Wie wir Menschen wurden - Madelaine Böhme - E-Book
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Wie wir Menschen wurden E-Book

Madelaine Böhme

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Beschreibung

Spektakuläre Funde werfen ein neues Licht auf die Geschichte der menschlichen Evolution

Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika – das galt lange als unumstößliche Erkenntnis. Doch in den vergangenen Jahren tauchten immer mehr Knochenfunde auf, die zeitlich und räumlich nicht ins Bild passen: Forscher entdeckten in Europa zahlreiche Fossilien von frühen Vorfahren heutiger Menschenaffen, aus denen später die menschliche Evolutionslinie hervorging.
Aus bekannten und völlig neuen Puzzleteilen rekonstruiert die renommierte Paläontologin Madelaine Böhme ein hochaktuelles Bild der Menschwerdung, das mit vielen gängigen Vorstellungen bricht. Sie beschreibt die Wendepunkte der Forschung und lässt die faszinierende Welt unserer frühesten Vorfahren lebendig werden. Ein packender Wissenschaftskrimi!

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Seitenzahl: 338

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Das Buch

Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika – das galt lange als unumstößliche Erkenntnis. Doch in den vergangenen Jahren tauchten immer mehr Knochenfunde auf, die zeitlich und räumlich nicht ins Bild passen: Forscher entdeckten in Europa zahlreiche Fossilien von frühen Vorfahren heutiger Menschenaffen, aus denen später die menschliche Evolutionslinie hervorging.

Aus bekannten und völlig neuen Puzzleteilen rekonstruiert die renommierte Paläontologin Madelaine Böhme ein hochaktuelles Bild der Menschwerdung, das mit vielen gängigen Vorstellungen bricht. Sie beschreibt die Wendepunkte der Forschung und lässt die faszinierende Welt unserer frühesten Vorfahren lebendig werden. Ein packender Wissenschaftskrimi!

Die Autoren

Prof. Dr. Madelaine Böhme, Geowissenschaftlerin und Paläontologin, ist seit Ende 2009 Professorin für terrestrische Paläoklimatologie an der Universität Tübingen und Gründungsdirektorin des Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment (HEP Tübingen). Sie zählt zu den profiliertesten Paläo-Klimatologen und Paläo-Umweltforschern und betrachtet die menschliche Evolution auch im Hinblick auf die Veränderungen des Klimas und der Umwelt.

Rüdiger Braun ist freier Wissenschaftsjournalist und arbeitet unter anderem für »Stern« und »Geo«. Er hat Biologie und Philosophie studiert, war Ressortleiter bei der Wochenzeitung »Die Woche« und hat als Chefredakteur das Magazin »MaxPlanckForschung« entwickelt.

Florian Breier hat Geografie, Germanistik und Politik studiert. Er arbeitet seit 1999 als Autor für Wissenschaftsthemen und als Filmemacher, u. a. für das ZDF (»Terra X«), arte, den WDR und den SWR.

Madelaine Böhme

Rüdiger Braun · Florian Breier

Wie wir Menschen wurden

Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Originalausgabe 2019Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: lüra – Klemt & Mues GbRUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung der Motive von © THEJANEGOODALLINSTITUTE, USA und © Shutterstock / Kristo RobertIllustrationen: Nadine Gibler InformationsdesignHerstellung: Helga SchörnigBildredaktion: Tanja ZielezniakSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-24441-5V003www.heyne.de

© Nadine Gibler unter Verwendung von Bildmaterial von Madelaine Böhme, Agnes Fatz/Universität Tübingen, Alamy Stock/Lanmas und istockphoto/ CreativemarcQuelle: Nach einer Vorlage von John Anthony Gurche, Stern, 14. 12. 2017

INHALT

EINLEITUNG

TEIL 1»El Graeco« und die Trennung von Schimpansen und Menschen

KAPITEL1Die Frage nach dem Ursprung des Menschen: Beginn einer detektivischen Spurensuche

KAPITEL2Das griechische Abenteuer: Die ersten fossilen Affen von Pikermi

KAPITEL3Im Garten der Königin: Die Entdeckung des Bruno von Freyberg

KAPITEL4Auf der Suche nach dem vergessenen Schatz: Bis in die Katakomben des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes

KAPITEL5Mit Magnetometer und Mikrocomputertomograf: Uralte Knochen im High-Tech-Labor

TEIL 2Der wahre Planet der Affen

KAPITEL6Pleiten und Glücksmomente: Eine kurze Geschichte der Suche nach unserem Ursprung

KAPITEL7Afrikanische Anfänge: Das erste Goldene Zeitalter der Menschaffen-Evolution

KAPITEL8Europäischer Fortschritt: Menschenaffen im Eichenwald

KAPITEL9Affen im Allgäu: »Udo« und die Vorschimpansen

TEIL 3Die Wiege der Menschheit: Afrika oder Europa?

KAPITEL10Der erste Urahn: Noch Affe oder schon Vormensch?

KAPITEL11Die versteinerten Fußspuren von Kreta: Rätselhafte Abdrücke eines uralten Zweibeiners

KAPITEL12Ein Schädel im Sand und ein »geheimer« Oberschenkel: Der dubiose Fall des Sahelanthropus

KAPITEL13Vom Vormenschen zum Urmenschen: Die Out-of-Africa-Theorie gerät ins Wanken

TEIL 4Der Klimawandel als Motor der Evolution

KAPITEL14Nicht nur Knochen zählen: Die Rekonstruktion der Umwelt als Schlüssel zum Verständnis der Evolution

KAPITEL15Im Staub der Zeit versunken: Landschaft und Vegetation zur Zeit »El Graecos«

KAPITEL16Die große Barriere: Eine gigantische Wüste wird zum unüberwindbaren Hindernis

KAPITEL17Grauweiße Wüste mit salzigen Seen: Das Mittelmeer trocknet aus

TEIL 5Was den Menschen zum Menschen macht

KAPITEL18Freie Hände: Viel Raum für Kreativität

KAPITEL19Wanderlust: Neugier auf das Unbekannte

KAPITEL20Unbehaarter Dauerläufer: Der rennende Mensch

KAPITEL21Feuer, Geist und kleine Zähne: Wie die Ernährung die Entwicklung des Gehirns beeinflusste

KAPITEL22Stimme verbindet: Vom Warnruf zur Kultur

TEIL 6Einer kam durch

KAPITEL23Verwirrende Vielfalt: Das Problem mit dem Stammbaum

KAPITEL24Rätselhaftes Phantom: Der Mensch aus der Denisova-Höhle

KAPITEL25Von vielen bleibt einer: Der vernunftbegabte Mensch

ANHANG

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

»Wie sich der Mensch aus dem Tierreich erhob« – ein Jugendbuch1 mit diesem Titel bekam ich im Alter von zwölf Jahren von meinen Eltern geschenkt. Es übte eine magische Anziehungskraft auf mich aus, weckte meine Neugier, und das Thema ließ mich nie mehr los – bis heute nicht. Es forderte meinen Widerspruch heraus, wirkte lange im Unterbewusstsein und warf viele Fragen auf: Wie können wir uns über etwas erheben, dessen Teil wir sind? Ist das nicht eine egozentrische Haltung? Ist Homo sapiens, der vernunftbegabte Mensch, nicht eher eine Katastrophe für diesen Planeten? Was unterscheidet uns Menschen vom restlichen Tierreich? Was macht uns einzigartig, und was hat unsere enorm dynamische zivilisatorische Entwicklung ermöglicht? Welche Faktoren in der Evolution stellten letztlich die Weichen für die Entstehung des Menschen, und welche Bedeutung haben diese Faktoren noch heute für uns? Und nicht zuletzt: Was sind dabei die Fakten, und was ist Spekulation?

Diese Fragen begleiteten von Anfang an meine Arbeit als Wissenschaftlerin. Sie lehrten mich, dass sich Wissenschaft immer wieder selbst hinterfragen muss. Auch die gängige Theorie, dass die Entwicklung vom Affen zum Menschen ihren Ursprung ausschließlich in Afrika hat, war deshalb für mich kein in Stein gemeißeltes Dogma.

Erste Zweifel an dieser Lehrmeinung kamen mir im Sommer 2009. Diese verstärkten sich in den vergangenen zehn Jahren durch zahlreiche neue Funde und Untersuchungen.

Die Wissenschaft von der Evolution des Menschen entwickelt sich gegenwärtig so dynamisch wie nahezu kein anderes Forschungsgebiet. Es vergeht kaum ein Monat ohne Berichte über aufsehenerregende Entdeckungen oder neue Untersuchungsergebnisse, die das bisherige Wissen in Frage stellen. Eine kontinuierlich wachsende Zahl innovativer naturwissenschaftlicher Methoden wird genutzt, um die geologischen, biologischen und kulturellen Entwicklungen, die zur Entstehung der Menschheit führten, zu untersuchen. Vieles, was noch vor wenigen Jahren gängige Lehrmeinung war, steht dadurch heute auf dem Prüfstand. Gerade zurzeit ist es besonders faszinierend, zur Evolution des Menschen zu forschen, weil viele Lehrgebäude, in denen sich die Paläoanthropologen jahrzehntelang zu Hause fühlten, dabei sind einzustürzen. Mir war es deshalb ein besonderes Anliegen, das neue Wissen in einem Sachbuch einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und nicht in einem Fachbuch, das überwiegend nur von Fachkollegen wahrgenommen würde. Ich wollte die Forschungstätigkeit so spannend erzählen, wie ich sie in den letzten Jahren selbst erlebt habe.

Als das Projekt zu diesem Buch startete, lag nur ein Teil der Forschungsergebnisse vor, über die hier berichtet wird. Es war eine Herausforderung, dass während der Schreibphase mehrfach neue Erkenntnisse integriert werden mussten. Besonders die Funde einer bislang unbekannten Menschenaffenart, die mein Forscherteam und ich in der Nähe von Kaufbeuren im Allgäu Stück für Stück ausgegraben haben, sorgten für Aufregung und für verblüffende neue Einblicke in das Evolutionsgeschehen der Menschwerdung. Die Bedeutung dieser Funde lässt sich derzeit noch gar nicht vollständig ermessen. Sie zählen jedoch sicherlich zu den bedeutendsten paläontologischen Entdeckungen in Deutschland.

Durch die intensive Zusammenarbeit zwischen mir und den beiden Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Braun und Florian Breier war es möglich, das umfangreiche und schwierige Buchprojekt in relativ kurzer Zeit zu realisieren.

Wie wir Menschen wurden lädt ein zu einer kriminalistischen Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit. Dieses Buch hat nicht nur den Anspruch, Wissen zu vermitteln, sondern es soll auch neugierig machen auf Zusammenhänge zwischen Evolution, Klima und Umwelt, die wir vielleicht erst in Zukunft vollständig verstehen werden. Es bietet neue Einblicke, die zu unserem Selbstverständnis als Menschen beitragen. Und es soll zudem leicht verständlich und unterhaltsam sein. So hat der Bericht von der Entdeckung, dem Verschwinden und der Wiederentdeckung des Graecopithecus, des derzeit ältesten bekannten menschenartigen Wesens, durchaus etwas von einem Krimi. Ich bin heute sehr froh, dass ich seine Spur so hartnäckig verfolgt habe, sonst wäre »El Graeco« möglicherweise im Staub der Geschichte versunken.

Graecopithecus und die Menschenaffen aus dem Allgäu sorgten mittlerweile für Schlagzeilen. Hier berichten wir nicht nur, wie es zu diesen Funden kam und wie sie sich wissenschaftlich einordnen lassen, sondern erzählen auch, was das mit der Rocklegende Udo Lindenberg zu tun hat. Darüber hinaus geben wir einen Überblick über Glanz-, aber auch Schattenmomente der Paläoanthropologie und ziehen ein aktuelles Fazit der Forschung.

Die hier beschriebene Geschichte der Menschheitsentwicklung umfasst zu einem großen Teil die Evolution der Menschenaffen. Sie reicht über 20 Millionen Jahre zurück und präsentiert ein Kaleidoskop unserer Vorfahren aus Afrika, Asien und Europa – vom Beginn der Menschenaffen-Evolution über die Entwicklung von Vor- und Urmenschen bis zur Gegenwart. Besonders im Fokus stehen Veränderungen des Klimas und der Umwelt als wesentliche Motoren der menschlichen Evolution. Europäische Savannen und afrikanische Wüsten spielten dabei ebenso eine wichtige Rolle wie die Austrocknung des Mittelmeeres oder die Eiszeiten.

Das Buch folgt der Frage, welche entscheidenden Entwicklungsschritte notwendig waren, damit es zur Entstehung des Menschen kommen konnte. Es beginnt mit den Anpassungen der Menschenaffen an eine schwierige Umwelt, beleuchtet die Entstehung des aufrechten Gangs, erläutert, warum die frühe menschliche Evolution nicht ausnahmslos in Afrika stattgefunden haben kann, und beschreibt eine Welt, in der unsere Spezies sich die Erde mit anderen Menschenarten teilte. Dabei wird deutlich, was uns Menschen zu Menschen macht und wie unsere Merkmale und Eigenschaften im Kontext der Evolution erklärbar sind: unser Gehirn, unsere Hände und Füße, unser Stoffwechsel, unsere Sprache, unsere Wanderlust und unsere Begeisterung für Feuer. Was der Mensch ist, ist er durch die Evolution in Jahrmillionen geworden. Das zu erforschen wird immer die Aufgabe unvoreingenommener Wissenschaft bleiben. Nicht zuletzt, weil wir uns selbst aus dem Tierreich erheben und doch nur ein Teil von ihm sind – aber mit der Gabe der Einsicht und der Fähigkeit, uns zu hinterfragen.

TEIL 1

»El Graeco« und die Trennung von Schimpansen und Menschen

KAPITEL 1

Die Frage nach dem Ursprung des Menschen: Beginn einer detektivischen Spurensuche

2009 begann für mich ein wissenschaftliches Abenteuer, das mir rückblickend wie eine Detektivstory vorkommt. Ich war gerade im Begriff, eine Professur anzunehmen. Deren Bezeichnung war sperrig, passte aber zu meinem Forschungsschwerpunkt – Terrestrische Paläoklimatologie, was so viel bedeutet wie: das Klima der Vergangenheit an Land. Die Universität Tübingen war dabei, mit der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung eine Forschungskooperation zum Thema »Menschliche Evolution« umzusetzen und meine Professur darin zu verankern. Mitten in dieser turbulenten Phase rief mich plötzlich Nikolai Spassov an, der Direktor des Naturhistorischen Museums in Sofia. Mit ihm verbindet mich eine langjährige Forschungsfreundschaft.

Schon als junge Studentin hatte ich 1988 die Gelegenheit, zusammen mit Nikolai an Grabungen in Bulgarien teilzunehmen. Wir untersuchten dort Wirbeltierfundstellen der Voreiszeit. Das war ein prägendes Erlebnis, denn es ist etwas ganz Besonderes für mich, Überreste ehemaligen Lebens in den Händen zu halten und sie als Teil einer vergangenen Umwelt zu begreifen. Mit jedem neuen Detail wird dabei die Vorstellung der versunkenen Welt plastischer und lebendiger. Nikolai half mir von Anfang an, darin einzutauchen. Er ist einer der besten Säugetier-Experten, die ich kenne, ein wandelndes Lexikon über anatomische Besonderheiten sowohl lebender als auch längst ausgestorbener Tierarten. Er erklärte mir unter anderem, woran ich erkannte, dass der Knochen, den ich gerade ausgrub, der Oberarm einer Säbelzahnkatze war, oder aufgrund welcher Merkmale man schließen konnte, dass die zahlreichen Hirschknochen zu mindestens drei verschiedenen Arten gehörten. Vermutlich wunderte er sich über das hartnäckige anatomische Interesse einer 21-jährigen Geologiestudentin, denn eigentlich nahm ich an den Grabungen teil, um die geologischen Verhältnisse zu studieren. Doch er beantwortete geduldig jede Frage, und ich nutzte das weidlich aus, denn die Erforschung vergangener Organismen in ihren Lebensräumen war schon damals mein eigentliches Ziel.

Bulgarische Inspirationen

Über zwanzig Jahre später erzählte mir Nikolai nun am Telefon euphorisch, dass er endlich gefunden habe, was er seit zehn Jahren in Bulgarien suchte: den fossilen Überrest eines Menschenaffen – eines Hominiden, wie Fachleute die Tierfamilie bezeichnen, zu der die heute lebenden Gattungen Gorilla, Orang-Utan, Schimpanse und Mensch zählen. Nikolai hatte einen Oberkiefer-Backenzahn ausgegraben, der typische Hominiden-Merkmale aufwies und der vermutlich aus einer Zeit vor sieben Millionen Jahren stammte! Das verblüffte mich, denn nach Untersuchungen vieler Kollegen waren zu dieser Zeit Menschenaffen in Europa längst ausgestorben. Das war seit Jahrzehnten gängige Lehrmeinung, und auch neuere Ergebnisse von Forschungen in Spanien und Griechenland schienen das zu bestätigen. Nikolais Entdeckung, dachte ich nebenbei, steht dazu in komplettem Widerspruch. Außerdem kam der Fund aus einer geographischen Region, in der ihn niemand erwartet hätte: aus der Nähe des Ortes Azmaka bei Tschirpan mitten in Bulgarien. Denn eigentlich ist vor allem der Südwesten des Landes unter Experten für seinen Reichtum an ausgestorbenen Säugetieren bekannt.

Dass Nikolai in dieser Gegend tatsächlich die Überreste eines Hominiden gefunden hatte, war in etwa so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Doch ich war von seiner Kompetenz überzeugt. Ohne zu zögern willigte ich also in eine Grabungskampagne im folgenden Herbst ein. Im Vordergrund unserer Forschungen sollten vor allem die Geologie und das Alter der Fundstelle stehen. Mit vier meiner Mitarbeiter, einem kleinen französischen Team und den bulgarischen Kollegen arbeiteten wir zehn Tage lang intensiv in der Sandgrube bei Azmaka. Wir erstellten eine geologische Karte, untersuchten die Sedimente und ihre Schichtungsverhältnisse und bohrten Gesteinskerne aus dem offen liegenden Boden, um daraus Daten über Veränderungen des Erdmagnetfelds zu gewinnen, die uns bei der Datierung des gefundenen Oberkiefer-Backenzahns helfen würden. Selbstverständlich fanden wir auch weitere Fossilien, darunter den fast kompletten Schädel eines Elefanten. Der an der Grabung beteiligte Experte für fossile Rüsseltiere, Georgi Markov, erkannte sofort einen Vertreter der Gattung Anancus, einer der ersten echten Elefanten. Der Zahn eines Hominiden und ein Anancus-Schädel aus ein und derselben geologischen Schicht – eine solche Kombination kannte man bis dahin nur von Fundstellen in Afrika, die Kollegen auf eine Zeit vor etwa 6,5 Millionen Jahren datierten. Auch die anderen Säugetierarten aus Azmaka ließen erkennen, dass die bulgarische Fundstelle etwas Besonderes war. Die Stimmung im Team wurde immer enthusiastischer und zugleich konzentrierter. Letztlich konnten wir Nikolai Spassovs Zeitschätzung bestätigen.

In der Thrakischen Tiefebene in Nordbulgarien erreichen die Temperaturen auch im September noch 35 Grad. Die lauen Abende sind dann oft die angenehmsten Stunden des Tages. Wir nutzten die Zeit, um uns regelmäßig in einem Gartenrestaurant mit authentischer Balkanküche zu versammeln. Es gab Lamm am Spieß oder Lammkopf im Topf, traditionellen Schopska-Salat und Rakia, den heimischen Obstbrand. Dort lösten sich die Anspannung des Tages und auch die Zungen. An einem dieser milden Abende in Azmaka erzählte ich Nikolai von einer Publikation aus dem Jahr 1949 von Bruno von Freyberg.2 Der deutsche Geologe hatte 1944 in Pyrgos bei Athen den Unterkiefer eines Menschenaffen gefunden, der sich aufgrund besonderer Merkmale nur schwer einordnen ließ. Sein Alter sollte, laut von Freyberg, etwas jünger sein als das der Funde an der berühmten, in der Nähe gelegenen paläontologischen Fundstelle Pikermi. Mehrere Forscher hatten letztere auf eine Zeit vor 8,5 und 7 Millionen Jahren datiert. Die damalige Fachwelt hielt von Freybergs Annahmen aber schlicht für Humbug, denn sie waren völlig unvereinbar mit der Lehrmeinung, dass Menschenaffen bereits lange zuvor aus Europa verschwunden waren. Somit konnte es nach ihrer Meinung in Europa ein paar Millionen Jahre später auch keinen höher entwickelten Hominiden geben. Überprüft wurde das Alter allerdings von niemandem.

Nikolai und mir wurde schlagartig bewusst, dass der bulgarische Backenzahn und der Unterkiefer aus Griechenland womöglich aus derselben Zeit stammten. Handelte es sich wirklich um einen etwa sieben Millionen Jahre alten europäischen Menschenaffen? War das möglich? Das würde ein völlig neues, unbekanntes Kapitel der frühen Menschwerdungsgeschichte aufschlagen. Ich hatte Witterung aufgenommen. Eine Sensation lag in der Luft!

Was konnte besser in mein neues Aufgabenfeld an der Universität Tübingen passen als solch eine Fragestellung? Entscheidend waren jedoch eine Neubewertung des Kiefers und exakte Datierungen der Fundstellen von Azmaka, Pyrgos und Pikermi. Das Problem war nur, dass der Verbleib des Unterkiefers sowie der anderen Fossilien aus Pyrgos offenbar unbekannt war. Und Gerüchte besagten, dass die Fundstelle Pyrgos überbaut und nicht mehr zugänglich sei. Ohne die Fossilien und ohne den entsprechenden Gesteinszusammenhang waren die notwendigen wissenschaftlichen Schritte jedoch unmöglich. Doch ich ließ nicht locker. Irgendwo musste dieser Unterkiefer noch existieren, hoffte ich. Denn die Wirren des Zweiten Weltkriegs hatte er ja überstanden. Eine kriminalistische Spurensuche begann, die mich zu den Anfängen der Paläontologie im 19. Jahrhundert führen sollte, zu den Wurzeln des politischen Europa, mitten hinein in die Geschehnisse in Athen während des Zweiten Weltkriegs und zu einem fast vergessenen Safe.

KAPITEL 2

Das griechische Abenteuer: Die ersten fossilen Affen von Pikermi

Frühjahr 1838. Ein einfacher Soldat spricht in der Zoologischen Staatssammlung in München vor und bietet dem renommierten Zoologen Johann Andreas Wagner Fossilien aus Griechenland zum Kauf an. In ihnen stecken funkelnde Kristalle, die der Soldat für wertvolle Diamanten hält. Wagner erkennt sofort, dass der Mann tatsächlich auf einen Schatz gestoßen ist, auch wenn es sich bei den Kristallen nur um gewöhnlichen Kalzit handelt. Denn zwischen allerlei Knochenbruch und Pferdezähnen liegt in der unscheinbaren Schachtel des Soldaten etwas viel Kostbareres: der Oberkiefer eines fossilen Affen!

Oben der von einem bayerischen Soldaten gefundene Oberkiefer aus der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (München). Darunter ein nahezu kompletter Gesichtsschädel eines Affen aus Pikermi, auf dessen Basis Johann Andreas Wagner 1839 die Art Mesopithecus pentelicus begründete.© SNSB – Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie München

© SNSB – Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie München

Wagner ist ein bekannter Erforscher der »Urwelt«, wie vergangene erdgeschichtliche Epochen damals noch genannt werden. Er hat schon viele Fossilien untersucht. Doch eine Wissenslücke bereitet ihm und seinen Kollegen Kopfzerbrechen. An vielen Orten in Europa und Asien hat man versteinerte Überreste von Löwen, Hyänen, Elefanten und Nashörnern entdeckt und daraus abgeleitet, dass sie einst viel weiter verbreitet gewesen sein müssen. Doch es gibt bisher so gut wie keine Fossilien von Affen. Wie aber kann es sein, dass all diese Tierarten in ihren verbliebenen Lebensräumen in Afrika immer gemeinsam vorkommen, an den Fossilienfundplätzen aber nicht? Mit dem Fund aus Griechenland hält Wagner nun ein wichtiges »urweltliches« Puzzleteil in den Händen, das diese Wissenslücke schließt. Nach gründlicher Untersuchung publiziert er den Fund 1839 als Mesopithecus pentelicus, einen Hundsaffen, den er für ein Bindeglied zwischen Schlankaffen und Gibbons hält.3

Doch wie genau waren die Fossilien in den Besitz des Soldaten gelangt? Ihre Fundgeschichte ist ebenso abenteuerlich wie ihr Weg in die Zoologische Staatssammlung München. 1836 war der britische Historiker George Finlay 20 Kilometer nordöstlich von Athen am Fuße des Berges Pentelikon auf rätselhafte Knochen gestoßen, als er das Gebiet auf der Suche nach antiken Stätten durchstreifte. Er sammelte einige Fossilien ein und zeigte sie Anton Lindermayer, einem befreundeten Arzt aus Deutschland, der darin sofort versteinerte Säugetierknochen erkannte.

Finlay und Lindermayer gehörten zu jenen westlichen Romantikern, die sich als glühende Bewunderer des antiken Hellas »Philhellenen« nannten und in ihrer Begeisterung nach Griechenland ausgewandert waren. In Deutschland war diese geistige Strömung auch mit Namen wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Alexander von Humboldt verbunden. Die Anhänger der Bewegung unterstützten im frühen 19. Jahrhundert den hellenischen Freiheitskampf gegen die osmanische Herrschaft.

Illegale griechische Souvenirs

1827 gelang es den Freischärlern und Griechen schließlich nach einem langjährigen Bürgerkrieg mithilfe der Großmächte Frankreich, Großbritannien und Russland, die Osmanen zu schlagen. Doch die junge Republik kam nicht zur Ruhe. Deshalb beschlossen die Großmächte 1832, Griechenland in eine Monarchie umzuwandeln. Nur unter dieser Bedingung waren sie bereit, dem überschuldeten Land dringend benötigte Kredite zu gewähren. Sie schlugen der griechischen Nationalversammlung vor, einen europäischen Fürsten zum König zu wählen. Die Versammlung entschied sich schließlich für den sechzehnjährigen Prinzen Otto von Bayern, den zweiten Sohn des bayerischen Königs Ludwigs I., nachdem zuvor bereits zwei Wunschkandidaten dankend abgelehnt hatten. Das war wohl eher eine Notlösung, zumal Prinz Otto als Minderjähriger noch nicht voll geschäftsfähig war.

Am 6. Februar 1833 traf er dennoch als erster König von Griechenland mit der britischen Fregatte »Madagaskar« in der damaligen griechischen Hauptstadt Nafplio ein. Mit an Bord waren 3582 bayerische Soldaten und eine Vielzahl von Beamten – darunter auch der Militärarzt Anton Lindermayer.

So kreuzten sich also die Wege eines deutschen Mediziners und eines britischen Historikers im neuen Staat Griechenland, und sie taten sich zusammen, um Fossilien auszugraben. Weitere Erkundungstouren am Pentelikon hatten ergeben, dass ein Bachbett in der Nähe des Gutes Pikermi besonders reich an Knochen war.

Ausschnitt aus einer Knochenbrekzie aus Pikermi. In rotem Schluffstein findet sich eine chaotische Ansammlung von Knochen, die vor allem zu Pferden, Antilopen und Giraffen gehören. © Madelaine Böhme

Um die anfallenden Erdarbeiten zu bewältigen, heuerten Finlay und Lindermayer einen Teil jener bayerischen Soldaten an, die mit König Otto nach Griechenland gekommen waren – und einer von ihnen kehrte schon im folgenden Jahr mit »illegalen Souvenirs« im Gepäck nach München zurück. Am Beginn einer der bedeutendsten paläontologischen Entdeckungen steht also ein Diebstahl. Doch man kann es auch anders ausdrücken: Die Fundstelle Pikermi4 hätte wohl nie diesen Weltruhm erlangt, wenn nicht jener Grabungshelfer im Geheimen seinen Sold hätte aufbessern wollen.

Nach den Funden von Finlay und Lindermayer und ihrer Beschreibung durch Wagner setzte eine wahre Goldgräberstimmung am Pentelikon ein, auch wenn es nur um Knochen ging. Abenteurer und Naturforscher gruben im Bachbett von Pikermi, und Akademien und Museen schickten Expeditionen in die Region. So sind heute in den großen naturhistorischen Museen Europas nicht nur weitere Mesopithecus-Fossilien zu bestaunen, sondern auch prachtvolle Exemplare fossiler Giraffen, Antilopen, Nashörner, Hyänen und Säbelzahnkatzen.

Skelettsaal ausgestorbener Säugetiere im Muséum national d’Histoire naturelle. Das Pariser Museum besitzt die weltweit bedeutendste Sammlung fossiler Säugetiere aus Pikermi.© Florian Breier

Zusammengenommen bilden sie die pikermische Fauna, eine Lebensgemeinschaft, die am besten mit der Tierwelt heutiger afrikanischer Savannen vergleichbar ist, aber in Griechenland erstmals als uraltes Ökosystem auf europäischem Boden entdeckt wurde.5

Für die Forschung markiert Pikermi den Beginn der Wirbeltier-Paläontologie als eigenständigem Wissenschaftszweig. Viele frühe und bahnbrechende Bücher zur Abstammungsgeschichte der Säugetiere waren nicht nur von Darwins 1859 veröffentlichter Evolutionstheorie beeinflusst, sondern gründeten auch auf diesen griechischen Fossilienfunden.6 Die Erkenntnis, dass neben Tieren auch Landschaft und Klima ständigem Wandel unterliegen, dokumentierte die Pikermische Fauna anschaulich. Mesopithecus blieb jedoch für 100 Jahre die einzige beschriebene Affenart aus dieser versunkenen Savannen-Welt.

KAPITEL 3

Im Garten der Königin: Die Entdeckung des Bruno von Freyberg

Mit Ausbruch des ersten Weltkriegs kamen die Grabungen im Knochen-Eldorado bei Athen zum Erliegen. Es wurde still um die Fundstelle Pikermi, bis ein weiterer Zufall das Interesse am Fossilienerbe aus Griechenland neu entfachte.

Im Jahre 1941 wurde der Erlanger Geologieprofessor Bruno von Freyberg als Wehrgeologe »auf Kriegsdauer« in die Wehrmacht abkommandiert. Wehrgeologen waren keine Soldaten, sondern Zivilbeamte innerhalb der Wehrmacht. Zu ihren Aufgaben gehörte es, geeigneten Baugrund für Militäranlagen zu finden und festzustellen, ob sich das Gestein auf einem Gelände als Baumaterial eignete, wie dort die Trinkwasserversorgung sichergestellt werden konnte, und ob im Untergrund wertvolle Rohstoffe lagerten.

1943 wurde von Freyberg nach Athen in das besetzte Griechenland versetzt. Nördlich der Stadt sollte er die Geologie dokumentieren, Kohlevorkommen untersuchen und den Ausbau von Bunkern für Flugabwehrstellungen betreuen. Von Freyberg und seine Mitarbeiter standen unter hohem Zeitdruck, denn die militärische Lage für die deutschen Besatzungstruppen war extrem angespannt. Es gab immer häufiger Angriffe und Sabotageaktionen der Partisanen. Außerdem verschärften die Massaker, die die Waffen-SS an der Zivilbevölkerung anrichtete, den Widerstand.

Von Freyberg und seine Helfer wurden auf ein Grundstück mit einem Turm und einer ungewöhnlichen Vorgeschichte aufmerksam. Das Gelände war bekannt unter dem Namen Pyrgos Vasilissis Amalias, der Turm von Königin Amalie. Amalie Marie Friederike Herzogin von Oldenburg hatte 1836 König Otto I. von Griechenland geheiratet und war damit erste Königin von Griechenland geworden. Ihre Leidenschaft galt der Natur, der Landwirtschaft und dem Gartenbau. Um moderne Anbaumethoden in Griechenland einzuführen, gründete sie Heptalophos – die sieben Hügel – , ein 250 Hektar großes Landgut vor den Toren Athens, das sich über sieben Hügel erstreckte. Der Name war nicht zufällig gewählt, sondern hatte eine symbolische Bedeutung. Viele Philhellenen, zu denen auch Amalie gehörte, träumten davon, dass Konstantinopel eines Tages wieder die Hauptstadt aller Griechen und der orthodoxen Christen werden würde. Und Konstantinopel war – wie das historische Rom – auf sieben Hügeln erbaut worden. Auf Heptalophos hatte Amalie auch einen kleinen Palast mit ebenjenem Turm errichten lassen, der die Aufmerksamkeit von Freybergs auf das Landgut lenkte. Der Geologe entdeckte, dass der südlichste Hügel ideal geeignet war, um in ihn einen Bunker für Flugabwehrkanonen einzubauen.

Pyrgos Vasilissis Amalias, der Turm von Königin Amalie in Athen© Pyrgos Vasilissis

In Kriegswirren gefunden und wieder vergessen

Im Juni 1944 begannen die Bauarbeiten am Bunker. Und sie förderten im Aushub Erstaunliches zutage. Aus dem rotem Schluffstein bargen Arbeiter ein Fossil, das von Freyberg sofort zuordnen konnte: den kompletten Unterkiefer eines Affen. Immer mehr Knochenreste kamen zum Vorschein. Bis sich von Freyberg schließlich sicher war, eine »bedeutende Fundstelle vom pikermischen Typus« entdeckt zu haben.

Doch die Kriegsumstände ließen es nicht zu, eine sorgfältige und umfassende Grabung durchzuführen. So blieb von Freyberg nichts anderes übrig, als lediglich die geologischen Verhältnisse am Fundort und auf dem übrigen Areal des Landgutes zu dokumentieren. Außerdem bat er die leitenden Techniker und Arbeiter »um Rettung der beim Abbau anfallenden Reste« und barg eigenhändig, wann immer er konnte, Knochen aus dem Aushubmaterial. Das fiel ihm sicherlich nicht leicht, denn er hatte im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren. Offenbar war es ein wichtiges Anliegen für ihn.

Von Freyberg war als Geologe zwar auch paläontologisch geschult, doch er wusste, dass die nähere Bestimmung der Fossilien nur ein ausgewiesener Experte durchführen konnte. Deshalb schickte er die Funde sofort nach Berlin zu Wilhelm Otto Dietrich, dem damals besten Kenner fossiler Säugetiere in Deutschland. In einem Brief bestätigte Dietrich die Vermutung von Freybergs, dass die Fossilien zur typischen Pikermi-Fauna gehörten, und identifizierte elf Tierarten, darunter zwei Giraffenarten, fünf Antilopen- und Gazellenarten, jeweils eine Pferde-, Nashorn- und Elefantenart sowie einen vermeintlichen Hundsaffen: Mesopithecus pentelicus, die gleiche Art, auf die der deutsche Soldat 1838 bei seinem Griechenlandeinsatz gestoßen war. Ihr ordnete Dietrich den Unterkiefer zu, den die Arbeiter zuerst entdeckt hatten. Später sollte sich diese Einschätzung gleich in mehrfacher Hinsicht als falsch herausstellen.

Im September 1944 trat die Wehrmacht ihren Rückzug an, und auch von Freyberg verließ Athen. Die wertvollen Funde aus dem Garten der Königin verblieben bei Dietrich im Berliner Museum für Naturkunde. Als am 3. Februar 1945 der Ostflügel des Museums von Bomben schwer getroffen und komplett zerstört wurde, litten die Fossilien stark. Von Freyberg überstand den Krieg und kehrte nach erfolgreicher Entnazifizierung sowie einer Zwischenstation als Pförtner in einer Textilfabrik an die Universität Erlangen zurück. 1950 wurde er am Institut für Geologie und Paläontologie wieder als Ordinarius und Institutsleiter eingesetzt. »Die Knochen kamen erst nach dem Kriege in zertrümmerten Resten […] nach Erlangen«, erinnerte sich von Freyberg später in seinen Memoiren.7 Darunter auch der »nun ebenfalls stark zerstörte« Affenunterkiefer. Alle Zähne der linken und einige der rechten Kieferhälfte waren abgebrochen.

Bereits 1949 hatte von Freyberg seine geologischen Daten der Fundstelle in Pyrgos zusammen mit Dietrichs Liste der identifizierten Tierarten veröffentlicht. Doch kaum jemand nahm im zerstörten Europa von dem Aufsatz Notiz, und es wurde still um die Funde.

Das änderte sich erst 1969, als der Frankfurter Paläoanthropologe Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald von Freyberg in Erlangen besuchte. Von Koenigswald war zu der Zeit einer der renommiertesten Experten auf seinem Gebiet. Er hatte in Asien bedeutende Fossilien von Menschenaffen und der Urmenschenart Homo erectus gefunden. Als er den Unterkiefer aus Pyrgos sah, erkannte er trotz der Kriegsschäden sofort, dass sich der Berliner Kollege Dietrich geirrt hatte. Der dicke Zahnschmelz und die Art, wie die Zähne abgekaut waren, sprachen dafür, dass es sich um eine bislang unbekannte ausgestorbene Menschenaffenart handelte. Nach der Fundregion und zu Ehren des Entdeckers taufte von Koenigswald sie Graecopithecus freybergi. Frei übersetzt bedeutet das »Freybergs griechischer Affe«. Doch das Interesse der Fachwelt war gering, und dieses Mal geriet der Fund nicht nur in Vergessenheit, er verschwand.

KAPITEL 4

Auf der Suche nach dem vergessenen Schatz: Bis in die Katakomben des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes

Die Entdeckung des Hominiden-Backenzahns in Bulgarien war ein großer wissenschaftlicher Erfolg, aber eben nur ein Mosaiksteinchen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Fund und der Unterkiefer von Graecopithecus möglicherweise zur gleichen Art gehörten. Doch um das zweifelsfrei nachzuweisen, mussten die Fossilien unbedingt mit modernen Methoden untersucht werden. Doch seitdem von Koenigswald den Unterkiefer begutachtet hatte, waren mehr als vierzig Jahre vergangen. Was war wohl aus den Überresten von Graecopithecus geworden? Gab es eine Chance, sie wiederzufinden?

Ich begann meine Spurensuche dort, wo von Freyberg bis zu seiner Emeritierung gearbeitet hatte: an der Universität Erlangen. Doch keiner der aktiven oder ehemaligen Wissenschaftler des Paläontologischen Instituts hatte jemals etwas von Graecopithecus oder der Fundstelle Pyrgos gehört. Auch im Geologischen Institut, wo von Freyberg bis 1962 lehrte, fand sich zunächst keine Spur. Es dauerte zwei Jahre, bis ich schließlich am 20. November 2014 den entscheidenden Hinweis bekam. Man riet mir, mit Siegbert Schüffler Kontakt aufzunehmen, dem ehemaligen Verantwortlichen für die geologische Sammlung der Universität. Herr Schüffler hatte von Freyberg noch persönlich gekannt, war aber seit fast 20 Jahren pensioniert. Doch dieses Mal war es ein Volltreffer!

Am Telefon erzählte er mir, dass die Sammlung, einschließlich der Funde von Freybergs, schon vor vielen Jahren der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg anvertraut worden war, mit einer Ausnahme – dem Graecopithecus-Kiefer. Von Freyberg hatte Schüffler noch persönlich darüber informiert, dass es sich bei dem Unterkiefer um »das wertvollste Stück der Sammlung« handele, und ihn beauftragt, gut darauf aufzupassen. So hatte Schüffler das Fossil schon in den 1980er Jahren der damaligen Sekretärin des Lehrstuhls für Geologie übergeben und sie gebeten, es im Safe zu verwahren.

Sofort rief ich dort an und erkundigte mich nach dem Unterkiefer. Auch die neue Sekretärin erinnerte sich gut an einen »Affenzahn« im Safe. Dieser stand noch immer an seinem alten Platz in ihrem Büro. Doch als ich schließlich ein Bild des Fossils zugeschickt bekam, traute ich meinen Augen nicht. Was für eine Enttäuschung! Das Foto zeigte nur einen fossilen Pferdekiefer. Handelte es sich vielleicht um eine Verwechslung? Ich hakte noch einmal nach und erhielt ein weiteres Foto. Und da löste sich endlich die Anspannung. Es bestand kein Zweifel mehr, Graecopithecus freybergi war wieder aufgetaucht.

Am 6. Dezember 2014 stand ich im Sekretariat des Geologischen Instituts der Universität Erlangen und sah zu, wie ein altmodischer grauer Safe geöffnet wurde. Vergessen von der Welt der Wissenschaft lag dort in einer alten Tupperware-Dose aus den 1980er Jahren der Unterkiefer, nach dem ich zwei Jahre lang gesucht hatte. Ehrfürchtig nahm ich das Fossil aus der Dose und betrachtete es von allen Seiten. Der Unterkiefer war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er wirkte grazil, fast zerbrechlich, doch prinzipiell war er in einem brauchbaren Zustand. Trotzdem, der Krieg hatte ihm sichtbar zugesetzt, so wie von Freyberg es beschrieben hatte. Das sah ich aber nicht als großes Problem. Uralten Knochenfragmenten Informationen zu entlocken, gehörte zu meinem Alltagshandwerk. Ich konnte es kaum erwarten, mit den ersten Untersuchungen zu beginnen.

Der Unterkiefer von Graecopithecus freybergi aus Pyrgos Vasilissis Amalias, darunter der Backenzahn aus Azmaka in verschiedenen Ansichten© Foto: Madelaine Böhme, Wolfgang Gerber, Universität Tübingen

Reste einer versunkenen Tierwelt im klammen Katakombenkeller

Doch die Freude über diese Entdeckung war nicht ungetrübt. Ich wusste, dass eine genaue entwicklungsgeschichtliche Einordnung von Graecopithecus nur möglich sein würde, wenn auch die anderen Fossilien aus Pyrgos zur Verfügung stünden. Zwar lassen sich auch isolierte Funde genau beschreiben und je nach Zustand einigermaßen verlässlich datieren, doch in der Paläontologie ist es sehr wichtig, zusätzlich eine absolute Altersbestimmung vorzunehmen und mithilfe anderer Fossilien den Fund als Teil der gesamten ausgestorbenen Tierwelt jener erdgeschichtlichen Epoche einzuordnen.

Auch von Freyberg hatte das gewusst und deshalb in Pyrgos so viele Fossilien wie möglich eingesammelt. Also beschloss ich, mit der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg Kontakt aufzunehmen, in deren Obhut angeblich weitere Bestandteile dieses wissenschaftlichen Schatzes sein sollten. Der ehrenamtlich geführte Verein ist einer der ältesten seiner Art in Deutschland. Um Teile seiner großen Bestände lagern zu können, waren die Verantwortlichen auf eine der größten und zugleich fragwürdigsten Immobilen Deutschlands ausgewichen: die hufeisenförmige Kongresshalle des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes.

An einem nasskalten Tag im Dezember 2014 treffe ich zwei ehrenamtliche Mitarbeiter des Vereins vor diesem mit Granitplatten verkleidetem Prunkbau, der von der NSDAP für ihre monumentalen Parteitagsinszenierungen errichtet wurde. Er nimmt eine Fläche von rund 18 Fußballfeldern ein und ist knapp 40 Meter hoch.

Die Keller der Kongresshalle erinnern eher an Säle und sind so riesig, dass sie mit Fahrzeugen befahren werden können. Die Wände sind aus Ziegelmauerwerk, und es herrscht eine eigentümliche Atmosphäre. Unter klammkalten Bedingungen lagert so manches, was andernorts keinen Platz findet – neben archäologischem Fundgut auch Geräte und diverses Mobiliar.

Wir dringen tief in diese Katakomben vor, passieren zahlreiche Bogengänge und biegen mehrfach ab – allein würde ich nicht mehr zurückfinden – , bis wir vor einer Reihe akribisch beschrifteter brauner Holzschränke stehen. Gleich im ersten werden wir fündig: Nummer A01. Einer der Vereinsmitarbeiter schließt ihn auf und zieht Schublade D 03-1 heraus. Ich kann es kaum glauben. Da liegt sie, unter einer dicken Staubschicht verborgen: von Freybergs Pyrgos-Sammlung. Vergilbte und von Mäusen angefressene Zettel tragen die Handschrift des Finders: »Fauna der Pikermi-Stufe, Pyrgos Vasilissis, nördlich Athen. Aufsammlung v. Freyberg 1944«. Mitten unter den Fundstücken befinden sich Schnipsel zerschnittener topographischer Militärkarten und eine Zigarettenschachtel der Marke Rodina – das ist bulgarisch und bedeutet »Heimat« – , darin auf Baumwolle gebettet der zahnlose Unterkiefer einer Gazelle. Der Zustand des Materials ist erschütternd: mürbe, zerbrochene Knochen, mit Sediment verkrustet. Einige größere Gesteinsbrocken zeigen unter dem grauen Staub kaum nennenswerte Fossilspuren und wirkten wie wahllos zusammengetragen. Hier haben Krieg und Nachkriegszeit ganze Arbeit geleistet, denke ich und: Verdammt viel Arbeit!

KAPITEL 5

Mit Magnetometer und Mikrocomputertomograf: Uralte Knochen im High-Tech-Labor

Zum Zeitpunkt meines Besuches an der Universität Erlangen, Ende 2014, war streng genommen sogar der Name Graecopithecus freybergi umstritten. Schon in den 1990er Jahren hatten Forscher aus den USA die Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur aufgefordert, den Namen zu tilgen. Dieses Gremium ist für die Anerkennung und Vereinheitlichung von Artnamen zuständig. Die Kritiker bezweifelten vor allem die Annahme, dass Graecopithecus das gleiche Alter hatte wie die pikermische Fauna. Ihre Argumentation: Die Einordnung beruhe auf verschollenen Begleitfunden, und die Fundstelle in Pyrgos sei nicht mehr für Nachgrabungen zugänglich. Aus diesem Grund könne allein aufgrund eines im Krieg beschädigten Fossils keine neue Art ausgewiesen werden.

Diese Diskussion würden Nikolai Spassov und ich nun beenden können, wenn alles gut lief. Ich hielt buchstäblich alle Einzelteile in den Händen und musste die Pyrgos-Funde, den Backenzahn aus Bulgarien und die berühmten Fossilien aus Pikermi »nur noch« mit den heute gängigen Methoden analysieren und zusammenführen.

Die Untersuchungen begannen mit den Zähnen von Graecopithecus, der in meinem Team der Einfachheit halber rasch den Spitznamen »El Graeco«, der Grieche, erhielt. Zähne sind für Paläontologen deshalb so interessant, weil sie mit Zahnschmelz überzogen sind, dem härtesten organischen Material, das wir kennen. Deshalb überstehen sie die Jahrmillionen im Sediment oft besonders gut und sind nicht selten bei Ausgrabungen die am besten erhaltenen Fundstücke. Hinzu kommt, dass sie weitreichende Schlüsse zur Abstammung, zur Ernährungsweise der ausgestorbenen Tiere und damit auch über deren Umwelt ermöglichen.

Gerade bei Affenfossilien sind Zähne besonders aufschlussreich, denn sie erlauben nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen Menschenaffen und anderen Affen, sondern auch zwischen Menschenaffen und den direkten Vorfahren des Menschen (siehe Grafik Unterschiede in Bezahnung und Zahnbewurzelung). So sind die Wurzeln der Eckzähne sowohl bei den ausgestorbenen als auch bei den heute noch lebenden Menschenaffen lang und voluminös, vor allem bei männlichen Individuen. Ihre Eckzähne dienen als Imponierwaffen in Rangordnungskämpfen. Die Wurzeln ihrer Backenzähne sind ebenfalls länger, und jeder dieser Zähne besitzt mehrere Wurzeln. Normalerweise drei oder vier. Hinzu kommt, dass sie gespreizt sind, sie divergieren. So wird, ähnlich einem Dübel, eine feste Verankerung im Kiefer erreicht. Beim menschlichen Entwicklungszweig sind Backenzahnwurzeln hingegen konvergierend, ihre Spitzen wenden sich nach innen. Zudem sind sie bei den vorderen beiden Backenzähnen zu einer einzigen kräftigen Wurzel verschmolzen. Bei vielen von uns ist diese Verschmelzung noch daran erkennbar, dass die stiftförmigen Wurzeln mehr als einen Wurzelkanal tragen. Verantwortlich für die unterschiedlichen Backenzahnformen bei Menschenaffen und Menschen sind unterschiedliche Anforderungen beim Kauen. Unterschiedliche Ernährungsweisen haben also dazu geführt, dass Menschenaffen andere Zahnformen entwickelt haben als die Hominini. Unter diesem Begriff fasst die Paläoanthropologie unsere Spezies und all unsere ausgestorbenen Vorfahren zusammen, die zeitlich später als der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse lebten.

Unterschiede in Bezahnung und Zahnbewurzelung

Grafik 1

© Nadine Gibler Informationsdesign

Von Freyberg und von Koenigswald mussten sich bei der Untersuchung des Unterkiefers von Graecopithecus noch auf ihr bloßes Auge verlassen. Ins Innere von Fossilien zu blicken, ohne sie zu zerstören, war zu ihrer Zeit undenkbar. Mithilfe der Computertomographie (CT) ist es heutzutage jedoch möglich, Fossilien millimetergenau zu durchleuchten und Verborgenes sichtbar zu machen. Das Verfahren ist das gleiche, das in der Medizin angewendet wird, nur dass in diesem Fall die Überreste ausgestorbener Lebewesen unter die Lupe genommen werden. Mikro-CTs ermöglichen es sogar, mehrere Tausend Schnittbilder zusammenzufügen und verborgene Strukturen bis auf wenige Tausendstel Millimeter genau dreidimensional abzubilden.

So waren mein Team und ich mehr als gespannt, als wir den Unterkiefer von Graecopithecus im Frühjahr 2015 in Tübingen mit dieser hochauflösenden Technik durchleuchteten. Das Ergebnis war absolut überraschend. Wir hatten zwar erwartet, die typischen Zahnmerkmale eines Menschenaffen zu identifizieren. Doch was wir sahen, war weitaus bemerkenswerter: Die Wurzeln der Eck- und Backenzähne von Graecopithecus waren verkürzt. An den vorderen Backenzähnen fanden wir sogar eine über fünfzigprozentige Verschmelzung der Wurzeln, wobei die freien Wurzelenden konvergieren, also sich nach innen krümmen.

CT-Bild des Unterkiefers von Graecopithecus freybergi

Grafik 2

© Fuss et al. 2017. Potential hominin affinities of Graecopithecus from the Late Miocene of Europe. PLoS ONE 12(5): e0177127.https://doi.org/10.1371/journal.pone.0177127

Auch die Anzahl der Wurzelkanäle war, verglichen mit heute lebenden und fossilen Menschenaffen, reduziert. All diese Merkmale hatte auch der Backenzahn aus Bulgarien.

Es war schwer zu glauben, doch in der Summe ähnelten beide Fossilien viel stärker einigen afrikanischen Vormenschen-Arten aus den Gattungen Ardipithecus und Australopithecus als einem ausgestorbenen Menschenaffen. Diese berühmten afrikanischen Funde waren zwischen 5,5 und zwei Millionen Jahren alt. Doch wann genau hatte Graecopithecus gelebt?

Datierung mit fossiler Wasserwaage

Wenn es um die Datierung von Fossilien geht, wenden Geologen heutzutage auch verschiedene physikalische Messmethoden an. Eine davon, die Magnetostratigrafie, macht sich das Erdmagnetfeld als Informationsquelle zunutze. Messungen der Ausrichtung magnetischer Partikel in Gesteinen haben gezeigt, dass sich das Magnetfeld der Erde in unregelmäßigen Abständen umkehrt. Das bedeutet, dass – im Gegensatz zur derzeitigen Situation, in der der magnetische Norden mit dem geografischen Nord identisch ist – der magnetische Nordpol zum geografischen Südpol wechseln kann. Die letzte dieser Umpolungen ereignete sich vor etwa 800 000 Jahren. Viele weitere gingen ihr voraus, und das genaue Alter jedes Polwechsels ist aus Sediment-Archiven gut bekannt.

Mithilfe eines Magnetometers zur Messung der Magnetisierung können solche paläomagnetischen Informationen aus Gesteinen herausgelesen werden. Fossilien diese Information zu entlocken, ist schon schwieriger. Derjenige, der die Untersuchung durchführt, muss die genauen geographischen Koordinaten des Fundortes kennen und wissen, wie das Fossil im Erdreich steckte, also wo oben und wo unten war. Unentbehrlich dafür ist eine gründliche Dokumentation der Probennahme. Es sei denn, eine Art »fossile Wasserwaage« ist überliefert, die uns zeigt, wie die Gravitation wirkte, als die Fossilien abgelagert wurden.

Erdmagnetismus und Prinzipien der Paläomagnetik

Grafik 3

© https://earthref.org/ERDA/212/

Fossile Wasserwaage

Grafik 4

© Nadine Gibler Informationsdesign

Wir hatten Glück, denn hier zeigte sich erneut die Bedeutung der übrigen Funde aus Pyrgos. Unter den mehr als 30 Knochen, die in Nürnberg eingelagert waren, stießen wir auf zwei große, zerbrochene Mittelfußknochen einer Giraffe. Diese hohlen Knochen waren zur Hälfte mit Sediment gefüllt. Darüber hatten sich Kalzitkristalle gebildet, wie schon bei den Funden aus Pikermi, die der bayerische Soldat 1838 für Diamanten hielt.

Anhand der Ausrichtung der Sedimentoberfläche konnten wir nun die Lage der Giraffenknochen im Sediment exakt rekonstruieren und mithilfe dieser fossilen Wasserwaage die Polarität des Erdmagnetfeldes zur Zeit der Ablagerung der Pyrgos-Fossilien ermitteln.

Die paläomagnetischen Daten aus Pyrgos, Pikermi und Azmaka kombinierten wir mit drei weiteren chronologischen Verfahren. Damit konnten wir ziemlich genau das Alter des Graecopithecus-Fossils und der anderen Pyrgos-Funde bestimmen: 7,175 Millionen Jahre.8 Und der Backenzahn aus Bulgarien ist rund 80 000 Jahre älter. Das ist im Bereich der Zeitspanne, während der sich, auf der Grundlage von genetischen Daten, die menschliche Entwicklungslinie höchstwahrscheinlich bereits von jener der Schimpansen getrennt hatte.9 Für die Fossilien aus Pikermi ermittelten wir ein absolutes Alter von rund 7,3 Millionen Jahren. Genau genommen handelt es sich bei ihnen um Funde aus acht verschiedenen Sedimentschichten, die in einem Zeitraum von 40 000 Jahren abgelagert wurden.

Mit der Annahme, dass »