Wie ein Himmel in uns - Jakuta Alikavazovic - E-Book

Wie ein Himmel in uns E-Book

Jakuta Alikavazovic

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Beschreibung

Ein ungewöhnliches Experiment: was erlebt man in einer Nacht allein im Louvre? Jakuta Alikavazovic sucht nach der Bedeutung der Kunst für das eigene Leben.

Eine Nacht allein im Louvre gibt der Schriftstellerin Jakuta Alikavazovic Gelegenheit, an die magischen Orte ihrer Kindheit zurückzukehren. Sie versucht im Dämmerlicht die verblassten Wimpern der Mona Lisa zu erkennen und baut ihr Feldbett zu Füßen einer der berühmtesten Statuen der Welt auf. Dabei erzählt sie die Geschichte des wohl bekanntesten Museums neu. Wer weiß schon vom Geheimfach in der Venus von Milo oder der Entführung der Mona Lisa? Jakuta Alikavazovic denkt eine Nacht lang über Heimat, Liebe und Kunst nach – und wird dafür gefeiert. Das weltberühmte Museum wird zum berührenden Schauplatz für die Suche nach der Bedeutung der Kunst für das eigene Leben.

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Das ist das Cover des Buches »Wie ein Himmel in uns« von Jakuta Alikavazovic

Über das Buch

Eine Nacht allein im Louvre gibt der Schriftstellerin Jakuta Alikavazovic Gelegenheit, an die magischen Orte ihrer Kindheit zurückzukehren. Sie versucht im Dämmerlicht die verblassten Wimpern der Mona Lisa zu erkennen und baut ihr Feldbett zu Füßen einer der berühmtesten Statuen der Welt auf. Dabei erzählt sie die Geschichte des wohl bekanntesten Museums neu. Wer weiß schon vom Geheimfach in der Venus von Milo oder der Entführung der Mona Lisa? Jakuta Alikavazovic denkt eine Nacht lang über Heimat, Liebe und Kunst nach — und wird dafür gefeiert. Das weltberühmte Museum wird zum berührenden Schauplatz für die Suche nach der Bedeutung der Kunst für das eigene Leben.

Jakuta Alikavazovic

Wie ein Himmel in uns

Meine Nacht allein im Louvre

Aus dem Französischen von Stephanie Singh

Hanser

Am Anfang hinterließ ich manchmal Botschaften auf der Straße. Jemand lebt im Louvre, lauteten einige dieser Botschaften.

David Markson, Wittgensteins Mätresse

1

Die Nacht vom 7. auf den 8. März 2020 habe ich allein im Louvre verbracht. Allein und gleichzeitig alles andere als allein.

Ich war in der Antikenabteilung, im Kariatidensaal, auch wenn ich mein Schlaflager im Lauf der Nacht woanders aufbauen musste. Denn die Orte haben eine Seele, die Orte haben ein Leben, vor allem im Dunkeln; und es kommt vor, dass die am häufigsten besuchten und begangenen Orte, sobald sie leer sind, sich aufbäumen und auf ihre Weise rächen, indem sie all jene verjagen, die es gewagt haben zurückzubleiben.

Vielleicht spüren diese Orte auch, dass man kein gänzlich ruhiges Gewissen hat. Dass man kein gänzlich ruhiges Herz hat.

Wer eine Nacht im Louvre verbringen will, muss sich an ein bestimmtes Protokoll halten. Meine Mutter, deren Forschungen sie im letzten Jahrhundert bis in die Russische Nationalbibliothek in Moskau führten, erzählte mir, sie habe die ersten drei Tage dort damit verbracht, den Empfang in der Mokhovaya-Straße aufzusuchen, nur um dann zu erleben, wie ihr der Zugang immer wieder verwehrt wurde. Gewisse Rituale festigen sich schnell: Ich kam an, fragte, ob meine Unterlagen eingetroffen seien, man sagte mir, sie seien noch nicht da. Ich lächelte, hinterlegte mein Geschenk und ging wieder.

Binnen drei Tagen verschenkte sie eine Schachtel Schweizer Pralinen, eine Halbliterflasche Champagner und die Make-up-Palette einer Luxusmarke. Die Geschenke hatte meine Mutter auf der Hinreise ganz gezielt in Duty-free-Shops am Flughafen Charles-de-Gaulle gekauft, denn sie ist Russin und russischsprachig — wenngleich sie ihr Russisch, wie sie zu sagen pflegt, mehr und mehr verliert, wie ein Baum seine Blätter. Als Russin ist sie sowohl mit der impliziten als auch der expliziten Etikette vertraut. Am Morgen des vierten Tages begann sie sich dennoch langsam Sorgen zu machen: Die Sachen aus den Duty-free-Läden waren aufgebraucht; sie hatte nichts mehr. Doch es wäre ein grober Verstoß gegen die Etikette gewesen, mit leeren Händen aufzutauchen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte: Ich nahm deine Venus von Milo, die du in meinem Gepäck versteckt hattest, wie du es immer machtest, wenn ich verreiste, damit ich Paris nicht vergäße. Sie lächelte ein wenig. Wie hätte ich Paris vergessen können? Diese Stadt war meine größte Liebe.

An jenem Tag erhielt meine Mutter ihre Berechtigung. Vielleicht lag es an diesem ungewöhnlichen Geschenk. Vielleicht steht am Empfang der riesigen Moskauer Bibliothek noch immer eine Miniaturversion der Venus von Milo. Die Berliner Mauer ist gefallen, genau wie die kommunistischen Regime Europas; Gorbatschow ist nicht mehr an der Macht, hier und dort sieht man ihn manchmal in der Anzeige eines berühmten Herstellers luxuriöser Lederwaren jenseits aller ideologischen Schlachtfelder. Aber vielleicht ist meine Miniatur trotzdem noch dort. Vielleicht steht sie noch immer an diesem mythischen Ort, einer Bibliothek der Größe eines ganzen Stadtviertels, einer Stadt in der Stadt, in der Fremde sich verlaufen und manchmal, dem Geruch und Aroma nachspürend, den Raucherraum suchen, den es schon seit Jahren nicht mehr gibt. Wer weiß, vielleicht finden sie ihn manchmal? Es erscheint mir seltsam und schön, dass der Abdruck meiner Kinderhände auf einer kleinen Statue, an die ich länger als ein Vierteljahrhundert nicht gedacht habe, in einer Stadt und einem Land auf mich warten, die ich beide noch nie betreten habe.

Der Louvre von heute hat gewiss nichts mit der Leninka-Bibliothek von vor 30 Jahren gemeinsam. Dennoch muss man sich auch hier als vertrauenswürdig erweisen. Die explizite und implizite Etikette ist nicht die gleiche, aber es gibt sie. Mehr oder weniger offizielle Gespräche finden statt; ein polizeiliches Führungszeugnis wird verlangt. Der Prozess ist langwierig und zweifelsohne notwendig: Man gestattet eben nicht dem Nächstbesten Zutritt zu einem solchen Ort. Zumal allein. Nachts. Als ich die Sicherheitsleute und den Museumsleiter von meinen guten Absichten überzeugt hatte, erhielt ich für mein Vorhaben endlich die lang ersehnte Erlaubnis.

Ich wolle ein Buch über den Louvre schreiben, sagte ich bei diesen Gesprächen, die eigentlich, vielleicht, Vorstellungsgespräche waren. Ich wolle ein Buch über den Louvre und meine Familie schreiben. Über den Louvre und meinen Vater. Alle fanden die Idee hervorragend. Ehrenwert. Aber die Orte — oder die Kunstwerke, die sich dort befinden — nehmen Dinge wahr, die uns selbst entgehen.

Weder die Sicherheitsleute noch der Museumsleiter und auch nicht die Leiterin der Sammlung, die mich, meine Entscheidung und mein Vorgehen durch den gesamten Prozess unterstützte, wussten es damals: Ich bin die Tochter eines Mannes, der mich bei jedem Museumsbesuch fragte, wie viele gemalte Tiere, Sonnenaufgänge, Segelboote und Monde ich gesehen hatte. Wie viele Fenster, wie viele Treppen. Wie viele Wächter und Kameras. Und wie viele Notausgänge? Und Feuerlöscher? Nein, niemand von ihnen wusste, dass ich die Tochter eines Mannes bin, der mich bei jedem unserer Besuche fragte:

Na? Wie würdest du die Mona Lisa stehlen?

Von zu Hause nehme ich die Metro. Es ist die erste Nacht, die ich getrennt von meinem Sohn verbringe, der vor Kurzem neun Monate alt wurde. Es ist schon dunkel. Es regnet. Ich überlege kurz, ein Taxi zu nehmen, aber das Taxi beschützt, macht schläfrig; ich muss mit wachen Sinnen in die Stadt hinabsteigen und dann wieder an die frische Luft zurückkehren, in die nächtlichen Straßen, die niemals dunkel sind. Ich muss, wenn nötig, den Regen auf meinem Gesicht spüren — wenn der Regen heute Abend gleichbedeutend ist mit dieser Stadt, in der ich geboren bin.

In der Metro weiß niemand, was ich vorhabe, und ich fühle mich deshalb wild und frei. Ich mag all die Geheimnisse, die in Paris zusammenkommen. Niemand beachtet mich. Ich trage einen schwarzen Mantel und eine Reisetasche aus Leder und Leinen. Die Tasche wirkt respektabel und bürgerlich, viel respektabler und bürgerlicher, als ich es bin. Sie erhält diese Ausstrahlung durch ihre Qualität. Sie hat nicht übermäßig viel gekostet, überhaupt nicht, aber sie transportiert jenseits der finanziellen Sicherheit ein gewisses Selbstvertrauen, als sei man selbst davon überzeugt, eine gut gemachte Tasche verdient zu haben. Neben Selbstvertrauen vermittelt sie auch ein Vertrauen in die Zukunft, denn sie ist robust und man sieht sofort, dass sie lange halten wird. Diese Tasche wurde allerdings gestohlen. Sagen wir lieber: gefunden. Oder, noch besser und um den gängigen Euphemismus zu verwenden: ausgeliehen. Sie ist robust, aber leicht, vermittelt Eleganz und hat eine verführerische Geschichte, weil sie versehentlich in meinen Besitz geriet. Jemand hat sie in einer Buchhandlung nahe dem Panthéon vergessen, nach einer Begegnung mit jemandem, der nicht schrieb — zumindest nicht richtig. Sein Name stand auf dem Umschlag eines Buches, auch sein Gesicht war darauf abgebildet, doch die Sätze darin stammten nicht von ihm. Sein Buch war in Wirklichkeit von jemand anderem geschrieben worden, den ich gut kannte und noch besser kennenzulernen hoffte. Deshalb war ich hingegangen — mit einem gewissen Erfolg, denn der Ghostwriter blieb, nachdem der offizielle Autor gegangen war. Wegen ihm waren die ungefähr vierzig Leute gekommen. Sie sahen sein Gesicht oft im Fernsehen und hatten das Gefühl, ihn zu kennen. Doch beim Übergang von der zweiten zur dritten Dimension geschieht einiges, auch mit Gesichtern. Ich glaube, die Leute waren überrascht und ein bisschen verunsichert, weil sie ihn wiedererkannten und dennoch etwas anderes erwartet hatten. Vielleicht war deshalb jemand aus dem Konzept geraten und hatte diese Tasche vergessen. Wie auch immer, diese Überraschung oder Enttäuschung hatte die Menschen nicht davon abgehalten, das Buch zu kaufen, ohne zu ahnen, dass die Sätze, die sie an diesem und den folgenden Abenden lesen und mit seinen Gesichtszügen in Verbindung bringen würden, nicht von ihm stammten, sondern von dem jungen Mann neben mir. Es gelang mir nicht, ihn nicht anzusehen. Das passiert mir nicht oft, und genau deshalb war ich dort — nicht wegen des Buchs oder des angeblichen Autors. Jedes Mal, wenn ich daran scheiterte, ihn nicht anzusehen, kreuzten sich unsere Blicke, denn auch ihm gelang es nicht, mich nicht anzusehen, und das war zugleich unangenehm und wundervoll. Wir blieben und fanden deshalb diese Tasche, die unter einem Tisch vergessen worden war.

Der Ghostwriter behielt sie. Normalerweise hätte ich davon abgeraten, aber an jenem Abend sagte ich nichts. Es ging nicht um Gier. Vielmehr schien es, als sei diese Tasche für ihn gemacht worden und er habe die Buchhandlung bereits mit ihr betreten. Hatte man ihn einmal mit der Tasche über der Schulter gesehen, hatte man das Gefühl, ohne sie fehle etwas.

Der junge Mann, von dem ich den Blick nicht abwenden konnte, hatte die Tasche als Zeichen betrachtet. Mit dem Honorar für das Buch, das er geschrieben hatte, aber als dessen Autor er nicht galt, und mit der Tasche, von der er vor dem Fund nicht wusste, dass ihm ohne sie etwas gefehlt hatte, ging er auf Reisen. Die Reise dauerte lange, sie war gewissermaßen eine Weltreise, aber er machte hier und dort kurze Zwischenstopps, dann längere und schließlich so lange, dass es schien, er bewege sich gar nicht mehr von der Stelle. Je länger er fort war, umso weniger Kontakt hielt er, und eines Tages schrieb er mir gar nicht mehr. Er schien für immer verschwunden zu sein. Sein Leben schien durch diese Begegnung stärker aus der Bahn geraten zu sein als meines: durch die Begegnung mit mir — oder mit der Tasche. Einige Monate später fand ich auf einer Website mit Sonderangeboten eine Nachbildung der Tasche und kaufte sie. Manchmal war ich überraschenderweise davon überzeugt, ich — und nicht er — hätte die Tasche behalten. Ich sei fortgegangen. Doch in Wirklichkeit war ich geblieben, und die Geschichte zwischen uns war damit scheinbar am Ende.

An jenem Abend, an dem ich zum Louvre aufbrach, enthielt die Tasche einen schwarzen Pulli, eine braune, sehr leichte Steppdecke in einer Hülle aus Fallschirmstoff, einen kleinen Kulturbeutel mit Zahnbürste, Feuchtigkeitscreme und Kamm, eine Brillenhülle und Kontaktlinsen, eine Flasche Wasser, ein orangefarbenes Notizbuch, das ich inzwischen verloren habe, zwei Kugelschreiber, ein Ladekabel für mein Mobiltelefon und ein in Zellophan eingewickeltes Stück Nougat. Und noch etwas, von dem ich mich fragte, ob es durch die Sicherheitskontrolle kommen würde oder nicht.

Nahrungsmittel sind im Louvre verboten. Man hatte es mir gesagt, erneut gesagt und geschrieben. Diese Vorschrift war wohl ernst zu nehmen, so viel schien klar. Das Stück Nougat sollte die Aufmerksamkeit von der anderen Sache ablenken. So wollte ich herausfinden, wie ernst, wie wörtlich ich die Anordnungen dieser Institution nehmen musste. Kam der Nougat durch die Kontrolle, würde die ganze Sache vielleicht weniger schwierig, als ich sie mir vorstellte.

*

Der Louvre ist die erste französische Stadt, in der ich mich zu Hause fühlte, sagte mein Vater. Die offizielle Version der Geschichte geht so: 1971 kam er in Paris an. Er kam aus Liebe zu meiner Mutter, einer Lyrikerin. Er blieb wegen des Louvre. Er war zwanzig Jahre alt, und die folgenden zwanzig Jahre — die zum Teil meine Kindheit umfassten — verliefen wie ein Traum.

Seine Lebensfreude. Sein Hunger auf die Welt. Sein Optimismus und dessen Grenzen. Er hatte kein Geld und glaubte noch, das sei gänzlich unbedeutend, hatte er doch genug davon, um so zu tun, als hätte er welches.

Natürlich schwirrte ihm der Kopf. Sich die strahlende Stadt im Traum vorzustellen ist das eine. Sie zu entdecken, als lebendiger Mensch von zwanzig Jahren Tag und Nacht durch ihre Straßen zu ziehen, ist etwas ganz anderes. Alle Schwierigkeiten — Einsamkeit, Armut, die allgemein bekannte Tatsache, dass der kleinste Husten oder Schnupfen in einer fremden Sprache viel schwerer auszuhalten sind — verschwanden aus der offiziellen Version seiner Geschichte. Das reichte bis zu den Gründen für seine Auswanderung: Paris, gewiss. Meine Mutter, natürlich. Der Louvre, selbstverständlich. Ich sollte Jahre brauchen, um herauszufinden, dass er dem Militärdienst in seinem Herkunftsland Jugoslawien entgehen wollte — ein Land, das es heute nicht mehr gibt. Der wahre Grund, oder einer der wahren Gründe für seine Auswanderung nach Paris, war also die Flucht. Vielleicht gab es weitere Gründe. Er war auf der Flucht, und die führte ihn in den Louvre. Denn in dieser Stadt war alles größer, als er es sich vorgestellt hatte: Straßen, Gebäude, alles außer dem Himmel, der von allen Seiten eingesperrt und angefressen wurde. Wenn ihm der Kopf zu sehr schwirrte, flüchtete er ins Museum. Auch dort verlief er sich — der Louvre musste so groß gewesen sein, wie er sich als junger Mann ganz Paris vorgestellt hatte. Eine Stadt in der Stadt.

Der Louvre war schlecht beheizt, aber besser als die Dienstmädchenzimmer, in denen meine Mutter und mein Vater lebten. Sie befanden sich immer in schönen Vierteln, denn der Schein war wichtiger als alles andere, wichtiger noch als der Komfort. Fremd sein ist schon schlimm genug, wenn man auch noch arm wirkt, hat man verloren: So dachte mein Vater. Mein Vater hielt einen schönen Mantel für eine gute Immobilieninvestition. Einen Mantel, in dem man intensiv lebte und so lange wie möglich vermied, nach Hause ins Bett zu gehen. Einen Mantel, in dem man in den schicken Bars an der Place de l’Étoile rauchte, in Gesellschaft von Diplomaten und Geschäftsmännern, zu denen man nicht gehörte, aber, so glaubte mein Vater, hätte gehören können; ein Mantel, in dem man im Quartier Latin mit den reichen Erben des napoleonischen Adels Schach spielte, jenen selbsterklärten Totengräbern der Rasse, die mit ihrem Milieu gebrochen hatten und zu denen man nicht gehörte, aber, so glaubte mein Vater, hätte gehören können; ein Mantel, in dem man im Morgengrauen auf den Bänken vor der Hochschule für Architektur in der Nase bohren konnte, gemeinsam mit einer ambitionierten Jugend, zu der man nicht gehörte, aber, so glaubte mein Vater, hätte gehören können. Ein Mantel, in dem man schlafen konnte wie unter einer Decke, auf einer Bank in einer Bar, bei Freunden, mit seiner noch ganz kleinen Tochter, die er überallhin mitnahm, die die gleichen Dinge sah wie er, aber mit ihren Kinderaugen — seine kleine Tochter, für die er kein Kindermädchen hatte, weil er es nicht bezahlen konnte und auch keine Lust darauf hatte, denn — das wusste er, und es war einer der seltenen Augenblicke, in denen er sich damals selbst nichts vormachte — er war nicht von dieser Welt.

Der Louvre war schlecht beheizt, aber er war sein Ort, sein eigener Ort, ein Ort, an dem ihn die Schönheit über die Politik erhob. (Vergessen wir nicht, dass er zwanzig Jahre alt war, Europa durchquert hatte und aus einem sozialistischen Staat kam.) Es war sein Ort, an dem er Schritt für Schritt und mit großer Mühe neu lernte, Farben zu sehen, für die er auf Französisch keine Worte hatte und die er, vielleicht deshalb, nur schwer erkennen konnte.