Wie gesund wollen wir sein? - Sven Jungmann - E-Book

Wie gesund wollen wir sein? E-Book

Sven Jungmann

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Beschreibung

Unser Gesundheitssystem braucht ein Update!

Das deutsche Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps. An allen Ecken und Enden bröckelt es, Krankenhäuser und Personal sind überlastet, die Digitalisierung ist beim Faxen stehengeblieben. Wenn es so weiter geht, wird gesund werden und bleiben zum Glücksspiel.

Dr. med. Sven Jungmann ist mehrfach ausgezeichneter Arzt und Start-Up-Gründer. Er hat in deutschen Krankenhäusern und für die Fallschirmjäger gearbeitet. Durch seinen einzigartigen Blick auf die Medizin durch die Brille eines Tech-Gründers erkennt er Chancen ebenso wie Risiken und vor allem: Auswege.

Informativ wie kurzweilig zeigt er auf, wo akuter Handlungsbedarf besteht, um den Patienten Gesundheitssystem zu retten und was wir selbst tun können, um unsere Gesundheit an erste Stelle zu stellen.

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Buch

Das deutsche Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps. An allen Ecken und Enden bröckelt es, Krankenhäuser und Personal sind überlastet, die Digitalisierung ist beim Faxen stehen geblieben. Wenn es so weitergeht, wird gesund werden und bleiben zum Glücksspiel.

Dr. med. Sven Jungmann ist mehrfach ausgezeichneter Arzt und Start-up-Gründer. Er hat in deutschen Krankenhäusern und für die Fallschirmjäger gearbeitet. Durch seinen einzigartigen Blick auf die Medizin durch die Brille eines Tech-Gründers erkennt er Chancen ebenso wie Risiken und vor allem: Auswege.

Informativ wie kurzweilig zeigt er auf, wo akuter Handlungsbedarf besteht, um den Patienten Gesundheitssystem zu retten, und was wir selbst tun können, um unsere Gesundheit an erste Stelle zu stellen.

Autoren

Dr. med. Sven Jungmann, Jahrgang 1985, ist Arzt und Unternehmer, Vordenker des Gesundheitssystems, gefragter Sprecher auf Konferenzen und Berater für Medizin-Start-ups. Derzeit ist er Mitgründer und CEO eines Start-ups, das eine Methode zur Atemdiagnostik entwickelt. Die Digitalisierung der Medizin ist sein großes Thema.

Thomas Lindemann, Jahrgang 1972, arbeitete nach Abschluss seines Psychologiestudiums als Journalist und schrieb für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa »Welt« und »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«. Er verfasste mehrere Sachbücher.

SVEN JUNGMANN

MIT THOMAS LINDEMANN

WIEGESUNDWOLLENWIRSEIN?

Warum KI und Digitalisierung das Gesundheitssystem menschlicher machen

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von den Autoren und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autoren beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

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Originalausgabe April 2024

Copyright © 2024: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dagmar Rosenberger

Umschlag: favoritbuero

Umschlagmotiv: ©Ruslan Ivantsov/Shutterstock, ©Artistdesign. 13/Shutterstock

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

GS ∙ IH

ISBN 978-3-641-31586-3V001

www.mosaik-verlag.de

In Dankbarkeit für unsere Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen. Ich kenne noch zu gut eure unermüdlichen Bemühungen und Opfer. Auf dass ihr schnell die Unterstützung bekommt, die ihr verdient.

INHALT

Einleitung

1. Warum Daten Leben retten können, und wie wir diese Chance gerade verschlafen

2. Die digitale Patientenakte: Es gibt sie, aber sie taugt nichts. Was wir brauchen, ist ein »digitaler Zwilling«

3. Der Kittel brennt! Wir müssen als Erstes das Personal heilen, wenn wir ein gutes Gesundheitssystem wollen

4. Die digitale Glaskugel: Wie Medizin-Computer in die Zukunft schauen und warum das eine gute Nachricht ist

5. Der schöne Moment, wenn es noch nicht zu spät ist: Warum wir mehr Prävention brauchen und wie KI uns dabei helfen kann

6. Die Ärzte müssen sich ändern – und die Patienten auch. Über Verantwortung, Selbstheilungskräfte, Empathie und Placebos

7. Es geht nicht (nur) um Videochat: Warum Telemedizin immer wieder falsch verstanden wird

8. Diese Behandlung ist nur für dich! Warum wir die Medizin auf die Menschen zuschneiden müssen

9. Mini-Computer und Maxi-Daten: Wie KI uns mit Diagnosen überrascht, die Menschen nicht sehen können

10. Datenschutz und andere Bedenken – wo wir aufpassen müssen und wo nicht

Wenn wir nicht handeln, tun es andere: Die Zukunft kommt – mit oder ohne uns

Register

EINLEITUNG

Fragen Sie sich oft, warum Sie beim Arzt oder in der Klinik so lange im Wartezimmer sitzen müssen? Warum Sie erst in fünf Monaten einen Termin bei der Orthopädin im Stadtzentrum bekommen, obwohl Sie starke Rückenschmerzen quälen? Oder wieso Ihr Bekannter, der im Krankenhaus arbeitet, immer über Stress klagt und kurz vor dem Burnout steht? Die Antwort wird Ihnen nicht gefallen: Das alles sind nur Symptome, aber krank ist das Gesundheitssystem selbst, tief in seinem Inneren.

Vieles davon hat damit zu tun, dass die Technologie in der Medizin veraltet ist. Aber manches hat auch damit zu tun, dass Menschlichkeit und Empathie fehlen. Und das gerade im Umgang mit Menschen, die krank sind, Hilfe suchen und oft verunsichert sind. Doch das Personal – sowohl auf ärztlicher als auch pflegerischer Seite – ist überlastet, und es muss die Mängel des Systems durch zusätzliche, oft mühevolle Arbeit ausgleichen.

Ich habe jahrelang ein Doppelleben geführt: In dem einen Leben war ich Assistenzarzt und vergeudete im Klinikalltag viel Lebenszeit mit Tätigkeiten, die sich leicht automatisieren ließen. In dem anderen Leben beschäftigte ich mich freiberuflich mit dem Thema Digitalisierung im Gesundheitsbereich, hielt Vorträge und beriet Unternehmen. Die Kluft zwischen den beiden Welten hätte kaum größer sein können.

Während ich im Alltag schnell und einfach Dokumente per E-Mail oder in der Cloud austausche, musste ich als Arzt erst zahllose Kliniken abtelefonieren, um jemanden zu finden, der mir den aktuellen Arztbrief eines Patienten faxte, den ich dann meinem Diktiergerät vorlas, damit eine Schreibkraft ihn ins System eintippen konnte. Und bei dringenden Sachen schickten meine Kollegen mir ein Signal auf meinen Pieper, den ich an der Kitteltasche trug, als sei gerade das Jahr 1986 und im Fernsehen Miami Vice ein Hit. An anderen Häusern hatten wir immerhin DECT-Telefone, diese Funktelefone für zu Hause. Da konnten mir die Kolleginnen direkt sagen, worum es geht, und manchmal schaffte der Akku den Tag auch.

Gleichzeitig hat sich die Welt draußen so weit entwickelt, dass wir heute mit unseren Computern sprechen und Antwort von ihnen bekommen. Unsere Fotos liegen in der Cloud, und eine KI ordnet sie Schlagwörtern zu, unsere Einkäufe und den Urlaub planen wir digital. Ähnliches ist längst auch in der Medizin möglich. Künstliche Intelligenzen können Röntgenbilder deuten oder Hautkrebs diagnostizieren. Und sie können – damit wird es erst richtig interessant – in medizinischen Daten teilweise Krankheiten erkennen, die das menschliche Auge noch übersieht.

Doch die meisten dieser Technologien werden hierzulande noch nicht eingesetzt. Manchmal wissen die entscheidenden Leute in Kliniken und Praxen gar nichts davon, manchmal scheuen sie den Kontakt mit Digitalisierung und KI. Vielen ist einfach nicht klar, was diese Neuerungen bedeuten und wie diese Technologie ihnen nützen kann. Wie das funktioniert, woran es bisher scheitert, was die Risiken sind und welches die Chancen – um all das wird es in diesem Buch gehen. Und auch darum, wie sich überhaupt erst eine gute Datenbasis schaffen ließe, mit der Algorithmen dann zu unserer Gesundheit beitragen können.

Die Debatte um Digitalisierung und KI ist kein Kampf der Generationen. Es geht nicht darum, dass junge Silicon-Valley-Manager jetzt alles anders machen wollen. Und es geht erst recht nicht darum, die ältere, erfahrene Generation aufs Abstellgleis zu schieben. In vielerlei Hinsicht ist ihr Wissen unschätzbar wertvoll, und in vielen Abläufen wünschen auch sie sich mehr Unterstützung – warum sollte diese Unterstützung nicht von einem KI-System kommen? Computer, künstliche Intelligenz, lernende Algorithmen, Datenwissenschaft – das alles ist kein Hexenwerk, und es kann dem Gesundheitswesen dienen und helfen.

Das große Thema bleibt dabei: Wie kann der Mensch endlich wieder im Mittelpunkt stehen? Das ist das Ziel – und nicht die Digitalisierung selbst. Eigentlich sollte es aktuell heiß diskutierte Begriffe wie »Telemedizin« oder »E-Health« gar nicht geben. Alles ist »Medizin«, ohne »Tele-« und »E-«. Die elektronischen und nichtelektronischen Wege zum Ziel sollten gesund und sinnvoll zusammenfließen. Wie das geht, lesen Sie in den folgenden zehn Kapiteln.

Der Kontakt zu Patientinnen und Patienten ist den meisten Ärzten das Wichtigste. Doch zurzeit beobachten wir in den Statistiken eine gewisse Klinikflucht der Ärzteschaft, manch eine Abteilung auf dem Land musste schon schließen. Wenn das System besser wird, werden auch wieder mehr hoch qualifizierte und motivierte Leute gern mitmachen. Manchmal fehlen mir das Krankenhaus und die Menschen. Was mir nicht fehlt, ist der zurückgebliebene technische Entwicklungsstand in den Kliniken. Reden wir darüber.

KAPITEL 1

WARUM DATEN LEBEN RETTEN KÖNNEN, UND WIE WIR DIESE CHANCE GERADE VERSCHLAFEN

Schnitzeljagd im Krankenhaus-Computer: Alle Informationen sind da, aber schwer zu finden. Das digitale Chaos im Gesundheitswesen kostet Menschenleben.

Der Mann war mein erster Patient in der Notaufnahme an diesem Abend, und er sah ungesund aus. Seine Beine waren etwas geschwollen. Seine Haut war leicht bläulich marmoriert, ein Zeichen für eine Störung der Blutzirkulation. Er war übergewichtig und klagte über Schwindel und Atemnot. Der Mann war 64 Jahre alt, wirkte aber vom optischen Eindruck her zehn Jahre älter. Ein echter Berliner, er arbeitete im Handwerk und stand kurz vor der Pensionierung. Nennen wir ihn Heinz Lehmann. Herr Lehmann war in die Notaufnahme gekommen, weil ihm seine seit Tagen zunehmende Luftnot Probleme machte. Ich begann mit meinen Standardfragen:

»Haben Sie irgendwelche Vorerkrankungen?«

»Nö.«

»Nehmen Sie derzeit Medikamente?«

»Nö.«

Ich habe in der Notaufnahme gelernt, skeptisch zu sein gegenüber den Angaben, die Patienten machen. Denn so unglaublich es klingt, manchmal verschweigen Kranke die wichtigsten Details, geben falsch über sich selbst Auskunft, vergessen ganz entscheidende Dinge und bringen sich damit vielleicht sogar in Gefahr. Während ich Herrn Lehmann mit dem Stethoskop abhörte, fragte ich deshalb weiter.

»Nehmen Sie vielleicht Aspirin?«

Seine Haut, sein Gesicht, alles sah nach schlechter Durchblutung und Herzinsuffizienz aus. Vermutlich hatte er jahrzehntelang geraucht und vielleicht auch mehrmals pro Woche seine Eckkneipe besucht. Aspirin wird standardmäßig verschrieben bei Herzinfarkt und seinen Vorstufen, unter anderem bei instabiler Angina pectoris, nach arteriellen gefäßchirurgischen Eingriffen oder zur Vorbeugung von Hirninfarkten.

»Aspirin? Ja, ja, das nehme ich schon. Jeden Morgen eine.«

»Aber Sie haben doch eben zu mir gesagt, Sie nehmen keine Medikamente.«

»Ja, ich dachte, das zählt nicht mit.«

»Haben Sie denn Bluthochdruck?«

»Hatte ich, aber das ist vorbei, seit ich meine Blutdrucksenker nehme.«

»Aha.«

In solchen Momenten fühle ich Stress in mir aufsteigen. Mir gehen all die anderen Patienten durch den Kopf, die im Wartezimmer sitzen und sich die ganze Zeit fragen: »Wann schaut endlich jemand nach mir?« Nicht alle von ihnen leiden an etwas Lebensbedrohlichem, aber bei manchen kann der Zustand schnell kippen. Ich schiele auf die Warteliste im Computer, um zu fahnden, ob ich jemanden vorziehen sollte. Als Diensthabender fühle ich mich in solchen Momenten wie ein Fluglotse, der auf zehn Flugzeuge gleichzeitig achten muss, aber jedem einzelnen doch für einen Moment seine volle Aufmerksamkeit schenken soll. Und dann hat, um im Bild zu bleiben, auf einmal ein Pilot vergessen, mit welchem Hebel man im Landeanflug die Räder ausfährt.

Vorwurfsvolle Gedanken wie »Scheiße, dieser Mann hier schadet gerade sich selbst und dadurch auch allen anderen auf der Rettungsstelle« muss ich unterdrücken, denn auch dieser Patient ist gestresst und ängstlich. Und als Arzt möchte ich helfen. Zum Nachdenken bleibt ohnehin keine Zeit. Immer wieder kommen Pflegekräfte rein, fragen etwas, beschweren sich, dass ein Bericht noch nicht fertig ist oder die Röntgenanmeldung für jemanden noch ausgefüllt werden muss. Aber zurück zu Herrn Lehmann:

»Also nehmen Sie noch ein Medikament«, fuhr ich fort.

»Ja, schon. Ich dachte, so was meinen Sie nicht.«

»Welchen Blutdrucksenker nehmen Sie denn?«

»Also… den Namen weiß ich nicht. Das ist diese runde Tablette mit dem Schlitz in der Mitte.«

Er schaute fragend seine Frau an, die die ganze Zeit neben ihm saß. Ich schöpfe neue Hoffnung, denn in dieser Generation wissen die Ehefrauen oft viel besser Bescheid als die männlichen Patienten selbst. In diesem Fall aber nicht. Als Antwort kam nur ein Achselzucken von Frau Lehmann.

»Und wie viel nehmen Sie davon? Wie sind die Tabletten dosiert?«

»Weiß ich nicht.«

Ich nahm das alles erst einmal nur neutral zur Kenntnis. Ganz sicher bin ich mir nie, ob ich die reine Wahrheit höre. Vielleicht hat er mich vorher doch nicht angelogen und nimmt die Tablette tatsächlich gar nicht ein, obwohl seine Hausärztin ihn sicherlich mehrfach dazu aufgefordert hat.

Bei der anschließenden Untersuchung fiel mir eine kleine Narbe an Herrn Lehmanns Handgelenk über der Radialis-Arterie auf. So etwas kann anfangs nach einem Eingriff zurückbleiben, bei dem ein Katheter eingeführt wird – etwa um Stents zu setzen. Er könnte einen Herzklappenfehler gehabt haben.

»Herr Lehmann, Sie haben hier ja eine Narbe, die sieht neu aus. Was war denn da los?«

»Ach ja, da wurde ich operiert.«

»Ach was. Wann denn?«

»Vor drei Monaten, das ist aber alles wieder gut jetzt.«

»Und worum ging es da?«

»Da war was mit dem Herzen, Herzinfarkt oder so, aber der ist ja jetzt verheilt.«

Innerhalb von fünf Minuten hatte ich erfahren, dass dieser Patient, der angeblich keine Vorerkrankungen hatte und keine Medikamente brauchte, in Wirklichkeit mindestens zwei Tabletten täglich einnahm, vermutlich erst kürzlich einen Infarkt erlitten und eine Herzkatheteruntersuchung hinter sich hatte. Ich fragte mich, welche Überraschungen er noch für mich bereithielt. Die Informationen, die hier nach und nach herauskamen, waren potenziell lebenswichtig. Welches Medikament jemand nimmt, beeinflusst viele Entscheidungen, etwa welche Medikamente ich ihm überhaupt noch geben darf. Oder liegen Allergien oder Unverträglichkeiten vor? Oder weitere Erkrankungen, die ein bestimmtes Medikament verbieten? Und schließlich kann ein falsches Medikament sogar die Ursache für die Beschwerden sein, mit denen jemand zu mir kommt. Oft verordnen Patienten sich sozusagen selbst etwas, was ihnen aber eigentlich schadet. Das kann Aspirin oder Ibuprofen sein oder auch ein allabendliches Bier, oder zwei bis drei.

Nun hatte ich also nach detektivischer Vorarbeit endlich einige Details auf Herrn Lehmanns Patientenbogen erfasst. Ich würde gern behaupten, dass ich mir dabei wie Sherlock Holmes oder Dr. House vorkam, aber in Wirklichkeit fühlte ich mich wie ein überqualifizierter Datensammler. Ich konnte mich nicht auf das konzentrieren, wonach man sich – zumindest zu Beginn der Karriere – noch sehnt, bevor die angespannte Stimmung der meisten Krankenhäuser einen erfasst: ein gutes Arzt-Patienten-Gespräch.

Stattdessen musste ich mühsam einzelne Daten aus einem Kranken herauskitzeln, obwohl es irgendwo in dieser Stadt einen vollständigen Arztbericht gibt, in dem das alles schon steht. Diese eigentlich altbekannten Informationen hatten es nun endlich auf meinen Patientenbogen geschafft. Hurra! Aber nun ging es weiter: Um mehr über den Hintergrund dieses Patienten zu erfahren, musste ich genau herausfinden, was genau da erst vor wenigen Monaten gemacht wurde und warum.

»In welchem Krankenhaus hat Ihre Operation denn stattgefunden?«

»Weiß ich nicht mehr«, sagte Herr Lehmann.

Langsam stieg der Druck. Ich sah an der Liste auf dem Bildschirm, wie das Wartezimmer sich füllte. Trotzdem, es musste doch möglich sein, den Ort herauszufinden. Ich war außerdem allein mit der Verantwortung für diesen Patienten sowie für die Kolleginnen und Kollegen, denen ich ihn zur Weiterversorgung übergeben musste – möglichst vollständig vorbereitet. Ich musste das Problem lösen. Genau jetzt. Und zwar schnell.

Wir googeln Fassaden

»Wie sah es denn da aus, als Sie in dieses Krankenhaus kamen?«

Der Mann überlegte.

»Also das Gebäude hatte so rote Mauern aus Klinkern, und nebendran war eine Kirche, das weiß ich noch genau!«

Ich öffnete Google Maps. Tippte »Hospital near Church« ein und schaltete auf Street View um. Dann zeigte ich Herrn Lehmann einige der Bilder.

»Sieht diese Mauer entsprechend rot aus?«

Herr Lehmann überlegte mit mir. Eine der Mauern sah dann wirklich so aus, wie er es in Erinnerung hatte. Sie gehörte zu einem Krankenhaus im Südwesten der Stadt, und neben dem Haupteingang stand tatsächlich eine Kirche. Ich ließ Herrn Lehmann im Behandlungszimmer warten, unter den wachsamen Augen einer Pflegekraft, und setzte mich ans Telefon. Weil ich auch als Arzt keinen anderen Kontakt habe, rief ich die Hauptnummer des Krankenhauses an. Der Pförtner stellte mich zur Notaufnahme durch, dort ging ein Pfleger namens Harry dran. Ich erklärte ihm mein Anliegen. Harry sagte mir, dass die diensthabende Ärztin gerade steril sei und in der Notaufnahme Blut abnehme. Er gab mir eine Durchwahl und bat mich, später noch einmal anzurufen. Zuerst piepte mich allerdings eine Krankenschwester aus der Notaufnahme an. (Ja, es gibt tatsächlich in vielen Häusern bis heute noch Pieper. Diese Dinger aus den Neunzigern, die man am Gürtel trägt.)

»Ich habe da einen Patienten mit akuter Luftnot seit heute Nachmittag«, sagte sie, als ich bei ihr angerauscht kam, »schaust du dir den bitte gleich mal an?«

Akute Luftnot ohne weitere Infos kann bedeuten: Da hat ein sonst völlig Gesunder eine Panikattacke. Oder es kann bedeuten: da stirbt jemand in den nächsten 15 Minuten. Ich ging deshalb sofort hin. Zum Glück war es nichts Gefährliches. Wir konnten den Patienten vorerst stabilisieren, meine Kollegin versorgte ihn weiter, und ich widmete mich wieder Herrn Lehmann. Ich rief noch mal in dem anderen Krankenhaus an und erreichte dieses Mal die Kollegin in der Notaufnahme. Die verwies mich weiter an eine andere Kollegin auf Station. Die erinnerte sich glücklicherweise sofort. Sie hieß Sophie und war jetzt, um 22 Uhr und damit lange nach ihrem offiziellen Feierabend, zufällig noch auf Station, weil sie Papierkram erledigen musste.

»Hallo, Sophie, Sven hier«,sagte ich (wir duzen uns unter Ärztinnen und Ärzten eigentlich immer, besonders, wenn die Stimme am anderen Ende eher jung klingt), »ich habe gerade Dienst in unserer Notaufnahme und habe hier diesen Patienten, der nicht mehr weiß, ob und warum er bei euch stationär lag.« Da sprudelte es aus Sophie auch schon heraus. Sie erinnerte sich gut an Herrn Lehmann, seine Herzkranzgefäße brauchten Stents. Und sie machte gerade mal wieder Überstunden. Für mich und vor allem Herrn Lehmann war beides gut, denn ich hatte jetzt endlich eine konkretere Vorstellung davon, wie ich ihn behandeln konnte. Ich bat Sophie um seinen Entlassungsbericht. Dann sagte sie einen Satz, den man leider auch 2024 noch täglich in deutschen Krankenhäusern hört: »Ich kann dir das faxen.«

Außerhalb der Krankenhauswelt kann man sich das vielleicht nicht vorstellen, aber für uns ist es selbstverständlich, dass noch gefaxt wird, es gibt meist gar keine Alternative. Andere Arten der Datenübertragung werden in deutschen Krankenhäusern nicht regelmäßig genutzt – außer für CT- oder MRT-Aufnahmen vielleicht. Und da werden auch nicht die Daten digital verschickt, sondern eine DVD mit den Daten kommt in einen Umschlag und geht per Post auf den Weg.

Da saß nun also ein Patient in meiner Notaufnahme, der eventuell in Lebensgefahr schwebte, und ich wartete auf ein Fax. Es kam aber nicht. Also rief ich noch mal an, doch Sophie war nicht mehr zu erreichen. Erst nach einer Stunde hielt ich endlich ihr Fax in den Händen – Sophie hatte einen Notfall reinbekommen und musste sich erst darum kümmern. Wahrscheinlich war sie in der x-ten Überstunde, mit nur noch einer weiteren Kollegin, ähnlich wie ich. Da wachsen einem phasenweise die Dinge über den Kopf.

Mit Herrn Lehmann ging alles gut aus: Ich brachte ihn in der Kardiologie stationär unter und gab dem dortigen Team alle Informationen, sodass sie die weitere Abklärung leicht selbst in die Hand nehmen konnten. Soweit ich weiß, geht es ihm gut.

Wenn ich diese Geschichte erzähle, höre ich oft als Antwort: »Das ist aber sicher ein Extremfall gewesen, oder?« Ist es nicht. Hier kam zwar einiges zusammen – ein Patient mit schlechtem Gedächtnis und einer gewissen Indifferenz sich selbst gegenüber, ein Krankenhaus, das wir erst auf Maps suchen mussten, ein Faxgerät, und schließlich ich, der alles abtippen muss (auch wenn es nur die wichtigsten Informationen sind, wird das eine Seite) – aber das ist keine Seltenheit. An einem Tag Dienst, also in acht bis neun Stunden, verliere ich so oft anderthalb Stunden.

Solche oder ganz ähnliche Dinge passieren fast täglich. Irgendwo liegen die Informationen, denn jemand hat sie alle schon sauber und akribisch zusammengetragen und jeden Fall dokumentiert, aber darauf habe ich keinen Zugriff, ich weiß in den meisten Fällen nicht einmal, wo das wohl liegt. Ich muss erst an irgendeinen Brief kommen, irgendeine Person finden, nach irgendeinem Bericht fragen – ich komme mir oft vor, als müsste ich ein Escape-Room-Spiel bewältigen. Und das in dem Bereich, wo es besonders auf Schnelligkeit ankommt: in der Notaufnahme.

Der Kontrast zum Alltagsleben ist immer wieder kaum zu begreifen: Ich gehe zu meinem Dienst in der Klinik oder sitze in der Bahn, schaue mir schnell noch ein Video auf dem Handy an oder buche einen internationalen Urlaub in wenigen Minuten online. Eine App schlägt mir ein Date vor, das aufgrund gemeinsamer Interessen vielleicht zu mir passen könnte. Und mein digitaler Kalender erinnert mich an den Geburtstag meiner Schwester, den ich im Stress fast vergessen hätte. Dann trete ich durch die Klinikpforten, und plötzlich bin ich auf zwei oder maximal drei Balken EDGE statt LTE. Da kriegt man schon Angst, tiefer in die Klinik hineinzugehen. Was kommt als Nächstes? Wird die Welt plötzlich wieder schwarz-weiß?

Zwei Probleme im Gesundheitssystem

Ich erzähle solche Anekdoten gern, wenn Menschen mich fragen, was denn das Problem im deutschen Gesundheitswesen ist. Selbst in den größten und renommiertesten Kliniken wird im Hintergrund improvisiert, um die Ecke gedacht und darauf gehofft, dass andere zufällig gerade helfen können. Und zwar nicht, weil ausnahmsweise etwas schiefgelaufen oder ein außergewöhnlicher Problemfall eingetreten ist – Ausnahmesituationen gibt es überall, vermutlich selbst auf der Raumstation ISS. Aber in diesem Fall und in vielen anderen Fällen ist das einfach der normale Krankenhausalltag.

Auch wenn die Anekdote schon ein paar Jahre her ist, hat sich nichts Grundlegendes geändert. Hier und da wird etwas getan, aber der große Schritt nach vorn bleibt aus. Das Personal ist weiter gestresst, die Kranken sind weiter genervt. Für mich zeigt diese Geschichte daher immer noch mehrere Dinge, die auch in diesem Buch zentral sein werden. Erstens: Wir brauchen die digitale Patientenakte. Ich meine damit eine funktionierende Akte, die der komplexen Gegenwart angemessen ist und Patienten wie Kliniken wirklich dient. Seit Anfang 2021 können alle in Deutschland Versicherten sich eine ePA bei ihrer Krankenkasse einrichten lassen, das hat ein Gesetz so festgelegt. Es ist allerdings kein Wunder, dass auch heute noch kaum jemand von ihr gehört hat und fast niemand sie wirklich benutzt. Denn sie setzt den Fokus noch falsch. Sie sammelt zwar alle Krankheitsdaten, gibt aber nicht an, ob die Person raucht, allein lebt oder in einer gesunden Umgebung ihre Zeit verbringt. Jede Apple Watch hilft den Menschen mehr als die derzeitige elektronische Patientenakte. Dazu im nächsten Kapitel mehr.

Seit Jahrzehnten hört man aus verschiedenen alternativen Szenen die Klage, dass »unsere westliche Medizin« immer nur die Kranken behandle und nicht die Gesunden gesund erhalte. Dass sie immer zu spät komme und nur reparieren könne, nicht aber den Motor gut am Laufen halten. Deswegen sind exotische Behandlungstechniken zu uns gekommen, die Traditionelle Chinesische Medizin, der Taoismus, das Tai Chi, das Yoga und vieles mehr – sie alle verfolgen die Idee, auch gesunde Menschen zu behandeln, um deren Wohlbefinden zu erhalten, bevor es zu einem Leiden kommt. Und wir haben die »Biomedizin«, so nennen wir Fachleute das Update der Schulmedizin, also die ganz modernen Behandlungsmethoden, gestützt von der Forschung. Auch die kommt im Moment an ihre Grenzen.

Doch nun ist der historische Moment da. Die Chance, die wir ergreifen müssen. Jetzt könnte alles anders werden. Die Technologie, die künstliche Intelligenz (KI), die evidenzbasierte Medizin und die aktuelle Wissenschaft rücken zurzeit den Traum, die Menschen länger in besserer Gesundheit leben zu lassen und nicht mehr nur die Symptome der bereits Kranken in den Blick zu nehmen, in greifbare Nähe. Natürlich werden wir immer auch den Krebs, die Beinbrüche, den Diabetes, die Malaria und alles andere behandeln, was schon ausgebrochen ist. Aber wir haben genau jetzt die historische Chance, die Lebensqualität der Menschen zu steigern (was übrigens für jeden Menschen etwas anderes bedeutet, auch das müssen wir berücksichtigen) und sie individuell optimal zu fördern, damit potenzielle Krankheiten gar nicht erst entstehen. Aber wir nutzen diese Chance bisher nicht.

Deswegen müsste auch die Patientenakte schon viel weiter sein. Sie dürfte kein spleeniges Experiment sein, von dem die Versicherten nicht genau wissen, warum sie es brauchen könnten. Sie müsste ein Eckpfeiler einer neuen Medizin sein, und sie müsste einen echten Gewinn bedeuten für alle. Um eines gleich vorwegzunehmen: Wir werden in diesem Zusammenhang über den Datenschutz reden müssen, ein Thema, bei dem besonders die Deutschen sehr sensibel sind. Aber wir werden auch über die modernen Lösungen reden, die es für dieses Problem ja längst gibt, etwa in Skandinavien und in Kanada.

Die Anekdote vom Patienten Lehmann illustriert aus meiner Sicht auch, wie dringend wir unser Gesundheitssystem grundlegend ändern müssen. Denn sie zeigt, unter welcher Belastung Ärztinnen und Ärzte arbeiten müssen. Das ist ein Problem, über das viel zu wenig gesprochen wird. Ich werde ihm ein eigenes Kapitel widmen. Es lohnt sich aber, das schon jetzt im Kopf zu behalten: Die Menschen, die in diesem Land (und in Europa) heilen sollen, sind selbst schwer belastet. Ihre Arbeitssituation wäre in kaum einem anderen Bereich so akzeptabel. Das geht bis hin zu Situationen, in denen man als Arzt am Tag eine normale Schicht arbeitet, dann noch die ganze Nacht in den Bereitschaftsdienst geht und so manchmal rund 24 Stunden arbeitet. Dabei ist man zu zweit für mehrere Hundert Betten zuständig und muss morgens noch die neuen Fälle aus der Notaufnahme übergeben – das hält niemand lange aus, und das dient auch den Patientinnen und Patienten nicht. Und die Arbeit, die man dann geleistet hat, war stressig. Es mag ruhig aussehen, aber überall lauert Gefahr. Man fahndet im System immer nach Fehlern, die ein Problem machen könnten. Schaut im Computer auf die Warteliste, und immer drängt die Frage, ob eine Person vielleicht nicht mehr länger warten kann. Es kommt auf jeden einzelnen Fall an.

Wir müssen unser Gesundheitssystem umstellen. Von einem, das der Lage immer nur hinterherläuft, auf eines, das lernen kann, das auf mögliche Probleme aktiv zugeht und das für jede und jeden die Zukunft im Auge hat. 

Warum wir eine echte digitale Patientenakte brauchen

Wenn wir über die elektronische Patientenakte reden, müssen wir zugleich das große Problem der Digitalisierung mit ins Auge fassen: die Sicherheit. Der Chaos Computer Club (CCC), die Vereinigung deutscher Hacker und die erste Adresse für Fragen der Computersicherheit, schlug im September 2022 wegen einer ähnlichen, aber simpleren Neuheit Alarm: Das E-Rezept sei weder sicher noch halte es die Vorgaben des Datenschutzes ein. Die Meldung kam zu dem Zeitpunkt, als das digitale Rezept eingeführt wurde, das irgendwann die altbekannten rosafarbenen Zettel ersetzen soll. Der CCC kritisierte gleich mehrere Punkte: Bei einem Ausfall der digitalen Infrastruktur (wie es ihn im Jahr 2020 gab) wäre es wochenlang unmöglich, Rezepte einzulösen; eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sei nicht vorgesehen, die zentral eingesetzte Technologie sei veraltet und das Zusammenspiel der elektronischen Versichertenkarte mit dem E-Rezept sei außerdem nicht gut genug gegen Angriffe von Betrügern abgesichert.

Wie gesagt: Hier geht es nur um das digitale Rezept, also noch nicht einmal um die digitale Patientenakte, für die ich mich ausspreche. Aber wenn schon das einfache E-Rezept nicht störungsfrei funktioniert – wie schwer hat es dann erst der Plan, unsere Gesundheitsdaten zentral zu lagern und abrufbar zu machen? Eine brauchbare E-Patientenakte wird niemals kommen, wenn wir nicht kluge Antworten auf die Fragen des Datenschutzes finden. Der Chaos Computer Club hat schon mehrmals Schwachstellen in deutschen Gesundheitsnetzwerken kritisiert. Etwa, weil das sogenannte Telematik-Netzwerk der etwas über 100000 deutschen Arztpraxen nicht gut genug gegen böswillige Hacker geschützt ist.

Diese Kritik ist gut und wichtig, aber sie bedeutet noch lange nicht, dass die digitale Speicherung von Gesundheitsdaten grundsätzlich falsch oder unmoralisch wäre. Gesundheitsdaten sind auch nicht gleich Gesundheitsdaten. Es gibt harmlose, deren Freigabe jedem Patienten helfen würde, und es gibt sensiblere, für die man andere Lösungen finden könnte, etwa eine höhere Sicherheitsstufe. Dazu später mehr. Jedenfalls lässt das alles nur einen Schluss zu: Eine kluge und sichere digitale Akte muss her, damit auch Menschen wie Herr Lehmann sicher und schnell behandelt werden können.

Dass Deutschland noch solche Debatten führt, wie man sie jetzt hört, ist ein Skandal. Die Probleme sind groß und drängend, und wir diskutieren über Nebenaspekte von Kleinkram. Die medizinische Versorgung ändert sich sowieso gerade grundlegend – und der Wandel führt uns ohnehin weiter in die Digitalisierung hinein, in der Medizin wie in allen anderen Lebens- und Arbeitsbereichen. Es geht jetzt darum, diesen Weg bewusst zu gehen. Den Übergang in die Digitalisierung gezielt zu lenken und nicht einfach nur hineinzustolpern.

Wer bisher noch nicht wahrhaben will, dass der Gesundheitsbereich umfassend digitalisiert werden wird, sollte einfach mal die wirtschaftlichen Probleme anschauen, die sich vor uns auftürmen: Kliniken und Praxen stehen unter dem Druck, ihre Kosten zu senken. Neue Unternehmen und Institutionen drängen in den Gesundheitsbereich und verändern die althergebrachten Strukturen, man denke etwa an Firmen, die Praxen aufkaufen, dort ärztliches Personal als Angestellte einsetzen, aber den Verbund selbst leiten. Oder an Dienste wie die Termin-Software »Doctolib«, die sehr erfolgreich sind. (Terminvergabe ist nicht gerade cutting edge innovativ, und es sagt deshalb viel über den Zustand in Deutschland aus, dass man dieses Beispiel heranziehen muss, wenn es um die Digitalisierung der Medizin geht.)

Die Corona-Jahre haben allerdings die Telemedizin und die Online-Beratung beschleunigt und breiten Publikumskreisen nahegebracht. Der Wandel ist seitdem nicht mehr aufzuhalten. Und er wird radikal sein. Man kann durchaus daran denken, wie nachhaltig der Online-Handel viele Branchen für immer verändert hat. Auch wenn der Vergleich etwas hinkt – Gesundheitsvorsorge und Medizin sind sehr eigenwillige Systeme mit ganz besonderen Gesetzen –, was die Intensität des Wandels betrifft, passt er. Die schlechteste Lösung wäre nun, die Veränderungen zu ignorieren und planlos in die Zukunft hineinzustolpern.

Warum wir keine schlechte digitale Akte brauchen

Die klinische Realität wird komplexer. Bei den Diagnosen wird heute viel mehr Technologie eingesetzt als früher. In den seltensten Fällen stehen alle notwendigen Geräte an einem Ort bzw. in einer Praxis. Da ist es naheliegend, dass immer wieder irgendwer den Überblick verliert. Die elektronische Patientenakte könnte Diagnoseprozesse abkürzen, und die lange Suche nach Informationen – siehe Herr Lehmann – könnte wegfallen.

Bisher ist das alles aber technisch schlecht gelöst: Das Design ist miserabel und fällt weit hinter dem zurück, was wir von Apple & Co heute gewöhnt sind. Man muss sich durch zahllose Punkte klicken, um zu einer Information zu kommen, und die ist dann kaum aufbereitet. Alles ist durcheinander. Die digitale Akte soll zum Beispiel automatisch warnen, falls man im Begriff ist, etwas zu verschreiben, was diesem konkreten Patienten vielleicht wegen einer anderen Krankheit schaden könnte. Leider warnt sie aber so oft, dass schon der Begriff »Alert Fatigue« aufgekommen ist. Die Warnungen ergeben mitunter keinen Sinn und werden deshalb meist ignoriert. Eine amerikanische Umfrage unter Fachleuten kam zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Mediziner sich gestresst fühlen, wenn sie mit elektronischen Patientenakten in verschiedenen System arbeiten müssen und die Daten nicht austauschbar sind. Man könnte es auch so sagen: Zusätzliche, zeitraubende Arbeit macht uns Ärzten das Leben zur Hölle.

Aber das Potenzial ist da! Man könnte intelligente Warnungen entwickeln, wenn man die Daten intelligent aufbereiten würde. Dann könnte man medizinische Fehler vermeiden und doppeltes Arbeiten und doppelte Tests oder Untersuchungen ebenfalls. Letztere sind nicht nur teuer, erzeugen CO₂ und Abfall, sondern sind teilweise auch belastend oder gefährlich für die Patienten, etwa Röntgen oder Probenentnahmen. So kann die Digitalisierung also auch Kosten sparen. Die Sicherheit erhöht sich und letztlich auch die Qualität der medizinischen Versorgung überhaupt.

Es wäre möglich, noch viel weiter zu gehen: Moderne Systeme könnten die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts kalkulieren oder auf Osteoporose und damit auf das Risiko von Knochenbrüchen hinweisen. Sie könnten sogar vor manchen Arten von Krebs warnen, die bei bestimmten Menschen wahrscheinlicher sind als bei anderen. So etwas weiß die digitale Patientenakte – theoretisch. Denn tatsächlich gibt es sie in dieser Weise noch gar nicht. Natürlich gibt es »Digital Health Records«, abgekürzt EHR, beinahe in der ganzen westlichen Welt und auch bei uns. Aber sie sind allen verhasst, die damit arbeiten müssen, denn sie sind kompliziert, schlecht programmiert, nicht benutzerfreundlich und selten mit anderen Systemen kompatibel. Sie existieren jeweils nur für eine Krankenhauskette oder einen Anbieter, also letztlich als Insellösung, auch wenn diese Inseln manchmal sehr groß sind. Aber selbst die USA, das Mutterland der Digitalisierung, haben da noch mit Problemen zu kämpfen, und viele europäische Länder liegen noch meilenweit dahinter zurück. Dabei gibt es interessante Beispiele aus Dänemark, Spanien oder Estland.

In den USA berichtete der Stanford-Professor Abraham Verghese, ein Pionier im Ringen um eine kluge und menschenzentrierte Digitalisierung der Medizin, von einem wahren Fall: Eine 55-jährige Frau asiatischer Abstammung kommt mit Asthma zum Arzt. Außerdem hat sie einen rätselhaften Anstieg ihres Bluthochdrucks. Nun könnte das System, das die digitalen Krankenakten verwaltet, nach ähnlichen Patientinnen suchen. Das ließe sich anonymisiert und datenschutzkonform durchführen. Ohne die Namen oder andere private Daten der konkreten Personen zu erfahren, könnte das System abfragen, wie ähnliche Fälle auf bestimmte blutdrucksenkende Medikamente reagiert haben. Die Empfehlung wäre damit individueller. Und mehr noch: Das System könnte eine Vermutung sogar dann abgeben, wenn gar keine Studie zu dem bestimmten Thema verfügbar ist.

Damit haben wir noch nicht einmal über künstliche Intelligenz gesprochen und über das, was ein KI