie sagen gehört, dass Sie nach Virginia wollen.«