Wölfe ums Schloss - Joan Aiken - E-Book

Wölfe ums Schloss E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Als ihre Eltern eine lange Seereise antreten, bleibt Bonnie gemeinsam mit ihrer Cousine Sylvia auf Willoughby Chase zurück. Es ist der härteste Winter seit Jahren, Schneestürme toben, nachts heulen die Wölfe, aber im Schloss fühlen sich die Mädchen geborgen. Miss Slighcarp, eine entfernte Verwandte, soll auf die beiden aufpassen, doch die hat nichts anderes im Sinn, als das Schloss und all seine Reichtümer an sich zu reißen. Sie entlässt die Dienerschaft, verkauft die Möbel, trägt sogar die Kleider von Bonnies Mutter. Und es kommt noch schlimmer: Eines Tages eröffnet sie Bonnie, ihre Eltern seien bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, und schickt beide Mädchen in ein Waisenhaus. Die Zustände dort sind fürchterlich. Nicht einmal genug zu essen gibt es. Bonnie und Sylvia gelingt die Flucht. Gemeinsam mit dem Gänsehirten Simon machen sie sich auf den Weg nach London zu Sylvias Tante Jane. Werden sie je wieder nach Willoughby Chase zurückkehren können?

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Joan Aiken

Wölfe ums Schloss

Roman

Aus dem Englischen von Ilse Lauterbach

Vorbemerkung

Dieses Buch spielt in einem Zeitraum der englischen Geschichte, den es nie gegeben hat – kurz nach der Krönung des guten Königs Jakob III., im Jahr 1832. Große Rudel von Wölfen, die strenge Winter aus Europa und Russland vertrieben hatten, waren zu dieser Zeit durch den soeben fertiggestellten Kanaltunnel zwischen Dover und Calais auf die Britischen Inseln gewandert.

1

Der Abend dämmerte – ein Winterabend. Schnee leuchtete weiß auf den gefältelten Bergen, und an den Bäumen im Wald hingen Eiszapfen. Und Schnee lag hoch auf der dunklen Straße, die über die Willoughby-Heide führte, aber seit Tagesanbruch schon waren Männer dabei, ihn mit Schaufeln und Besen beiseitezuräumen. Hunderte von Männern fegten und schippten; sie waren in Säcke eingewickelt wegen der bitteren Kälte und hielten sich immer in Gruppen dicht beieinander aus Furcht vor den Wölfen, die der Hunger grausam und unerschrocken gemacht hatte.

Der Schnee lag auch dick auf dem Dach von Willoughby Chase, dem großen Schloss, das auf einer offenen Anhöhe mitten im Heide- und Moorland stand. Trotzdem machte das Schloss einen einladenden Eindruck: eine Wärme verheißende feste Burg, die einen willkommen hieß. Das rosige Mauerwerk im Fischgrätmuster schimmerte hell und wohlgepflegt, die zahlreichen Türmchen und Zinnen zeichneten sich scharf gegen den Himmel ab, und die durchbrochenen Balkone mit ihren Simsen aus Schnee fassten lauter goldene Fensterrechtecke. Das ganze Schloss war erleuchtet, und die darin herrschende freudig aufgeregte Geschäftigkeit stand in merklichem Gegensatz zum schwermütigen Seufzen des Windes und dem grausigen Geheul der Wölfe draußen.

Im Kinderzimmer tanzte ein kleines Mädchen ungeduldig auf und ab und lief immer wieder zu dem großen, mehr als doppelt mannshohen Fenster, das auf den Park hinausging und von dem man die schwarze Straße fast in ihrer ganzen Länge überblicken konnte.

»Ob sie jetzt bald kommt, Pattern? Ja?«, rief das Mädchen wohl schon zum hundertsten Mal.

»Das werden wir noch früh genug erfahren, Miss Bonnie«, antwortete jedes Mal ihre Kinderfrau, die vor dem Feuer kniete und die Rüschen von zwanzig Spitzenunterröcken kniffte und kräuselte.

Das kleine Mädchen bezog ungeduldig von Neuem seinen Wachtposten. Sie war jetzt auf den Fenstersitz geklettert, um den verschneiten Park besser überschauen zu können, und hopste auf dessen gut gefederten, mit karmesinroter Seide bezogenen Polstern herum. Bei jedem Hopser stieß sie mit dem Kopf fast an die Decke.

»Nun machen Sie doch Schluss damit, Miss Bonnie«, sagte Pattern nach einer Weile. »Schauen Sie doch nur, wie viel Staub Sie aufwirbeln. Ich kann ja kaum noch meine Zange sehen. Wir werden’s früh genug erfahren, wenn der Zug ankommt.«

Nur widerstrebend verließ Bonnie ihren Ausguck und ging zum Feuer hinüber, um sich dort hinzusetzen. Sie war schlank, klein für ihr Alter, aber hatte frische, rote Wangen. Dichtes schwarzes Haar fiel ihr lockig auf die Schultern, und ihre klaren blauen Augen konnten ebenso gut vor Freude tanzen wie vor Empörung aufblitzen. Das feste Kinn deutete ebenfalls auf ein kraftvolles, eigensinniges, nicht immer ganz gezügeltes Temperament hin. Der Mund jedoch war reizend, und sie konnte gelegentlich sehr nachdenklich werden – wie jetzt gerade, als sie dort saß und in das auf zwei Alabasterwolfshunden hoch aufgeschichtete Feuer schaute.

»Hoffentlich ist der Zug nicht von Wölfen aufgehalten worden!«, sagte sie plötzlich.

»Unsinn, liebe Miss Bonnie – nun zerbrechen Sie sich mal nicht Ihren hübschen Kopf mit solchen Gedanken«, antwortete Pattern. »Sie wissen doch, dass die Gepäckträger und der Stationsvorsteher die ganze Woche mit ihren Musketen und Schrotflinten geübt haben.«

In diesem Augenblick hörte man unten im Schloss Tumult. Bonnie wandte mit erwartungsvoll aufleuchtendem Gesicht den Kopf. Hunde bellten, Männer riefen, die Türglocke läutete. Als der Lärm überhaupt nicht aufhören wollte, flitzte Bonnie, ohne lange zu überlegen, über den blitzblank wie Glas polierten, sich riesengroß dehnenden Kinderzimmerboden und dann die Haupttreppe hinunter in die Eingangshalle. Vor lauter Ungestüm landete sie mit einem Plumps zu Füßen einer unendlich großen, dürren Dame, die vom Hals bis an die Zehen in ein Reisegewand aus grauem Köper gekleidet war. Dazu trug sie einen steifen Kragen, dunkle Brille und Knöpfstiefel aus stumpfgrünem Leder. Um ein Haar hätte Bonnie diese Person bei ihrem Hals-über-Kopf-Ansturm umgerannt; nur mit Mühe und unter lauten Ausrufen des Unmuts bewahrte die Dame ihr Gleichgewicht.

»Wer ist’s, der sich dieses unmanierlichen Überfalls schuldig macht?«, fragte sie, während sie ihre Brille auf der Nase zurechtrückte. »Könnte dieses ausgelassene Wesen meine neue Schülerin sein?«

»Ich … ich bitte um Verzeihung!«, rief Bonnie, sich wieder aufrappelnd.

»Das möchte ich hoffen! Habe ich recht, wenn ich vermute, dass Sie Miss Green sind? Ich bin Miss Slighcarp, Ihre neue Erzieherin. Außerdem bin ich eine Cousine von Ihnen – vierten Grades«, fügte sie hochmütig hinzu, als sei ihr auch diese Verwandtschaft noch nicht entfernt genug.

»Oh«, stammelte Bonnie, »ich wusste gar nicht … ich meine, ich dachte, Sie würden morgen erst kommen. Ich wollte nach meiner Cousine Sylvia gucken, die heute Abend ankommt.«

»Das ist mir bekannt«, erwiderte Miss Slighcarp kühl, »aber damit sind schlechte Manieren nicht entschuldigt. Wo, bitte, bleibt Ihr Knicks?«

Bonnie war so verdattert, dass ihr diese Förmlichkeit nun nicht mit all der ihr sonst eigenen Anmut gelang.

»Wie ich sehe, wird Unterricht in Betragen und Haltung an erster Stelle auf Ihrem Stundenplan stehen müssen«, bemerkte Miss Slighcarp, und damit wandte sie sich ab, um sich um ihr Gepäck zu kümmern. »Sie, mein Herr, stehen Sie gefälligst nicht feixend und faul da herum, sondern sorgen Sie dafür, dass meine Koffer sofort auf meine Zimmer gebracht werden und meine Zofe mir unverzüglich zur Verfügung steht, um mir zu helfen.«

James, der Schlossdiener, hatte mit dem Butler Grimassen ausgetauscht, weil ihm kein Trinkgeld gegeben worden war; jetzt sprang er, ganz Aufmerksamkeit, sofort herbei und sagte:

»Ihre Zofe, Miss? Haben Sie eine Zofe mitgebracht?«

»Nein, Dummkopf. Die Zofe, die Lady Green mit meiner Bedienung beauftragt haben wird.«

James kratzte sich am Kopf.

»Hm, ich nehme an, Miss Pattern wird Ihnen helfen«, sagte er, schulterte einen von den neun Walrosslederkoffern und wankte in Richtung Dienstbotenstiege davon.

»Ich zeige Ihnen den Weg zu Ihren Zimmern«, sagte Bonnie eifrig, »und wenn Sie sich fertig gemacht haben, bringe ich Sie zu Papa und Mama. Ich hoffe, dass wir sehr gut miteinander auskommen«, fuhr sie fort, als sie dann auf der herrlichen Marmortreppe und weiter durch die Gemäldegalerie voranging. »Ich muss Ihnen so viel zeigen – meine Pfeilspitzen-Sammlung aus Feuerstein und meine Halbedelsteine.«

Miss Slighcarp presste missbilligend die Lippen aufeinander, und Bonnie, die befürchten musste, dass sie schon zu keck drauflosgeschwatzt hatte, erwähnte nichts mehr von ihren Liebhabereien.

»Hier ist Ihre Wohnung«, sagte sie nach einer Weile und öffnete eine Tür, die den Blick in eine behagliche Zimmerflucht freigab. Kaminfeuer brannten hell in den elegant möblierten Räumen, in denen Gold und Mahagoni vorherrschten. »Und da ist auch meine Pattern, um Ihnen zu helfen«, sagte Bonnie. Miss Slighcarp zog missmutig die Brauen zusammen, gab jedoch durch ein Kopfneigen zu verstehen, dass sie gehört hatte. Pattern kniete bereits vor einem der Koffer und holte die Sachen heraus, die von der Erzieherin vermutlich sofort gebraucht würden.

»Ich lasse Sie jetzt erst einmal allein«, sagte Bonnie, schon zum Gehen gewandt. Sie drehte sich nur noch einmal um und wollte gerade noch fragen: Soll ich in einer halben Stunde wiederkommen? Da sah sie, wie Miss Slighcarp rasch nach einer schweren marmornen Haarbürste griff und in grimmiger Wut damit nach der Kinderfrau schlug, die gerade eine Mappe mit Briefen und anderen Papieren aus dem Koffer genommen hatte.

»Schnüfflerin! Wer hat Ihnen erlaubt, meine Briefe zu durchstöbern?«, rief sie.

Von hellem Zorn gepackt rannte Bonnie sofort zurück, riss Miss Slighcarp die Bürste aus der Hand und schleuderte sie unbekümmert aus dem Fenster. Dann nahm sie einen Krug mit warmem Wasser, den ein Hausmädchen gerade gebracht hatte, und schüttete ihn ihrer neuen Erzieherin mitten ins Gesicht.

Miss Slighcarp taumelte unter der Wucht des Anpralls zurück – der Hut rutschte ihr vom Kopf, ihr graues Haar, das offenbar eine Perücke war, ebenfalls, und so stand sie kahl, triefend und bleich vor Wut da.

»Du liebe Zeit – das tut mir leid!«, sagte Bonnie verblüfft. »Das wollte ich nicht. Ich gerate so leicht in Zorn. Aber Sie dürfen Pattern auch nicht schlagen. Sie ist eine von meinen besten Freundinnen. Ach, Pattern – bitte, hilf ihr!«

Die Kinderfrau und Kammerzofe half Miss Slighcarp, die feuchte Perücke wieder aufzusetzen und den vom Wasser angerichteten Schaden zu beheben, aber ihren zusammengepressten Lippen war anzumerken, dass ihr die Aufgabe kein bisschen gefiel. Ein böser roter Striemen schwoll auf ihrer Wange an, wo die Bürste sie getroffen hatte.

»Gehen Sie!«, sagte Miss Slighcarp zu Bonnie und zeigte zur Tür.

Bonnie ging nur zu gern. Eine halbe Stunde später kehrte sie jedoch zurück, nachdem sie sich die größte Mühe gegeben hatte, ihr aufsässiges Temperament zu zähmen.

»Soll ich Sie jetzt zu Mama und Papa begleiten?«, fragte sie, als die Erzieherin sie zum Eintreten aufforderte. Miss Slighcarp hatte ein anderes graues Twill-Kleid mit hohem weißen Kragen angezogen und ihren Reisemantel aus Merinowolle beiseitegelegt.

Sie ließ sich von Bonnie zu den Gemächern ihrer Eltern führen, nachdem sie zuerst mehrere Schubladen, in die sie Papiere gelegt hatte, abgeschlossen und die Schlüssel in ein Täschchen an ihrem Gürtel gesteckt hatte.

Bonnies Empörung hielt nie lange an, und so tanzte sie recht vergnügt voran und zeigte ihrer Begleiterin unterwegs das Verlies, in dem Vetter Roger ausgerutscht war, die Wandtäfelung, hinter der sich eine Geheimtreppe verbarg, die Säulenhalle, in der es spukte, das Priesterloch und andere Sehenswürdigkeiten ihres geliebten Elternhauses. Miss Slighcarp folgte ihr jedoch mit einem Gesichtsausdruck, der wenig Gutes für ihren Schützling verhieß.

Schließlich blieben sie vor einer Doppeltür stehen, die noch prächtiger war als alle anderen, an denen sie vorbeigekommen waren, und Bonnie fragte den davor stehenden Diener, ob ihre Eltern da seien. Als der Diener mit Ja antwortete, trat sie fröhlich ein, lief auf die elegante Dame und den eleganten Herrn zu, die auf einer Ottomane am Feuer saßen, und rief ihnen entgegen:

»Papa! Mama! So eine Überraschung! Miss Slighcarp ist schon einen Tag früher gekommen als erwartet!«

Miss Slighcarp trat näher und begrüßte ihre Herrschaft.

»Ich bedaure, dass es mir nicht möglich war, nach London zu kommen und die Vereinbarungen mit Ihnen persönlich zu treffen«, sagte Sir Willoughby, nachdem er sich leicht vor ihr verbeugt hatte, »aber mein guter Freund und Anwalt, Mr Gripe, wird Ihnen unsere Lage geschildert haben – mitten in den Vorbereitungen zu unserer Abreise, wo es noch so viel zu erledigen gibt. Ich entsann mich, dass wir eine entfernte Cousine – nämlich Sie, gnädige Frau – in London hatten, und so betraute ich Mr Gripe mit der Aufgabe, Sie ausfindig zu machen und zu fragen, ob Sie wohl willens seien, in unserer Abwesenheit die Fürsorge für meinen Besitz und mein Kind zu übernehmen. Meine einzige andere Verwandte, meine Schwester Jane, ist, wie Sie vielleicht wissen, zu gebrechlich und betagt für solch eine Bürde. Ich hoffe, Sie und Bonnie werden prächtig miteinander auskommen.«

An dieser Stelle berichtete ihm Miss Slighcarp mit leiser, rauer Stimme von der Haarbürste und dem Wasserkrug, ohne jedoch ihren durch nichts herausgeforderten Angriff auf die arme Pattern zu erwähnen. Sir Willoughby brach in schallendes Lachen aus.

»Hat sie das wirklich getan, das ausgelassene Kind? Na, du keckes Ding!« Und er kniff seiner Tochter liebevoll in die Wange. »Mädchen sind eben Mädchen, Miss Slighcarp, und Sie müssen auch ein bisschen die natürliche Ausgelassenheit und Aufregung wegen Ihrer Ankunft und der erwarteten Ankunft von Bonnies Cousine berücksichtigen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie unserem wilden Kobold mit der Zeit ein etwas damenhafteres Benehmen beibringen.«

Lady Green, die dunkles Haar und traurige Augen hatte und sehr krank aussah, erhob in diesem Augenblick müde die Stimme und fragte ihren Mann, ob da nicht jemand an der Tür geklopft habe. Er rief ungeduldig: »Herein!«, und der Stationsvorsteher trat ein – eine schwarze, schäbige Gestalt –, seine Mütze in den Händen drehend.

»Der Zug von London ist angekündigt«, sagte er, nachdem er sich vor allen Anwesenden respektvoll verbeugt hatte. »Beliebt es Ihnen, ihn sofort weiterfahren zu lassen?«

»Aber ja, aber ja«, sagte Sir Willoughby. »Meine kleine Nichte kommt mit dem Zug – er soll sich mit voller Geschwindigkeit nähern! Wie sind Sie denn vom Bahnhof hergekommen, mein Herr? Zu Fuß? Solly soll Sie mit der Kutsche zurückbringen – mit angemessener Begleitung natürlich. Er kann dann warten und gleichzeitig Miss Sylvia mitbringen.«

»Ja, vielen Dank, Sir«, sagte der Mann mit aufrichtiger Dankbarkeit. »Gott segne Ihr edles Herz! Ich hätte eine beschwerliche Weile gebraucht, um die sechzehn Kilometer auch noch mal zurückzulaufen, und es friert immer mehr.«

»Oh, nichts zu danken«, sagte Sir Willoughby herzlich. »Dürfen schließlich Miss Sylvia nicht im Zug erfrieren lassen. Außerdem könnten Sie unter die Wölfe fallen, und dann würde das arme Kind wegen des ausbleibenden Signals die ganze Nacht im Zug festsitzen. Können wir nicht machen, nicht? Na, Bonnie, was gibt’s denn, Miss?«

»Oh, Papa«, sagte Bonnie, die ihn schon mehrmals am Ärmel gezupft hatte, »darf ich mit Solly in der Kutsche fahren und Sylvia abholen? Ja?«

»Einem Kind, das sich so benommen hat wie sie, sollte man keine Gunst gewähren«, bemerkte Miss Slighcarp.

»Ach, nun lassen Sie mal, Miss Slighcarp, nun seien Sie mal nicht so«, sagte Sir Willoughby gutmütig. »Junges Blut, du liebe Zeit. Außerdem schießt meine Bonnie so gut auf Wölfe wie nur eine. Na, dann lauf mal, Miss, aber zieh dich warm an – denk daran, dass du mehrere Stunden unterwegs sein wirst.«

»Oh, ich danke dir, Papa! Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, liebe Mama, auf Wiedersehen, Miss Slighcarp!« Und sie küsste ihre Eltern liebevoll und lief hinaus, um sich ihre wärmste Mütze und ihren dicksten Mantel zu holen.

»Unbesonnene, törichte Nachsicht«, murrte die Erzieherin, während sie Bonnie einen überaus gehässigen, rachsüchtigen Blick nachschickte.

»Aber he!«, rief Sir Willoughby, der durch den Klang ihrer Worte an die Anwesenheit Miss Slighcarps erinnert wurde, wenn er auch nicht verstanden hatte, was sie gesagt hatte. »Wenn der Zug doch gerade erst angekündigt worden ist, wie sind Sie denn dann hergekommen, gnädige Frau? Geflogen sein können Sie doch wohl nicht, hm?«

Zum ersten Mal zeigte die Erzieherin sich verwirrt.

»Ich … äh … das heißt eine Freundin, die von Blastburn herübergefahren ist, hat mir freundlicherweise angeboten, mich mit meinem Gepäck hierher zu bringen«, antwortete sie schließlich.

Eine Glocke tönte in diesem Augenblick durch das Gemach.

»Zeit zum Umziehen«, sagte Sir Willoughby, während er einen Blick auf seine hübsche goldene Uhr warf, die an einer Kette quer über seiner Weste hing. »Ich begreife, Miss Slighcarp, dass Sie von der Reise erschöpft sind und nicht mit uns zu Abend essen wollen. Ihnen wird in Ihren eigenen Gemächern serviert.«

Er neigte zum Abschied würdevoll den Kopf, und der Erzieherin blieb keine andere Wahl, als zu gehen.

2

Zwei Tage vor diesen Ereignissen hatte sich im fernen London, wo Bonnies Cousine Sylvia sich auf ihre Reise vorbereitete, eine ganz andere Szene abgespielt.

Sylvia war Waise. Ein tückisches Fieber hatte ihre Mutter und ihren Vater hinweggerafft, als sie noch ein kleines Kind war. Sie lebte bei ihrer Tante Jane, die nun allmählich sehr alt und gebrechlich wurde und daher an Sir Willoughby geschrieben und ihm vorgeschlagen hatte, dass er fortan für das kleine Mädchen sorge. Sir Willoughby war sofort auf den Vorschlag eingegangen, denn Sylvia war, wie er wusste, sehr zart, und die Landluft würde ihr guttun. Außerdem versprach er sich von ihrem sanften Wesen einen ausgleichenden Einfluss auf seinen Sausewind von Tochter.

Tante Jane und Sylvia bewohnten gemeinsam ein Zimmer ganz oben in einem Haus. Es lag an der Park Lane, denn das war die einzige Straße, die für Tante Jane infrage kam. Da sie aber sehr arm war, konnte sie sich nur eine winzige Dachkammer in solch einem vornehmen Viertel leisten. Das Zimmer wurde von einem sehr schönen, aber alten Vorhang aus weißem chinesischen Brokat in zwei Hälften unterteilt. Sie und Sylvia hatten nachts jeder ein halbes Zimmer; Tante Jane schlief auf dem Diwan und Sylvia auf der Ottomane. Tagsüber wurde der Vorhang zurückgezogen und hing elegant geschürzt an der Wand.

Sie kochten sich ihr Essen auf dem Gasbrenner und wuschen sich in einer großen, mit Drachen bemalten chinesischen Emailleschale, einem Erbstück. Die übrige Zeit stand die Schale gleich an der Tür auf einem kleinen Beistelltisch und wurde für Visitenkarten genutzt.

Sie waren dabei, Sylvias Kleider zu nähen.

Tante Jane liefen die Tränen übers Gesicht; sie hatte den weißen Vorhang abgenommen und schnitt ihn in Stücke. Zum Glück war er so groß, dass er für mehrere Blusen, Unterröcke, Rüschenhosen, Kleider und sogar noch für eine Haube reichte. Tante Jane tupfte sich die Augen mit einem winzigen Stoffschnipsel und murmelte:

»Ich sehe zu gern ein ganz in Weiß gekleidetes kleines Mädchen.«

»Ich wünschte wirklich, wir bräuchten deinen Vorhang nicht zu zerschneiden, Tantchen«, sagte Sylvia, der es wehtat, ihre Tante so bekümmert zu sehen. »Wenn ich fünfunddreißig bin und mein Erbe bekomme, kaufe ich dir lauter weiße Brokatvorhänge.«

»Ach, du kleiner Engel«, antwortete ihre Tante und umarmte sie. »Aber wenn du fünfunddreißig bist, bin ich hundertunddrei.« Und sie machte sich daran, mit Tausenden von winzigen Stichen einen Unterrock zu säumen. Sylvia seufzte und beugte ihren hübschen Kopf über einen anderen mit fast ebenso feinen Stichen. Es bedrückte sie etwas – obwohl es ihr nicht im Traum eingefallen wäre, es laut zu sagen –, wenn sie daran dachte, dass sie nichts als Weiß tragen würde, zumal bei ihrer Cousine Bonnie zu Hause, wo gewiss alles hochelegant und hübsch war.

»Nun muss ich mal überlegen«, murmelte Tante Jane, während sie mit fliegenden Fingern drauflosnähte. »Woraus können wir dir denn einen Reisemantel machen?« Sie machte einen Augenblick Pause und sah sich im Zimmer um. Ihr Blick streifte die liebevoll gepflegten Möbel, die Schondeckchen, den persischen Wandschirm vor der Gasküche. Die Fenstervorhänge waren zu verschlissen – und Fenstervorhänge brauchte man ja nun mal. Schließlich fiel ihr ein altes samtenes Umschlagtuch ein, das sie manchmal als zusätzliche Bettdecke benutzten, wenn es sehr kalt war und sie beide zusammen auf der Ottomane schliefen.

»Ich kann stattdessen meinen Umhang, den mit den schwarzen Jettperlen, nehmen«, versicherte sie Sylvia.

Am Abreisetag waren alle Kleider fertig. An Sylvias Schuhen ließ sich nicht viel machen. Sie waren beklagenswert schäbig. Aber Tante Jane wichste sie mit einer Mischung aus Ruß und Kerzenfett schwarz ein, und Sylvias Häubchen wurde mit einer weißen Feder aus dem Straußenfächer verziert, den ihre Tante als junges Mädchen auf ihrem ersten Ball getragen hatte. Sylvias ganze Habe war fein ordentlich in eine alte Reisetasche verpackt, und Tante Jane hatte ihr ein kleines Päckchen mit Reiseproviant zurechtgemacht, ihr allerdings aber auch eingeschärft, ihn auf gar keinen Fall zu verzehren, falls noch jemand mit im Abteil war.

»Denn eine Dame isst niemals in der Öffentlichkeit.«

Sie waren zu arm, um eine Droschke zum Bahnhof zu nehmen, und Tante Jane weigerte sich stets, mit dem neuen, von Pferden gezogenen Omnibus zu fahren, also gingen sie zu Fuß und trugen die Tasche gemeinsam. Zum Glück waren der Bahnhof nicht weit weg und die Tasche nicht schwer.

Tante Jane sicherte ihrem Schützling einen Eckplatz und vertraute ihn der Fürsorge des Zugschaffners an.

»Also denk daran, mein liebes Kind«, sagte sie, nachdem sie Sylvia geküsst und sich misstrauisch in dem leeren Abteil umgeschaut hatte, »unterhalte dich nie mit Fremden, gib allen Bediensteten ein Trinkgeld – ich habe alle Heller aus meinem Strickbeutel unten in deine Reisetasche getan –; ahme nicht deine Cousine Bonnie nach, die ja ein liebes, gutes Kind sein soll, aber doch ein bisschen wild; grüße meinen Bruder Willoughby herzlich von mir und sage ihm, dass ich bei bester Gesundheit und bestens versorgt bin; und falls irgendjemand außer dem Zugschaffner dich anspricht, ziehst du die Notbremse.«

»Ja, Tantchen«, antwortete Sylvia artig und umarmte sie. Sie verspürte einen schmerzhaften Stich, als sie dann sah, wie die zerbrechliche alte Gestalt sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, und sie fragte sich, wie ihre Tante Jane denn nun ohne ihre kleine Nichte zurechtkommen würde, die ihr die Locken aufwickelte und ihr täglich eine Seite aus Dr. Johnsons Konversationslexikon vorlas.

Dann jedoch bekam Sylvia es mit der Angst zu tun, denn ein fremder Mann betrat das Abteil und nahm Platz. Er sprach sie jedoch nicht an und beachtete sie auch nicht, und da der Zug wenig später abfuhr, zerstreuten sich ihre Befürchtungen wieder beim Anblick der fremden Häuser, die mit erleuchteten Fenstern vorbeiflogen.

Eine lange Reise stand ihr bevor – eine Nacht und ein Tag. Die Abfahrtszeit war sechs Uhr abends, und Sylvia wusste, dass sie erst gegen acht Uhr am folgenden Abend am Ziel ankommen würde. Wie viele fremde Wälder, Städte, Berge und Landschaften würde der Zug bis dahin durchfahren haben, mit stetig vierundzwanzig Kilometer in der Stunde!

Sie war noch nie zuvor aus London herausgekommen und hielt nun eifrig von ihrem Fenster aus Ausschau, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten und ihr nichts anderes übrig blieb, als ihre Schuhspitzen zu betrachten, die von Tante Jane so liebevoll blank geputzt worden waren.

Der Gedanke an die alte Dame, die sich in diesem Augenblick sorgfältig für ihren einsamen Schlummer fertig machte, war zu viel für Sylvia. Die Tränen liefen ihr leise über die Wangen, die sie mit ihrem winzigen Taschentuch (aus einem übrig gebliebenen Fitzelchen Brokat) abzutupfen versuchte.

»Na, das geht aber doch nicht«, sagte plötzlich jemand ganz dicht neben ihr, und als sie erschrocken aufschaute, sah sie, dass der Mann vom anderen Ende des Abteils herübergerückt war und ihr nun gegenübersaß. Sylvia betupfte noch ein letztes Mal ihre Augen und wandte sich hochmütig ihrem Spiegelbild in der dunklen Scheibe zu, aber ihr Herz schlug wie wild. Sollte sie die Notbremse ziehen? Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf das Spiegelbild des Mannes und sah, dass er aufstand und anscheinend etwas aus einem großen Lederkoffer holte. Dann drehte er sich zu ihr um und hielt ihr etwas hin. Sie wandte den Kopf gerade weit genug, um festzustellen, dass es eine ungefähr dreißig Zentimeter breite und dreißig Zentimeter lange und fünfzehn Zentimeter hohe, mit violetten Bändern umschnürte Pralinenschachtel war.

»Nein danke«, sagte Sylvia so damenhaft, wie es ihr gelingen wollte. »Ich mache mir nichts aus Pralinen.« Trotzdem musste sie ein paarmal schlucken, denn der Nachmittagstee, den sie mit Tante Jane vor der Reise eingenommen hatte, war zwar sehr vornehm, aber nicht sehr nahrhaft gewesen – zwei dünne Scheiben Butterbrot, eine Zimtwaffel und ein fast durchsichtiges Stückchen Kümmelkuchen.

Dennoch fiel es ihr nicht ein, von einem Fremden etwas zu essen anzunehmen, und ihr eigenes kleines Paket zu öffnen, solange er im Abteil war, das kam auch nicht infrage. Sie schüttelte noch einmal den Kopf.

»Na – nun mal los«, redete der Mann ihr zu. »Alle kleinen Mädchen essen gern Süßes, das weiß ich doch!«

»Mein Herr«, sagte Sylvia kühl, »falls Sie noch einmal mit mir reden, werde ich die Notbremse ziehen müssen.«

Er seufzte und packte die Pralinenschachtel weg. Aber sie freute sich zu früh darüber, denn im nächsten Augenblick drehte er sich mit einer Konditorschachtel um, die mit allen möglichen kleinen Kuchen vollgepackt war – da waren Marmeladentörtchen, Käseplätzchen, Chelsea-Wecken und allerlei Gebäck mit Zuckerguss in leuchtenden und verlockenden Farben.

»Ich packe mir immer einen tüchtigen Imbiss für die Reise ein«, murmelte er vor sich hin, als rede er mit sich selber, und damit stellte er die Schachtel genau Sylvia gegenüber auf den Sitz, suchte sich einen mit violettem Zuckerguss überzogenen kleinen Kuchen aus und biss hinein. Der Kuchen schien mit Marmelade gefüllt. Sylvia guckte geradeaus und beachtete den Mann nicht, aber sie musste wieder schlucken.

»Nun, mein Kind, wie wär’s mit ein paar von diesen kleinen Leckereien, hm?«, fragte der Mann. »Die kann ich doch unmöglich alle allein essen, oder?«

Sylvia stand auf und suchte nach dem Griff der Notbremse. Er war zu hoch für sie.

»Soll ich sie für dich ziehen?«, fragte ihr Reisegefährte höflich, während er mit den Augen ihrem Blick nach oben folgte. Sylvia gab ihm keine Antwort. Sie hielt es jedoch nicht für damenhaft, auf den Sitz oder auf die Armlehne zu klettern, um selber die Notbremse zu ziehen, also nahm sie wieder Platz und biss sich ängstlich auf die Lippen. Zu ihrer unsäglichen Erleichterung verstaute der Fremde, nachdem er noch drei oder vier weitere kleine Kuchen mit sichtlich großem Appetit gegessen hatte, die Schachtel in seinen Koffer, wickelte sich in einen üppig bepelzten Mantel, zog sich in seine Ecke zurück und machte die Augen zu. Ein gedämpftes, aber regelmäßiges Schnarchen war schon bald zu hören und überzeugte Sylvia schließlich davon, dass er schlief, und nun atmete sie allmählich etwas freier. Endlich holte sie aus dem Versteck unter ihrem Reisemantel das Allerliebste hervor, das sie besaß, und hielt es liebevoll im Arm.

Es war eine hölzerne Puppe mit Namen Annabelle, nicht viel größer als eine Kerze und einfach gekleidet, aber Sylvia überaus lieb und teuer. Sie und Annabelle hatten keine Geheimnisse voreinander, und es war ein großer Trost für sie, dass sie diese Gefährtin bei sich hatte, als der Zug nun durch die Dunkelheit dahinratterte.

Nach einer Weile wurde sie schläfrig und sank in einen unruhigen Schlummer, aber nicht lange; es war bitterkalt, und ihre Füße fühlten sich in den dünnen Schuhen wie Eisklumpen an. Sie kauerte sich in ihre Ecke, wickelte sich in ihren grünen Mantel und beneidete ihren Mitreisenden um seine dicken Pelze und seinen ungestörten Schlaf und wünschte, es wäre damenhaft, die Füße auf dem Sitz unterzuschlagen. Leider wusste sie, dass es das nicht war.

Sie träumte, ohne wirklich zu schlafen, von Eismeeren, von ungeheuren Tunneln, die mit Eiszapfen besetzt durch Berge führten. Ihrem Reisegefährten waren ein langer Schwanz und zwei Hörner gewachsen und er bot ihr konzertflügelgroße Kuchen in den Farben Scharlachrot, Blau und Grün an; und als sie hineinbiss, musste sie feststellen, dass sie aus Schnee waren.

Sie wachte plötzlich aus einem dieser Träume auf und stellte fest, dass der Zug mit einem Ruck gehalten hatte.

»Oh! Was ist das? Wo sind wir?«, rief sie aus, ehe sie etwas dagegen machen konnte.

»Nun mal keine Bange, Miss«, sagte ihr Reisegefährte, während er unnützerweise zum schwarzen Fenster hinausguckte. »Höchstwahrscheinlich Wölfe auf dem Gleis – damit haben sie hier in der Gegend oft Ärger.«

»Wölfe!« Sylvia starrte ihn entsetzt an.

»Sie dringen aber nicht oft in den Zug ein«, fügte er beruhigend hinzu. »Vor zwei Jahren haben sie es mal geschafft, in den Gepäckwagen einzubrechen und ein Schwein zu fressen, und einmal haben sie den Lokomotivführer erwischt – ein anderer musste auf einer Ersatzlokomotive geschickt werden –, aber sie fressen nur selten einen Reisenden, das verspreche ich dir.«