Yoga für Fortgeschrittene - Anna Trökes - E-Book

Yoga für Fortgeschrittene E-Book

Anna Trökes

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Beschreibung

Yoga für Fortgeschrittene, der neue Ratgeber, den die bekannte Yoga-Autorin Anna Trökes zusammen mit dem Arzt und Asthanga-Yoga-Spezialisten Ronald Steiner geschrieben hat, ist ein absolutes Muss für alle, die tiefer in die Welt des Yoga einsteigen möchten. Zwar enthält dieses Buch auch anspruchsvolle Asanas, doch muss man keineswegs akrobatische Ambitionen haben, um von seinen vielfältigen Inhalten zu profitieren. So hilft die sehr gute Erklärung der anatomischen Zusammenhänge dabei, Verletzungen zu vermeiden. Wer die körperlichen und psychischen Wirkungen der Asanas und Pranayamas besser kennt, kann sie gezielter für sein Wohlbefinden einsetzen. Das Wissen um philosophische Hintergründe, die Symbolik und Mythologie, die mit den Übungen in Verbindung stehen, gibt dem eigenen Üben schließlich eine ganz andere Tiefe. Hervorzuheben ist außerdem die besonders hochwertige Gestaltung, die Yoga für Fortgeschrittene zum einem Buch macht, in dem man auch einfach gerne blättert und liest.

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Seitenzahl: 328

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Fortgeschrittenes Üben im Anfängergeist

Woran denken Sie, wenn Sie »Yoga für Fortgeschrittene« hören? Geht es für Sie darum, immer anspruchsvollere Yogahaltungen zu meistern, stundenlang auf dem Kopf stehen oder ewig den Atem anhalten zu können? Und Sie sind unzufrieden mit sich, wenn das nicht ganz bald – vielleicht gar nicht – gelingt?

Wenn wir in die alten Grundlagentexte schauen, wird schnell deutlich, dass der Yoga ursprünglich ganz andere Ziele verfolgte. »Yoga ist der Zustand, in dem die Aktivitäten des Geistes zur Ruhe kommen«, heißt es in Patanjalis Yoga-Sutra (I,2), dem 2000 Jahre alten Leitfaden (Sutra) des Yoga. Und im großen Lehrtext des Hatha-Yoga, der Hatha-Yoga-Pradipika aus dem 15. Jahrhundert, finden wir: »Der Yogi, der im Zustand des Yoga (Samadhi) weilt, unterscheidet nicht kalt noch warm, nicht den Schmerz oder das Vergnügen, nicht Ehrungen und Demütigungen. Jemand, der in diesem Zustand verweilt, ist mit Sicherheit befreit.« (IV,111/112). Es geht also im Yoga um die Klärung, Beruhigung und Stabilisierung unseres Geistes und darum, gelassen, gleichmütig und frei von äußeren Bedingungen zu werden, egal wie hoch die Wogen in unserem Leben schlagen.

Yoga versteht sich seit seinen Anfängen vor rund 3500 Jahren als Geistesschulung. Folglich interessiert ihn, wenn wir komplexe Asanas wie den Kopfstand lernen, vor allem, wie wir lernen und welche mentalen Muster wir in uns vorfinden, zum Beispiel Selbstzweifel oder Ängste, die uns hindern, unsere Pläne in die Tat umzusetzen.

Wer sich auf den Yogaweg macht, wird bald feststellen, dass er im Laufe seines Lebens viele Denkweisen erworben hat, mit denen er sich belastet, sein Leben erschwert und sich selbst Druck macht.

Diese Erfahrung haben Sie sicherlich auch gemacht, denn kaum einer von uns ist innerlich so frei, dass er nicht versuchen würde, den Leitlinien unserer Leistungsgesellschaft zu folgen, die verlangt, dass alles immer noch höher, schneller, weiter und besser geht. Von Kindheit an wird uns eingebläut, was wir noch alles brauchen, um endlich perfekt zu werden.

Innere Freiheit statt Leistungsdruck

Den Yoga interessiert hingegen, wie wir all das loswerden können, was unsere natürlichen Fähigkeiten und unsere Vollkommenheit verdeckt. Er geht davon aus, dass in jedem Menschen alles gut und richtig angelegt ist und dass wir – wenn wir günstige Bedingungen schaffen – wie jede Blume auf vollkommene Weise erblühen werden. Deswegen ist er eher ein Weg des Reinigens und Loslassens.

Um solche günstigen Bedingungen zu schaffen, hat uns der Yoga nicht nur unzählige hilfreiche und erprobte Übungen wie Körperhaltungen (Asana) und Atemlenkungen (Pranayama), Energiearbeit (Mudra, Bandha) und Meditation überliefert, sondern vor allem auch eine tiefgründige und zeitlose Philosophie. Sie liefert uns all die Konzepte für unsere Übungspraxis, die wir brauchen, um eine Neuausrichtung unseres Lebens einleiten zu können und sie im Alltag zu integrieren.

Yogaphilosophie, zum Beispiel das Yoga-Sutra des Weisen Patanjali, vermittelt uns Richtlinien für günstiges Denken und Handeln und schenkt uns Lebensweisheit. Sie gibt uns Leitlinien, mit deren Hilfe wir uns »verankern« können, um stabil im Getriebe des täglichen Lebens zu ruhen und um in unserer Mitte zu bleiben.

Achtsam und bewusst statt akrobatisch

Fortgeschritten zu üben heißt nicht nur, immer beweglicher und kräftiger zu werden, sondern vor allem zu lernen, immer bewusster und achtsamer mit sich umzugehen. Dafür brauchen wir zuerst einfache Übungen. Wenn wir uns zu früh einer komplexen und vielleicht sogar akrobatischen Übungspraxis widmen, benötigen wir alle Aufmerksamkeit dafür, den vielen Anforderungen der Form, der Ausrichtung (Alignment) und der Selbstkorrektur zu genügen. Das heißt, dass unsere Aufmerksamkeit zwar geschult wird, aber doch eher mit der äußeren Form beschäftigt bleibt.

Wenn wir dagegen zu einfachen Übungen (zurück-)finden, können wir die Form leichter meistern und haben dann die Möglichkeit, unsere Bewegungs-, Atem-, Denk- und Fühlmuster während des Übens zu beobachten. So lernen wir etwas über uns, und wir finden übend einen Freiraum, die Konzepte des Yoga anzuwenden und sie in die Praxis umzusetzen.

Immer wieder Anfänger sein

Als Anfänger begegnen wir allem, was wir auf dem (Yoga-)Weg erleben, frisch und unvoreingenommen. Wir sind neugierig, und unser Gehirn ist offen für sämtliche Eindrücke und sehr aktiv.

Je öfter wir jedoch etwas tun, desto eher meinen wir, es zu kennen. Wir entwickeln Routine – und unser Gehirn interessiert sich nicht mehr so sehr für das, was wir gerade tun. Plötzlich merken wir beim Üben, dass wir mit den Gedanken ganz woanders sind. Tatsache ist aber, dass kein Mensch jemals dasselbe zweimal tut, denn wir sind jeden Tag anders. Wenn Sie sich das bewusst machen, fällt es Ihnen vielleicht leichter, die Yogaübungen jedes Mal neu zu entdecken und ihnen mit voller Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu begegnen.

»Yoga ist die Fähigkeit, sich ausschließlich auf einen Gegenstand, eine Frage oder einen anderen Inhalt auszurichten und in dieser Ausrichtung ohne Ablenkung zu verweilen«, heißt es in einer Übersetzung des Yoga-Sutra. Diese Fähigkeit ist Ausdruck einer fortgeschrittenen Yogapraxis, in der wir die Übungen und die Philosophie des Yoga immer wieder neu erforschen und damit ein Leben lang Lernende bleiben. Jedes Mal, wenn wir unsere Yogamatte betreten, entdecken wir Neuland. Jedes Mal sind wir eingeladen, zu experimentieren und vollkommen neue Erfahrungen zu machen.

So wird der Weg zum Ziel, denn das, was zählt, ist unsere Erfahrung hier und jetzt, unsere absolute Geistesgegenwart und Präsenz. Das ist wichtiger als »Resultate« in Form perfekter Asanas – geht es doch darum, dass dieses Da-Sein durch uns hindurch zu strahlen beginnt. Die Erfahrung, »im Yoga zu sein«, ist ein Moment großer Verbundenheit und reiner Freude. Freude am Yoga ist auch der treibende Motor von uns Autoren. Obwohl wir bisher ganz unterschiedliche Yogawege beschritten und dort ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, finden wir uns doch immer wieder vereint in unserer großen Liebe zum Yoga.

Wir wünschen Ihnen, dass Sie auch in der schlichtesten Yogaübung diese Freude und Verbundenheit finden. Denn sie zeigt Ihnen, dass Sie auf dem richtigen Weg sind: dem Yogaweg.

Anna Trökes

Dr. Ronald Steiner

Hatha-Yoga

Yoga für Körper, Geist & Seele

DER WEG DES HATHA-YOGA

»Derjenige, der unermüdlich Yoga in all seinen Aspekten übt, hat Erfolg – egal ob er jung, alt, greisenhaft ist oder sogar krank oder schwach.« (Hatha-Yoga-Pradipika I,64)

Im Hatha-Yoga sind all das Wissen, die Weisheit und die Erfahrungen aus vielen Jahrhunderten der Yogapraxis versammelt. Er bildet eine Synthese aus Körperübungen, bewusster Atmung, Energiearbeit, Konzentrations- und Meditationsübungen sowie ethischer Lebensführung, die die Menschen in ihrer Gesamtheit ansprechen und sie darin unterstützen wollen, ihr volles Potenzial zu entfalten.

Der Hatha-Yoga entwickelte sich ab dem 8. Jh. n. Chr. in Indien. In dieser Zeit erlebte die indische Kultur eine revolutionäre Bewegung, Tantrismus genannt, die sich vehement dagegen wandte, dass die Priester die Ausübung religiöser Praktiken immer mehr an sich rissen und den Kult einer strengen Lebens- und Körperfeindlichkeit pflegten.

Der Tantra entwickelte sich mit seinen vielfältigen Techniken, um den Menschen in ihrem alltäglichen Leben, durch ihren Körper, ihren Atem, vermittels ihrer Sinne und ihrer Gefühle wieder eine direkte Gotteserfahrung zu ermöglichen. Die Meister des Tantra sagten, dass dieses Göttliche, das jeder erfahren kann, keine Form und kein Abbild braucht. Sie lehrten, dass wir Gott erfahren können, indem wir uns vollkommen der Kraft des Lebendigen in uns öffnen und uns bewusst werden, dass wir mittels jeder lebendigen Zelle in unserem Körper an dieser Energie teilhaben, die im Yoga Prana genannt wird.

Hatha-Yoga versteht sich folglich als ein Energieyoga oder Prana-Yoga. Alle Techniken, die – so heißt es – der große Gott Shiva persönlich den Menschen offenbarte, haben zum Thema, uns unsere Lebensenergie erfahren zu lassen, und zwar sowohl in ihrem freien Strömen als auch in den Blockierungen, die einen freien Fluss behindern.

Alle Methoden des Hatha-Yoga wurzeln im tantrischen Schöpfungsmythos und seinen Bewusstseinskonzepten.

Der tantrische Schöpfungsmythos

Jeder einzelne Übungsschritt des Hatha-Yoga-Wegs lässt sich aus diesem Mythos ableiten, der erklärt, wie sich einst das Bewusstsein zu Materie verdichtete und wie wir Menschen den Weg zum reinen Bewusstsein zurückgehen können.

Vom reinen Bewusstsein zur Materie

Es heißt in diesem Mythos, dass am Anfang der Zeiten das reine göttliche Bewusstsein – Para Shiva – in sich ruhte. Es war ohne Form und Raum, ewig und vollkommen regungslos. Irgendwann keimte in Para Shiva der Wunsch auf, sich selbst zu erfahren. Das Wünschen bewirkte, dass aus Shiva heraus die Schöpfungskraft Shakti entstand. Sie leitete nun einen Prozess ein, in dem sie das gesamte Universum und die Menschen erschuf, also die materielle Substanz, die nötig war, damit das reine Bewusstsein Erfahrungen machen konnte.

Als Allererstes manifestierte sich in diesem Schöpfungsprozess der Klang (Nada). Wo vorher nur unermessliche Stille war, breitete sich nun die Schwingung des Urtons aus, der bis heute im Klang des Mantras OM verehrt wird. Klang ist reine Energie (Prana) und Schwingung (Spanda), die sich von einem Zentrum aus in alle Richtungen ausdehnt.

Shakti erkannte, dass die Schöpfung einen richtigen Ausgangspunkt brauchte, und erschuf einen Punkt (Bindu) als Urform aller Materie. Dann entstanden Zeit (Kala) und Raum (Kha). Da das reine Bewusstsein unermesslich ist, begann sie, es einzufalten, damit es erfahrbar werden konnte. Es wurde zum Bewusstseinspotenzial (Buddhi), das alles umfängt, was je objektiv gewusst werden kann.

In einem nächsten Schritt erschuf sie den »Ich-Macher« (Ahamkara), durch den das Bewusstsein in jeden einzelnen Menschen so eingepasst wurde, dass er sich als ein einzigartiges Wesen, als ein Individuum, erfahren kann. Im nächsten Schritt entstand der individuelle und subjektive Geist (Manas), der geformt wird aus all den Erfahrungen, Eindrücken und Prägungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens erfährt.

Nun schuf Shakti die Sinnesorgane (Indriyas):

die Geistesfähigkeiten oder Instrumente des Wahrnehmungsvermögens (Jnanendriyas – Riechen, Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken) und die Instrumente des Tatvermögens (Karmendriyas – Sprechen, Greifen, Gehen, Ausscheiden, Zeugen), wozu die subtilen Elemente (Tanmatras – Laut, Berührung, Gestalt/Form, Geschmack, Geruch) gehören.

Schließlich bildete Shakti noch die grobstofflichen Elemente (Mahabhutas – Raum/Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde), aus denen sich die Materie zusammensetzt. Damit war der Schöpfungsprozess abgeschlossen.

Der Weg zurück

Der Mythos sagt, dass sich die Schöpfungskraft mit jedem Schritt ihrer Materialisierung zunehmend verdichtete, indem sie einen Schleier (Maya) um sich legte, gewebt aus der von ihr erschaffenen Materie. Am Ende des Prozesses lagen so viele Schleier übereinander, dass Shakti nicht mehr erkennen konnte, dass sie ursprünglich dem reinen, formlosen, unendlichen und ewigen Bewusstsein entstammt. Es heißt, dass sie sich in Form einer Schlange dreieinhalbmal einrollte (Kundala) und dann an der Basis der Wirbelsäule der Menschen in tiefen Schlaf fiel. Dort ruht sie in Form der Kundalini als inaktive Bewusstseinsenergie, bis wir sie mit der Hilfe des Yoga erwecken.

In der Mythologie des Hatha-Yoga kennt man die Shakti in vielen Formen. Sie ist die intelligente Kraft, die in Form der Lebensenergie Prana alle Prozesse steuert, die zum Beispiel unseren Körper am Leben erhalten, oder die Zyklen in der Natur.

Sie ist die Große Mutter, die sich ständig um ihre Schöpfung kümmert, sie nährt und umsorgt. Ein Ausdruck dieser mütterlichen, fürsorglichen Kraft ist es, dass sie in jedem Menschen die Sehnsucht wachhält, zum Urgrund des Seins im reinen Bewusstsein zurückzufinden, und dass sie Shiva veranlasst, den Menschen die Werkzeuge in Form der Yogatechniken zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um den Weg auch gehen zu können.

Jede Technik des Hatha-Yoga dient als ein Trittstein auf dem Weg von einem Bewusstsein, das sich nur an materiellen Werten orientiert, zurück zu einem Bewusstsein des Aufgehobenseins im Göttlichen, das vollkommen frei von allen Bedürfnissen und Anhaftungen ist.

Der Weg durch die Chakras

Im tantrischen Schöpfungsmythos wird der Prozess der Schöpfung, in der der Geist sich materialisiert, als Involution (Einfaltung) angesehen. Wenn sich der Mensch auf dem Weg des Hatha-Yoga allmählich wieder vergeistigt, wird das als Evolution (Entfaltung) angesehen. Das, was sich entfaltet, ist unser Bewusstsein. Es erweitert und verfeinert sich, wenn wir zu begreifen beginnen, dass wir nicht nur unser Körper sind und auch nicht nur unsere Gedanken und Gefühle, und wenn uns bewusst wird, mit welcher Eigenständigkeit und Intelligenz die Kräfte des Lebens in jedem Moment in uns wirksam sind.

Die Tantrameister sagen, dass das Bewusstsein dabei von Chakra zu Chakra aufsteigt. Chakra heißt wörtlich Rad, Schwungrad und meint einen Bereich im Körper, in dem wir eine ganz spezielle Bewusstseinsebene erfahren können – im Wurzelchakra an der Basis des Beckens zum Beispiel das Verwurzeltsein und das Sichgründen in unserem Leben, in unserer Herkunft und in unserem Körper. Wenn die schlafende Bewusstseinsenergie Kundalini durch Asana, Pranayama, Bandha oder Mudra erwacht und sich zu regen und aufzusteigen beginnt, erfüllt sie jedes Chakra, das sie berührt, mit Leben und Bewusstheit. Dann können wir in jedem Chakra die Lebensthemen dieses ganz speziellen energetischen Raums erfahren, und wir können erkunden, wo es Blockierungen gibt und welche Potenziale wir in unserem Leben bezogen auf diese Themen noch entfalten können.

Normalerweise geschieht der Aufstieg der Kundalini allmählich, sodass wir in Ruhe unsere inneren Prozesse durchlaufen können und Zeit finden, alles, was wir erkennen, aber auch die Energie, die wir dadurch freisetzen, zu integrieren.

Die Übungen des Hatha-Yoga können aber auch so angewandt werden, dass sie sehr stark auf die ruhende Kraft einwirken, sodass sie abrupt erwacht und das Bewusstsein sich schlagartig erweitert.

Solche »Kundalini-Unfälle« gab es früher relativ häufig, da der Hatha-Yoga als ein »Weg der gewaltsamen Anstrengung« missverstanden wurde und mit sehr viel Ehrgeiz und Leistungsdruck geübt wurde. Heute wissen wir, dass es günstiger ist, darauf zu achten, dass sich unser Bewusstsein nur behutsam und schrittweise entfaltet, was sich auch in einer achtsameren und behutsameren Übungspraxis widerspiegeln sollte.

Offen und durchlässig werden

Das Öffnen der Chakras lässt sich nicht erzwingen, denn der Entfaltungsprozess der Bewusstseins- und Lebensenergie folgt in der Regel seinen ureigensten Gesetzen. Oft merken wir selbst gar nicht die damit einhergehende Wandlung, sondern finden sie nur im Verhalten beziehungsweise in den Äußerungen unserer Umgebung gespiegelt.

Alles, was wir tun können, besteht darin, regelmäßig möglichst alle Methoden des Hatha-Yoga zu üben, um blockierte Energie wieder in Fluss zu bringen, um physische und mentale Kraft aufzubauen und vor allem, um zu lernen, uns immer tiefer und umfassender zu entspannen. Die tantrischen Meister haben über die Jahrhunderte immer wieder darauf hingewiesen, dass die wichtigste »Technik« darin besteht, offen und durchlässig für das zu werden, was das Leben uns schenken möchte, und darauf zu vertrauen, dass wir darin unterstützt werden, unser volles Potenzial zu entfalten und es zum Wohle aller Wesen einzusetzen.

Vayus: fünf Formen der Lebensenergie

Die Lebensenergie Prana wird im Yoga als die Kraft angesehen, die selbstständig, bewusst und intelligent alle Prozesse des Lebens in unserem Körper kontrolliert und regelt. Sie wird in fünf Aspekte mit speziellen Aufgabenbereichen unterteilt.

Alle fünf Vayus sollen aktiv und generell untereinander ausgeglichen sein. Um diesen Ausgleich zu ermöglichen, wurden die Asanas und Pranayamas bestimmten Vayus zugeordnet:

alle Rückbeugen, jede Übungspraxis, die den Einatem betont, sowie Jalandhara Bandha aktivieren Prana-Vayu;

alle Vorbeugen, jede Praxis, die den Ausatem betont, und Mula Bandha aktivieren Apana-Vayu;

alle Drehhaltungen, einige Gleichgewichtshaltungen, Feueratem, Bhastrika, Atempausen in der Atemfülle und Uddiyana Bandha aktivieren Samana-Vayu;

Mantras, Mudras und Ujjayi Pranayama aktivieren Udana-Vayu;

Bewegungsabläufe, Asana-Flow, dynamische Kundalini-Yoga-Praxis aktivieren Vyana-Vayu.

Samana-Vayu oder Agni, das Verdauungsfeuer

Der Aktivierung von Samana-Vayu, auch Agni oder Verdauungsfeuer genannt (>), kommt im Hatha-Yoga eine besondere Bedeutung zu, denn das Feuer soll uns helfen, all das zu verbrennen, was uns belastet und beschwert – sowohl in physischer Hinsicht als überflüssige Pfunde als auch im übertragenen Sinn als Egoismus, Negativität, Engstirnigkeit, Unsicherheit, Trägheit und so weiter. Besonders die Praxis der Bandhas soll uns ermöglichen, unser inneres Feuer anzufachen und damit umfassende Reinigungs- und Läuterungsprozesse einzuleiten. Auch heißt es in den Hatha-Yoga-Texten, dass nur derjenige, der intensiv »Feuer gefangen« hat für diesen Yogaweg und der »Feuer und Flamme« für die damit einhergehenden Veränderungen, Wandlungen und Entwicklungen ist, auch tatsächlich die Kundalini wecken wird und sie dazu bewegt, aufzusteigen und dabei die Chakras zur Entfaltung zu bringen.

Gunas: Schwingung der Lebensenergie

Der tantrische Schöpfungsmythos beschreibt alles, was erschaffen wurde, als Manifestation der ersten, ursprünglichen Energie. Die Tantriker entwickelten vor etwa 1500 Jahren auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und genauen Naturbeobachtungen ein erstaunlich modernes Verständnis davon, wie sich Materie zusammensetzt. Sie kamen zu der Ansicht, dass das, was sich uns als feste Materie darstellt, vor allem aus Energie (Prana) und Schwingung (Spanda) besteht. Je dichter die Materie, desto dichter und langsamer ist die Schwingung, während feine Energie – wie Gedanken – ganz fein und schnell schwingt. Die Meister des Tantra gingen also von der Vorstellung aus, dass Materie nicht statisch ist, sondern vielmehr in sich vibriert und sich unaufhörlich wandelt. Das bestätigt heute die moderne Teilchenphysik.

Um eine Welt darzustellen, die sich auf der Schwingung energetischer Wellen aufbaut, entwickelten sie das Konzept der drei Aktivitätsformen der Lebensenergie, die Gunas (wörtlich: Fäden, aus denen alle Materie gewebt ist). Das Konzept besagt, dass sich zwei Grundkräfte als Pole gegenüberstehen: das Bewegte (Rajas) und das Träge (Tamas). Diese beiden Kräfte sind in jeder Materie wirksam und formen diese – je nach ihrer Gewichtung. Überwiegt Rajas (wörtlich: wehender roter Sand), dann ist die Materie instabil und flüchtig, wie zum Beispiel alles Flüssige (Blut) oder Luftige.

Überwiegt Tamas, dann ist die Materie dicht »gewebt«, stabil und nur schwer verformbar, wie zum Beispiel alles Felsige oder Stützende (Knochen).

Keine dieser energetischen Qualitäten der Gunas Rajas und Tamas kann ohne die andere bestehen, da sie sich in einem ständigen dynamischen Zusammenspiel befinden, in dem mal die eine, mal die andere Qualität an Dominanz gewinnt. Finden sie in ein Gleichgewicht, entsteht eine dritte Qualität: das Ausgeglichene, Sattva genannt.

Alles Leben bewegt sich ununterbrochen zwischen den beiden Polen »bewegt/ruhend« hin und her, wobei wir mal mehr dem einen, mal mehr dem anderen Pol zuneigen. Wird einer dieser Pole auf Dauer übermächtig, entsteht ein starkes energetisches Ungleichgewicht, das uns auf Dauer krank machen kann.

Die Yogapraxis soll uns darin unterstützen, unsere gerade aktuell vorherrschende energetische Ausrichtung wahrzunehmen und mittels der Asanas und Pranayamas Maßnahmen zu ergreifen, uns wieder auf das Sattvische, auf das innere Gleichgewicht, auszurichten. So empfiehlt es sich, wenn wir uns träge und schwer fühlen, eine intensive, erhitzende – rajasische – Praxis mit vielen Bewegungsabläufen zu wählen, und wenn wir ohnehin schon hitzig und aufgewühlt sind, eine ruhige, stabilisierende Praxis mit Standhaltungen und Umkehrhaltungen zu bevorzugen.

Nadis: Wege der Lebensenergie

Die Lebensenergie Prana, die unseren Körper ununterbrochen durchströmt, fließt nach Ansicht der Hatha-Yogis in feinen Kanälen, Nadis genannt.

Es gibt angeblich 84000 dieser feinen und feinsten Kanäle, die den Meridianen der chinesischen Übungs- und Heilwege vergleichbar sind. Es heißt, dass sie alle einer Art Knolle im Unterbauch entspringen, Kanda genannt. Kanda gilt im Hatha-Yoga als der Mittelpunkt des Energiekörpers (Prana-Maya-Kosha, >), das heißt als der Bereich, in dem wir energetisch unsere Mitte finden und in dem wir uns so tief niederlassen können, dass uns nichts mehr im Leben umzuwerfen vermag.

Unter den unzählig vielen Nadis werden drei als ganz besonders bedeutsam angesehen: Ida, Pingala und Sushumna (siehe Abbildung >).

Ida ist der Energiekanal, welcher der linken Seite und dem linken Nasengang zugeordnet ist. In Ida-Nadi bewegt sich der mondhafte, kühlende und passive Aspekt der Energie.

Pingala ist der Energiekanal, welcher der rechten Seite und dem rechten Nasengang zugeordnet ist. In Pingala-Nadi bewegt sich der sonnenhafte, wärmende und aktive Aspekt der Energie.

Beide Nadis steigen in Spiralform in dreieinhalb Umdrehungen um die Wirbelsäule herum auf.

Ida-Nadi entspringt auf der rechten Seite des Kanda und führt zum linken Nasengang; Pingala entspringt auf der linken Seite des Kanda und führt zum rechten Nasengang.

Diese beiden Nadis stehen symbolisch für die Welt der Polarität, in deren Spannungsfeld wir normalerweise leben und in der wir uns ständig zwischen den Polen von Tag und Nacht, Aktivität und Ruhe, Anziehung und Abstoßung, Licht und Dunkel hin- und herbewegen. Meist befindet sich diese Bewegung nicht im Gleichgewicht, da wir in der Regel mehr dem einen Pol als dem anderen zugeneigt sind – zum Beispiel als ein eher aktiver oder eher ruhiger Mensch.

Eines der großen Arbeitsfelder des Hatha-Yoga ist deswegen der Ausgleich dieser polaren Energien, so wie wir es auch schon beim Konzept der Gunas Tamas (ruhig), Rajas (aktiv) und Sattva (ausgeglichen) auf >/> beschrieben haben. Während das Gleichgewicht der Gunas als unauflösbar instabil angesehen wird, da ihr Rhythmus immer auch den pulsierenden Rhythmus des Lebens widerspiegelt, suchen die Yogis auf einer subtileren Ebene einen Weg, das Wirken der Polarität zu beenden.

Dafür entwickelten sie das Konzept der Mitte (Madhya), die als ein Raum gesehen wird, in den hinein die polaren Gegensätze mit Hilfe der Yogapraxis aufgelöst werden können.

Die Mitte wird auch durch den dritten und wichtigsten Energiekanal symbolisiert: Sushumna (wörtlich: die sehr Gnädige). Es heißt, dass diese Nadi in der Mitte der Wirbelsäule verläuft. Solange wir in der Welt der Polaritäten leben, ist diese Nadi inaktiv, und ihr Eingang am Kanda wird durch den Kopf der Kundalini (dem in uns schlafenden Bewusstseinspotenzial) verschlossen. Sobald wir mit den Mitteln des Yoga tief und intuitiv verstehen lernen, dass jede Polarität nur zwei Seiten des Einen widerspiegelt, erwacht die Kundalini aus ihrer Schlangenform und wandelt sich wieder in reine Bewusstseinsenergie (Prana Shakti). Als diese steigt sie über die Sushumna-Nadi von Chakra zu Chakra auf, wodurch sich auf jeder dieser Ebenen die Erfahrung des Einsseins und das Wissen um den einen Ursprung aller Schöpfung im reinen Bewusstsein (Para Shiva) vertieft und stabilisiert.

Koshas: Ebenen der Lebensenergie

Wie jeder Mensch an sich selbst nachvollziehen kann, setzen sich unser Körper und unsere Persönlichkeit nicht nur aus Fleisch und Blut zusammen. Die Meister des Yoga unterscheiden fünf Erfahrungsebenen unseres Seins, die sie Kosha (wörtlich: Hülle) nennen.

Keine dieser Hüllen kann für sich allein gesehen werden, da sie alle ständig aufeinander einwirken, und zwar so, dass immer die feinere Hülle die gröberen Hüllen beeinflusst –zum Beispiel so, wie unsere geistige Verfassung unsere körperliche Befindlichkeit beeinflusst. Gleichzeitig wussten die Yogis aber auch, dass wir über das Einwirken auf unseren Körper und auf den Atem die Befindlichkeit unseres Energie- und Mentalkörpers beeinflussen können.

Der Weg des Körpers – Kaya Sadhana

Im Gegensatz zu vielen der früheren Yogawege zieht der Hatha-Yoga den Körper ganz bewusst mit in die Übungspraxis ein.

Die Meister des Hatha-Yoga waren der Ansicht, dass unser Körper der einzige »Ort« ist, an dem wir Erfahrungen machen können. Sie sahen den Körper als den »Ort der Wahrheit«, der uns zu jedem Zeitpunkt widerspiegelt, in welcher energetischen oder mentalen Verfassung wir uns befinden und in welchem Maße wir unserem inneren Wissen, unserem inneren Licht und der Freude gerade verbunden sind.

Der Körper ist für sie der Ort der Selbsterforschung und der Selbsterfahrung, die uns einzig mittels seiner Wahrnehmungsorgane und der auf allen Ebenen unseres Seins stattfindenden Verarbeitung des Wahrgenommenen möglich ist.

Der Hatha-Yoga schenkt uns mit seinen Übungen eine Vielfalt von Möglichkeiten, auf jede Ebene/ auf jedes Kosha einzuwirken. Unter allen Einwirkungen steht zuallererst die Reinigung von dem, was uns belastet und beschwert. Deshalb versteht sich der Hatha-Yoga – wie viele andere Yogawege auch – hauptsächlich als ein Weg der Reinigung, der auf alle Koshas einwirkt.

Reinigung aller Koshas

Im Anna-Maya-Kosha geht es darum, mithilfe bestimmter Atemübungen und durch das Anfachen des Verdauungsfeuers alles zu verbrennen, was den Körper belastet und sein reibungsloses Funktionieren beeinträchtigt.

Im Prana-Maya-Kosha geht es um das Reinigen von destruktiven und unheilsamen Energien in unseren Emotionen (zum Beispiel Neid, Eifersucht, Angst) und darum, sie durch günstige und heilsame Emotionen (zum Beispiel Mitfreude, Toleranz, Vertrauen) zu ersetzen.

Im Mano-Maya-Kosha geht es um das Reinigen von ungünstigen und unheilsamen Gedankenmustern – diese zeigen sich zum Beispiel in der Neigung, immer an allem zu zweifeln, in negativem Denken oder Zynismus. Sie sollen ersetzt werden durch förderliche und heilsame Gedanken, die eine konstruktive und positive Sichtweise bestärken. Die symbolischen Namen bestimmter Asanas und Pranayamas (der Held, die Siegreiche) sollen dies unterstützen.

Im Vijnana-Maya-Kosha geht es darum, sich von all den Zweifeln zu befreien, die sich auf unsere Intuition und unser inneres Wissen beziehen. Sie sollen ersetzt werden durch ein tiefes Vertrauen auf die uns innewohnende Weisheit und Klarheit, die durch die Zweifel nur verdeckt werden. Der Yoga bietet verschiedene Methoden an, die uns in Kontakt mit unserem inneren Sein bringen – zum Beispiel die Mudras.

Im Ananda-Maya-Kosha geht es darum, uns von dem zu befreien, was verhindert, dass wir uns ein Leben in Freude und Verbundenheit zugestehen. Hier zeigt uns der Yoga, wie wir lernen können, uns in unserer ganzen Großartigkeit, Schönheit und Vollkommenheit anzuerkennen und unser Licht zum Wohle aller Wesen zum Leuchten zu bringen.

Alle Übungen des Hatha-Yoga zielen immer auf alle fünf Koshas. Es gibt in diesem System also keine reinen Körperübungen, da unser Körper immer auch in dem großen Zusammenhang von Atem, Geist und Gemüt gesehen wird. Diese Ebenen sind durch unseren Energiekörper unauflöslich miteinander verwoben.

GRUNDLAGEN DES ÜBENS – Konzepte und begriffe

In den Grundlagentexten Yoga-Sutra und Hatha-Yoga-Pradipika wird deutlich dargelegt, dass unser Üben bestimmte Qualitäten aufweisen muss, um wirklich etwas in uns bewirken zu können.

Auch benennen diese Texte uns genau alle Faktoren, die unsere Praxis behindern oder sich günstig auf sie auswirken werden.

Das Zeichen für OM, den Urton der Welt.

Auch wenn sich diese Vorschläge vor allem auf unsere Yogapraxis beziehen, können wir sie doch sehr wohl als Ratschläge für alle Projekte verstehen, die wir im täglichen Leben verfolgen. So wird ein Leben, das den Regeln des Yoga folgt, zu einer wahren Lebenskunst, sodass für viele Übende Yoga und Alltag nach einigen Jahren nicht mehr voneinander getrennt sind, weil die Prinzipien der yogischen Lebensführung auf alle Situationen des täglichen Lebens angewandt werden.

Die drei Qualitäten der Übungspraxis

»Unsere Yogapraxis muss drei Qualitäten vereinigen: Klärung, Selbstreflexion und Akzeptanz unserer Grenzen.« (Patanjali, Yoga-Sutra II,1.)

Die erste der drei Qualitäten ist Tapas (wörtlich: Glut, Glühen, Brennen, Verzicht, Askese). Wir brauchen eine Empfindung der inneren Glut, des inneren Brennens, des »Heiß-darauf-Seins«, um in unserem Leben die Prioritäten setzen zu können – und setzen zu wollen –, die uns den Freiraum für eine Übungspraxis geben. Klärung meint, dass uns klar werden muss, was uns in unserem Leben wichtig ist und worauf wir unsere Energie ausrichten wollen. Wenn wir diesen Prozess der Klärung durchlaufen haben, der dadurch zustande kommt, dass wir »darauf brennen, Yoga zu üben«, werden wir gerne und selbstverständlich bereit sein, auf etwas zu verzichten. Wir werden zum Beispiel gerne darauf verzichten, am Morgen länger im Bett zu bleiben, weil es uns eindeutig wichtiger ist, genügend Zeit für unsere Übungspraxis zu haben.

Die zweite der Qualitäten ist Svadhyaya (wörtlich: sich selbst nahekommen, Selbststudium). Indem wir Einkehr halten und uns Zeit nehmen, uns innerlich zu erforschen, können wir uns darüber klar werden, welche Form der Übungspraxis wir brauchen (zum Beispiel eine, die uns anregt, oder eine, die uns beruhigt), und verstehen lernen, wie sich dieses Üben auf uns auswirkt. Die Selbstreflexion erlaubt es uns auch zu erkennen, welche unserer alltäglichen Muster uns auf der Yogamatte wieder begegnen: zum Beispiel Vermeidungshaltungen, Ehrgeiz oder Perfektionsdrang. Sie erlaubt uns zu spüren, wie sich solche mentalen Muster im Geist, im Körper und auf unseren Atem auswirken.

Indem wir uns selbst erforschen, kommen wir uns näher, lernen uns besser kennen, und wir entwickeln und verfeinern die im Yoga und im Leben so wichtige Qualität der Selbstwahrnehmung. Sie wird uns ermöglichen, nach und nach immer genauer zu wissen, womit wir uns guttun und womit wir uns schaden. Dadurch können wir zu einer Übungspraxis finden, die fein auf unsere jeweils aktuellen Bedürfnisse abgestimmt ist und uns in jeder Beziehung unterstützt und nährt.

Die dritte Qualität ist Ishvara pranidhana (wörtlich: hingebungsvolles Handeln, Hingabe an ein höheres Prinzip). Wenn wir unser Handeln einem höheren Prinzip widmen – im Sinne von:

»Dein Wille geschehe« –, dann sind wir uns bewusst, dass wir die wahre Dimension dessen, was wir erfahren, nie ganz verstehen können. Das hilft uns, unsere eigenen Begrenzungen eher zu akzeptieren. Wir brauchen diese Qualität zum Beispiel, wenn wir im Körper Bereiche spüren, die trotz allem Üben nie wirklich beweglich werden. Wir können nun annehmen, dass die Unbeweglichkeit zum Beispiel unserer Stabilität dient und dass sie uns ganz andere Erfahrungen ermöglicht, als wenn wir uns leicht verbiegen könnten. Dann werden wir nicht mit unserer Steifigkeit kämpfen müssen, sondern sie als aktuell gegeben akzeptieren und das Beste aus dieser Gegebenheit machen. So können wir hingebungsvoll und friedvoll weiter üben, ohne uns mit unrealistischen Zielvorgaben zu stressen und eventuell sogar zu verletzen. Wir können entspannt bleiben und werden dadurch wahrscheinlich weiter kommen in unserer Übungspraxis, als wenn wir immer versuchen würden, unsere Grenzen zu überwinden.

Die Yogis gehen davon aus, dass jeder Mensch unendlich viel Zeit hat, das zu lernen, was er lernen soll. Ishvara pranidhana hilft uns, geduldig und nachsichtig mit uns selbst umzugehen und uns nicht so sehr auf die Resultate unserer Yogapraxis zu fixieren, sondern damit zufrieden zu sein, dass wir überhaupt üben und in unserem ureigensten Tempo vorankommen.

Beharrlichkeit und Gelassenheit

»Durch Üben (Abhyasa) und durch die Fähigkeit loszulassen (Vairagya), kann unser Geist den Zustand von Yoga erreichen. Üben bedeutet, dass wir eine passende Anstrengung auf uns nehmen, mit dem Ziel, uns dem Zustand von Yoga anzunähern, ihn zu erreichen oder ihn aufrechtzuerhalten«, sagt Patanjali im Yoga-Sutra (I,12/13). Ganz Ähnliches finden wir in der Hatha-Yoga-Pradipika: »Derjenige, der unermüdlich Yoga in all seinen Aspekten übt, hat Erfolg, egal ob er jung, alt, greisenhaft oder sogar krank und schwach ist. Erfolg wird erreicht von denen, die üben. Wie kann jemand etwas erreichen, ohne zu üben? Erfolg im Yoga kann nicht dadurch erlangt werden, indem man lediglich Bücher liest.« (HYP I,64/65)

Alles, was wir je in unserem Leben gelernt haben, haben wir uns durch beharrliches Üben angeeignet. Wenn wir uns klarmachen, wie wir laufen lernten, dann wissen wir, dass wir endlos viele Versuche brauchten, bis wir tatsächlich allein unsere ersten Schritte machten. Wir übten mit unglaublicher Ausdauer und Beharrlichkeit – im Yoga Abhyasa genannt – und waren durch nichts zu entmutigen oder von unserem Ziel abzubringen. Wir nutzten jede sich bietende Gelegenheit, um zu lernen, uns aufzurichten und zu laufen, und nahmen dabei immer genau die passende Anstrengung auf uns.

Gleichzeitig übten wir weder verbissen noch fanatisch oder so, dass es über unsere Kräfte ging. Wir taten vielmehr in aller Gelassenheit genau das, was wir zu diesem Zeitpunkt tun konnten. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. Wir übten das Laufen ohne inneren Druck ein, hätten es aber auch nicht schneller gelernt, wenn uns unsere Eltern Druck gemacht hätten.

Diese Qualität des Übens in Gelassenheit wird im Yoga Vairagya (wörtlich: frei von Gier) genannt.

Abhyasa bewirkt, dass wir immer wieder auf die Matte gehen beziehungsweise uns im Alltag an die Prinzipien des Yoga erinnern und sie anwenden.

Vairagya verleiht uns die nötige Nachsicht und Geduld, um damit klarzukommen, dass jedes Lernen, aber auch jede Veränderung oder Wandlung Zeit braucht, und hilft uns zu vertrauen, dass wir mit unserem Üben auf dem richtigen Weg sind.

Der Yogi übt die Haltung des Pfaus, die alle Gifte neutralisiert, symbolisch auf einem Tigerfell, um zu zeigen, dass er seine Sinne und Triebe kontrollieren kann. Die blaue Farbe weist den Yogi als einen Anhänger Shivas aus. Der verfärbte sich blau, als er das Gift der Welt schluckte, damit es den Menschen nicht schade.

Vertrauen ins eigene Tun

»Es ist Vertrauen (Shraddha), das uns die notwendige Kraft gibt, Widerstände erfolgreich zu überwinden und weiterzugehen, ohne die Richtung aus den Augen zu verlieren. Je stärker unser Vertrauen ist und je intensiver unsere Bemühungen sind, desto näher rückt das Ziel.« (Patanjali, Yoga-Sutra I,20/21)

Nur wenn wir uns selbst zutrauen, das gewünschte Ziel irgendwann und in irgendeiner Weise zu erreichen, und wenn wir den Inhalten und Methoden des Yoga vertrauen, können wir all die Hindernisse erfolgreich überwinden, die sich uns in den Weg stellen. Als größtes Hindernis gelten unsere allgegenwärtigen (Selbst-)Zweifel; und die einzige Geisteshaltung, die tatsächlich diese destruktive Kraft ausgleichen kann, ist unser Selbstvertrauen und unser Vertrauen an sich.

Patanjali bemerkt, dass es natürlich sei, wenn unser Vertrauen mal stärker und mal schwächer ausgeprägt ist, je nach den Umständen und auch abhängig von unserer Erziehung. Aber das Yoga-Sutra macht auch deutlich, dass wir Vertrauen (wieder) einüben können beziehungsweise dass wir in den Yogaübungen daran arbeiten können, unser (Selbst-)Vertrauen zu stärken – damit es zu einer der Quellen werden kann, aus der sich unser Beharrungsvermögen und unsere Ausdauer nähren.

Die sechs Hindernisse auf dem Yogaweg

»Dem Yoga stehen sechs Hindernisse im Weg:

übermäßige Nahrung, zu starkes Bemühen, Geschwätzigkeit, zu strenge Genügsamkeit, übermäßiger Kontakt mit Menschen und die Unbeständigkeit des Geistes.« (Hatha-Yoga-Pradipika I,15)

Hier wird schnell klar: Alles Zuviel oder Zuwenig ist ein Hindernis. Es geht um das rechte Maß, auch im Bemühen und in der Genügsamkeit, denn finden wir es nicht, laufen wir Gefahr, dass uns der Yoga erschöpft, krank macht oder sogar – im Sinne eines Burnout – verbrennt. Diese Gefahren einer unmäßigen Yogapraxis sind inzwischen genau untersucht und gut dokumentiert.

Geschwätzigkeit und übermäßiger Kontakt mit Menschen – heutzutage sicher auch vor allem über die sozialen Netzwerke und das Chatten – bewirken nach Ansicht der Yogameister, dass sich unsere Energie zu stark zerstreut. Sie wussten außerdem, dass es nicht gut ist, zu viel über das zu reden, was man im Yoga erlebt, und auch, dass es oft nicht gut ist, seine Erfahrungen mit jedermann zu teilen.

Viel zu oft zerreden wir nämlich das Erfahrene oder treffen bei Menschen, die nicht den Yogaweg gehen, auf Unverständnis, wodurch Zweifel und Bedenken verstärkt werden können.

Zu den Faktoren, die das Gelingen der Yogapraxis begünstigen, zählt die Hatha-Yoga-Pradipika sogar »das Aufgeben von menschlichen Beziehungen« (I,16). Damit ist gemeint, dass wir überlegen sollten, ob wir wirklich weiter Kontakt zu den Menschen pflegen wollen, die uns auf unserem Weg nicht unterstützen und unser inneres tiefes Anliegen, uns mithilfe des Yoga zu wandeln und zu entwickeln, nicht ernst nehmen.

Yamas & Niyamas: Richtlinien fürs Leben

Die Meister des Yoga haben sehr genau durchdacht, welche Lebensführung uns in unserem Anliegen, den Weg des Yoga zu gehen, unterstützen kann. Daraus entwickelten sie Vorschläge zum Umgang mit der Umwelt und den Mitmenschen (Yamas) und mit uns selbst (Niyamas). Es handelt sich nicht um Ge- und Verbote, sondern um Richtlinien für das, was sie als yogagemäßen Lebenswandel erkannten. Gegen die Yamas und Niyamas kann man nicht verstoßen wie gegen Gesetze, und man kann im Yoga auch nicht sündigen oder Schuld auf sich laden. Folgt man diesen Richtlinien nicht, ist die einzige Konsequenz, dass man sich selbst und anderen das Leben schwer macht.

Der Hatha-Yoga kennt zehn Yamas und zehn Niyamas, die auf den jeweils fünf Richtlinien im Umgang mit der Welt und uns selbst gründen, die im Yoga-Sutra vorgestellt werden.

Die Yamas

Die Niyamas

Gewaltlosigkeit (Ahimsa): achtsamer und rücksichtsvoller Umgang mit allem, was lebt

Innere Glut (Tapas): Begeisterung, Fokussierung auf das Wesentliche

Wahrhaftigkeit (Satya): Aufrichtigkeit; zu dem stehen, was einem wahr erscheint; Ehrlichkeit – auch im Umgang mit den eigenen Schwächen

Zufriedenheit (Santosha): Dankbarkeit; wertschätzen, was alles schon da ist

Nichtstehlen (Asteya): nichts haben wollen, was andere besitzen – in materieller und immaterieller Hinsicht (zum Beispiel mehr Beweglichkeit)

Glauben an das Höchste (Astikya): die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz erkennen, dem Höchsten dienen

Reiner Lebenswandel (Brahmacharya): ausgerichtet sein an den ethischen Prinzipien, die einem selbst wichtig sind, um dazu beizutragen, dass die Welt »a better place to be« wird

Freigiebigkeit (Dana): Materielles und Immaterielles wie Wissen und Freude mit anderen teilen

Vergebung (Kshama): niemandem etwas nachtragen, Fehler verzeihen, Schattenseiten annehmen, frei werden von Groll

Verehrung des Höchsten (Ishvarapuja): Ausrichtung auf das Absolute beziehungsweise Göttliche; daran arbeiten, das Göttliche durch das eigene Sein auszudrücken

Beständigkeit (Dhriti): sich in aller Ruhe und Gelassenheit einer Sache widmen

Hören der heiligen Texte (Siddhanta vakyam Shravanam): Weisheitstexte lesen, Vorträge hören (Kirtan)

Mitgefühl (Daya): die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen; Empathie, soziale Kompetenz

Mäßigung (Hri): maßvoller Umgang mit allem, was uns gegeben ist; auch mit der eigenen Energie maßvoll umgehen

Demut (Arcavam): Bescheidenheit, Schlichtheit, kein Aufheben um die eigene Person machen

Mantrarezitation (Japa): das persönliche Mantra ständig im Geist bewegen

Gemäßigtes Essen (Mitahara): keine Völlerei; Nahrung auswählen, die umweltverträglich erzeugt wurde und ohne anderen Wesen Leid zuzufügen; ökologische Kompetenz

Opfern (Hutam): denjenigen geben, die etwas brauchen (zum Beispiel Zeit), auch wenn man denkt, dass man davon selbst nicht genug hätte

Reinheit (Shauca): Arglosigkeit, Gutgläubigkeit, den anderen immer nur Gutes zutrauen

Unterscheidendes Bewusstsein (Mati): Prioritäten setzen; erkennen, was wesentlich, wichtig und nachhaltig ist

Bhavana: den Geist wohltuend ausrichten

Bhavana heißt wörtlich »eine überzeugte, einheitsfördernde innere Einstellung, ein heilsames inneres Bild«. Das Yoga-Sutra erläutert Bhavana dort, wo es um Strategien geht, mit den inneren Hindernissen umzugehen. Dabei wird klar, dass wir ganz oft unbewusst innere Bilder und Einstellungen im Geist gespeichert haben, die unsere Absichten und Bemühungen sabotieren – zum Beispiel wenn wir uns sagen: »Ich kann das nicht!«, »Ich schaffe das nicht!«, »Ich verdiene es nicht!«. Diese inneren Einstellungen bedienen unsere Zweifel und bewirken, dass wir uns nicht ernsthaft genug bemühen, dass wir das Vertrauen verlieren, dass wir unbeständig in unserem Tun sind und zulassen, dass unsere Energien immer wieder abgelenkt werden.

Wenn wir auf unserem Yogaweg vorankommen wollen, sollten wir diese ungünstigen inneren Bilder und Haltungen mit günstigen und förderlichen Inhalten überlagern. Besonders geeignet dazu sind die »vier erhabenen Geistesqualitäten«: Freundlichkeit (Maitri), Mitgefühl (Karuna), Ermutigung (Mudita) und Nachsicht (Upeksha). Um uns nachhaltig mental umzustimmen und innerlich in eine heilsame Richtung auszurichten, empfiehlt Patanjali, dass wir alle vier Geisteshaltungen bewusst über einen langen Zeitraum einüben und dann immer weiter kultivieren.

Die vier erhabenen Geistesqualitäten

Maitri ist eine freundliche, gütige, zugewandte und liebevolle Haltung gegenüber sich selbst und allen Menschen.

Karuna ist das Entfalten von Mitgefühl und Empathie für das eigene Gewordensein und das der Mitmenschen. Es ist die Entfaltung und Verfeinerung von Einfühlungsvermögen.

Mudita ist die Begeisterungsfähigkeit dafür, wenn wir uns selbst und wenn andere sich in eine günstige und förderliche Richtung entwickeln.

Upeksha ist die Fähigkeit, in diesem Prozess mit sich selbst und anderen geduldig zu bleiben und den eigenen Fehlern und Rückfällen gegenüber nachsichtig und verständnisvoll zu sein.

Chitta Prasadana – der Geist als Freund

Wenn wir beginnen, uns auf diese vier Geisteshaltungen auszurichten, dann wird sich unser Geist verändern. Er wird nach und nach weniger irritiert, unruhig oder sogar verstört sein, denn wenn uns diese inneren Einstellungen fehlen, begleiten unsere alten Muster uns auf unserem Übungsweg.

Das heißt, dass wir streng anstatt gütig mit uns sind; dass wir, anstatt mitfühlend zu sein, uns mit unseren Erwartungen und Perfektionsansprüchen bedrängen; dass wir, anstatt uns zu ermutigen, uns selbst kleinmachen und uns nichts zutrauen; und dass wir, anstatt verständnisvoll und geduldig mit uns zu sein, fordernd und ungeduldig erwarten, dass wir den Yoga im Turbotempo verinnerlichen sollen. Ein solcher Geist wird dominiert von unserem inneren Kritiker, der ständig etwas zu bemäkeln hat und dem wir im Grunde niemals gut genug sind bei dem, was wir tun.

Das Erkennen und Loslassen dieser vielfältigen Ansprüche an uns selbst (und andere) hilft uns, entspannter mit uns selbst umzugehen. Dann erkennen wir, dass Yoga Sadhana (wörtlich: Übungsweg) für uns da ist, um ihn Schritt für Schritt zu gehen und das zu tun, was wir tun können, und zwar so gut, wie es jetzt gerade möglich ist.

Wenn diese Ausrichtung vorzuherrschen beginnt, wird unser Geist zu einem angenehmen Ort, an dem wir uns gerne aufhalten. Wir lernen, den Verstand und seine Fähigkeit, zu planen und Strategien zu entwickeln, als wertvolles Werkzeug der Erkenntnis und deren Umsetzung einzusetzen.

Wenn wir die vier erhabenen Geistesqualitäten in uns etablieren, können Denken und Fühlen klar werden. In dieser Klarheit erkennen wir, was uns guttut und womit wir die Entwicklung unserer vielfältigen Potenziale unterstützen können – und zwar unabhängig davon, ob es darum geht, zum Beispiel den Kopfstand zu lernen oder unsere Lebensführung zu verändern.

Die zwei Seiten der Willenskraft

Wenn sich der Geist im Zustand Chitta Prasadana befindet, gelingt es uns, eine zu starke ebenso wie eine zu schwache Willenskraft zu kontrollieren.

Wenn wir zu viel wollen oder uns zu sehr auf etwas versteifen (»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!«), wächst in der Yogapraxis oft die Verletzungsgefahr.