Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens -  - E-Book

Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens E-Book

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Beschreibung

Vom Objekt des Genusses zum Objekt der Wissenschaft Schon zu Zeiten der Antike erkannte der Dramatiker Euripides die Bedeutung des Weins für den Reiz des menschlichen Lebens. Mit diesem Werk wird dem beliebten alkoholischen Getränk ein Denkmal gesetzt, indem man es in all seiner Vielfältigkeit ergründet. Nicht nur die Griechen, sondern auch die alten Römer priesen den Wein, sodass er an der Mosel und am Rhein schon seit mehreren hundert Jahren angebaut wird. Neben den regionalen Bezügen zu den Weinstädten Mainz und Ingelheim führt die Thematik aber auch auf eine internationale Ebene und behandelt unter anderem die chinesische Weinkultur mit dem ältesten Wein der Welt. Das bebilderte Sachbuch erforscht den Wein sowohl unter wissenschaftlichen als auch unter kulturellen Aspekten und widmet sich dabei historischen und aktuellen Fragestellungen. Abends ein Glas Wein genießend denkt man selten an dessen chemische Zusammensetzung oder unter welchen Einflüssen die Reben herangewachsen sind. In diesem Sammelband wird über Önologie und Mikrobiologie, aber auch über Einflüsse des Klimawandels oder der Musik aufgeklärt. Es lässt sich also in umfangreichem Maße neues Wissen über das Genussgetränk erwerben. Die Autoren stammen aus den verschiedensten Fachbereichen und bieten so die Möglichkeit, das Thema Wein aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

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»Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens«

Aspekte des Kulturguts Wein

Herausgegeben von

Heinz Decker

Helmut König

Wolfgang Zwickel

272 Seiten mit 159 Abbildungen

Titelbild: © M. Sachse-Weinert

Frontispiz: © W. Zwickel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 by Nünnerich-Asmus Verlag & Media, Mainz am Rhein

ISBN 978-3-945751-58-9

Gestaltung: Lohse Design, Heppenheim, www.lohse-design.de

Lektorat: Sarah Kremerskothen, Antonia Pohl, Natalia Thoben, Katharina Weller

Gestaltung des Titelbildes: Sebastian Ristow

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

Weitere Titel unseres Verlagsprogramms finden Sie unter: www.na-verlag.de

E-Book Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

R. Brüderle

Vorwort

H. Decker / H. König / W. Zwickel

Einführung

Kulturgeschichte und Religion

P. Kupfer

Der älteste Wein der Menschheit in China: Jiahu und die Suche nach den Ursprüngen der eurasischen Weinkultur

S. Grätz / D. Prechel

Wie Nebukadnezar zu seiner Flasche kam. Der altorientalische und biblische Hintergrund übergroßer Wein- und Sektflaschen

W. Zwickel

Weinanbaugebiete in biblischer Zeit

K.-J. Gilles

Römischer Weinbau an Mosel und Rhein

M. König

Spätrömische Kelteranlagen an Mosel und Rhein – Ein Beitrag zur Wein- und Landwirtschaftsgeschichte

H.-P. Kuhnen

Wasser predigen – Wein trinken. Die frühen Kalifen und der Wein

M. Sachse-Weinert

Wein und Religion: Ein interkultureller Vergleich

Gesundheit

T. Efferth

Medizinalweine – damals und heute

J. Volmar

Wein, Weib und Herz

H. Decker / P. Fronk / M. Blettner

Alkoholkonsum in einer deutschen Weinregion und mögliche Gefährdungen

Weinbau und Önologie

H. König / E. Christ

Weinherstellung wie in alten Zeiten oder: Was haben die heutigen Winzer mit Dirigenten gemeinsam? Mikrobiologie der Spontangärung

R. Töpfer

Resistenzzüchtung bei Reben im Licht der Genomforschung

N. Jäckels / P. Fronk / H. Decker

Untersuchungen zur Weinschönung

R. Eder / I. Groiss / O. Grössenbrunner

Wieviel Mineralik ist in unseren Weinen?

M. Sachse-Weinert

R. Nickenig

Deutscher Weinbauverband e. V

Weingüter

D. Pieroth

10 Winzergenerationen seit 1675 – Ein historischer Rückblick. Von Hofmann Pieroth bis zur WIV Wein International AG

M. Dietz-Lenssen

Die »Rotweinstadt« Ingelheim am Rhein und das Weingut J. Neus

F. Ringhoffer / H. Decker / W. Horn

Die Entstehung und Entwicklung des Mainzer Weinsenates

Ausblick in eine neue Weinwelt

S. Fleischer

Von Mainz nach China und wieder zurück – Beobachtungen zu einem neuen Weinmarkt (Interview)

M. Christmann

Die Zukunftsthemen in der Weltweinproduktion

Autorenverzeichnis

Abbildungsnachweis

Werbeseiten

Vorwort

Ein neues Buch über Wein. Es gibt schon viele Bücher zu diesem Thema: Weshalb ein weiteres?

Weil Wein ein unerschöpfliches Thema ist, das viele Aspekte, Zusammenhänge und ständig neue Erkenntnisse umschließt.

Den Herausgebern und Autoren dieses Werkes über Wein ist es wirklich gelungen, viele neue Blickwinkel dieses großen Themas zu erarbeiten und dem interessierten Leser sehr anschaulich zu vermitteln. Der Bogen ist weit gespannt, angefangen bei Geschichte und Religion über Medizin und Weinbau, bis hin zu Weingütern und den Perspektiven für die Zukunft. Dies war nur dadurch möglich, dass sich viele Experten zusammengefunden haben.

Für Freunde des Weins ist es ein sehr in die Tiefe gehendes Werk, für »nur« Weintrinker eine Chance, sich die Welt des Weins zu erschließen: So vielfältig, wie die Welt, Kulturen und Philosophien sind, sind auch die Facetten des Weins.

Der erfahrene Weintrinker kann bei einem Schluck Wein, wenn er die Augen schließt, vor seinem inneren Weinauge aufgrund verschiedener Geschmackskomponenten (verursacht durch Mineralstoffe, Säure, Restsüße, Tannine, Enzyme und vieles mehr) Bilder von Landschaften, Menschen und Gebräuchen erkennen. Er kann außerdem, je nach emotionaler Situation, bei einem Glas Wein Entspannung, Inspiration und Motivation erfahren. Wein trinken kann aber auch immer wieder ein Erlebnis sein. Es führt Menschen zusammen, wirkt Frieden stiftend und stärkt die Gemeinschaft.

In diesem Buch lernt man aber, dass Weinkonsum mit Maß und Vernunft erfolgen muss, damit sich positive gesundheitsfördernde Wirkungen des Weins entfalten können.

Nach der Lektüre des Buches weiß der Leser: Wein ist nicht nur ein Wirtschaftsgut, sondern ein Kulturgut – es spiegelt etwas aus unserer Geschichte und unserer Zeit wider.

Ein lohnenswertes Buch, ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!

Rainer Brüderle

Einführung

Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens! Diese Worte des griechischen Tragödiendichters Euripides (* ca. 480v.Chr.– 406v.Chr.) geben eine wichtige Lebenserfahrung wieder: Wein war besonders im antiken Griechenland und ist dort noch heute ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Diese auf das Weinland Griechenland bezogene Aussage hat jedoch eine viel breitere Relevanz: Schon vor vielen Jahrtausenden wurde vom Nahen Osten bis China Wein als ein grundlegendes Lebenselixier angebaut und getrunken.

Doch Wein ist nicht nur das wichtigste Getränk der Vergangenheit im Mittelmeerraum, er hat auch eine hohe gegenwärtige Relevanz. Hierbei spielen Mainz und Rheinland-Pfalz eine für Deutschland hervorragende Rolle. Mehr als 60% des deutschen Weins werden in den rheinland-pfälzischen Anbaugebieten Ahr, Mittelrhein, Mosel, Nahe, Pfalz und Rheinhessen hergestellt. Im Juni 2008 wurde die Stadt Mainz als einzige deutsche Stadt in das internationale »Great Wine Capitals Global Network (GWC)« aufgenommen, einem Zusammenschluss der zehn exklusivsten und bekanntesten Weinbaustädte weltweit. Aber nicht nur deshalb kann Mainz als (heimliche) Weinhauptstadt Deutschlands angesehen werden. Mainz ist auch der Standort bedeutender Weininstitutionen wie des Deutschen Weininstituts, des Deutschen Weinfonds und der Deutschen Weinakademie.

Mit der Gründung des Instituts für Mikrobiologie und Weinforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in den 60er-Jahren wurde auch die akademische Weinforschung in Rheinland-Pfalz etabliert. Einige Hochschullehrer der hiesigen Universität sind auch Mitglieder im Mainzer Weinsenat, der sich besonders gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten des Weins widmet.

Die vielfältige und wichtige Bedeutung, die Wein in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens seit Jahrtausenden spielt, werden an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz in einer Breite untersucht, wie es möglicherweise an keiner anderen wissenschaftlichen Institution weltweit der Fall ist. Dazu wurde vor mehreren Jahren ein interdisziplinärer Arbeitskreis (IAK) »Rebe und Wein« an der Johannes Gutenberg-Universität gegründet, in dem kulturgeschichtlich und önologisch relevante Themen aus so vielfältigen Bereichen wie Archäologie, Archäobotanik, Literatur-, Religions- und Profangeschichte, Theologie, Psychologie, Sprachwissenschaft, Mikrobiologie, Biophysik, Genetik, Chemie, Medizin, Pharmakologie, Recht sowie Wirtschaft bearbeitet werden. Die Ergebnisse wurden in den vergangenen Jahren in jedem Sommersemester in der Vorlesungsreihe »Weinwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz« einem lokalen weininteressierten Publikum vorgestellt. Einige Vorträge wurden 2012 in dem Band »Kulturgut Rebe und Wein«. (Springer-Verlag, Heidelberg) einer breiteren Öffentlichkeit auch außerhalb von Mainz präsentiert.

Wegen des anhaltend großen Interesses haben wir uns entschlossen, weitere Vorträge zum Thema Rebe und Wein in dem vorliegenden Weinbuch herauszugeben. Der Bogen ist auch hier wieder weit gespannt. Die Kulturgeschichte des Weins wird von den ältesten Weinfunden in China über die nahöstlichen und biblischen Referenzen bis hin zum römischen Weinanbau an der Mosel exemplarisch dargestellt. Die drei ausgewählten Regionen sind ausgezeichnete Beispiele für die Geschichte des Weinanbaus in der Antike. Die Bedeutung des Weins hat sich dabei in religiösen und liturgischen Handlungen unterschiedlichster Religionen Asiens und Europas niedergeschlagen. In einem zweiten Abschnitt werden die gesundheitlichen Aspekte des Weins behandelt. Ist Weinkonsum eher gesundheitsgefährdend oder -fördernd? Hier werden aktuelle medizinische Forschungen auf einem allgemein verständlichen Niveau auch für Nichtmediziner präsentiert. Der Weinbau schreitet ständig voran und führt zu völlig neuen Entwicklungen, die von Laien oft nicht wahrgenommen werden (können). Einige Beiträge zur aktuellen Weinforschung erlauben es dem nichtfachkundigen Weintrinker, besser zu verstehen, was mit seinem Glas Wein beim Winzer geschah und welche Anstrengungen die Winzer unternehmen müssen, um den gestiegenen Anforderungen an die Weinqualität gerecht zu werden. Hier wird ein breites Spektrum möglicher Verbesserungen der Weinqualität aufgezeigt, von Züchtungserfolgen über Optimierungen bei der Weinherstellung bis hin zum möglichen Einfluss unterschiedlichster Musikrichtungen auf den Geschmack des Weins. Ein vierter Abschnitt widmet sich zwei sehr traditionsreichen und über Rheinland-Pfalz hinaus bekannten Weingütern und ihrer Geschichte. Im fünften Abschnitt werden nicht nur Zukunftsthemen der Weinproduktionen aufgezeigt, sondern mit den Beobachtungen zum neu aufkommenden Weinmarkt in China wird auch der Anfang des Buches wieder aufgegriffen. In China scheint nicht nur der Weinbau entstanden zu sein, hier liegt auch ein wichtiger Markt der Zukunft. China steht heute an siebter Stelle in der weltweiten Weinproduktion und an fünfter Stelle beim Weinkonsum – mit steigender Tendenz. Dabei wurde in jüngster Zeit bis 1980 kaum Wein aus Trauben in China hergestellt.

Wir Herausgeber danken allen Autoren, die ihr Fachwissen in komprimierter und allgemein verständlicher Form zusammengefasst haben. Erst durch diese Vielfalt entsteht ein spannendes Mosaik über Rebe und Wein. Unser Dank gilt auch Frau Dr.Nünnerich-Asmus vom Nünnerich-Asmus Verlag Mainz, die unsere Buchidee bereitwillig aufgegriffen und bis zur Fertigstellung mit viel Engagement begleitet hat. Der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem IAK »Rebe und Wein« an unserer Universität, dem Mainzer Weinsenat und dem Weingut Wittmann sowie dem Restaurant Classico danken wir zudem für die finanzielle Unterstützung, ohne die die Drucklegung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Wir freuen uns darüber hinaus, dass unser Buch rechtzeitig zu einem besonderen Jubiläum erscheint: Im Jahr 2016 jährt sich die Namensgebung von »Rheinhessen« zum 200. Mal. Ein Weinbuch ist sicherlich ein richtiger und wichtiger Beitrag zu diesem Jubiläum der bekannten Weinregion.

Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Freude bei der Lektüre der einzelnen Beiträge dieses Bandes – am besten begleitet von einem guten Glas Wein.

Mainz, im April 2015

Heinz Decker

Helmut König

Wolfgang Zwickel

Kulturgeschichte und Religion

Der älteste Wein der Menschheit in China: Jiahu und die Suche nach den Ursprüngen der eurasischen Weinkultur

Peter Kupfer

Die bisher ältesten Funde der Produktion von alkoholischen Getränken mittels Fermentation von Weintrauben reichen genau in die Zeit der sog. Neolithischen Revolution zurück, also der Epoche der Transformation umherziehender Jäger- und Sammlergruppen in feste Siedlungsgemeinschaften, der Domestizierung von Nutzpflanzen und -tieren, der Entstehung von Ackerbau, Viehzucht, Vorratswirtschaft, Küche, Kochkunst, Handwerk (Töpferei, Werkzeuge, Waffen, Kleidung, Schmuck usw.) und künstlerischen Spitzenleistungen. Chemische Analysen von organischen Spuren an etwa 9.000 Jahre alten Scherben von Keramikgefäßen aus der neolithischen Siedlung Jiahu in der zentralchinesischen Provinz Henan durch ein amerikanisch-chinesisches Team unter der Leitung des Archäochemikers und Alkoholforschers Patrick E. McGovern (University of Pennsylvania Museum of Archaeology and Anthropology) ergaben 2004 den spektakulären Nachweis des ältesten alkoholischen Getränks der Menschheit, bestehend aus Reis, Honig und wilden Weintrauben (Abb.1).

Weinreben in China

Die Weinrebe (Vitis) ist eine der ältesten und vielfältigsten Pflanzengattungen überhaupt in den gemäßigten Zonen Nordamerikas und Eurasiens. Dass gerade auch in China der Traubenwein am Anfang der Fermentationsgeschichte steht, ist nicht verwunderlich, da auf dem heutigen chinesischen Territorium spätestens seit dem Tertiär über 40 Arten wilder Weinreben heimisch sind, d.h. weit über die Hälfte aller Arten weltweit. Rund 30 Vitis-Arten kommen sogar nur in China vor (s. Kasten S. 14). Einige von diesen einheimischen Vitis-Arten sind für die genetische Forschung interessant, wie z.B. die nur in Ostasien wachsende Vitis amurensis, die nach dem chinesischrussischen Grenzfluss Amur benannt und in Nordostchina sehr weit verbreitet ist. Bis heute werden dort Rotweine, sogar Eisweine, nur aus dieser Rebe produziert. Sie ist v.a. wegen ihrer Reblaus- und hohen Kälteresistenz (bis –40°C bzw. –50°C) für Rebneuzüchtungen interessant. Deshalb wird sie sowohl in China als auch international bei den einschlägigen Zuchtforschungszentren für Kreuzungen genutzt. Dies gilt auch in unterschiedlichem Maß für die meisten anderen Wildreben, die Resistenzen gegen verschiedene Krankheiten, gegen Kälte oder – eher im Süden – gegen feucht-warmes Klima aufweisen. Bereits in den 1950er-Jahren wurden an verschiedenen Forschungseinrichtungen Untersuchungen und Kreuzungsversuche unternommen, die neue Varianten von Tafeltrauben sowie Trauben für die Weinherstellung hervorbrachten. Seit einigen Jahren wird die diesbezügliche und für die Zukunft vielversprechende Forschung mit Versuchsanbau sowohl an den landesweiten Instituten als auch in größeren Weinbetrieben in China mit modernen Methoden vorangetrieben.

Abb.1: Ältester Wein der Menschheit: 9.000 Jahre altes Grab in Jiahu mit Karaffe als Beigabe.

Die Wildreben werden in der Volkstradition allgemein als »Bergwein«. (shanputao) oder »wilder Wein«. (ye putao) bezeichnet. Auch gibt es eine ganze Reihe von historischen und regionalen Bezeichnungsvarianten, die oft die botanische Identifizierung schwierig machen, wie z.B. »Katzenauge«. (maoyanjing) oder »Rote Bergziege«. (shanhongyang) für die Vitis adstricta Hance. Bereits in der ältesten chinesischen Literatursammlung, dem Buch der Lieder (Shijing) mit Gedichten und Liedern aus der Zeit vom 10. bis zum 6. Jh. v. Chr., werden mindestens zwei Arten einheimischer Wildreben beschrieben: gelei (Vitis flexuosa Thunbergii), die sich im Süden an Bäumen hochrankt, und yingyu (Vitis adstricta Hance, auch Vitis bryoniifolia) in der heutigen Provinz Shaanxi in Zentralchina, deren Beeren im Sommer gegessen werden können. Beide Reben sind heute noch in mehr als der Hälfte der Provinzeinheiten Chinas, auch im subtropischen Süden, in Gebirgswäldern und Tälern auf 100 bis 2.500m Höhe verbreitet. Die Beeren sind klein, säuerlich und bei der Reife im Spätsommer und Herbst dunkelrot. In mehreren traditionellen, teils Jahrhunderte alten Medizinhandbüchern werden sie, zusammen mit den Blättern, Ranken und Wurzeln, als Heilpflanzen beschrieben.

Auswahl charakteristischer einheimischer chinesischer Weinsorten, die auf Grund ihres Namens teilweise auch auf ihr Verbreitungsgebiet hinweisen:

Vitis bashanica

Vitis ruyuanensis

Vitis chunganensis

Vitis shenxiensis

Vitis fengqinensis

Vitis wenchouensis

Vitis hui

Vitis wuhanensis

Vitis jinggangensis

Vitis xunyangensis

Vitis longquanensis

Vitis yenshannensis

Vitis luochengensis

Vitis yunnanensis

Vitis menghaiensis

Vitis zhejiang-adstricta

Vitis mengziensis

Vitis amurensis

Der Wissenstransfer entlang der Seidenstraße

Im Westen des eurasischen Kontinents wurden die ältesten, etwa 6.000–8.000 Jahre alten Spuren der Herstellung von Traubenwein in Nordwest-Iran und im Kaukasus, im heutigen Georgien und Armenien, nachgewiesen. Diese und weitere erst in jüngerer Zeit erschlossene Fundorte reichen vom Vorderen Orient über Zentralasien bis ins ferne China und zeigen erstaunliche Parallelen in der Produktion und Verwendung alkoholischer Getränke. Neuere archäologische Forschungsergebnisse und auch genetische Analysen deuten darauf hin, dass bereits in der Steinzeit Menschen auf dem gesamten eurasischen Kontinent weite Entfernungen zurücklegten. In den prähistorischen und bronzezeitlichen Jahrtausenden bildete sich ein weitgespanntes west-östliches Netzwerk heraus, das seit dem 19. Jh. als Seidenstraße apostrophiert wird, und welches dem geistigen und materiellen Austausch zwischen einer beispiellosen Vielfalt von Völkern und Kulturen, Religionen und Weltanschauungen, Sprachen und Schriften über enorme geographische und zeitliche Dimensionen hinweg diente. Für die Verbreitung zivilisatorischer Errungenschaften über ganz Eurasien finden sich viele Beispiele, wie etwa die Kultivierung von Getreide und anderen Nutzpflanzen, Keramik- und Bronzekunst, Domestizierung von Tieren, Nutzung von Rad und Wagen, Kriegsführung und Waffentechnik, Fertigung von Textilien und Schmuck usw.

Obgleich es hierzu noch relativ wenige Forschungsresultate gibt, deuten immer mehr Fakten darauf hin, dass die Entdeckung und Nutzung der Fermentation und die Produktion alkoholischer Getränke bei diesem Wissensaustausch keine Ausnahme bilden. Die sog. Eurasische Hypothese geht von der Prämisse eines kulturwissenschaftlichen Diffusionismus auf der Grundlage von Kulturkontakten und -austausch aus. Im engeren Kontext unserer Fragestellung konzentriert sie sich auf die synchrone Entwicklung von Fermentationstechniken und -knowhow sowie überhaupt auf das damit zusammenhängende Entstehen einer »geistigen« Wein- und Alkoholkultur. Diese Hypothese ist eine Herausforderung für das seit jeher tradierte, allseits präsente Stereotyp der Entstehung der Weinkultur in Nahost und ihrer Verbreitung von dort aus über den Mittelmeerraum und Europa.

Entsprechende Entdeckungen besonders im Kaukasus und im Nahen Osten offenbaren schon seit längerem, dass die Herstellung von Traubenwein eng verstrickt ist mit dem Entstehen der frühesten Kulturen.

Die Ausgrabungen von Jiahu

Die Einzigartigkeit der noch längst nicht abgeschlossenen Ausgrabungen von Jiahu im Osten des eurasischen Kontinents besteht darin, dass sie schon jetzt in prototypischer Weise einen relativ umfassenden Einblick in die Uranfänge menschlicher Zivilisation und ihre vielfältigen Wirkfaktoren und Zusammenhänge erlauben. Außer der eingangs erwähnten Feststellung des ältesten fermentierten Getränks traten weitere Superlative zu Tage. Beeindruckend sind die außerordentlich frühen Töpfereien und die große Fülle an bereits erstaunlich kunstvoll gestalteten Keramikgefäßen. Diese dienten nicht nur zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und zum Kochen (Dreifußkessel), sondern v.a. auch der Produktion, Lagerung und dem Konsum alkoholischer Getränke. Hierzu gehören amphorenartige, bauchige Krüge und karaffenförmige Gefäße mit engem Hals und teils auch mit Keramikstöpseln, die in späteren Epochen in nahezu identischer Gestalt erwiesenermaßen für den Alkoholkonsum genutzt wurden (Abb.2). Sie wurden auch als Beigaben in den zahlreichen Gräbern gefunden und ähneln den Beisetzungsritualen Jahrtausende später, die den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod in der Ahnen- und Götterwelt widerspiegeln. Dass dabei magische Kulte im Mittelpunkt standen, zeigen die Funde von bisher über 30, aus Flügelknochen des rotgekrönten Mandschurenkranichs geschnitzten Flöten, den ältesten Musikinstrumenten Chinas (Abb.3), sowie von zahlreichen Schildkrötenpanzern, die mit Kieselsteinen gefüllt und als rituelle Rasseln verwendet wurden. Der rotgekrönte Mandschurenkranich (Grus japonensis, chinesisch: dandinghe) spielt seit jeher in Kunst und Mythos Chinas und Japans eine zentrale symbolische Rolle. Diese Kranichart ist auch für den eigenartigsten und komplexesten Balztanz bekannt. Somit liegt die Vermutung nahe, dass Kraniche bereits bei den Jiahu-Siedlern als heiliges Tier verehrt wurden. Der Balztanz sowie die Musik auf den Knochenflöten dürften damit in enger Beziehung zu den Zeremonien von Schamanen gestanden haben, in deren Gräbern die Flöten gefunden wurden. Es ist anzunehmen, dass diese Instrumente von den Schamanen in Verbindung mit dem Konsum bewusstseinserweiternder Getränke und beschwörenden Tänzen eingesetzt wurden, um die Verbindung zum Jenseits herzustellen.

Abb.2: In Jiahu gefundene Keramikgefäße (Archäologisches Institut, Henan, Zhengzhou).

Abb.3: Die ältesten Musikinstrumente Chinas: Knochenflöten von Jiahu (Archäologisches Institut, Henan, Zhengzhou).

Zu den länger kaum beachteten Errungenschaften der Jiahu-Kultur gehören auf Schildkrötenpanzer und Knochen eingravierte Symbole, die nach heutigem weitgehendem Konsens eine Urform der chinesischen Schriftzeichen erkennen lassen. Schildkrötenpanzer und Knochen wurden 5.000 Jahre später während der Shang-Periode (16.–11. Jh. v. Chr.) – nur wenig nördlich von Jiahu – in beträchtlichen Mengen für die Orakelbefragung und für die Aufzeichnung der ältesten chinesischen Texte verwendet. Nicht zufällig entfaltete sich ab der Shang-Zeit die komplexeste Alkoholkultur der Menschheit in Verbindung mit beispiellos aufwändigen Gemeinschafts-, Götter-, Ahnen- und Begräbniskulten. Des Weiteren verraten die Ausgrabungen von Jiahu, dass hier die Domestizierung von Hunden und Schweinen begann, wobei es bezüglich letzterer wohl der älteste Fundort der Welt ist. Überdies sind hier die ersten Ansätze der Kultivierung von Reis (Oryza sativa) nachweisbar, der allerdings eine nur sehr untergeordnete Rolle bei der Ernährung spielte und zunächst wohl in erster Linie als Stärkelieferant für die Herstellung des »Jiahu-Cocktails« diente. Schließlich belegen Reste von Behausungen und zahlreiche Funde von Stein- und Knochenwerkzeugen die ersten Anfänge von Ansiedlung und landwirtschaftlicher Arbeit, neben den nach wie vor den Alltag bestimmenden Tätigkeiten des Sammelns, der Fischerei und der Jagd. Nicht zuletzt beweist die Entdeckung karbonisierter Traubenkerne – in der Provinz Henan kommen heute noch mindestens 17 einheimische Wildreben vor –, dass Weintrauben im sozialen, rituellen und kreativen Leben der Jiahu-Siedler, ob nun als essbare Früchte oder als vergorener Saft, eine wichtige Rolle spielten. Dies erinnert direkt an vergleichbare Entwicklungen im Nahen Osten.

Die Ausgrabungsstätte liegt im zentralen Henan, mit 94 Mio. Einwohnern nicht nur die bevölkerungsreichste Provinz und eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Chinas, sondern auch die Wiege der chinesischen Zivilisation mit einer beispiellosen Fülle archäologischer und historiographischer Zeugnisse bis zurück in die Steinzeit. Nur etwa 140km nördlich von Jiahu fließt der Gelbe Fluss, in dessen Einzugsgebiet die meisten frühzeitlichen Siedlungen entdeckt wurden und noch immer gefunden werden. Noch einmal 160km nördlich bei der Stadt Anyang liegt das große Grabungsareal des Herrschersitzes der späteren Shang-Dynastie (14.–11. Jh. v. Chr.), wo die frühesten Zeugnisse zu den Anfängen der chinesischen Dynastiegeschichte entdeckt wurden. Hierzu gehören neben Tausenden von Schildkrötenpanzern und Rinderknochen mit den ältesten chinesischen Schriftzeichentexten v.a. kunstvolle Bronzegefäße, Jadeschmuck und Gräber mit reicher Ausstattung für das Weiterleben im Jenseits.

Trinkhörner, Zwillingskrüge, Keltern, Honig und Harz – Belege für den Kulturaustausch?

Ein prägnantes Beispiel für die Verbindung zwischen den Weinkulturen quer durch den eurasischen Kontinent sind die Trinkhörner, ursprünglich meist aus Rinderhörnern gefertigt, und mit fortschreitender Entwicklung als sog. Rhyta aus verschiedenen Materialien (Horn, Knochen, Holz, Elfenbein, Nashorn, Keramik, Glas, Jade, Porzellan, Bambus, Bronze, Silber, Gold etc.) und in unterschiedlichsten künstlerischen Formen herausgearbeitet. Verblüffend sind die Ähnlichkeiten und die beachtliche Verbreitung dieser meist Kult- und Libationszwecken dienenden Trink- und Ausschankgefäße. Sie finden sich vom Neolithikum bis ins Mittelalter und in die Neuzeit nahezu überall: in den weiten Regionen zwischen Nordeuropa und Südchina. Auf nahezu dem gesamten Territorium des heutigen China wurden derartige Funde gemacht. In den vorchristlichen Jahrtausenden entwickelte sich dort eine weltweit einzigartige Vielfalt und Systematik an Trink- und Libationsgefäßen zunächst aus Keramik, dann aus Bronze, die sowohl von ihrer künstlerischen Ausgestaltung als auch von der Etymologie ihrer Bezeichnungen her größtenteils auf diese Protoform des Rhytons zurückgeführt werden können (Abb.4 und 5). Die Rhytonkultur offenbart in besonderer Weise die wechselseitigen Einflüsse der prähistorischen und antiken Trinkritualsysteme Eurasiens und deren zentrale gesellschaftlich-religiöse Bedeutung entlang der Migrations- und Handelswege über gewaltige geographische Entfernungen hinweg. Interessant sind auch einzelne Trinkgefäßtypen, die überall entlang der Seidenstraße aus verschiedenen Epochen seit dem Neolithikum entdeckt wurden: etwa gestielte Pokale (wine goblets) aus Keramik, später auch aus Bronze oder Silber in teils identischer Gestalt. Frühe kunstvolle Exemplare wurden bereits aus dem 4.–3. Jt. v. Chr. sowohl im Iran als auch in der ostchinesischen Longshan-Kultur entdeckt (Abb.6). Ein weiteres Beispiel sind die sog. »Zwillingskrüge«. (joint jars), die ebenfalls seit prähistorischen Zeiten überall zwischen Osteuropa, Kleinasien und China angefertigt wurden und bei nationalen Minderheiten teils heute noch benutzt werden. Die beiden miteinander verbundenen Trinkgefäße wurden von zwei gegenüberstehenden Partnern bei zeremoniellen Anlässen wie Friedensschlüssen, Besiegelung von Verträgen oder Eheschließungen eingesetzt (Abb.7). Nicht zuletzt sind im gesamten Einzugsbereich der Seidenstraße an vielen Stellen antike Weinkeltern mit einem meist rechteckigen steinernen Presstrog und einem runden Mostauffangbecken am Ablassende aufgetaucht – die mit 6.100 Jahren älteste im armenischen Weinort Areni.

Abb.4: Chinesisches Jade-Rhyton nach persisch-achämenidischem Vorbild, ca. 200v.Chr., Grab des Königs von Nanyue, Guangzhou (Nanyuewang-Museum).

Abb.5: Bronze-Trinkgefäß jue aus der Shang-Dynastie, 16.–11. Jh. v. Chr. (Shanghai-Museum).

Abb.6: Langstielige Pokale aus schwarzer Eierschalenkeramik, Longshan-Kultur, 2.500–2.000v.Chr., Shandong (Nationalmuseum Peking).

Zwei wichtige materielle Indizien für die Annahme einer universellen Entwicklung der Wein- und Alkoholkultur sind die Zusätze Honig und Baumharz, die zur Förderung des Gärprozesses bzw. für die Haltbarmachung des Getränks von frühester Zeit an in nahezu allen antiken Weinregionen quer durch Eurasien in ähnlicher Weise verwendet wurden, oft noch ergänzt durch Kräuterzugaben (Myrrhe, Wermut, Pfeffer, Safran, Kapern, diverse Heilpflanzen). Auch in China wurden Reste solcher Zusatzstoffe in prähistorischen Keramikgefäßen und sogar in bis zu 3.000 Jahre alten alkoholischen Flüssigkeiten aus hermetisch verschlossenen Bronzebehältern aus Gräbern analysiert. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Bezeichnung für »Honig«, besonders in der abgeleiteten Bedeutung von fermentiertem Getränk (»Honigwein«), über ganz Eurasien verbreitet hat: Sanskrit madhu, Griechisch μἐθν, Deutsch Met, Englisch mead, Dänisch/​Norwegisch mjød, Französisch miel, Litauisch medus, Russisch мёд, Tocharisch B mit, Altiranisch madu, Neupersisch mei, Ungarisch méz, Chinesisch mi usw.

Abb.7: Zwillingsbecher (joint jars), Yangshao-Kultur, 4.800–3.600v.Chr., Banpo, Shaanxi (Banpo-Museum).

Wie kam es zu der prähistorischen Weinstraße?

Aus der eurasischen Vogelperspektive fällt auf, dass sich – größtenteils entlang der Seidenstraßen-Verzweigungen – ein breiter Gürtel von Weinanbaugebieten zwischen Westen und Osten über die Jahrhunderte und Jahrtausende bis in die Gegenwart erhalten hat: in den Flusstälern Europas, im gesamten Mittelmeerraum, am Schwarzen Meer, im Kaukasusgebiet, im Nordwesten Irans, in den Oasen Turkmenistans und Usbekistans, in den Flusstälern Tadschikistans und des Hindukusch, im Ferghanatal, in Nordost-Kasachstan, in Westchina, Zentralchina und Nordostchina. In all diesen Regionen lässt sich die Weinkultur anhand von archäologischen Funden, historischen Aufzeichnungen und volkstümlichen Überlieferungen, Mythen und teils immer noch lebendigen rituellen Praktiken auf eine kontinuierliche Tradition von mindestens 2.000 Jahren und meist weit bis in vorgeschichtliche Zeiten zurückführen.

Die Gesamtpalette der Entdeckungen und Erkenntnisse zur vorgeschichtlichen und antiken Weinkultur entlang des west-östlichen Netzwerks und die teils frappierenden Parallelen in ihrer Entwicklung über enorme geographische Distanzen hinweg lassen sich in der Hypothese einer prähistorischen Weinstraße zusammenfassen, die sich wesentlich früher konstituierte als die erst vor rund zweieinhalb Jahrtausenden in der Geschichte in Erscheinung tretenden Handelswege der Seidenstraße. Letztlich wird durch alle prähistorischen wie historischen Epochen hindurch deutlich, dass sich die Expansion von Weinkultur stets über den Handel vollzog. Typisch hierfür sind die Phönizier, die Weinanbau und -herstellung einschließlich des technischen Knowhows, der Keramikgefäße sowie typischer Zutaten wie Harz und Kräuter bereits vor über drei Jahrtausenden im gesamten Mittelmeerraum und bis zu den Atlantikküsten verbreiteten – übrigens wohl nicht zufällig in Verbindung mit der Erfindung eines der ersten und einflussreichsten Schriftsysteme der Menschheit. Analog trifft dies auf den kontinentalen Fernhandel im eurasischen Raum zu, wobei davon auszugehen ist, dass dabei gerade auch Wein und Alkoholika einen Wirtschaftsfaktor darstellten – und dies noch vor dem Aufleben des eigentlichen Seidenstraßenhandels.

Im Kontext der Eurasischen Hypothese spielt die Paläolithische Hypothese eine zentrale Rolle, die plausibel begründet, dass die ersten Begegnungen unserer Vorfahren mit der in den gemäßigten Zonen seit Jahrmillionen weit verbreiteten eurasischen Wildrebe unvermeidlich zu deren Nutzung für die Herstellung vergorener Getränke führte. Dies galt eben nicht nur für Europa, den Mittelmeerraum und den Vorderen Orient, sondern gerade auch für den chinesischen Raum mit seinem Reichtum wilder Rebsorten. Das bedeutet, dass an den klimatisch günstigen Breitengraden lange vor der Entwicklung jeglicher Land- und Getreidewirtschaft, möglicherweise bis weit zurück in das Paläolithikum, Prototypen des Traubenweins gewonnen wurden. Dies ergibt sich aus den besonderen natürlichen Eigenschaften der Weintraube, wonach die an den Beerenschalen vorhandenen Hefen in Verbindung mit dem hohen Zuckergehalt bei Lagerung und entsprechender Temperatur zwangsläufig und so leicht wie bei kaum einer anderen Frucht einen Gärprozess in Gang setzen. Somit kann die Paläolithische Hypothese für die Mehrzahl der geographischen Räume angenommen werden, wo auf dem eurasischen Kontinent die ersten Zivilisationen und die frühesten Hochkulturen entstanden sind.

Die Annahme, dass Primaten einschließlich der frühen Steinzeitmenschen seit Jahrmillionen ethanolhaltige Früchte aufspürten, sich daran – höchstwahrscheinlich in geselliger Höhlengemeinschaft beim Lagerfeuer – delektierten und sich damit evolutionäre Selektionsvorteile sicherten, stützt sich auf die zuerst von dem amerikanischen Biologen Robert Dudley (2004) formulierte »drunken monkey«-Hypothese (vgl. auch McGovern 2009). Sie kann wiederum auf aufschlussreiche Vorgänge in der Tierwelt und entsprechende Legenden rekurrieren, die besonders in China in Form der Geschichten vom sog. »Affenwein« seit Jahrhunderten mündlich und schriftlich überliefert sind. Diese und zahlreiche wissenschaftlich untersuchte Phänomene bezeugen, dass die sensorische Attraktivität gärender Früchte und speziell Weintrauben bei Primaten und bestimmten Tierarten zerebrale Stimuli auslöst und überlebensstrategische wie selektionsevolutionäre Vorteile mit sich brachte. In Anbetracht der weiten Verbreitung der Vitis-Gattung dürfte sich neueren genetischen Erkenntnissen zufolge bereits der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Affe die leicht gärenden wilden Weintrauben zunutze gemacht haben.

Allen Anzeichen nach löste die Entdeckung der Fermentation und die über die Jahrtausende immer mehr verfeinerte Nutzung des Alkohols durch den Urmenschen in der späteren Evolutions- und Zivilisationsgeschichte einen Quantensprung aus – analog zur Entdeckung und Verwertung des Feuermachens für die Speisezubereitung. Die alkoholische Gärung, in der Natur allseits vorhanden, lieferte erhebliche Vorteile im Sinne von rascher Energieversorgung besonders in der kalten Jahreszeit, Hygiene und Konservierung von Getränken, Ernährungsvielfalt sowie desinfizierenden, analgetischen, euphorisierenden, bewusstseinserweiternden, aphrodisischen und fortpflanzungsfördernden Wirkungen. Dieses Knowhow der Verarbeitung alkoholhaltiger Früchte initiierte einen natürlichen Selektionsprozess für die betreffenden Gruppen hinsichtlich Gesundheit, vielfältigerer und verbesserter Ernährung und insbesondere auch geistiger Kreativität. Auffallend, aber nicht erstaunlich ist in jedem Falle die Synchronizität zur Neolithischen Revolution vor rund 10.000 Jahren.

Im Zusammenhang mit dieser Quantensprung-Hypothese und ausgehend von den neueren archäologischen Erkenntnissen kann man annehmen, dass bei den in den betreffenden Klimazonen siedelnden eurasischen Urgesellschaften die einfach zu bewerkstelligende Vergärung von wilden Weintrauben als Initialprozess für die früheste Herstellung unterschiedlicher alkoholischer Getränke diente. Diese wurde später, v.a. mit der beginnenden Getreidekultivierung, immer komplexer, wobei der »Jiahu-Cocktail« und in den folgenden Jahrtausenden nachgewiesene ähnliche Mischgetränke in China hervorragende Beispiele repräsentieren. Dazu zählen in der weiteren Entwicklung auch Prototypen des Biers. Auffallend sind dabei west-östliche Parallelen wie etwa der in China wie im Nahen Osten gleichermaßen nachgewiesene Anbau von Gerste zur Herstellung eines bierähnlichen Gebräus.

Wie schon vor ihm der chinesische Archäologe und Historiker Wu Qichang in einem Artikel 1937 und der amerikanische Anthropologe und Ernährungsbiologe Solomon Katz (Katz/​Voigt 1986), vertritt der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf (2008) die Hypothese »Bier vor Brot«, wonach Gerste und andere Getreidearten ursprünglich exklusiv für diesen Zweck kultiviert wurden und nicht von Anfang an schon für die aufwändige Verarbeitung zu Brot und anderen Lebensmitteln. Dies wird durch die Tatsache gestützt, dass Brot in Mesopotamien erst vor rund 6.500 Jahren auftauchte, also immerhin sechs Jahrtausende nach Beginn der Kultivierung der Gerste, die in China für die Lebensmittelherstellung so gut wie keine Rolle spielte und nur in neolithischen Mischgetränken nachgewiesen wurde. Dies erklärt auch, weshalb die Alkoholika-Produktion in den eurasischen Frühgesellschaften lange vor Sesshaftigkeit und Landwirtschaft und v.a. in Verbindung mit den ersten magisch-religiösen Praktiken aufblühte.

Auch der Wissenschaftshistoriker und Altorientalist Peter Damerow (2012) leistet der »Bier-vor-Brot«-Hypothese in seinen posthum veröffentlichten Untersuchungen zu frühen Brautechniken des sumerischen Biers Vorschub. Diese stehen für ihn in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Errungenschaften der Neolithischen Revolution, d.h. den Ursprüngen von Landwirtschaft, urbaner Wirtschaft, Verwaltungs- und Handelsstrukturen, religiösem Leben sowie überhaupt aller zivilisatorischer Errungenschaften wie früher Formen der Schrift. In den sumerischen Quellen finden sich Hinweise, dass außer Gerste für die Initialisierung des Fermentationsprozesses Honig und Wein eingesetzt wurden. Eine ähnliche Zusammensetzung von »Wein-Bier-Cocktails« aus Weintrauben, Gerste und Honig mit Zusätzen von Baumharz und Kräutern fand sich im gleichen Zeitalter nicht nur in den ägyptischen, anatolischen, minoischen und mykenischen Kulturen (später ebenfalls im homerischen Trank kykeon), sondern auch in China, nämlich in Liangchengzhen in der Ostprovinz Shandong, einem wichtigen Ausgrabungsort der neolithischen Longshan-Kultur aus dem 3. Jt. v. Chr. Die Analysen von Spuren in dort entdeckten Keramikgefäßen weisen auf eine Mischung von Reis, Gerste, Honig, wilden Weintrauben, Baumharz und Kräuterzusätzen hin. Dass auch hier nachweislich die Hefegärung von Weintrauben genutzt wurde, lässt zweierlei Schlüsse zu: Einerseits wurde dieses Verfahren in den dazwischen liegenden vier Jahrtausenden seit dem »Jiahu-Cocktail« kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert. Andererseits spielte die Rezeptur des »Liangchengzhen-Cocktails« auch ab dem 2. Jt. v. Chr. mit dem Beginn der dynastischen Epochen seit der Xia- und Shang-Periode (21.–11. Jh. v. Chr.) und eventuell noch bis in die Zhou-Dynastie (11.–3. Jh. v. Chr.) eine, wenn auch zugunsten einer differenzierteren und ausgereifteren Fermentationstechnologie auf der Basis einer aufblühenden Getreidewirtschaft, abnehmende Rolle. Mit dem Blick auf diese ähnlichen Rezepturen von »Bier-Wein-Cocktails« in Mesopotamien, Ägypten, Anatolien, Griechenland und China und entlang der damals schon funktionierenden eurasischen Handelswege spricht also vieles dafür, dass die Weintraubengärung kulturübergreifend als die »Initialzündung« für spätere komplexere und sich regional zunehmend diversifizierende Fermentationsverfahren gelten kann.

Unter diesen und den zuvor erwähnten Aspekten der weiten Verbreitung der eurasischen Weinrebe über nahezu alle frühen Kulturräume zwischen Europa und Ostasien sowie aus der Paläolithischen Hypothese erschließt sich folgerichtig die »Wein-vor-Bier«-Hypothese, womit eingeräumt wird, dass der Traubenwein am Anfang aller Braukunst steht und das älteste Kulturgetränk der Menschheit per se darstellt.

Aus den bislang vorliegenden Argumenten und Indizien ergibt sich die Inspirationshypothese, die besagt, dass die Nutzbarmachung der Fermentation die anderen zivilisatorischen Errungenschaften direkt oder indirekt förderte, wozu die sich verbessernden materiellen Lebensbedingungen gehören, v.a. auch die Manufaktur von Keramik, Haushalts-, Jagd- und Ackergeräten, Waffen, Kleidung und Schmuck. Hinzu kommt, dass die allmählich verfeinerte Herstellung und der nach und nach ritualisierte wie gesellschaftlich konventionalisierte Genuss von geistigen Getränken, wie wir ihn bis heute v.a. in der georgischen ebenso wie in der chinesischen Kultur, also an beiden Enden der Seidenstraße, immer noch beobachten können, maßgebliche Wirkung auf schöpferische Leistungen in allen Bereichen des kulturellen Aufblühens zeigte. Diese Hypothese erklärt, wie sich unter dem Impetus des Weins und alkoholischer Getränke von magischen Riten bis hin zur Wissenschaft alle Faktoren des Entstehens von Kultur entwickelt haben.

Alkohol als Kulturträger

McGovern et al. (2000; 2003; 2009) und Reichholf/​Josef (2008) führen in stichhaltiger Weise aus, dass wahrscheinlich keine Kultur ohne die Nutzung von Drogen entstanden ist und dass darunter wiederum Alkohol nicht nur die älteste, sondern auch die am weitesten verbreitete Droge der Menschheit ist. Wie kein anderes Rauschmittel ist Ethanol überall in der Natur vorhanden und leicht verfügbar, in geringen Mengen sogar permanent im Blut enthalten und damit kein körperfremder Stoff. Für die Versorgung gewährt es die oben genannten evolutionären Vorteile und hat zudem sozial-kommunikative, bewusstseinserweiternde und kreativitätsfördernde Funktionen. Aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich also in letzter Konsequenz, dass die Droge Alkohol – vorwiegend in der ästhetischen und symbolträchtigen Manifestation des vergorenen Rebensaftes – untrennbar mit der Entstehung von Kultur verknüpft ist. Nicht zufällig spielt der Wein in der ältesten monotheistischen Weltreligion, dem indo-iranischen Zoroastrismus, sowie im Judentum und Christentum mit den beiden ältesten christlichen Staaten der Welt, Georgien und Armenien – kontinuierlich bis heute die traditionsreichsten und bedeutendsten Weinregionen –, eine dominante Rolle. Bei genauerer Betrachtung war und ist der Genuss von Wein und Alkoholischem auch im Buddhismus und Islam verwurzelt (vgl. dazu den Beitrag in diesem Band S. 99-100). Die chinesische Mythologie und Literatur, Konfuzianismus und Daoismus sind ohnehin von der komplexesten und höchstentwickelten Alkoholkultur der Menschheit geprägt und in allen Lebensbereichen vom inspirativen Elixier geradezu durchtränkt. Die enge Korrelation von Zivilisation und Weinkultur thematisiert und begründet Patrick McGovern ausführlich und in eindrucksvoller Weise in seinen beiden Büchern zur Wein- und Alkoholgeschichte.

Welch dominante Rolle Alkoholisches in Chinas Gesellschaft seit den Anfängen spielte, spiegelt v.a. auch die Literatur in allen Epochen wider. Bereits die ersten Überlieferungen und schriftlichen Zeugnisse machen deutlich, dass die Kunst der Fermentation und ihre hochkomplexe, weltweit einzigartige Technologie sowie der rituelle Alkoholgenuss eine dominante Rolle in Chinas religiösem, höfischem, literarisch-künstlerischem und alltäglichem Leben einnahmen.

Im chinesischen Schriftsystem selbst verraten Hunderte zusammengesetzte Schriftzeichen mit der graphemischen Komponente für »Alkohol«, einem ursprünglichen Piktogramm einer Tonamphore, dass Alkohol bereits bei der Entstehung der Schrift und ihrer anfänglichen Verwendung für Orakelzwecke eine zentrale Bedeutung hatte. Dieses chinesische Graphem ist übrigens dem sumerischen Symbol verblüffend ähnlich.

Bis in die Gegenwart ist in China keines der zahlreichen Feste, keine Tempel- oder Gedenkzeremonie, kein Staatsbankett, kein offizieller oder privater Gästeempfang vorstellbar ohne den Ausschank alkoholischer Getränke, meist beim üppigen Mahl und mit den uralten Trinkritualen. Aus den Anfängen der konfuzianischen Welt- und Gesellschaftsordnung stammen die heute noch gern zitierten Sprichwörter »Keine Feierlichkeit ohne Alkohol«. (wu jiu bu cheng li) und »Feste sind erst vollkommen mit Alkohol«. (li yi jiu cheng).

Literatur

P. Damerow, Sumerian Beer: The Origins of Brewing Technology in Ancient Mesopotamia, in: Cuneiform Digital Library Journal, 2012, S. 2, www.cdlj.ucla.edu/​pubs/​cdlj/​2012/​cdlj2012_002.html.

B. G. Fragner / ​R. Kauz / ​F. Schwarz (Hrsg.), Wine Culture in Iran and Beyond, Wien 2014 (= Veröffentlichungen zur Iranistik 75).

S. H. Katz / ​M. M. Voigt, Bread and Beer: The Early Use of Cereals in the Human Diet, in: Expedition 28, No. 2, Summer 1986, S. 23–34.

P. Kupfer (Hrsg.), Wine in Chinese Culture – Historical, Literary, Social and Global Perspectives, Berlin 2010 (= Wissenschaftsforum Kulinaristik 2).

P. Kupfer, Weinstraße vor der Seidenstraße? – Weinkulturen zwischen Georgien und China, in: H. König / ​H. Decker (Hrsg.), Kulturgut Rebe und Wein, Heidelberg 2013, S. 3–17.

P. E. McGovern, Ancient Wine: The Search for the Origins of Viniculture, Princeton/​Oxford 2003.

P. E. McGovern, Uncorking the Past. The Quest for Wine, Beer, and other Alcoholic Beverages, Berkeley et al. 2009.

P. E. McGovern / ​S. J. Fleming / ​S. H. Katz. (Hrsg.), The Origins of Ancient History of Wine, London/​New York 1996.

J. H. Reichholf, Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte, Frankfurt a. M. 2008.

Y. Ying, Putao mei jiu yeguangbei [Traubenwein aus glänzendem Becher der Nacht], Xi’an 1999.

Wie Nebukadnezar zu seiner Flasche kam. Der altorientalische und biblische Hintergrund übergroßer Wein- und Sektflaschen

Sebastian Grätz, Doris Prechel

Hinführung

Altorientalische Herrscher spielen in der europäischen Kulturgeschichte gemeinhin keine besondere Rolle – zu fern ist deren Wirken sowohl in geographischer als auch in chronologisch-geschichtlicher Hinsicht. Umso bemerkenswerter ist es, dass einige von ihnen uns als Namenspatrone überdimensionierter Wein(hier v.a. Bordeaux) und Champagnerflaschen begegnen. Diese sind jedoch fast immer Raritäten. So schreibt beispielsweise die Weinjournalistin Valmai Hankel: »One of the highlights of any major wine auction is the sale of the big bottles. (…) They came at the end of the auction, 27 lots ranging in size from double magnums (also known as Jeroboams) to Imperials (also known as Methuselahs), and one giant Balthazar.« (Hankel 2003, S. 64). Es stellt sich für uns als Altorientalistin und als Bibelwissenschaftler nun natürlich die Frage, wie und warum diese längst verschollenen Personen der altorientalischen Geschichte bzw. deren Namen für die großen Flaschen in Gebrauch kamen. Uns hat in besonderer Weise die Figur des Nebukadnezar fasziniert, weil er zum Patron einer sehr großen Flasche mit 15l Inhalt wurde und weil er als eine der schillernsten Figuren der altorientalischen und der biblischen Tradition gelten kann. Daher sei er im Folgenden anhand der Quellen des Zweistromlandes und den Zeugnissen der Bibel porträtiert. In einem dritten Schritt soll dann vor dem erarbeiteten Hintergrund nach der Herkunft der Namenstradition großer Flaschen gefragt werden.

Nabû-kudurrī-uṣur: Die keilschriftliche Überlieferung

Als Nabû-kudurrī-uṣurII., dessen Name mit »Nabû (der Gott der Schreibkunst und der Weisheit), meinen Sohn beschütze!« zu übersetzen ist, am 7. September 605v.Chr. in Babylon gekrönt wurde, hatte Babylonien bereits das Erbe des assyrischen Imperiums angetreten.

Obwohl der babylonische Herrscher somit ein Weltreich regierte (Abb.1), das aus Gründen, die noch aufzuzeigen sind, in die kollektive Erinnerung der abendländischen Kultur Eingang finden sollte, hinterließ er selbst der Nachwelt doch eine erstaunlich geringe Anzahl aussagekräftiger Quellen. Dies liegt zuvorderst daran, dass ein Staatsarchiv, das über Aufstieg und Fall des babylonischen Reiches hätte Auskunft geben können, allem Anschein nach nicht existierte oder bis zum heutigen Tage nicht gefunden wurde. Die während der Regierungszeit des Nabû-kudurrī-uṣurII. verfassten Königsinschriften, Briefe sowie (private) Rechts- und Verwaltungsurkunden, die auf Tontafeln in Keilschrift niedergeschrieben wurden und bei den Ausgrabungen in Babylon zu Tage kamen, spiegeln auf jeden Fall in keiner Weise außenpolitische Erfolge wider. Folgt man den historischen Primärquellen, so erhalten wir stattdessen das Bild von einem überaus frommen Regenten, dem v.a. der Ausbau seiner Metropole am Herzen lag.

Abb.1: Geographische Ausdehnung des neubabylonischen Reiches.

Die Königsinschriften legen höchst beredtes Zeugnis davon ab. In ihnen wurde wiederkehrend der Auf-, Aus- und Umbau von Tempeltürmen, Tempeln, Palästen und Befestigungsmauern thematisiert, wobei der Verfasser der Inschriften nicht müde war, Angaben über Bau- und Schmuckmaterialien ebenso en detail zu schildern, wie deren exotische Herkunft aus fernen Regionen von Magan am Persischen Golf (wohl heutiges Oman) bis hinauf zum Libanon. Tatsächlich bestätigen die physischen Überreste in Babylon die immensen Anstrengungen, die Nabû-kudurrī-uṣurII. in dieser Hinsicht unternahm. Welch großer Stolz den Regenten erfüllte, mag man seinen Inschriften entnehmen, die ganz in einer Jahrhunderte alten babylonischen Tradition stehen.

»Als der große Herr Marduk mich rechtmäßig berief und mich anwies, das Land recht zu leiten, die Menschen zu hüten, die Kultstätten zu versorgen (und) die Heiligtümer zu erneuern, da war ich meinem Herrn Marduk ehrfürchtig gehorsam. Seine erhabene Kultstätte (und) ruhmreiche Stadt Babylon (und) ihre großen Mauern (mit den Namen) Imgur-Enlil und Nimitti-Enlila vollendete ich. An die Laibungen ihrer Stadttore stellte ich wilde Stiere und furchterregende Drachen. Was kein vormaliger König getan hatte: Mein väterlicher Erzeuger hatte die Stadt mit Mauer und Graben aus Asphaltund Backstein zweifach umgeben. Ich aber baute eine gewaltige Mauer, eine dritte, eine längs der beiden anderen, aus Asphalt und Backstein und ich verband sie mit den Mauern, die mein Vater angelegt hatte. Ihr Fundament gründete ich fest im Untergrund, und ihre Spitze machte ich berggleich hoch. Mit einer Mauer aus Backstein umzog ich gegen Westen die Stadtmauer von Babylon.«

(V R 34 I 12–34)

Eine unbeantwortete Frage bleibt indes, wie Nabû-kudurrī-uṣurII. seine fast ins Unermessliche gehenden Bauvorhaben organisatorisch bewältigte und finanzierte. In Anbetracht der spektakulären Anstrengungen, die der Herrscher der Gestaltung Babylons zukommen ließ – er dürfte allein drei Dutzend Millionen Lehmziegel für die Zikkurrat des Marduktempels, den berühmten Turm zu Babel, gebraucht haben –, darf doch nicht in Zweifel gezogen werden, dass es auch weniger friedvolle Unternehmungen gab. Schuf Nabû-kudurrī-uṣurII. als Bauherr quasi ein Zentrum der gesamten damaligen Welt, von dem überreichlich Königsinschriften Zeugnis ablegen, so erfahren wir über militär-politische Maßnahmen zum Erhalt seines Weltreiches nur ganz indirekt durch Chroniken der späteren Geschichtsschreibung. Dass damit auch zusätzlich zu dem vorhandenen Reichtum aus der Binnenwirtschaft eine finanzielle Unterfütterung der Bauprojekte durch Tributleistungen einherging, darf man wohl unterstellen. Der sogenannte Hofkalender, ein sechsseitiges Tonprisma aus Babylon, gibt trotz seines fragmentarischen Zustandes zu erkennen, dass sich u.a. die Könige der Mittelmeeranrainer Tyros, Gaza, Sidon, Arwad und Aschdod unterworfen haben dürften. Über dieses einzige Dokument seiner Art hinaus kann lediglich auf die bereits erwähnten Chroniken verwiesen werden. Neben der lapidaren Erwähnung fast jährlich stattfindender Feldzüge nach Syrien in den ersten sechs Jahren seiner Herrschaft liest sich dort:

»Das siebte Jahr: Im Monat Kislev bot der König von Akkad seine Truppen auf und zog zum Hethiterlande. Die Stadt Juda belagerte er. Am 2. Adar eroberte er die Stadt. Den König nahm er gefangen. Einen König nach seinem Herzen setzte er dort ein. Er nahm den schweren Tribut und brachte ihn nach Babel.«

(ABC 5 Rs. 11–13)

In diesen Zeilen findet sich die spärliche Referenz zu der lange vor der Entzifferung der Keilschrift bekannten babylonischen Gefangenschaft. Nabû-kudurrī-uṣurII. hat demnach im Jahre 598v.Chr. seine Truppen von Babylonien nach Nordsyrien geführt und die Stadt Jerusalem angegriffen. Am 16. März desselben Jahres gelang ihm ihre Eroberung. Der regierende König Jojachin wurde gefangen genommen und an seiner Stelle Zedekia eingesetzt. Für die zweite Eroberung Jerusalems können wir uns schon nicht mehr auf keilschriftliche Quellen berufen, sondern nur auf die biblischen Berichte (siehe unten).

Fassen wir also zusammen: Nur zwölf der insgesamt 42 Jahre Regierungszeit des NabûkudurrI –-uṣurII. sind bisher durch zeitgenössische historische Primärquellen und keilschriftliche chronologische Texte belegt. Dennoch zählt Nabû-kudurrī-uṣurII. ohne Zweifel zu den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Die Wiederentdeckung der altorientalischen Kulturen in der ersten Hälfte des 19. Jhs. durch Ausgrabungen im alten Zweistromland und die mit den Inschriftenfunden einsetzende Entzifferung der babylonischen Keilschrift haben indes kaum etwas dazu beitragen können. Das hohe Maß an Erinnerungwürdigkeit ist zum einen vielmehr den (v.a. griechischen) Autoren der klassischen Antike mit ihren ins Fabulöse gehenden Geschichten über die erstaunlichen Bauten in Babylon geschuldet. Allerdings verband man schon recht bald die weltwunderwürdigen architektonischen Leistungen, derer sich der Herrscher in seinen eigenen Inschriften ausgiebig rühmt, mit sagenumwobenen Gestalten, wie etwa Semiramis als Schöpferin der Hängenden Gärten. Zum anderen sollte sich rezeptionsgeschichtlich jedoch die Zerstörung Jerusalems und die damit einhergehende Massendeportation der Einwohner Judas nach Babylonien, über die Nabû-kudurrI– -uṣur II. selbst der Nachwelt nicht ein einziges Wort hinterließ, als wesentlich wirksamer erweisen.

Abb.2: Rekonstruktionsskizze des Tempelbezirks von Babylon.

Abb.3: Drache aus glasierten Ziegeln am Ištar-Tor.

Nebukadnezar: Die biblische Darstellung

Die im Deutschen geläufige Aussprache »Nebukadnezar« geht auf den Sprachgebrauch im Alten Testament zurück, wo der Name des Herrschers zumeist Nebukadnaessar geschrieben wird. In den Büchern Jeremia und Ezechiel begegnet dem Leser auch die korrektere Form Nebukadrae‘ssar. Diese Schreibweisen gehen freilich auf die Arbeit der Masoreten zurück, die die Aussprache des ursprünglich ohne Vokalzeichen geschriebenen Textes verbindlich festlegten, so dass die einheitliche Namensform der griechischen Übersetzung Nabuchodonosorwohl die ältere hebräische Aussprache spiegelt. Es ist nicht ganz klar, ob die Festlegung der Aussprache durch die Masoreten einen abwertenden Zweck verfolgt. So ist u.a. erwogen worden, dass die masoretisch-hebräische Aussprache an ein Wortspiel »Nabû beschütze das Maultier« erinnern könne. Doch dies ist alles andere als sicher.

Nebukadnezar ist mit 119 Erwähnungen in der alttestamentlichen Literatur derjenige Fremdherrscher, der mit Abstand am häufigsten erwähnt wird. Der Grund liegt auf der Hand: Er ist dafür verantwortlich, dass dem Reich Juda sein einstweiliges Ende beschieden, dass die Stadt Jerusalem in Trümmer gelegt und dass der Tempel gebrandschatzt wurde. Er ist dafür verantwortlich, dass, sei es durch Flucht oder Deportation, eine namhafte judäische Diaspora nach Ägypten und Babylonien kam. Diese war jedoch literarisch sehr produktiv: Sie zeichnet sich für zahlreiche Schriften des Alten Testaments, die griechische Übersetzung der fünf Bücher Mose und der anderen alttestamentlichen Schriften sowie möglicherweise auch für die Entstehung des jüdischen Synagogengottesdienstes verantwortlich. Weiterhin prägten diese in Babylonien und Ägypten ansässigen Juden in unterschiedlichen Zentren der Gelehrsamkeit die jüdische Theologie und Kultur bis zumindest ins Mittelalter hinein. Die Figur des Nebukadnezar markiert damit einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels: Erst seine Maßnahmen gegen Juda, Jerusalem und den Tempel haben direkt und indirekt Prozesse in Gang gebracht, die für die Entstehung des Judentums entscheidendes Gewicht besitzen. Im Alten Testament selbst wird dies zum Teil bereits so gesehen: Neben Notizen wie 2. Könige 25,8, wo die Zerstörung Jerusalems geschildert wird, liegen aus der früheren Zeit Worte von Propheten vor, die die Ereignisse um den babylonischen Herrscher theologisch reflektieren. So wird Nebukadnezar im Jeremiabuch zwar als Weltherrscher bezeichnet, dem sogar die Tiere dienstbar sind (Jeremia 27,6), doch diese Weltherrschaft verdankte er letztlich Gott, der den König gleichzeitig als seinen »Knecht« bezeichnet (Jeremia 25,9; 27,6). So führt Nebukadnezar nur das aus, was Gott sowieso zu tun im Sinn hatte. Auch der wesentlich später wirkende jüdische Historiker Flavius Josephus sieht Nebukadnezar als tatkräftigen Mann.

Gewissermaßen wird so aus der Not eine Tugend gemacht: Der Religion und Kultur Israels drohte nach der Zerstörung des Tempels der Untergang, und die einzige sinnvolle Strategie zum Überleben war es, Gott als denjenigen zu sehen, der nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch das der Fremden und Feinde in den Händen hält. Hier wird der erste Schritt zum biblischen Monotheismus gegangen, der auch die islamische und die christliche Religion und Kultur bis heute prägt.

Diese Sichtweise ist auch im Buch Daniel zu beobachten, auf das nun etwas näher eingegangen werden soll. Das Danielbuch setzt ein mit der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar und schildert in seinem Fortgang das Geschick des deportierten Judäers Daniel und seiner Freunde am Hof des Großkönigs. Hier entwickelt sich Daniel dank göttlicher Fügungen zum Günstling Nebukadnezars, denn das Wissen des Judäers übersteigt die Weisheit der babylonischen Experten bei weitem. Auf eine ernste Probe wird dieses Wissen in Daniel 2 gestellt. Nebukadnezar hat einen Traum, der ihn beunruhigt, der aber von keinem seiner Experten gedeutet werden kann. Der Clou daran ist, dass er niemandem diesen Traum erzählt. Allein Daniel ist nun im Stande, dem König dessen Traum und seine Deutung mitzuteilen und so eine drohende Todesstrafe sowohl von den babylonischen Experten als auch von sich und seinen judäischen Genossen abzuwenden. Er beschreibt dem König dessen Traum von dem Koloss, der auf tönernen Füßen steht, und liefert gleich die Deutung mit: Die unterschiedlichen Materialien, aus denen der Koloss besteht, bezeichnen eine Folge von Weltreichen, die schließlich von einem göttlichen Reich abgelöst werden. Nebukadnezar erkennt daraufhin, dass diese Deutung göttlichen Ursprungs ist und wirft sich nun selbst vor Daniel nieder. Impliziert ist dabei natürlich, dass dieser Ruhm dem Gott Israels zukommt.

Als wäre die Traumgeschichte nicht erzählt worden, fährt das dritte Kapitel des Buches fort: Nebukadnezar lässt ein großes goldenes Standbild anfertigen, dessen Maße zwar genannt werden, dessen Gestalt aber unklar bleibt. Jeder Bewohner des Reiches muss nun, wie ein Edikt verkündet, dieses Bild anbeten, und es ist von vornherein klar, dass dieser Erlass dem biblischen Bilderverbot zuwiderläuft. Drei Judäer werden nun bezichtigt, die Anbetung des Bildes zu verweigern. Es fällt auf, dass Daniel in diesem Kapitel gar nicht in den Blick genommen wird. Die drei Verweigerer werden in einen angeheizten überdimensionalen Ofen geworfen und überleben dies auf wundersame Weise. Wie in Daniel 2 endet der Vorgang damit, dass sich Nebukadnezar vor dem Gott Israels demütigt und nun sogar bei harter Strafe verbietet, über den Gott der Judäer verächtlich zu sprechen.