Will & Will - John Green - E-Book

Will & Will E-Book

John Green

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Beschreibung

Nur wer Liebe wagt, kann Liebe gewinnen

Sie heißen beide Will Grayson, wohnen beide in Chicago, sind beide siebzehn und tragen neben demselben Namen und demselben Alter dasselbe Problem mit sich herum: Aus lauter Angst, das Ding mit der Liebe zu versemmeln, lassen sie sich auf Romantisches gar nicht erst ein.
Der eine Will zögert seit Wochen, sich selbst das einzugestehen, was für alle anderen offensichtlich ist: dass er nämlich bis über beide Ohren in seine wunderbare Mitschülerin Jane verliebt ist. Der andere Will flüchtet sich lieber in seine dubiose Online-Beziehung zu einem gewissen Isaac, anstatt sich im real life vor seinen Freunden zu outen. Doch alles ändert sich, als Will & Will eines Abends ganz zufällig aufeinandertreffen …

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Seitenzahl: 425

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2010 by John Green und David Levithan Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Will Grayson, Will Grayson« bei Dutton Books, an imprint of Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Bernadette Ott Lektorat: Stefanie Rahnfeld Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München Umschlagbild: Plainpicture/apply pictures/RF; Shutterstock/Roman Sigaev MG · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-10629-4V004
www.cbt-jugendbuch.de www.penguinrandomhouse.de

DIE AUTOREN

Corine-Preisträger John Green schrieb die preisgekrönten Bestseller »Eine wie Alaska« und »Das Schicksal ist ein mieser Verräter«. David Levithan ist der Autor des Bestsellers »Nick & Norah«, der für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde. »Will & Will«, der erste gemeinsame Roman der beiden, stand auf der New York Times-Bestsellerliste und wurde unter die Top Ten der romantischsten Bücher des Jahres gewählt.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungErstes KapitelzweiDrittes KapitelvierFünftes KapitelsechsSiebtes KapitelachtNeuntes KapitelzehnElftes KapitelzwölfDreizehntes KapitelvierzehnFünfzehntes KapitelsechzehnSiebzehntes KapitelachtzehnNeunzehntes KapitelzwanzigDanksagungen und BekenntnisseWeitere DanksagungenCopyright

Für David Leventhal (weil wir uns so nahe sind) – DL Für Tobias Huisman – JG

Erstes Kapitel

Als ich klein war, hat mein Vater immer zu mir gesagt: »Will, du kannst dir deine Freunde aussuchen und du kannst bei dir in der Nase bohren, aber in den Nasen deiner Freunde hat dein Finger nichts zu suchen.« Mit acht hielt ich das für eine einigermaßen einleuchtende Bemerkung, aber später stellte ich fest, dass diese Argumentation auf mehreren Ebenen falsch ist. Was schon mal damit anfängt, dass man sich seine Freunde nicht aussuchen kann. Sonst wäre ich ja wohl nie bei Tiny Cooper gelandet.

Tiny Cooper ist nicht der schwulste Mensch auf der Welt und er ist auch nicht der größte Mensch auf der Welt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass er der größte Mensch auf der Welt ist, der richtig, richtig schwul ist, und der schwulste Mensch auf der Welt, der wirklich, wirklich groß ist. Tiny ist seit der fünften Klasse mein bester Freund, sieht man mal vom letzten halben Schuljahr ab, in dem er hauptsächlich damit beschäftigt war, die große Bandbreite seines Schwulseins zu entdecken, und in dem ich hauptsächlich damit beschäftigt war, mir das erste Mal in meinem Leben einen Freundeskreis Für Mich (FFM) aufzubauen, von dem inzwischen keiner mehr mit mir spricht. Was mit zwei Regelverstößen meinerseits zu tun hat, und zwar:

1.) Nachdem ein Mitglied des Schulbeirats sich darüber aufgeregt hatte, dass in unserem Umkleideraum unter den Jungs auch Schwule seien, verteidigte ich Tiny Coopers Recht darauf, nicht nur riesengroß (und deshalb der beste Angriffspieler in unserem ansonsten bodenlos schlechten Football-team), sondern auch schwul zu sein, und legte das alles in einem offenen Brief an unsere Schülerzeitung dar, unter den ich dummerweise meinen Namen setzte.

2.) Und dann gab es da in meinem Freundeskreis einen Typen namens Clint, der mittags in der Cafeteria über diesen Brief gelästert und mich dabei einen Tuntenquäker genannt hat, und weil ich dieses Wort nicht kannte, hab ich gefragt: »Was soll ich sein?«, und da hat er mich noch einmal einen Tuntenquäker genannt, woraufhin ich ihm gesagt habe, er solle sich verpissen, und dann mein Tablett genommen habe und gegangen bin.

Was rein praktisch gesehen wohl bedeutet, dass ich den Freundeskreis verlassen habe, obwohl es sich für mich genau umgekehrt angefühlt hat. Ehrlich gesagt hatte ich sowieso nie das Gefühl, dass sie mich besonders mochten, aber sie waren immerhin da, was auch schon was ist. Und jetzt wo sie nicht mehr da sind, habe ich niemanden mehr um mich herum.

Außer man zählt Tiny zu meinen Freunden. Was ich wohl tun muss.

Undsoalso sitze ich ein paar Wochen nach den Weihnachtsferien in Mathe auf meinem angestammten Platz, als Tiny hereingeschneit kommt, das Trikot in die Trainingshose gestopft, obwohl die Football-Saison längst vorbei ist. Jeden Tag schafft es Tiny auf wundersame Weise, sich in Mathe neben mich auf den schmalen Sitz zu quetschen, und jeden Tag wundere ich mich, wie ihm das bloß gelingt.

Also Tiny quetscht sich an seinen Platz, ich staune ausgiebig, und dann dreht er sich zu mir und flüstert ganz laut, weil er insgeheim will, dass die anderen ihn hören: »Ich habe mich verliebt.« Ich verdrehe die Augen, weil er sich alle Nase lang in einen anderen armen Jungen verliebt. Sie sehen alle gleich aus: dünn und verschwitzt und braun gebrannt, wobei das Letztere besonders abgeschmackt ist, denn wenn einer im Februar in Chicago braun gebrannt ist, kann das nur ein Fake sein, und Jungs, die ins Sonnenstudio gehen – egal ob schwul oder nicht –, sind einfach nur lächerlich.

»Du bist so zynisch«, sagt Tiny und deutet handwedelnd auf mich.

»Ich bin nicht zynisch, Tiny«, antworte ich. »Ich bin realistisch.«

»Du bist ein Roboter.« Tiny glaubt, dass ich unfähig zu allem sei, was Menschen so Gefühle nennen, weil ich seit meinem siebten Geburtstag nicht mehr geheult habe. Das war damals bei dem Film »Charlie – Alle Hunde kommen in den Himmel«. Wahrscheinlich hätte mir schon durch den Titel klar sein sollen, dass alles gut ausgehen würde. Aber ich war da schließlich erst sieben, so viel zu meiner Entschuldigung. Egal, jedenfalls habe ich seither nicht mehr geheult. Ich verstehe auch nicht, was Heulen bringen soll. Und außerdem kann man die Gründe, weshalb man vielleicht heulen muss, total vermeiden – außer es sind Verwandte gestorben oder so was –, wenn man zwei einfache Regeln befolgt: 1.) Lass nichts zu nah an dich ran. 2.) Maul halten. Alles Unglück, das mir jemals widerfahren ist, hatte damit zu tun, dass ich eine der beiden Regeln nicht befolgt habe.

»Ich weiß, dass es die Liebe gibt, weil ich sie spüre«, sagt Tiny.

Ohne dass wir es gemerkt haben, muss der Unterricht begonnen haben, denn Mr Applebaum, der oberflächlich betrachtet unser Mathelehrer ist, aber mich eigentlich lehrt, dass Schmerz und Leid stoisch ertragen werden müssen, fragt: »Was spürst du, Tiny?«

»Liebe!«, sagt Tiny. »Ich spüre Liebe.« Und alle drehen sich zu ihm um und lachen oder stöhnen auf, und weil ich neben Tiny sitze und er mein bester und einziger Freund ist, drehen sie sich auch zu mir um und lachen oder stöhnen auf; was genau der Grund ist, warum ich mir nie jemanden wie Tiny Cooper freiwillig als Freund aussuchen würde. Er lenkt einfach zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Außerdem ist er krankhaft unfähig, meine beiden Regeln zu befolgen, er schafft noch nicht mal eine. Undsoalso flippt er überall herum, lässt viel zu viel an sich ran und quasselt ununterbrochen und wundert sich dann, dass die Welt sich einen Dreck um ihn kümmert. Und allein aufgrund der räumlichen Nähe bedeutet das, dass die Welt sich auch einen Dreck um mich kümmert.

Nach dem Unterricht starre ich in mein Schließfach und überlege, wie ich es fertiggebracht habe, mein Exemplar von Der scharlachrote Buchstabe zu Hause zu vergessen, was wir in Englisch lesen. In diesem Augenblick kommt Tiny mit seinen Freunden aus der HUHA (Homo-und-Hetero-Allianz) vorbei – mit Gary (der schwul ist) und Jane (die vielleicht hetero ist, vielleicht auch nicht – ich hab sie nie gefragt) – und sagt: »Offensichtlich glauben jetzt alle, dass ich in dich verliebt bin. Ich – in Will Grayson verliebt. Ist das nicht der größte Schwachsinn, den du je gehört hast?«

»Ganz großartig«, sage ich.

»Die sind alles solche Idioten«, sagt Tiny. »Als ob was falsch dran wäre, in jemanden verliebt zu sein.«

Da stöhnt Gary auf. Wenn man sich seine Freunde wirklich aussuchen könnte, dann käme Gary bei mir in die engere Wahl. Tiny hat sich mit Gary und Jane und Garys Freund Nick erst während meiner Auszeit von der Freundschaft mit ihm angefreundet, als er der HUHA beigetreten ist. Ich kenne Gary kaum, weil ich erst seit zwei Wochen wieder näheren Kontakt mit Tiny habe. Aber von allen, mit denen Tiny jemals befreundet war, scheint Gary der Normalste zu sein.

»Es ist ein Unterschied«, erklärt er Tiny, »ob man verliebt ist oder ob man das in Mathe laut herausposaunt.« Tiny will was sagen, aber Gary lässt ihn nicht zu Wort kommen. »Was natürlich nicht heißt, dass du nicht in Zach verliebt sein darfst.«

»Billy«, sagt Tiny.

»Hä, und was ist mit Zach?«, frage ich, denn ich hätte schwören können, dass Tiny am Anfang der Mathestunde noch in Zach verliebt war. Aber seit seinem Bekenntnis sind 55 Minuten vergangen, und da ist es gut möglich, dass er inzwischen die Bezugsperson gewechselt hat. Tiny ist schon ungefähr 3900-mal verliebt gewesen – davon die Hälfte nur im Internet.

Gary scheint der plötzlich auftauchende Billy genauso zu irritieren wie mich. Er steht an ein Schließfach gelehnt da und stößt mit dem Kopf immer wieder gegen das Stahlblech. »Tiny, dass du so eine Knutschhure bist, dient der Sache überhaupt nicht.«

Ich gucke Tiny schräg von unten an und sage: »Können wir die Gerüchte über eine Liebesgeschichte zwischen uns bitte schnell aus dem Weg räumen? Das könnte sonst meine Chancen bei der Damenwelt empfindlich beeinträchtigen.«

»Von ›der Damenwelt‹ zu reden ebenfalls«, klärt Jane mich auf.

Tiny lacht.

»Ganz im Ernst«, sage ich, »ich krieg’s immer ab.«

Tiny schaut mich einen Moment nachdenklich an und ich bemerke ein angedeutetes Nicken.

»Obwohl gesagt werden muss«, sagt Gary, »dass du dir einen Übleren hättest aussuchen können als Will Grayson.«

»Hat er auch schon«, merke ich an.

Tiny dreht mitten in der Eingangshalle der Schule eine Pirouette wie eine Ballerina und ruft lachend: »Liebe Welt, damit du es weißt, ich bin nicht scharf auf Will Grayson. Aber liebe Welt, noch was, das du unbedingt über Will Grayson wissen solltest.« Und dann fängt er an zu singen, mit einem Broadway-tauglichen Bariton, so voluminös wie sein Bauchumfang: »Ich kann ohne ihn nicht leben!«

Alle, die vorbeikommen, lachen und johlen und klatschen zu Tinys Ständchen, während ich mich auf den Weg in Englisch mache. Es ist ein langer Weg und er wird noch länger, wenn man unterwegs gefragt wird, wie es sich eigentlich anfühlt, mit Tiny Cooper Analverkehr zu haben, und wie man unter Tiny Coopers fettem Bauch überhaupt seinen »kleinen schwulen Bleistiftpimmel« finden kann. Ich reagiere darauf, wie ich es immer mache: indem ich auf den Boden gucke und schnell weitergehe. Ich weiß, dass sie nur Spaß machen. Ich weiß, dass es wohl einfach dazugehört, fies oder was auch immer zu Leuten zu sein, die man kennt. Tiny hat auf solche Sachen immer eine brillante Antwort parat, wie »Für jemanden, der angeblich nichts von mir will, verbringst du ziemlich viel Zeit damit, über meinen Penis nachzudenken und auch noch darüber zu reden«. Mag sein, dass solche Antworten bei Tiny funktionieren, bei mir funktioniert es jedenfalls nicht. Maul halten funktioniert. Die Regeln befolgen funktioniert. Deshalb halte ich die Klappe und lass nichts an mich ran und gehe einfach weiter und dann ist es bald vorbei.

Das wirklich letzte Mal, dass ich einen bemerkenswerten Redebeitrag abgeliefert habe, war in meinem bescheuerten Brief an unsere bescheuerte Schülerzeitung über den bescheuerten Tiny Cooper und sein bescheuertes Recht, ein bescheuerter Star in unserem bodenlos schlechten Football-team zu sein. Ich bedaure es nicht im Geringsten, den Brief geschrieben zu haben, aber ich bedaure es zutiefst, ihn unterzeichnet zu haben. Ihn zu unterzeichnen war ein klarer Verstoß gegen meine Regel, das Maul zu halten, und wohin hat das geführt? Man braucht mich bloß anzusehen, wie ich an diesem Dienstagnachmittag allein herumstehe und meine schwarzen Chucks anstarre.

Am Abend – ich habe gerade Pizza für mich und meine Eltern bestellt, die wie immer in der Klinik noch länger arbeiten müssen – ruft Tiny an und platzt leise und hastig mit der Nachricht heraus: »Neutral Milk Hotel sollen heute im Hideout ihr Wiedervereinigungskonzert geben und es ist nirgendwo angekündigt und niemand weiß was davon und heilige Fresse, Grayson, heilige Fresse!«

»Heilige Fresse!«, rufe ich. Einer Sache kann man sich bei Tiny sicher sein: Wann auch immer irgendwo etwas Großartiges passiert, er weiß als Erster davon.

Ich bin ja nun niemand, der schnell in Begeisterung verfällt, aber Neutral Milk Hotel haben mein Leben verändert. Sie haben 1998 dieses absolut fantastische Album herausgebracht  – In the Aeroplane Over the Sea –, und danach hat man nie mehr was von ihnen gehört, außer so Sachen wie dass ihr Leadsänger in einer Höhle in Neuseeland leben soll. Aber egal, er ist und bleibt ein Genie. »Wann?«

»Keine Ahnung. Hab’s selbst grade erst gehört. Ich ruf Jane auch noch an. Sie fährt auf Neutral Milk Hotel fast so sehr ab wie du. Am besten jetzt gleich. Jetzt. Lass uns jetzt gleich ins Hideout.«

»Bin schon unterwegs«, antworte ich, während ich das Garagentor öffne.

Aus dem Auto rufe ich meine Mutter an. Ich sage ihr, dass Neutral Milk Hotel im Hideout spielen, und sie fragt: »Wer? Was? Du willst im Hotel übernachten?« Dann summe ich ihr ein paar Takte aus einem ihrer Stücke vor, und Mom sagt: »Ach das, den Song kenne ich. Der ist doch auf dem Mix, den du mal für mich gemacht hast.« Und ich sage: »Ganz genau.« Und sie sagt: »Aber um elf bist du zu Hause.« Und ich sage: »Mom, das ist ein historischer Augenblick. Die Geschichte kümmert sich nicht darum, wann ich zu Hause sein muss.« Und sie sagt: »Bis um elf.« Und ich sage: »Na gut. Ohmanney.« Und dann muss sie gehen, um bei irgendjemand den Krebs rauszuschneiden.

Tiny Cooper lebt mit den reichsten Eltern der Welt in einem Herrenhaus inmitten eines Anwesens. Ich glaube, weder sein Vater noch seine Mutter gehen einem Beruf nach, aber sie sind so reich, dass Tiny noch nicht mal bei ihnen im Herrenhaus wohnt; er wohnt im zugehörigen Kutscherhaus, das er ganz allein für sich hat. Drei Zimmer, ein Kühlschrank, der immer mit ausreichend Bier bestückt ist, und seine Eltern lassen ihn absolut in Ruhe, deshalb können wir den ganzen Tag bei ihm rumhängen und Football-Videogames spielen und Miller Lite trinken. Nur dass Tiny Videospiele hasst und ich nicht gern Bier trinke, deshalb spielen wir meistens nur Darts (er hat eine Dartsscheibe) und hören Musik und machen Hausaufgaben. Ich will gerade seinen Namen rufen. Aber weiter als bis zum T komme ich nicht, da stürzt er auch schon aus seinem Wohnzimmer, einen schwarzen Lederslipper an, den anderen noch in der Hand und brüllt: »Fahr los, Grayson, fahr los!«

Und auf dem Weg ins Hideout läuft alles perfekt. Der Verkehr auf der Sheridan hält sich in Grenzen und ich gehe in die Kurven, als wäre mein Auto ein Indy 500, und wir hören meinen Lieblingssong von NMH, »Holland, 1945«, und biegen dann rauf auf den Lake Shore Drive, wo die Wellen des Lake Michigan neben der Straße gegen die Felsbrocken schlagen; ich öffne das Fenster einen Spalt, damit die Windschutzscheibe nicht beschlägt, schmutzige, stechende, kalte Luft weht herein, und wie immer liebe ich es, wie Chicago riecht – Chicago ist für mich Brackwasser und Ruß und Schweiß und ich liebe es. Und ich liebe dieses Lied und Tiny sagt Ich liebe dieses Lied und hat die Sonnenblende heruntergeklappt, damit er seine Haare noch etwas kunstvoller verstrubbeln kann. Das bringt mich auf den Gedanken, dass nicht nur ich Neutral Milk Hotel sehen werde, sondern auch sie mich, deshalb mustere ich mich kurz im Rückspiegel. Mein Gesicht kommt mir zu kantig vor, die Augen viel zu groß, als wäre ich dauernd überrascht, aber daran kann ich jetzt auf die Schnelle auch nichts ändern.

Das Hideout ist ein aus Holzbrettern zusammengezimmerter Musik-Club, eingezwängt zwischen einer Fabrik und irgendeiner städtischen Fuhrparkhalle. Überhaupt nichts Besonderes. Trotzdem steht vor der Tür eine Schlange, und das obwohl es erst sieben ist. Also stelle ich mich mit Tiny hinten an, bis Homo-Gary und Vielleicht-Hetero-Jane auftauchen.

Unter ihrem offenen Mantel trägt Jane ein handsigniertes Neutral-Milk-Hotel-T-Shirt mit V-Ausschnitt. Jane ist erst um die Zeit in Tinys Leben getreten, als ich mich zwischenzeitlich daraus verabschiedet hatte, deshalb kennen wir uns nicht richtig. Trotzdem würde ich sagen, dass sie gegenwärtig mein viertbester Freund ist, und ganz offensichtlich hat sie einen guten Musikgeschmack.

Als wir in der Stein-und-Bein-frierenden-Kälte zusammen vor dem Hideout warten, sagt sie zu mir Hallo, ohne mich dabei anzuschauen, und ich sage darauf zu ihr auch Hallo und dann sagt sie: »Diese Band ist so was von großartig«, und ich sage »Ja«.

Das war wahrscheinlich das längste Gespräch, das wir bisher miteinander geführt haben. Ich scharre ein wenig in den Kiessteinchen und dem Dreck herum und betrachte die Miniaturstaubwolke rings um meinen Fuß und dann erzähle ich Jane, wie sehr ich »Holland, 1945« mag, und sie sagt: »Ich finde die weniger eingängigen Sachen gut. Die polyphonen, lärmigen Sachen.« Ich nicke wortlos und hoffe, dass es so wirkt, als wüsste ich, was polyphon bedeutet.

Noch so eine Sache mit Tiny Cooper ist, dass man ihm nichts ins Ohr flüstern kann, auch nicht wenn man selbst ziemlich groß ist, so wie ich, weil der Spaßmacher nämlich ein Zweimeterzweimann ist und man ihm auf seine riesige Schulter tippen und dann eine Kopfbewegung machen muss, dass man ihm gern was ins Ohr flüstern würde, und dann beugt er sich herunter und man fragt: »Sag mal, gehört Jane zum Homo- oder zum Hetero-Teil eurer Homo-und-Hetero-Allianz?«

Und Tiny beugt sich zu meinem Ohr und flüstert zurück: »Keine Ahnung. Ich glaube, sie hatte in der Fünften mal einen Freund.« Ich weise ihn darauf hin, dass ein gewisser Tiny Cooper in der Fünften ungefähr 11542 Freundinnen hatte, was Tiny zum Anlass nimmt, mich in den Arm zu boxen, seiner Meinung nach eine spielerische Liebkosung, die aber zu dauerhaften Nervenschäden führen kann.

Gary rubbelt ständig Janes Arme, rauf und runter, damit ihr warm wird, und dann kommt endlich Bewegung in die Schlange. Ungefähr fünf Sekunden später bemerken wir diesen Jungen, der ganz herzzerreißend dreinschaut, und er ist genau der Typ kleiner-blonder-braungebrannter Junge, wie er Tiny Cooper gefällt, und deshalb fragt Tiny ihn: »Was ist los?« Und der Junge antwortet: »Ist erst über einundzwanzig.«

»Du …«, stammle ich, »du … du Tuntenquäker« und meine damit Tiny. Ich weiß immer noch nicht, was das Wort eigentlich sagen will, aber es scheint mir gerade passend.

Bei Tiny Cooper zuckt es um die Mundwinkel und eine Augenbraue wandert nach oben. Er dreht sich zu Jane. »Hast du einen gefälschten Ausweis?« Jane nickt. Gary trompetet: »Ich auch.« Und ich balle die Fäuste und will nur noch laut aufschreien, aber stattdessen sage ich mit steinernem Gesicht: »Auch egal, ich geh nach Hause«, weil ich nämlich keinen gefälschten Ausweis habe.

Aber dann sagt Tiny ganz hastig und ganz leise: »Gary, schlag mich so fest du kannst ins Gesicht, wenn ich meinen Ausweis vorzeige, und du, Grayson, gehst einfach hinter mir vorbei, als wär es das Normalste auf der Welt.« Und dann sagt eine Weile lang keiner von uns was, bis Gary, viel zu laut, einwendet: »Ähm, ich weiß gar nicht, wie man das macht.« Wir sind schon fast beim Türsteher, der ein riesiges Tattoo auf seiner Glatze hat, deshalb murmelt Tiny nur: »Klar weißt du das. Schlag einfach fest zu.«

Ich lasse mich etwas zurückfallen, schaue erst mal zu. Jane streckt dem Türsteher ihren Ausweis hin. Der richtet den Strahl einer Taschenlampe darauf, blickt sie an und gibt ihr den Ausweis zurück. Dann ist Tiny an der Reihe. Ich mache ein paar kurze, schnelle Atemzüge, weil ich mal gelesen habe, dass man mit viel Sauerstoff im Blut ruhiger wirkt, und dann beobachte ich, wie Gary sich auf die Zehenspitzen stellt und mit dem Arm ausholt und Tiny voll eine verpasst, direkt ins rechte Auge. Tinys Kopf kippt nach hinten weg, und Gary brüllt: »Ohmeingott, autsch, aua, verdammt, meine Hand!«, und der Türsteher stürzt sich auf Gary, und dann dreht Tiny sich so, dass er dem Türsteher die Sicht auf mich versperrt, und ich marschiere einfach in den Club, als wäre Tiny meine Drehtür.

Sobald ich drin bin, werfe ich einen Blick zurück und sehe, dass der Türsteher Gary an den Schultern gepackt hat und Gary mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seine Hand starrt. Dann legt Tiny dem Türsteher einen Arm um die Schulter und sagt: »Wir haben nur ’n bisschen Spaß gemacht. Guter Treffer, Dwight.« Ich brauche ungefähr eine Minute, bis ich kapiert habe, dass Dwight Gary ist. Oder Gary Dwight.

Der Türsteher sagt: »Er hat dir verdammt noch mal eine aufs Auge gegeben«, und dann sagt Tiny: »Das musste er«, und dann erklärt Tiny dem Türsteher, dass er und Gary/ Dwight zusammen im DePaul-University-Footballteam seien und dass er, Tiny, vorhin im Kraftraum Gary bei den Gewichten reingelegt hätte oder irgend so was. Der Türsteher erzählt, dass er in der High School Center-Spieler war, und dann halten sie plötzlich einen netten kleinen Plausch miteinander, während der Türsteher nebenbei auf Garys ganz unglaublich gefälschten Ausweis blickt, und dann sind wir alle vier im Hideout, allein mit Neutral Milk Hotel und Hunderten von Fremden.

Das Meer von Leuten an der Bar teilt sich und Tiny holt zwei Bier und hält mir eines davon hin. Ich lehne dankend ab. »Warum Dwight?«, frage ich. Und Tiny sagt: »In seinem Ausweis steht, dass er Dwight David Eisenhower IV. ist.« Und ich sage: »Woher zum Teufel habt ihr eigentlich alle eure gefälschten Ausweise?«. Und dann sagt Tiny: »Dafür gibt es Orte.« Ich beschließe, mir auch so einen Ausweis zu besorgen, und sage: »Ich will doch ein Bier.« Hauptsächlich, damit ich was in der Hand halte. Tiny gibt mir das Bier, von dem er bereits getrunken hat, und dann mache ich mich ohne Tiny und ohne Gary und ohne Vielleicht-Hetero-Jane nach vorn zur Bühne auf. Bloß ich und die Bühne, die hier im Hideout nur einen halben Meter hoch ist. Damit ich dem Sänger von Neutral Milk Hotel, falls er besonders klein sein sollte – also vielleicht so einen Meter dreißig – direkt in die Augen schauen kann. Immer mehr Leute drängen nach vorn zur Bühne und bald ist es gerappelt voll. Ich war schon vorher zu Konzerten hier, aber so wie jetzt war es noch nie – mit meinem Bier in der schwitzenden Hand, von dem ich noch keinen Schluck genommen habe und was ich auch nicht vorhabe. Um mich herum sind lauter gepiercte und tätowierte Fremde. Noch der allerletzte Freak hier im Hideout ist cooler als alle Mitglieder aus meinem High-School-Freundeskreis zusammen. Diese Leute finden nicht, dass mit mir irgendwas nicht in Ordnung ist – sie bemerken mich noch nicht mal. Sie behandeln mich einfach so, als ob ich zu ihnen gehören würde, was sich ganz klar nach dem unüberbietbaren Höhepunkt meiner High-School-Karriere anfühlt. Hier stehe ich, in einem Konzert für über Einundzwanzigjährige, im besten Musik-Club in Amerikas zweitbester Stadt, inmitten einer Menge von zweihundert Fremden und warte auf das Wiedervereinigungskonzert der besten No-Name-Band des letzten Jahrzehnts.

Und dann kommen diese vier Kerle auf die Bühne und haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Bandmitgliedern von Neutral Milk Hotel, aber ich sage mir, wer weiß, schließlich hab ich von ihnen bisher nur ein paar Fotos im Internet gesehen. Dann fangen sie zu spielen an. Und ich bin mir nicht sicher, wie ich ihre Musik beschreiben soll, außer dass sie sich anhört, als würden hunderttausend Lemminge in ein siedend heißes Meer gekippt. Und dann beginnt der Typ zu singen:

Früher hat sie mich geliebt, oh yeahAber jetzt hasst sie mich, oh yeahSie hat mich total geil gemachtAber jetzt treibt sie esMit anderen, MannMit anderen, Mann

Niemals, aber wirklich absolut niemals würde der Sänger von Neutral Milk Hotel sich solche Sätze ausdenken und sie erst recht nicht aufschreiben und schon gleich fünfmal nicht singen, es sei denn, man hätte ihm eine Lobotomie im Frontallappen verpasst. Und dann begreife ich: Ich habe draußen in der trübgrauen, abgasgeschwängerten Eiseskälte gewartet und bin wahrscheinlich schuld daran, dass Gary sich die Hand gebrochen hat, und das alles, um eine Band zu hören, bei der er sich ganz offensichtlich nicht um Neutral Milk Hotel handelt. Und obwohl Tiny sich nirgendwo in der Menge direkt um mich herum befindet, alles verdutzte NMH-Fans, denen es die Sprache verschlagen hat, schreie ich: »Zur Hölle mit dir, Tiny Cooper!«

Als das Stück zu Ende ist, werden meine Befürchtungen bestätigt. Der Sänger sagt nämlich in die Totenstille des Publikums hinein: »Danke! Vielen Dank. NMH haben es leider nicht geschafft, aber wir sind Ashland Avenue, und wir sind hier, um es richtig rocken zu lassen!« Nein, denke ich. Ihr seid Ashland Avenue, und ihr seid hier, um uns alle anzuöden. Jemand tippt mir von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um und da steht ein unglaublich sexy Mädchen vor mir. Lippenpiercing, leuchtrote Haare, halbhohe Boots, definitiv über einundzwanzig. Ich starre sie an. Sie sagt, leicht fragend: »Wir haben gedacht, Neutral Milk Hotel würden spielen?« Und ich starre auf den Boden und stammle: »Ich –« Eine Sekunde lang stottere ich und sage dann: » – auch. Ich bin auch wegen ihnen hier.«

Das Mädchen beugt sich zu mir vor, um mir über die atonale, arhythmische Attacke auf jedes Taktgefühl, die sich hier Ashland Avenue nennt, hinweg ins Ohr zu schreien: »Ashland Avenue ist nicht Neutral Milk Hotel!«

Es muss irgendwas mit dem übervollen Club zu tun haben oder mit der Fremdheit der Fremden, jedenfalls werde ich richtig gesprächig und schreie zurück: »So was wie Ashland Avenue spielen sie Terroristen vor, um sie zum Reden zu bringen.« Das Mädchen lächelt, und erst jetzt wird mir klar, dass ihr der Altersunterschied zwischen uns von Anfang an bewusst gewesen sein muss. Sie fragt mich, auf welche Schule ich gehe, und ich sage: »Evanston«, und sie fragt: »High School?« Und ich sage: »Ja, aber erzähl’s nicht dem Mann an der Bar«, und sie sagt: »Ich fühl mich jetzt richtig pervers«, und ich frage: »Warum?«, und sie lacht nur. Ich weiß, dass das Mädchen nicht wirklich auf mich abfährt, aber ich habe trotzdem eine leicht stolzgeschwellte Brust.

Und dann legt sich eine riesige Hand auf meine Schulter. Ich drehe den Kopf und sehe den Middle-School-Abschlussring, den er seit der achten Klasse am kleinen Finger trägt, und weiß sofort: Es ist Tiny. Und da behaupten irgendwelche Idioten immer, dass Schwule Stil hätten.

Ich drehe mich um und sehe, dass Tiny Cooper riesengroße Tränen vergießt. Eine einzige dieser Tränen könnte ein Kätzchen ertränken. Ich forme meine Lippen stumm zu einem WAS IST LOS?, weil Ashland Avenue einfach verdammt zu laut spielen, als dass er mich hören könnte, und Tiny reicht mir nur sein Handy und geht weg. Auf dem Display ist seine Facebook-Startseite aufgerufen und dort zu einer Status-Meldung gescrollt.

Billy geht es so: je länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, warum eine grosse Freundschaft zerstören? Aber ich finde Tiny trotzdem weiter total klasse.

Ich quetsche mich durch eine Reihe von Leuten zu Tiny, ziehe seine Schulter zu mir herab und schreie ihm ins Ohr: »DAS IST ECHT SCHEISSE«, und Tiny brüllt zurück: »ICH BIN PER STATUS-MELDUNG ABSERVIERT WORDEN«, und ich antworte: »JA, HAB’S GESEHEN. ER HÄTTE DIR JA WENIGSTENS EINE SMS SCHICKEN KÖNNEN. ODER EINE MAIL. ODER EINE BRIEFTAUBE.«

»WAS SOLL ICH DENN JETZT MACHEN?«, schreit Tiny und am liebsten würde ich darauf antworten: »Hoffentlich jemand finden, der weiß, dass man groß nicht mit ss schreibt«, aber ich zucke nur mit den Schultern, klopfe ihm kräftig auf den Rücken und schiebe ihn fort von Ashland Avenue, hin zur Bar.

Was, wie sich herausstellt, ein Fehler ist.

Kurz bevor wir an die Bar kommen, sehe ich an einem Stehtisch Vielleicht-Hetero-Jane herumlungern. Sie erzählt mir, dass Gary sich angewidert aus dem Staub gemacht hat. »War wohl alles ein Werbegag von Ashland Avenue«, sagt sie.

»Aber kein NMH-Fan würde sich jemals einen solchen Scheiß anhören«, sage ich.

Da guckt Jane mich mit großen Augen beleidigt an und sagt: »Mein Bruder ist der Gitarrist.«

Ich fühle mich wie das totale Arschloch und sage: »Oh, tut mir leid.«

Und sie sagt: »Das war ein Witz, Mann. Wenn er das wäre, würde ich ihn enterben.« An irgendeiner Stelle unseres 45-Sekunden-Gesprächs habe ich es fertiggebracht, Tiny aus den Augen zu verlieren, was keine leichte Aufgabe ist, undsoalso erzähle ich Jane von dem Facebook-Posting, mit dem er abserviert worden ist, und sie lacht immer noch, als Tiny mit einem runden Tablett, auf dem sechs Schnapsgläser mit einer grünlichen Flüssigkeit stehen, an unseren Tisch zurückkommt. »Ich trink eigentlich nichts«, erinnere ich Tiny, und er nickt. Er schiebt Jane ein Schnapsglas hin und sie schüttelt den Kopf.

Tiny kippt ein Glas runter, verzieht das Gesicht und atmet tief durch. »Schmeckt wie gepfefferter Satansschwanz.« Er schiebt noch mal ein Schnapsglas in meine Richtung.

»Klingt köstlich«, sage ich, »aber ohne mich.«

»Wie kann er bloß«, ruft Tiny und stürzt den nächsten Schnaps runter, »mit mir Schluss machen«, noch ein Schnaps, »nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich ihn LIEBE, und das auch noch mit einem Status-Update?« Noch einer. »Wohin soll das auf dieser Welt bloß führen?« Der nächste. »Ich liebe ihn, Grayson, wirklich. Ich weiß, dass du denkst, ich rede wieder mal nur Schwachsinn, aber ich weiß, dass ich ihn in dem Augenblick, als wir uns geküsst haben, geliebt habe. Verdammt noch mal, was soll ich denn jetzt bloß machen?« Er erstickt mit dem letzten Schnaps ein Schluchzen.

Jane zupft mich am Ärmel und beugt sich zu mir. Ich spüre ihren warmen Atem an meinem Hals, als sie sagt: »Wenn der Schnaps erst mal seine Wirkung entfaltet, haben wir ein riesiges Problem.« Jane hat recht, beschließe ich und egal, Ashland Avenue sind sowieso eine Katastrophe, deshalb sollten wir das Hideout besser schleunigst verlassen.

Ich drehe mich zu Tiny, um ihm zu sagen, dass es höchste Zeit ist, nach Hause zu fahren, aber er ist verschwunden. Ich werfe einen Blick zu Jane, die mit besorgtem Gesichtsausdruck zur Bar starrt. Kurz darauf kommt Tiny zurück. Diesmal nur mit zwei vollen Schnapsgläsern, Gott sei Dank.

»Trink mit mir«, sagt er, und ich schüttle den Kopf, aber dann stößt Jane mich in die Seite, und mir wird klar, dass ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen muss. Ich wühle in meiner Hosentasche und gebe Jane die Autoschlüssel. Wenn ich Tiny davon abhalten will, auch noch den letzten Rest des plutoniumgrünen Fusels runterzukippen, gibt es nur einen Weg: Ich muss ein Glas mittrinken. Also greife ich nach dem Schnapsglas, und Tiny sagt: »Alles scheißegal, Grayson. Scheiß auf alle«, und ich sage: »Darauf trink ich einen«, und das tu ich auch, und dann trifft die Flüssigkeit auf meinen Gaumen und meine Zunge, und es fühlt sich an wie ein Molotow-Cocktail, alles explodiert und alles brennt. Ich kann nicht anders, ich spucke den Inhalt des ganzen Glases auf Tiny Coopers T-Shirt.

»Ein monochromer Jackson Pollock«, kommentiert Jane und sagt dann zu Tiny: »Wir müssen hier weg. Diese Band ist wie eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung.«

Jane und ich gehen miteinander raus und vertrauen darauf (zu Recht, wie sich herausstellt), dass der plutoniumgrün gesprenkelte Tiny, Opfer meiner alkoholallergischen Reaktion, uns folgen wird. Weil ich bei beiden Schnäpsen, die Tiny mir ausgeben wollte, versagt habe, wirft mir Jane in hohem Bogen die Schlüssel wieder zurück. Ich fange sie auf und setze mich hinters Steuer, nachdem Jane auf den Rücksitz geklettert ist. Tiny lässt sich auf den Beifahrersitz plumpsen. Ich lasse den Motor an und endlich hat die mächtige akustische Enttäuschung dieses Abends ein Ende. Aber auf der Heimfahrt denke ich schon kaum mehr daran, weil Tiny ständig über Zach weiterquasselt. So ist das nämlich mit Tiny: Seine Probleme sind so riesengroß, dass deine eigenen dahinter verschwinden.

»Wie kann man sich nur so täuschen?«, fragt Tiny über den krächzenden Lärm von Janes NMH-Lieblingslied hinweg (dem Lied, das ich am wenigsten mag). Ich brause den Lake Shore Drive entlang und kann hören, wie Jane hinten im Auto mitsingt, nicht ganz in der richtigen Tonlage, aber näher dran, als es bei mir der Fall wäre, wenn ich vor anderen mitsingen würde. Was ich aber nicht tue, denn für solche Fälle gilt meine Maul-halten-Regel. Und Tiny sagt: »Wenn man seinem eigenen Bauchgefühl nicht trauen kann, worauf kann man dann vertrauen?« Und ich sage: »Du kannst darauf vertrauen, dass es immer schlecht ausgeht, wenn du etwas zu nah an dich ranlässt.« Was ja auch stimmt. Wenn einem nicht alles egal ist, endet es nicht nur manchmal übel. Sondern immer.

»Er hat mir das Herz gebrochen«, sagt Tiny, als ob ihm so was vorher noch nie passiert wäre, als ob es überhaupt noch nie jemandem jemals widerfahren wäre. Und vielleicht ist ja auch genau das das Problem: Vielleicht trifft Tiny wirklich jedes Ende einer Liebesgeschichte so unerwartet, fühlt es sich für ihn immer so radikal neu und anders an, dass es so tatsächlich noch nie da war. »Unndu hilfsmir auch nich«, fügt er dann noch hinzu, woran ich endgültig erkenne, in welchem Zustand er ist. Zum Glück sind es nur noch zehn Minuten bis zu ihm nach Hause, wenn der Verkehr ruhig bleibt, und dann schnurstracks ab mit ihm ins Bett.

Aber ich kann gar nicht so schnell fahren, wie sich Tinys Zustand verschlechtert. Als wir vom Lake Shore Drive runterfahren  – noch sechs Minuten –, lallt er leise in sich hinein und schimpft gleichzeitig laut vor sich hin, über Facebook und das Ende der guten Manieren heutzutage und über was auch immer. Jane hat ihre Hände mit den schwarz lackierten Fingernägeln auf Tinys Elefantenschultern gelegt und fängt an, ihn zu massieren, aber er hört mit dem Schluchzen gar nicht mehr auf, und ich überfahre sämtliche rote Ampeln, während die Sheridan sich vor uns dahinschlängelt, und Tiny heult Rotz und Wasser, bis sein grün gesprenkeltes T-Shirt ein nasser Lumpen ist.

»Wie weit ist es noch?«, fragt Jane, und ich sage: »Er wohnt noch ein Stück weiter draußen«, und sie sagt: »Oh Gott. Beruhig dich, Tiny. Du brauchst nur ein bisschen Schlaf, Baby, und dann sieht alles schon wieder ganz anders aus.«

Endlich biege ich in die Auffahrt ein und umfahre sämtliche Schlaglöcher, bis wir hinter Tinys Kutscherhaus angelangt sind. Ich springe aus dem Auto und klappe den Sitz nach vorn, damit Jane aussteigen kann, dann gehen wir um das Auto herum zum Beifahrersitz. Jane öffnet die Tür, langt über Tiny hinweg und schafft es durch ein Wunder an Geschicklichkeit, seinen Sicherheitsgurt zu lösen. Dann sagt sie: »So, Tiny. Zeit, Heia zu machen«, und Tiny sagt: »Ich bin ein solcher Idiot«, und dann lässt er einen Schluchzer los, der wahrscheinlich noch in Kansas auf der Richterskala zu messen ist. Aber er schaufelt sich aus dem Auto und taumelt auf die Hintertür des Häuschens zu. Ich folge ihm, um sicherzugehen, dass er auch ordentlich ins Bett kommt, was, wie sich herausstellt, eine gute Idee ist, denn er kommt überhaupt nicht ordentlich ins Bett.

Stattdessen bleibt er nach drei Schritten mitten im Wohnzimmer stehen. Er dreht sich um und starrt mich an; mit zusammengekniffenen Augen mustert er mich, als hätte er mich noch nie in seinem Leben gesehen und käme einfach nicht drauf, was ich bei ihm zu Hause will. Dann zieht er sein T-Shirt aus. Er blickt mich immer noch fragend an, als er plötzlich mit einer Stimme, als wäre er stocknüchtern, sagt: »Grayson, es muss etwas geschehen«, und ich sage: »Hä?«, und er sagt: »Denn was ist, wenn wir wie alle anderen im Hideout enden?«, und ich will gerade wieder Hä? sagen, weil die Leute im Hideout viel cooler waren als sämtliche unserer Klassenkameraden und auch viel cooler als wir, aber dann weiß ich, was er meint. Er meint, Was ist, wenn wir Erwachsene werden, die auf eine Band warten, die nie mehr wiederkommen wird? Tiny sieht mich mit ausdruckslosen Augen an und schwankt vor und zurück wie ein Wolkenkratzer im Wind. Und dann fällt er der Länge nach um, mit dem Gesicht nach unten.

»Oh Junge«, sagt Jane hinter mir, und erst jetzt bemerke ich, dass sie auch da ist. Tiny hat das Gesicht im Teppich vergraben und schluchzt wieder. Ich schaue Jane lange an und ein Lächeln breitet sich langsam auf ihrem Gesicht aus. Ihr ganzes Gesicht verwandelt sich, wenn sie lächelt – die Augenbrauen hochgezogen, perfekte Zähne zeigend, Lachfältchen um die Augen, eine Art von Lächeln, das ich entweder noch nie bei jemandem gesehen habe oder das mir einfach noch nie aufgefallen ist. Sie wird plötzlich so hübsch, dass es fast wie ein Zaubertrick wirkt – nicht dass ich sie zur Freundin haben will oder so was. Das soll jetzt nicht hochnäsig klingen, aber Jane ist einfach nicht mein Typ. Ihre Haare sind viel zu lockig, katastrophal lockig, und außerdem hängt sie dauernd mit Jungs rum. Ich mag eher den mädchenhaften Typ Mädchen. Aber ehrlich gesagt mag ich noch nicht mal den mädchenhaften Typ Mädchen besonders, geschweige denn irgendwelche anderen Mädchen. Nicht dass ich asexuell wäre oder so – ich finde nur alles, was mit Liebesdrama zu tun hat, ziemlich unerträglich.

»Lass ihn uns ins Bett schaffen«, sagt Jane schließlich. »Besser seine Eltern finden ihn morgen früh nicht so.«

Ich knie mich hin und sage Tiny, dass er aufstehen soll, aber er schluchzt nur immer weiter und weiter, deshalb stellen Jane und ich uns links von ihm hin und rollen ihn auf den Rücken. Ich steige über ihn hinweg und beuge mich dann runter und greife ihn unter dem Arm. Jane macht es auf der linken Seite genauso.

»Eins«, sagt Jane, und ich sage: »Zwei«, und sie sagt: »Drei« und ächzt. Aber nichts passiert. Jane ist zierlich – ich beobachte, wie schmal ihr Oberarm wird, wenn sie die Muskeln anspannt. Und meine Hälfte von Tiny kann ich auch nicht hochhieven, deshalb beschließen wir, ihn zu lassen, wo er ist. Als Jane eine Decke über ihn gebreitet und ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben hat, schläft Tiny bereits tief und fest.

Wir wollen gerade gehen, als ein letzter großer Rotzklumpen Tinys Nase verstopft und er anfängt, grässliche Geräusche zu machen, die sich anhören wie Schnarchen, nur dumpfer und feuchter. Ich beuge mich zu ihm hinunter und sehe, dass er ekligen, Blasen werfenden Rotzschleim ein- und ausatmet, sozusagen in den letzten Zuckungen seines Schluchzmarathons. So viel Schleim, dass ich Angst habe, er erstickt daran.

»Tiny«, sage ich. »Du musst den Rotz aus der Nase kriegen, Mann.« Aber er bewegt sich nicht. Deshalb beuge ich mich direkt über sein Trommelfell und brülle: »Tiny!« Nichts. Dann verpasst Jane ihm eine Ohrfeige, und zwar eine ziemlich heftige. Nada. Niente. Nur das fürchterliche, in Rotz ertränkte Schnarchen.

Und das ist der Augenblick, in dem mir klar wird, dass Tiny Cooper jetzt unmöglich in der Nase bohren kann – womit er die zweite Behauptung des erzieherischen Dreisatzes meines Vaters eindeutig widerlegt. Und kurz darauf, unter den Augen von Jane, setze ich das gesamte Theorem meines Vaters außer Kraft, indem ich beherzt nach unten fasse und Tinys Atemwege vom Rotz befreie. Kurzum, aus der Praxis gesprochen: Ich kann mir meinen Freund Tiny nicht aussuchen. Er kann nicht selbst in der Nase bohren. Und ich kann – nein, ich muss – mit meinem Finger in seiner Nase herumfuhrwerken.

zwei

ich kann mich einfach nicht entscheiden. soll ich mich selbst umbringen oder alle anderen um mich herum. das scheinen mir die beiden möglichkeiten zu sein. der rest ist reine zeitverschwendung.

im moment bin ich auf dem weg durch die küche zum haus hinaus.

mom: du musst was frühstücken.

ich esse nichts zum frühstück. ich esse nie etwas zum frühstück. ich habe nichts mehr zum frühstück gegessen, seit ich es das erste mal zum haus hinausgeschafft habe, ohne vorher etwas zu frühstücken.

mom: wo gehst du hin?

in die schule, mom. solltest du mal ausprobieren.

mom: lass dir die haare nicht so ins gesicht fallen – ich kann deine augen gar nicht sehen.

aber siehst du, mom, verdammt, genau das ist der punkt.

sie tut mir leid – ehrlich leid. ich schäme mich aufrichtig dafür, wirklich, dass ich nicht ohne mutter ausgekommen bin. es kann nicht leicht sein, mich als sohn zu haben. nichts kann einen auf eine solche enttäuschung vorbereiten.

ich: tag noch.

ich sage nicht ›einen schönen tag noch‹. ich glaube, dass das eine der jämmerlichsten redewendungen ist, die jemals erfunden wurde. als hätte man die wahl, auch einen ›hässlichen tag‹ zu wünschen oder einen ›abscheulichen tag‹ oder einen ›mir-doch-völlig-egal-wie-es-dir-geht tag‹. jedes mal wünscht man sich einen schönen tag. man muss. und daran glaub ich nicht. an schöne tage. ich bin vom gegenteil überzeugt.

mom: einen schönen t –

hinter mir fällt die tür ins schloss und schneidet ihr das wort ab. aber nicht, dass ich nicht erraten könnte, in welche richtung das alles läuft. eine zeit lang kam sie mir immer mit ›wir sehen uns!‹. was mich so krank machte, dass ich irgendwann darauf sagte: ›nein, tust du nicht.‹

sie bemüht sich und das macht es so erbärmlich. ich möchte ihr am liebsten sagen: ›du tust mir leid, wirklich, du tust mir so leid‹, aber das könnte den anfang eines gesprächs bedeuten und ein gespräch könnte den anfang eines streits bedeuten und danach würde ich mich wieder derart schuldig fühlen, dass ich mich bis nach portland verdrücken möchte oder so was.

ich brauch dringend einen kaffee.

jeden morgen bete ich, dass der schulbus einen unfall hat und wir alle in dem brennenden wrack umkommen. dann kann mom die schulbusgesellschaft verklagen, dass die schulbusse nicht mit sicherheitsgurten ausgestattet sind, und mein tragischer tod wird ihr mehr geld einbringen, als ich jemals in meinem tragischen leben verdient hätte. es sei denn, die anwälte der schulbusgesellschaft können vor gericht beweisen, dass ich sowieso einen garantieschein als totaler versager hatte. dann würden sie damit durchkommen, meiner mom einen gebrauchten ford fiesta zu kaufen, und damit wären sie aus der sache raus.

maura wartet nicht wirklich am morgen vor der schule auf mich, aber ich weiß, dass sie da ist, und sie weiß, dass ich schaue, ob sie da ist. darauf können wir uns gegenseitig verlassen und deshalb grinsen wir uns auch immer an, bevor wir dann in den unterricht müssen. es ist wie mit leuten, die im gefängnis freunde werden, obwohl sie nie im leben miteinander geredet hätten, wenn sie nicht ins gefängnis gekommen wären. ungefähr so ist das bei maura und mir, glaub ich.

ich: lass mich mal von deinem kaffee trinken.

maura: bring dir deinen verdammten kaffee selbst mit.

dann reicht sie mir ihren XXL-dunkin’-donuts-crappacino und ich trinke ihn aus wie nichts. wenn ich mir meinen eigenen kaffee leisten könnte, ich schwör’s, würde ich mir einen kaufen, aber wie die dinge nun mal sind, sag ich mir: ihre blase dankt es mir vielleicht, selbst wenn der rest ihrer organe mich für ein arschloch hält. solang ich mich erinnern kann, geht das zwischen maura und mir jetzt schon so, das heißt seit ungefähr einem jahr. vielleicht kenn ich sie schon etwas länger, aber vielleicht auch nicht. irgendwann letztes jahr traf ihre trübsal auf meine düsternis und maura fand das eine gute mischung. ich bin mir da nicht so sicher, aber wenigstens springt für mich dabei jeden morgen kaffee raus.

derek und simon steuern auf uns zu, was eine gute sache ist, denn das spart mir zeit in der mittagspause.

ich: gib mir deine mathe-hausaufgabe.

simon: klar. hier.

was für ein freund.

die glocke klingelt das erste mal. und wie bei jedem klingeln der glocke in unserer großartigen lehranstalt für junge menschen ist es überhaupt kein glockenklingeln, sondern ein langgezogener piepston. als wäre man auf einem anrufbeantworter gelandet, dem man gleich anvertrauen wird, dass man den beschissensten tag aller zeiten vor sich hat. und keiner hört die nachricht jemals ab.

ich habe keine ahnung, warum irgendjemand lehrer wird. ich meine, man muss den ganzen tag mit jugendlichen verbringen, die einem entweder in die weichteile treten wollen oder sich an dich ranschleimen, um eine gute note zu bekommen. das muss einen ja irgendwann fertigmachen, immer von leuten umgeben zu sein, die einen nie wirklich mögen. lehrer täten mir richtig leid, wenn sie nicht solche sadisten oder loser wären. bei den sadisten dreht sich alles um kontrolle und macht. sie sind lehrer geworden, weil sie einen offiziellen grund brauchen, um über andere herrschen zu können. und die loser machen fast den ganzen rest aus: von denen, die zu unfähig sind, um irgendetwas anderes auf die reihe zu kriegen, bis zu denen, die mit ihren schülern auf beste freunde machen, weil sie selbst in der schule nie freunde hatten. und dann gibt es noch die, die allen ernstes glauben, dass wir uns später an irgendwas von dem erinnern, was sie uns mal erzählt haben. später, wenn die letzten prüfungen vorbei sind. im ernst.

ab und zu kriegt man dann auch eine lehrerin wie mrs grover, die eine sadistische loserin ist. ich meine, es ist nicht leicht, französischlehrerin zu sein, weil heute kein mensch mehr französisch braucht. den begabten schülern kriecht sie in den derrière, bei den ganz normalen dagegen hat sie das gefühl, nur ihre zeit zu vergeuden. um sich dafür zu rächen, startet sie jede stunde eine abfrage und stellt uns schwule aufgaben wie, ha ha, ›schildere deinen eigenen spannenden euro-disney-trip‹. und tut dann ganz überrascht, wenn ich darauf sage: ›ein spannender euro-disney-trip ist für mich, wenn minnie ein baguette als dildo benutzt, um spaß mit mickey zu haben.‹ weil ich nicht weiß, was das französische wort für ›dildo‹ ist (vielleicht dildôt?), sag ich einfach nur ›dildo‹, und sie tut so, als hätte sie keine ahnung, wovon ich rede, und sagt, dass minnie und mickey, die baguette essen, kein spannender trip seien. ganz klar werd ich von ihr heute eine vernichtende note bekommen. ich weiß, dass mir das nicht egal sein sollte, aber ich kann mir im ernst kaum etwas vorstellen, das mir egaler wäre als meine französischnote.

das einzige, was mich über die stunde rettet – wenn ich ehrlich bin, über den ganzen vormittag – ist, isaac, isaac, isaac in mein heft zu schreiben und dann einen spiderman zu zeichnen und die buchstaben auf sein spinnennetz zu verteilen. was total einfallslos ist, aber egal. ich mach das ja nicht, um besonders cool zu sein.

beim mittagessen sitze ich immer mit derek und simon zusammen. bei uns ist das so, als würden wir gemeinsam in einem wartezimmer sitzen. ab und zu sagt einer was, aber meistens bleibt jeder für sich, in dem radius, der ihm durch seinen stuhl gezogen ist. manchmal blättern wir alle in irgendwelchen zeitschriften. wenn jemand vorbeikommt, blicken wir auf. das passiert allerdings nicht häufig.

die meisten leute, die an unserem tisch vorbeigehen, ignorieren wir, sogar solche, die so sind, dass man ihnen eigentlich hinterhergucken müsste. derek und simon stehen nicht so auf mädchen. im grunde stehen sie nur auf computer.

derek: glaubst du, die X18-software kommt noch vor dem sommer raus?

simon: könnte durchaus sein, hab ich im trustmaster-blog gelesen. fänd ich cool.

ich: hier hast du deine hausaufgabe zurück.

wenn ich mir die jungen und mädchen an den anderen tischen so anschaue, frage ich mich, was sie sich eigentlich zu sagen haben könnten. sie sind alle total langweilig und versuchen das zu überspielen, indem sie umso lauter reden. da sitz ich lieber nur da und esse.

ich habe da dieses ritual, nämlich wenn es punkt zwei uhr ist, dann erlaube ich mir, mich allmählich darauf zu freuen, dass ich bald nach hause darf. so als könnte ich, wenn ich den punkt erreicht habe, den rest des tages locker auch noch schaffen.

diesmal ist es in mathe so weit und maura sitzt neben mir. im oktober hat sie herausgefunden, was ich da treibe, und deshalb schiebt sie mir jetzt praktisch jeden zweiten tag einen zettel rüber, auf dem so dinge stehen wie ›glückwunsch‹ oder ›können wir jetzt nach hause?‹ oder ›wenn die stunde nicht bald vorbei ist, nehm ich noch eine axt und zerspalte mir meinen eigenen schädel‹. ich weiß, dass ich ihr was zurückschreiben sollte, aber meistens nicke ich nur. ich glaube, sie will, dass wir mal zusammen ins kino gehen oder so was, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.

alle an unserer schule haben ihre freizeitaktivitäten.

meine besteht darin, nach hause zu gehen.

manchmal lege ich einen zwischenstopp ein und treibe mich mit meinem skateboard etwas im park herum, aber nicht im februar, nicht in diesem beschissen kalten vorort von chicago (bei den bewohnern auch als naperville bekannt). wenn ich da jetzt rausgehe, frier ich mir die eier ab. nicht dass ich sie groß für irgendwas gebrauchen könnte, aber ich lege wert darauf, sie mir noch warmzuhalten, nur für den fall.

außerdem hab ich was besseres zu tun, als mir von typen, die das college nicht geschafft haben, vorschreiben zu lassen, wann ich mal auf die rampe darf (normalerweise nie), und ich will auch nicht von den skatepunks von unserer schule abschätzig gemustert werden, weil ich nicht cool genug bin, mit ihnen zu rauchen und zu trinken, aber auch nicht cool genug, es grundsätzlich nicht zu tun, das rauchen und trinken, meine ich. was die skatepunks betrifft, da bin ich total leidenschaftslos. ich hab nach ende der neunten klasse aufgehört, zu ihrer in-group-die-so-tut-als-wäre-sie-keine-ingroup gehören zu wollen. skaten ist einfach nicht mein leben oder so.

ich mag es, alles für mich allein zu haben, wenn ich nach hause komme. ich hab auch gar kein schuldgefühl, dass ich nicht an meine mom denke, wenn sie nicht da ist.

als erstes stürze ich zum computer und gucke nach, ob isaac online ist. ist er nicht. deshalb mache ich mir ein käsesandwich (ohne es zu überbacken, viel zu faul dazu) und hol mir dann einen runter. dauert insgesamt zehn minuten. nicht dass ich dabei auf die uhr schauen würde.

isaac ist immer noch nicht online, als ich wieder vor dem computer sitze. isaac ist der einzige auf meiner ›buddyliste‹, was der verdammt blödeste name für eine solche liste ist. was sind wir denn? dreijährige?

ich: hi, isaac, willst du mein buddy sein!?

isaac: klar, buddy! lass uns zusammen sandburgen bauen!

isaac weiß, wie idiotisch ich so was finde, und er findet es genauso idiotisch wie ich. genauso wie lol. wenn es irgendwas gibt, das noch idiotischer ist als eine buddyliste, dann ist es lol. wenn noch einmal jemand bei mir lol benutzt, dann nehme ich meinen computer und schmeiße ihn dem nächstbesten, der mir über den weg läuft, an den kopf. ich meine, lacht irgendjemand wirklich laut über das, was er mit diesem verklemmten lol markiert? ich finde, man sollte lieber loll schreiben, weil das vielleicht lippen nach einer lobotomie lallen, oder gleich lall. kein denken mehr, nur noch lallen. lallallallall.

oder ttyl. lass uns später miteinander reden. hey, blödmann, richtiges reden hast du wahrscheinlich schon lang verlernt. oder <3. das soll wie ein herz aussehen? wenn es für dich so ist, dann nur weil du noch nie einen hodensack gesehen hast.

(rofl! äh, was? wälzt du dich wirklich vor lachen auf dem boden? gut, dann bleib liegen, damit ich DIR IN DEN ARSCH TRETEN KANN.)