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Beschreibung

Was passiert, wenn 18 Autor*innen aus mehreren Generationen sich gemeinsam über Sexualität und Begehren austauschen? Was, wenn sie dabei anonym bleiben? In einem einzigartigen Experiment verbindet ›WIR KOMMEN‹ die Stimmen von Autor*innen verschiedener Identitäten und Herkünfte zu einem kollektiven Roman. Wir halten uns für aufgeklärt, offen und frei, doch wenn es um die eigene Lust geht, verstummen besonders Frauen und nicht-männlich gelesene Personen sehr schnell. Zu schambesetzt, zu potenziell gefährlich scheint das Thema. Dies gilt vor allem für nicht mehr junge Frauen. Die Mitglieder der Gruppe LIQUID CENTER setzen dieser Sprachlosigkeit den Kollektivroman WIR KOMMEN entgegen. Sie haben 15 Autor*innen verschiedenen Alters eingeladen, sich im Schutz der Anonymität schreibend zusammen mit ihnen über die Ausdrucksformen weiblichen Begehrens auszutauschen. So ist ein einzigartiger Kollektivroman entstanden, der gesellschaftlich verdrängte Facetten weiblicher und queerer Sexualität sichtbar macht. Die Autor*innen: Lene Albrecht · Ulrike Draesner · Sirka Elspaß · Erica Fischer · Olga Grjasnowa · Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl) · Verena Güntner · Elisabeth R. Hager · Kim de l'Horizon · I.V. Nuss · Maxi Obexer · Yade Yasemin Önder · Caca Savić · Sabine Scholl · Clara Umbach · Julia Wolf · und zwei Autor*innen, die anonym bleiben wollen

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Seitenzahl: 221

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Was passiert, wenn 18Autor*innen aus mehreren Generationen sich gemeinsam über Sexualität und Begehren austauschen? Was, wenn sie dabei anonym bleiben? In einem einzigartigen Experiment verbindet ›WIR KOMMEN‹ die Stimmen von Autor*innen verschiedener Identitäten und Herkünfte zu einem kollektiven Roman.

Wir halten uns für aufgeklärt, offen und frei, doch wenn es um die eigene Lust geht, verstummen besonders Frauen und nicht-männlich gelesene Personen sehr schnell. Zu schambesetzt, zu potenziell gefährlich scheint das Thema. Dies gilt vor allem für nicht mehr junge Frauen. Die Mitglieder der Gruppe LIQUID CENTER setzen dieser Sprachlosigkeit den Kollektivroman ›WIR KOMMEN‹ entgegen. Sie haben 15Autor*innen verschiedenen Alters eingeladen, sich im Schutz der Anonymität schreibend zusammen mit ihnen über die Ausdrucksformen weiblichen Begehrens auszutauschen. So ist ein einzigartiger Kollektivroman entstanden, der gesellschaftlich verdrängte Facetten weiblicher und queerer Sexualität sichtbar macht.

© Stefan Klüter

© Andreas Schöttke

LIQUID CENTER ist ein feministisches Literaturkollektiv, bestehend aus den Autorinnen Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf. Ziel ihrer Zusammenarbeit ist die Erhöhung der Sichtbarkeit feministischer Fragestellungen in der zeitgenössischen Literatur. LIQUID CENTER arbeiten interdisziplinär, dereguliert und in flüssigen Konstellationen.

Lene Albrecht, Ulrike Draesner, Sirka Elspaß, Erica Fischer, Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl), Olga Grjasnowa, Verena Güntner, Elisabeth R. Hager, Kim de l’Horizon, I.V.Nuss, Maxi Obexer, Yade Yasemin Önder, Caca Savić, Sabine Scholl, Clara Umbach, Julia Wolf und zwei Autor*innen, die anonym bleiben wollen

WIR KOMMEN

Kollektivroman

Hrsg. von LIQUID CENTERVerena Güntner, Elisabeth R.

E-Book 2024

© 2024 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Youvi Chow

Foto der Herausgeberinnen: © Stefan Klüter

Foto der Autor*innen: © Andreas Schöttke

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1012-4

www.dumont-buchverlag.de

Der folgende Text ist eine Collage aus den Stimmen von 18 Autor*innen verschiedener Generationen, die sich auf Einladung der Gruppe LIQUID CENTER im Sommer 2023 einem Experiment gestellt haben. In einem Zeitraum von sechs Wochen schrieben sie gemeinsam und anonym an einem einzigen Dokument. Das so entstandene Material verdichteten die Herausgeberinnen zum vorliegenden Buch. Gesetzt war nur das Thema: weibliches Begehren, Sex und Alter.

INHALTSHINWEIS/CONTENT NOTE:Dieser Text enthält Darstellungen von sexualisierter Gewalt sowie Passagen zum Thema Suizid. Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können.

PROLOG

Ein Foto: quadratischer Bildausschnitt, Nahaufnahme meiner weißen Bettdecke, die Falten schlägt. Zentral im Bild ein zartrosa Objekt aus Glas, durchsichtig. Der Arm eines Oktopusses, dessen Zipfel sich anmutig ringelt. Die von der Betrachterin aus gesehen rechte Seite des Objektes zieren kleine Noppen. Wer hat Bock?

Ich.

Oh ja, ein Oktoflirt, ein Krakentanz.

Ich hätte gern so viele Arme zur Verfügung. Oder Zungen.

Ich würde mein T-Shirt hochziehen und mich von dir befingern lassen, bezungen.

Nur das T-Shirt?

Erst mal, ja. Lass uns langsam machen. Ich mag es, wenn sich deine Noppen sanft an meinem Körper festsaugen.

Ich lausche dem Plopp-Geräusch. Noppe für Noppe.

es ist bekannt, dass oktopoden anders gebaut sind als menschliche wesen und sinnesorgane in all ihren gliedern besitzen, mit denen sie fühlen und ihre umgebung erleben. wie wäre es, derart vielarmige körperliche erfahrungen zu machen? umfassendes berühren? unter wasser? ich mische mich in euren flirt.

Ich wäre gerne so glitschig und klug.

Für mich bist du es.

Gib mir mehr davon. What’s next?

ENTEIGNUNG

Mein Vater ist vor zwei Wochen gestorben, und ich weiß nicht, was ich fühle. Wenn ich an ihn denke, stellen sich Szenen, Handlungen und Worte ein, in Fetzen, die in der Regel nicht gerade von Liebe oder Zugewandtheit zeugen, oder wenn, dann in einer aus meiner Sicht pervertierten Form: in der Form des Zugriffs.

Es kam ihm an keinem Tag seines Lebens in den Sinn, dass dies unangemessen sein könnte. Er war alt, gewiss, ein Kriegskind, doch ich frage mich, wie viele seinesgleichen da draußen wohl unterwegs sind.

Formen des Zugriffs, die ich oft hörte: »Du bleibst immer meine Tochter.« Heißt: »Ich habe für immer das Recht, mich in dein Leben einzumischen, es zu beurteilen.« Eine Konsequenz: Er fasste mir plötzlich von hinten an den Po, um zu beurteilen, wie fett oder nicht fett ich gerade war. Wie attraktiv für Männer, sollte das heißen. Andere Frauen wurden an dieser Stelle gelobt (mir als Beispiel vor Augen gestellt). Meist war ich zu dick, das wurde kommentiert. Meine Figur war sozusagen das Eigentum meines Vaters, auch als ich 50 wurde, als ich 60 wurde. Alter egal.

Und was machte das mit mir? Ich fand jede Art von Körperkontakt mit ihm widerlich. Ich fuhr ihn nicht gern besuchen. Ich wurde jedes Mal enteignet. Meines Körpers enteignet. Geschweige denn der anderen, nicht-körperlichen Aspekte meiner Identität (etwa: meine Bücher, meine Intellektualität, meine Niederlagen, meine Kümmernisse). Das alles galt nichts in seinen Augen. Ich war Frauenkörper, der (anderen Männern) zur Verfügung zu stehen hatte.

Meine Scheidung konnte da nur mein Fehler sein.

Aber was sage ich, »ich fuhr ihn nicht gern besuchen«. Er lebte nicht allein. Er lebte mit meiner Mutter zusammen. Genauer: Sie lebte neben/hinter ihm. Sie unterstützte das alles, lebte es mit, verbreitete es noch.

Sagen wir es hier offen: Wenn das der Hintergrund ist, den du mitbringst und als Elternteil mit dir herumschleppst, durch sechs Lebensjahrzehnte – was macht das mit dir?

Und jetzt: ist dieser Blick, ist diese Hand aufgelöst. Ende, fini, aus, ade.

Was fühle ich?

Erleichterung?

Ja, in Teilen. Aber nicht nur. Sie kommt nicht von selbst. Ich muss sie mir erarbeiten, glaube ich. Sie mir erlauben. Herauswachsen aus dieser Beurteilungsmaschine.

DA UNTEN

Meine Mutter hat mit mir nie über Sex geredet, über Menstruation oder mein Geschlecht. Ihr Mund war vom Schweigen der Generationen vor ihr wie beschnitten. »Das ist für da unten«, sagte sie knapp, als das Blut nicht mehr zu leugnen war, und schob mir heimlich eine Packung Binden zu. Und vorher – über Jahre hinweg – immer wieder ihre bange Frage: »Hast du sie schon?«

»Nein«, presste ich jedes Mal hervor. Auch mit dreizehn noch, als wir es längst beide wussten. Sie wusch doch meine Wäsche! Sie sah doch das Blut. Ich sagte trotzdem weiterhin »Nein«, und wir wechselten erleichtert das Thema.

Ich habe als eines der ersten Mädchen in meiner Klasse die Regel bekommen. Ich hätte gern gewartet, wäre gern das kluge, dicke Mädchen geblieben, das sonntags laut in der Kirche sang, sich alles traute und nach der Schule mit seinen Freundinnen im Heu lag. Doch es sollte anders kommen. Kurz bevor ich meine erste Regel bekam, verlor ich etwas anderes Wesentliches: meinen Kinderglauben, in dem ich über ein Jahrzehnt lang wie in einer zweiten Haut gesteckt hatte. Meine frühesten Texte waren Diktate an Gott. Ich war keine unterwürfige Gläubige gewesen, eher eine forsche Verhandlerin, aber ich hatte geglaubt mit einem Furor und einer Liebe, wie es nur in der Kindheit geht. An den genauen Moment erinnere ich mich nicht, aber ich erinnere mich an den Morgen, als ich aufwachte und mir klar wurde, dass das alles nur Geschichten sind, die sich die Leute aus Angst vor der Zukunft erzählen. Wenig später überraschte mich die Periode. Meine Freundinnen waren noch Kinder. Ich aber wischte das Blut zwischen meinen Schenkeln ab und dachte: So, jetzt musst du bumsen.

Ich bekam als Letzte in der Klasse meine Menstruation. Ich fühlte mich ausgeschlossen, wenn meine Mitschülerinnen sich verstohlen Tampons unter den Schultischen weiterreichten. Einmal schloss ich trotzig meine Hand um einen und gab ihn nicht weiter. Meine Freundin V., die neben mir saß, lächelte mich an und legte mir anerkennend die Hand auf die Schulter. Es dauerte noch ganze sechs Monate, bis sie wirklich kam. Ich war mit V. und ihrer Familie in den Sommerferien im Nordwesten Frankreichs. An jenem Nachmittag waren wir am Strand, rannten in die tosende Brandung, ließen uns vom Atlantik durchwirbeln und legten uns zum Trocknen in die pralle Sonne. Ich hatte mir am Tag zuvor einen neuen Badeanzug in Apricot gekauft, der meine leicht gebräunte Haut besser zur Geltung bringen sollte.V.s älterer Bruder kam aus dem Wasser und blieb vor mir stehen. »Iiiih«, rief er. V. folgte seinem Blick, warf blitzschnell ein Handtuch über mich. In der Strandtoilette riss ich aufgeregt die Packung auf, fummelte die feine Plastikhülle vom Tampon und versuchte, ihn mir reinzustecken. Ich bekam es nicht hin. »Warum dauert das so lang?« V. wartete vor der Tür. Mir liefen die Tränen vor Verzweiflung, aber ich schaffte es nicht, mich ihr anzuvertrauen, zuzugeben, dass ich die ganze Zeit über wegen meiner Menstruation gelogen hatte. Irgendwann legte ich mir sechs Tampons auf einmal in die Unterhose und lief den Rest des Tages mit Shorts rum. Erst später auf den Urlaubsfotos sah ich die Beule zwischen den Beinen, meinen Penis aus Tampons.

Ich war auch die Letzte in meiner Klasse. Meine Mutter nahm meine erste Menstruation zum Anlass, mir zu sagen, ich solle vorsichtig sein, mit wem ich Sex habe – manche Männer wollten einen nur ausnutzen. Wir saßen zusammen in der Badewanne, und das war es, was sie mir zum Thema Sex zu sagen hatte. Im Nachhinein tut sie mir leid. Im Nachhinein denke ich, ich bin in meinen 20ern vielleicht auch deshalb so wahllos mit Typen ins Bett gegangen, weil ich mir beweisen wollte, dass ich das kann. Weil ich es will. Und ohne dass mich irgendwer ausnutzt.

Beim Lesen bleibt vor allem dieses Bild stehen: wie ihr gemeinsam in der Badewanne sitzt – schön.

Ja, das stimmt, und es freut mich, dass du das schreibst. Die Frauen in meiner Familie pflegen eine große körperliche Intimität. Meine Mutter hat auch mit ihrer Mutter noch bis ins hohe Alter gekuschelt und gebadet. Als meine Oma schon schwer dement war, sind wir manchmal zu ihr ins Bett gekrochen, einfach um ihr nahe zu sein. Das hat mir meine Mutter auch mitgegeben: ein Bewusstsein dafür, wie wichtig Berührungen sind.

Everyone is female and everyone loves it! *Konfetti* Everyone is female and everyone loves it!

*Schuss einer Handfeuerwaffe*

Viele Jahre lang habe ich jeden Monat aufs Neue die erste Periode bekommen, weil ich nach jeder Blutung verdrängt habe, dass mein Körper das kann.

von kind an gelingt es mir nicht, meinen körper zu disziplinieren. er macht, was er will. er macht, was er gesehen und gelernt hat, oder eben nicht. mein körper macht nicht, was die körper der anderen tun. entwickelt keinen busen, sondern eine riesige nase. während die mädchen in der schule mit ihrer periode prahlen, passiert bei mir gar nichts. mein körper vermeidet, zum geschlecht zu werden, zu einem bestimmten, und damit die möglichkeit zum anderen geschlecht zu verlieren. vielleicht hütet sich mein körper aufgrund der gewalterfahrungen meiner großmutter und mutter, in diesen raum zu treten, aus dem es kein entkommen gibt, und wenn nur ein schlimmes. ich bin noch nicht bereit, zu akzeptieren, dass ich frau werden soll und nichts sonst. andererseits wird von der umgebung genau festgestellt, wer in die geschlechtliche norm passt und wer nicht. mein gesicht ist männlich, wird gesagt, ich benehme mich wie ein junge, wird mir vorgeworfen. ein nachbar macht sich lustig, ich sei keine frau, sondern ein zwitter, was das schlimmste schimpfwort ist. das wort verfolgt mich, ich befürchte, tatsächlich eine mischung aus zwei geschlechtern zu sein, uneindeutig. auch weil freundinnen fraglos zu frauen werden. lang vor mir. mit niemandem traue ich mich, darüber zu reden, nehme die angebliche abweichung auf meine schultern, schleppe daran.

Im Alter von vierzig Jahren wachte ich eines Nachts in einem Tümpel voll Blut auf. Schluchzend saß ich dann in der Badewanne und ließ das Wasser die rote Flüssigkeit aus meinem Inneren wegspülen. Die Gynäkologin riet mir, mit dem Myom auch gleich die Gebärmutter entfernen zu lassen. Das fand ich gut. Endlich kein Blut mehr. Ich blieb zwar Frau, aber ohne all die damit verbundenen körperlichen Nebenerscheinungen. Nicht mehr empfängnisfähig zu sein, war für mich eine enorme Erleichterung.

Ich mag es, wenn nach dem Cunnilingus mein Blut aus ihren Mundwinkeln tropft, ihr Gesicht rot und klebrig. Ich mag es, wenn sich im Schritt meiner hellen Hose ein dunkler Fleck abzeichnet. Wenn ich aufstehe und ein schmieriges Rot auf dem Polster zurückbleibt, sichtbar für alle.

Ich mochte sie nie, diese ekligen Blutungen, den Geruch, die verschmutzte Unterhose, das Reiben der Binde an der zarten Haut neben der Vulva, die Panik, nicht rechtzeitig ein Klo zu finden, die Panik, unwissentlich einen verräterischen Fleck an der Kleidung zu haben, irgendwo hinten. Die beiden Male, als ich während der Menstruation Sex hatte, sind mir unangenehm in Erinnerung. Das Bett voller Blut. Ich konnte nicht verstehen, dass die Männer das mochten.

Die fantastische Kleidung ihrer Konfirmation. Eine weiße Bluse mit großem, ausladendem Kragen, eine Reminiszenz an Kindersonntagsblusen but with a modern twist, ein schwarzes, knielanges Jackett ohne Ärmel, ein Rock, an den sie sich nicht erinnert, glänzende Ballerinas mit kleinem Absatz (dem ersten). Sie waren zusammen einkaufen gewesen, ihre Mutter und sie, nichts davon war secondhand, alles war neu. Es war ihr erster Auftritt als Frau, so nahm sie es wahr, und fieberte dem Konfirmationsgottesdienst entgegen, an dem sie die Bühne vor dem Altar endlich betreten, sich allen zeigen würde.

Als es so weit war, zerfloss der Tag. Ihre Mutter blutete heftig, es lief ohne Unterlass, die Wechseljahre, wusste sie von ihr. Zwei Super-Plus-Tampons, die größten, die es gab, steckten in ihrer Mutter, zwei dicke Binden übereinander in ihrer Unterhose, und trotzdem lief das Blut, drohte jeden Moment aus den Hosenbeinen herauszulaufen, die Kirche zu überschwemmen. Sie strich über den feinen Stoff ihres Jacketts und drehte sich immer wieder nervös nach ihrer Mutter um, die bleich zwischen den Großeltern saß. Versuchte zu verstehen, was vor sich ging, menstruierte ja selbst noch gar nicht und wusste doch schon alles darüber: die schleimigen Klumpen, das Triefen, das Tropfen, die verschmierten Finger ihrer Mutter, die, als es ein halbes Jahr später auch bei ihr endlich so weit war, kaum zu trennen waren von ihren eigenen, als hätte sie zwanzig Finger, die das knisternde Plastik vom Tampon nestelten, ihn einführten.

Ich bekam meine Periode am Weihnachtsabend 1994. Als kleines, in blutroten Samt eingeschlagenes Päckchen lag sie unterm Weihnachtsbaum; ein goldenes Schleifchen darum. Meine Eltern nickten mir wohlwollend zu, als ich vorsichtig das Geschenkband löste. Mit angehaltenem Atem schlug ich, gewärmt von ihren liebenden Blicken, den Samtstoff auseinander. Eine kleine Holzschatulle kam zum Vorschein. Ich befühlte das polierte Holz, spielte am filigranen Metallverschlüsschen herum. Als ich die Hand meiner Mutter auf der Schulter spürte, traute ich mich endlich, den Deckel zu heben. Und da war sie.

Die wievielte Pubertät durchlebe ich? Wann verstehe ich die Welt durch mein Verlangen? Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. In meinem Verlangen sehe ich die ganze Welt brennen. Wie Memoryfoam für Trauma. So genau wollen wir das aber auch nicht wissen. »Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr« (Ilse Aichinger). Ungenau werden, ungenau. Das hier ist nicht der Trend zur Autofiktion, also vergessen wir das. Wir gegen den Zeitgeist. Aber was, wenn ich, äh, also wir uns so gut und richtig wie nur möglich vergessen, aber das Ich doch durchrutscht, auffliegt, ganz und gar als falsche Frau entblößt wird? Das habe jetzt ich gesagt und nicht ich. Da können wir ja nur verrückt werden, aber immerhin zwingen wir uns dazu, schön dabei auszusehen. Oder hässlich. Wir werden jedenfalls prächtig sein.

PLACE OF LOVE

Ich bin an Frauen nicht interessiert, habe ich immer wieder betont. Nein, nein, ich bin hetero. Dann verliebte ich mich in eine Frau. Und mir wurde schlagartig klar: Ich bin lesbisch. Und ich habe mich zum ersten Mal in meinem Leben bei mir gefühlt. Gefühlt, dass das ich bin, wirklich ich. Dass mir mein Körper, meine Sexualität, meine Lust gehört.

Die Nachmittage bei meinem ersten Freund. Ich schließe die Augen, um ihn zu küssen, und als ich die Augen wieder öffne, ist der Nachmittag vorbei, und ich muss schnell nach Hause zum Abendbrot.

In einem U-Bahn-Waggon in London nahe Paddington Station. Ich bin zwölf und auf einem Städtetrip mit der Familie. Wir haben endlose Stunden im British Museum verbracht. Ich erinnere mich an den Stein von Rosette, an Sarkophage und Unmengen an zerbrochener Keramik. Jetzt sind wir – hundemüde – auf dem Weg ins Hotel. Der Zug ist voll. So voll, dass wir stehen müssen und ich ständig irgendjemanden, irgendetwas berühre. Ich schwitze. Mein weißes T-Shirt klebt am Körper. In regelmäßigen Abständen hält der Zug, spuckt Menschen aus, gefühlt doppelt so viele treten ins Abteil. Ein Typ steigt ein, vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht dreißig. Er trägt ein weißes Hemd, das kurze, braune Haar von der Hitze gesträhnt. Er ist etwas größer als ich – schlank. Ich erinnere mich nicht an sein Gesicht, aber dieser Körper, dieser schlanke, im weißen Hemd steckende Oberkörper löst etwas in mir aus. Ich bin noch keine Frau. Ich trage noch keinen BH. Mein Busen beginnt gerade erst zu wachsen. Zum ersten Mal spüre ich, wie sich meine Brustwarzen unterm T-Shirt zusammenziehen. Hinter mir steht meine Mutter, die ich schon ein paar Zentimeter überrage. Vor mir, keine Handbreit entfernt, der Fremde. Die U-Bahn ruckelt. Ich lehne mich nach vorn, die Finger in der Schlinge über mir. Sein Körper schwappt mir in jeder Kurve entgegen. Und dann stoßen wir wirklich zusammen. Mein weißes T-Shirt an sein weißes Hemd, meine Brüste an seinen Bauch. Immer und immer wieder. In unglaublich sanften, kaum merklichen Begegnungen. Winzige Stromstöße, die ich nie vergessen werde.

Kürzlich sah ich in einem See jemanden sehr kraftvoll kraulen. Ich vermutete einen Mann, dessen Arme muskulös ins Wasser schlugen. »Der hat bestimmt einen guten Körper«, murmelte ich – und fing den konsternierten Blick der jungen Frau auf, die neben mir saß und ganz offenbar fand, dass meine begehrliche Fantasie und mein Faltengesicht nicht zusammenpassten.

Wie oft saßen wir in diesem Sommer gemeinsam in der Bibliothek. Fuhren mit dem Fahrrad durch die Stadt, durch ihre Ränder, bis hinaus ins Grüne. Lagen am See. Ich sah ihr dann beim Schwimmen zu, verfolgte ihre Züge im Wasser. Diese paar Zentimeter zwischen uns, immer diese paar Zentimeter. Wir kamen an einer Koppel mit Hirschen vorbei, in einer Nacht, als es auch um elf noch nicht richtig dunkel war. Der eine hob seinen Kopf und sah uns dabei zu, wie wir ihn anschauten.

Als ich sie endlich berühren darf, steht die Welt still.

Erinnerst du dich noch an die Filmszene mit Björk und Matthew Barney, bei der sie sich unter Wasser gegenseitig zärtlich mit großen Messern die Gliedmaßen abtrennen? Erinnerst du dich noch an die Seile, die ich um deine Handgelenke gewickelt habe?

Ich lege meinen Kopf auf deinen warmen Bauch, in dem unser Baby wächst.

»Set boundaries, but from a place of love«, sagte meine Astrologin Anfang des Jahres. Ich weiß nicht, ob sie damit unser Sexleben meinte.

WALD

Eine meiner frühesten Erinnerungen an Sex: der Telefonsex meiner Eltern. Ich im Bett meiner Mutter. Mein Vater beruflich unterwegs im Ausland. Meine Mutter masturbiert und stöhnt ins Telefon. Ich stelle mich schlafend. Ihre Stimme: »Dein Schwanz ist ein Donnerkeil.« Den Begriff Donnerkeil kannte ich nicht. Erst viele Jahre später habe ich das Wort wieder gehört und mir ein Bild machen können.

Laut Internet sind Donnerkeile Reste des Skeletts von ausgestorbenen Kopffüßern, den Belemniten, die den heute lebenden Kalmaren ähnelten und vom Karbon bis zum Ende der Kreidezeit existierten. Das Alter der versteinerten Fossilien beträgt also bis zu 358Millionen Jahre.

Oder:

–das fossilierte Innenskelett eines ausgestorbenen Kopffüßers, siehe Hartteile der Belemniten

–das steinzeitliche Steinbeil, siehe Steinbeil (Steinzeit)

–Donnerkeil (Mythologie), in zahlreichen Mythen Attribut eines Gottes

–ein Attribut der hinduistischen Götter Shiva, Indra und Vayu und Symbol im Buddhismus, siehe Vajra

–Donnerkeil (Heraldik), eine Wappenfigur, die Waffe des Zeus und Jupiter

Ich erinnere mich an die Erzählung einer Freundin, deren Mutter im Urlaub mit einem Mann geschlafen hatte, den sie erst seit Kurzem kannte. Er hatte sie in sein Ferienhaus eingeladen, und weil meine Freundin nicht allein in einem Zimmer in einem fremden Haus schlafen wollte, lagen sie zu dritt im Bett. Sie war acht oder neun, ich weiß es nicht mehr, aber sie hörte zu, wenn es passierte, stellte sich schlafend, versuchte, mit angehaltenem Atem zu begreifen, was dort vor sich ging, was für Geräusche da aus ihrer Mutter herauskamen, die sie unheimlich fand und fremd.

Eine andere Freundin, damals etwa im selben Alter, berichtete von wechselnden Männern, die ihre Mutter nachts mit nach Hause brachte, die sie zum Teil nicht kannte, die plötzlich neben ihrem Bett standen, erschrocken, dass da ein Kind lag. Wie verwirrt sie war, weil sie nicht einordnen konnte, was jeweils geschah, ihre Mutter ihr nichts darüber sagte oder ihr nicht erklärte, was sie genau mit den fremden Männern machte. Trotzdem ließ sie sie auf eine unbekümmerte Art daran teilhaben, rief ihr aus dem Bett etwas zu, gute Nacht und schlaf weiter, mein Schatz, morgen gibt es Smacks zum Frühstück. Als meine Freundin elf Jahre alt war, hatte sie zum ersten Mal Sex mit einem Mann. Sie erzählte mir davon, ich war nur ein Jahr älter als sie und völlig überfordert mit der Situation. Ich brach die Freundschaft von heute auf morgen ab, legte mich im Freibad an einen anderen Platz, lief große Umwege, um nicht an ihrem Haus vorbeizumüssen. Zog eine Grenze entlang meiner Kindheit. Wir näherten uns nicht wieder an, ich hörte andere über sie reden, es waren die gleichen Sätze, die auch über ihre Mutter gesagt wurden, und ich schämte mich, nicht für sie einzustehen.

Als ich älter wurde, kam mir immer wieder dieses Bild in den Sinn: die beiden Mädchen im Bett und der fehlende Schutz, und ich fragte mich, wie viele Generationen er wohl zurückreichte.

Ich denke an die beiden Mädchen, und sofort tauchen Bilder anderer Mädchen auf, anderer Kinder, denen niemand geholfen hat. Das Bild meines ersten Freundes, in dem der Missbrauch so tiefe Spuren hinterlassen hatte, dass er sich mit zwanzig Jahren das Leben nahm. V., der so viel passiert ist. V., die auch schon lange nicht mehr lebt. Oder M., die sich als Teenager prostituierte, nachdem ihre Mutter die Familie verlassen hatte. Ich denke an diese Menschen, die einmal sehr wichtig waren für mich. Und ich denke an mich selbst. Als Kind, als Jugendliche. Ich hatte Glück. Ich war trotz der ganzen Scheiße ein geliebtes Kind. Ich denke an das Gesetz der Energieerhaltung, daran, dass Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Sie wechselt nur die Form.

eine freundin hat ihren besuch angekündigt, und mir fällt ein, dass ich mich immer noch mitschuldig an einem gewaltsamen übergriff fühle, den sie erlebte, als sie mich, die vielreisende, an einem meiner aufenthaltsorte in asien für ein paar tage besuchte. ich war zu beschäftigt, um sie bei ihren erkundungen zu begleiten, ließ sie allein weiterfahren. auf der suche nach einem günstigen quartier geriet sie an einen vermieter, der ihre unerfahrenheit und offenheit sofort auszunutzen begann. sie tanzten, tranken bier, und schließlich bedrängte er sie, mit ihm zu schlafen, obwohl sie das nicht wollte. wir schickten uns sms, wollten uns eigentlich noch treffen, aber dann fiel im ganzen land immer wieder der strom aus. am telefon berichtete sie von strandausflügen mit dem vermieter. erst zurück an unserem wohnort gestand sie, dass sie der zudringlichkeit dieses typen nichts entgegensetzen konnte. ich bin bis heute überzeugt, dass ich sie im stich gelassen habe.

Bei einem Panel Talk im Rahmen der Berlinale spricht ein Filmemacher darüber, mit welchen filmischen Mitteln er welche Erwartungen beim Publikum wecken kann. Er spricht über Konventionen und Sehgewohnheiten und nennt dann ein Beispiel: Wenn wir also sehen, wie ein Mädchen allein in den dunklen Wald läuft, wissen wir schon, dass dem Mädchen wahrscheinlich etwas Schlimmes passieren wird. Er geht nicht weiter auf das Beispiel ein, aber bei mir bleibt es hängen. Das Bild vom Mädchen, das allein in den dunklen Wald läuft.

Ich denke auch an C., eine Freundin, die mir abhandengekommen ist und die ich neulich gegoogelt habe, um zu sehen, was sie macht. Sie hat einen Sohn, einen Job an der Uni und immer noch diesen grimmigen Mund. Das letzte Mal habe ich C. vor vielen Jahren in Bogotá gesehen, wo wir uns auch kennengelernt haben. Spätabends haben wir uns vor einer Bar verabschiedet, ich hatte ein Taxi gerufen, und als ich sie fragte, wie sie nach Hause komme, sagte sie nur: Oh, I’ll walk. Zu ihr nach Hause war es weit, ich wollte sie überreden, mit mir mit dem Taxi zu fahren. Die Vorstellung, dass sie als Frau allein nachts durch Bogotá laufen wollte, fand ich ungeheuerlich. Aber C. zog sich nur die Baseball-Kappe auf den Kopf und sagte: Don’t worry, I’ll be fine. Sie mache das öfter. Mit diesen Worten verschwand sie in der Nacht, und ich liebe dieses Bild von ihr, diesen letzten Blick unter der Kappe hervor: I’ll be fine.

Und dann stehe ich morgens an der Tramstation, ich bin auf dem Weg zu einem Termin, und irgendein Club in meinem Kiez spuckt eine Horde Nachtgestalten aus. Mir fällt eine junge Frau auf, die so betrunken und/oder high ist, dass sie kaum noch gehen kann. Sie wird von zwei jungen Männern gestützt, es wirkt, als wären die drei befreundet. Einer der beiden kauft ihr einen Kaffee, aber sie kann sich nicht lange genug aufrecht halten, um ihn zu trinken. Zwischendurch versucht sie, lustig zu sein, macht ein paar Tanzschritte, klappt aber gleich wieder zusammen. Es ist klar, die Jungs bringen sie jetzt nach Hause, aber irgendwas ist auch komisch, vielleicht ein Blickwechsel zwischen den beiden, der mich plötzlich misstrauisch werden lässt. Was machen die jetzt mit ihr? Muss ich intervenieren? Habe ich das Recht dazu? Was unterstelle ich den beiden jungen Männern, die ja offensichtlich Freunde von ihr sind, da eigentlich? Und gleichzeitig ertappe ich mich dabei, wie ich mich über die Frau ärgere, Mädchen, denke ich, Mädchen, was machst du denn da? Du kannst dich doch nicht in eine solche Situation bringen! Du kannst doch nicht so die Kontrolle verlieren!

Und wie oft war ich selbst dieses Mädchen.

Und wie viele Menschen haben mich gesehen, wie ich in den dunklen Wald hineingelaufen bin, und waren sich ganz sicher, dass mir jetzt gleich etwas Schlimmes widerfährt.

To watch a horror movie is to know that something bad is going to happen. To have a body is really the same thing.[1]

Julia Armfield, Guts