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Ladislaus Szücs

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Beschreibung

Im März 1944 werden im bis dahin einigermaßen sicheren Ungarn doch noch die Juden verhaftet und in Konzentrationslager deportiert, darunter auch der Autor und seine Frau. In Auschwitz-Birkenau werden beide getrennt, der Autor überlebt und wird nach Österreich zur Zwangsarbeit im berüchtigten »Stollen Quarz« abkommandiert. Im Frühjahr 1945 wird er im letzten Augenblick befreit. Die Erinnerungen wurden zum Requiem vieler Schicksale, gehen jedoch über das rein Dokumentarische hinaus: Der Autor erzählt mit genuiner Begabung seine innere Geschichte und von seinen Seelenzuständen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 324

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Ladislaus Szücs

Zählappell

Als Arzt im Konzentrationslager

FISCHER Digital

Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Ernst-Jürgen Dreyer

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]LebensbilderIm 82. Lebensjahr, 1991, [...]Für meine EnkelkinderVorwort des HerausgebersZählappellMein WerdegangVerschleppungMelkDie elektrische HarfeAls illegaler Arzt im RevierKrankengeschichten für die NachweltDer Bursche aus dem SzeklerlandDas Ärztespiel der SSDer BombenangriffDie RuhrDr. SoraMusikJahrmarkt des ElendsMuzikantUrlaub vom HadesDer Russe mit dem FußstumpfBloßstellung eines SpitzelsPuzuDas Schicksal der KollegenDie zweite OhrenoperationTod eines VerwandtenHNO-InstrumenteMethylalkoholIm Block der KaposFußlappen. Ein Fall von ApnoeEntlausungWeihnacht 1944Das SilvesterkabarettWas-wenn-GesprächeMein GeburtstagDie Ermordung der SlowakenDr. SchönfeldLuftkämpfe über MelkWerden wir vernichtet oder evakuiert?Ein TraumZerfallserscheinungenAuflösung des Lagers ohne michDie VerschiffungLinzHungermarschEbenseeDie Hochzeitsnacht mit der FreiheitDer Eiseshauch aus der ZukunftDer Tod des KomsomolzenDer KofferHans TaubmannAbenteuerliche HeimfahrtEpilog: Flaschenpost an meine erste Frau

Die Zeit des Nationalsozialismus Eine Buchreihe Herausgegeben von Walter H. Pehle

Lebensbilder

 

Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

Im 82. Lebensjahr, 1991, begann Ladislaus Szücs, Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Siebenbürgen, seine Erlebnisse in deutschen Konzentrationslagern niederzuschreiben; im November 1993 schloß er das Manuskript ab. Der Autor unterzog sich in hohem Alter dieser quälenden Aufgabe vornehmlich aus zwei Motiven: um sich von der Last der Erinnerung zu befreien und um die Geschichte der Unschuldigen und Schuldigen nicht mit ins Grab zu nehmen.

Sein Buch wurde zum Requiem vieler Schicksale, jüdischer und nichtjüdischer. Was es aber über das rein Dokumentarische erhebt, ist der Ausdruck genuinen Erzähltalents, das lakonisch, stets mit erzählerischer Eigenart und mit einem noch im Grauen nicht versiegenden Humor die am eigenen Leib erlebte Zeitgeschichte vergegenwärtigt. Das Buch ist groß als Darstellung der inneren Geschichte, der Seelenzustände. Und es lehrt uns, »wie man überlebt, ohne schuldig zu werden und seine Seele zu verlieren«.

Der Herausgeber, Dr. Ernst-Jürgen Dreyer, hat den Erzähler, dessen Schulsprache das Ungarische ist, zur Niederschrift auf Deutsch ermuntert und das Manuskript schonend von sprachlichen Unsicherheiten befreit. Der Erzählduktus, die zuweilen altväterische Patina und der siebenbürgische Spracheinschlag blieben unangetastet.

Für meine Enkelkinder

 

 

Dieses Buch hat nicht den moralischen Auftrag, über andere zu richten; deshalb wurden Namen und Herkunft der belasteten Personen, falls sie nicht durch die Geschichte oder ein richterlich abgeschlossenes Verfahren hinlänglich bekannt sind, vom Autor unkenntlich gemacht.

 

 

Illustrationen: Ladislaus Szücs

Vorwort des Herausgebers

Durch Zufall durfte ich zum Geburtshelfer eines bedeutenden Erinnerungsbuches des jüdischen Schicksals werden. Es geschieht aus dem Bewußtsein der Chronistenpflicht, wenn ich aus dieser Perspektive in das Werk von Ladislaus Szücs einführe. Als ich den Siebenbürger Arzt 1986 kennenlernte, war mir bereits angedeutet worden, was er durchgemacht hatte; und ich trat ihm mit der Befangenheit des kollektiven Schuldgefühls gegenüber. Auch er wußte offenbar Näheres von mir, denn zu meiner Überraschung schlug er mir vor, seine KZ-Erlebnisse niederzuschreiben. Von dem, was er mir bei einem Besuch in seiner hoch über den Rheinauen gelegenen Wohnung in ungarisch gefärbtem Deutsch erzählte, blieb mir das Bild aufgeschichteter ausgemergelter Kadaver, vor denen sich im trüben Licht einer Birne eine gespenstische chirurgische Operation abspielte. Das Gehörte aber in eigenen Worten festzuhalten, dazu mangelte es mir an jeder Vorstellung, auch der fachlichen dessen, was bei dem Eingriff überhaupt geschah. Ohnehin machte die Entfernung unserer Wohnorte die Ausführung des Plans unmöglich. Aber ich behielt ein schlechtes Gewissen, zumal ich erfuhr, daß der alte Herr kränkelte. Auf meinen Vorschlag, seine Erlebnisse auf Tonband zu sprechen, ging Szücs nie ein; auch von einer Niederschrift ins unreine wollte er nichts wissen. Dabei genügte zuletzt eine Kleinigkeit, und die Schleusen öffneten sich von selbst.

Ende 1990 erzählte ich einem Verleger von den noch gar nicht fixierten Erinnerungen, deren Last Szücs mit sich herumtrug, und erweckte damit unverhofftes Interesse. So rasch es auch verflog, es riß den inzwischen Zweiundachtzigjährigen aus der Lethargie; er überwand seine Sprachskrupel; und schon im Januar 1991 hielt ich die Anfangskapitel – Werdegang und Verschleppung nach Auschwitz – in Händen. Als ich sie im engeren Kreis vorlas, erwiesen sie eine derartige erzählerische Verve, eine so unsentimentale Lakonik und eine solche Kraft in der Darstellung der Seelenzustände, daß ich begriff, daß der Rang dessen, was hier vor meinen Augen entstand, noch weit über seinen Dokumentationswert hinausging. Wir wohnten dem Wunder bei, daß ein Mann, der nie geschrieben, sondern sein Leben lang ärztlich praktiziert hatte, sich im biblischen Alter ein ganz neues Ausdrucksfeld eroberte, ja daß er dieses gleich mit der Sicherheit des geborenen Erzählers betrat. Die formalgrammatischen Unsicherheiten, die beim stummen Lesen das Bild getrübt hatten, erwiesen sich als eine Art Staubschicht, die bei kräftigem Blasen verschwand und unter der eine Sprache von ungewohnter Plastizität zutage trat. Nun gingen in einem drei Jahre währenden Briefwechsel die Fortsetzungen, bei deren Lektüre mir oft genug das Blut in den Adern stockte, und die Reinschriften hin und her, bis die Erzählung mit derselben Sicherheit, mit der sie begonnen hatte, in ihren ergreifenden Schluß mündete: »Eine unsichtbare Hand berührt meine Schulter.« Es wäre ein Verbrechen gegen den Geist gewesen, hätte ich von dem Permiß des Autors, im Text nach Gutdünken zu schalten, auch nur an einer Stelle Gebrauch gemacht.

Geht man den Gründen (den »Sprachskrupeln«) nach, aus denen Szücs zwischen dem Erlebten und der Niederschrift fast ein halbes Jahrhundert verstreichen ließ, so rückt die Geschichte und die besondere Sprachsituation Siebenbürgens ins Blickfeld. In dem Land innerhalb des Karpatenbogens existieren seit dem Mittelalter drei Sprachkreise nebeneinander, und je häufiger die politischen Grenzen wechselten, die das Land als deutsch-, ungarisch- oder rumänischsprachig definierten, desto mehr überlagerten sich diese Sprachkreise bis zur Polyglottie jedes einzelnen. Besonders wechselvoll erging es in dieser Beziehung dem Norden Siebenbürgens, woher Szücs stammt. Tîrgu Mureş, heute im Zentrum Rumäniens gelegen, war in Szücs’ Geburtsjahr (1909) eine Stadt Österreich-Ungarns und hieß Marosvásárhely; der alte deutsche Name war Neumarkt. Hier wuchs Szücs deutschsprachig auf – was ihn später zum Studium in Leipzig und Wien befähigte –, erfuhr aber auf dem Reformierten Lyzeum von 1557 eine ungarische sprachlich-kulturelle Prägung. Diese geht deutlich aus Szücs’ Satz von »unserem ungarischen Humoristen Karinthy« hervor.

Der Zusammenbruch der Österreich-Ungarischen Monarchie brachte Ungarn um seine Randprovinzen: 1919 wurde Siebenbürgen rumänisch; die Einwohner sahen sich über Nacht einer neuen Verwaltungssprache konfrontiert. In dieser fremden Sprache machte Szücs sein Abitur; von ihrer Nichtbeherrschung zeugt die »Brikett«-Anekdote. Der (erste) Wiener Schiedsspruch vom Juli 1940 teilte Siebenbürgen; Hitler schlug den Norden (und damit auch Neumarkt) dem Ungarn des Admirals Horthy zu: Tîrgu Mureş wurde wieder Marosvásárhely. 1945, im Gefolge des Zweiten Weltkriegs, fiel es an Rumänien zurück – an ein Rumänien, in dem heute die deutsche Sprache nahezu ausgestorben ist. Bei solcher Identitäts-Oszillation ist die aberwitzig-abenteuerliche Rückkehr, mit der Szücs’ Buch schließt, kaum eine Heimkehr zu nennen, ganz abgesehen davon, daß sie in die Falle abermals veränderter Verhältnisse, nämlich in die kommunistische Diktatur führte. Die schließliche Flucht nach Deutschland war aber ebenfalls nur bedingt eine Heimkehr: Das Siebenbürger Deutsch von Szücs’ Neumarkter Kindheit war inzwischen – gegen das Bundes-Neudeutsch von 1974 – selber zur archaischen Schicht geworden. Im Aufeinanderprall dieser Schichten liegt nicht zuletzt der Reiz von Szücs’ Erzählen.

Den Leser wird bei einer Niederschrift siebenundvierzig Jahre nach den Erlebnissen auch die Frage von Szücs’ mnemotechnischem Vorgehen interessieren. Wiederholt tönt ja in seinem Bericht die Klage über die alles einebnende Zeit auf. Beim Niederschreiben erwachte vieles Verdrängte und Verschüttete wieder zum Leben, was für Szücs einen schweren Weg gegen die Widerstände der eigenen Seele, aber auch Gesundung und Verjüngung bedeutete. Diese Wiederbelebung hat Szücs aber nicht dem Zufall überlassen. Wichtigste Gedächtnisstütze, was das eigentlich Dokumentarische betrifft, wurde ein ungarisches Zettelkonvolut, zu dem Szücs bald nach seiner Entlassung alles Erinnerliche aus der Zeit der Lagerhaft zusammengefaßt hatte und das bei der Flucht aus dem Rumänien Ceauşescus sein kostbarstes Gepäckstück war. Drohten sich die Einzelerinnerungen achronologisch zu verketten, so bediente sich Szücs des Korrektivs vorhandener Forschungsarbeiten, von denen namentlich zu erwähnen ist: Bertrand Perz, Projekt Quarz, Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991. Das Buch ist auch darum hier von Interesse, weil es auf S. 429 einen Überblick über Szücs’ Lager-Monate enthält.

Auch in die Standardwerke über die Konzentrationslager-Medizin ist Szücs eingegangen, namentlich mit seiner Schädeltrepanation am Kapo Henri Rosen-Blanchard, die weder bei Guy Lemordant (Pathologie Concentrationnaire, 1946) noch bei Christian Bernardac fehlt (Les Médecins de L’Impossible, 1968). Solche Überschneidungen mit bekannten Veröffentlichungen mindern den Dokumentationswert von Szücs’ Buch keineswegs. Nicht nur verleiht es dem uns Bekannten das Siegel der Wahrheit und die Authentizität des Selbsterlebten. Sondern man findet besonders grauenhafte »Details« des Massenmords bei ihm erstmalig ans Licht gebracht. Noch nirgends dokumentiert scheint die Feuervernichtung der siebenbürgischen Transporte in Birkenau.

So wichtig das objektive Dokumentationsmaterial war, aus dem sich Szücs’ Erinnerung auffrischte, die Vergegenwärtigung des Erlebten gelang kraft des Schrittes, mit dem der Erzähler es hinter sich ließ: Er ersann die so lange verhallten Gespräche der Unschuldigen und der Schuldigen, der Lebenden und der schon so lange ermordeten Leidensgefährten dem Geist, nicht dem Buchstaben getreu neu. In dieser Vergegenwärtigung wird der Todesmarsch der jüdischen und der nichtjüdischen Gefangenen nicht zu einem Panorama, das sich wie hinter einer Glaswand auftut, sondern zu einem saugenden Strom, der den Leser mit sich zieht; wir erleben die furchtbare Passion gleichsam am eigenen Leibe mit; die Hitze aus den brennenden Gräben loht uns an; es scheint die eigene Brille, die zersplittert; der Stich, der beim Auftauchen des SS-Manns durch den Arzt hindurchgeht, durchfährt auch uns. Das jüdische Schicksal rückt aus der Sonderrolle, als welche es für unser Bewußtsein eine verhängnisvolle Selbstverständlichkeit angenommen hat, in die Mitte einer Welt, in der ein falscher Schritt genügt, in das Räderwerk der Weltgeschichte zu geraten, und in der keiner wissen kann, was und welches Gruppenschicksal ihm noch bevorsteht. Für einen Fall, vor dem uns doch Gott behüte, ist es mehr wert als äußere Schätze, Szücs’ Buch gelesen zu haben. Denn es lehrt uns, wie man überlebt, ohne schuldig zu werden und seine Seele zu verlieren.

 

Oktober 1994

Ernst-Jürgen Dreyer

Zählappell

Mein Werdegang

Ich betrachtete die vielen weißen DIN-A4-Bögen als künftige Träger meiner Erlebnisse mit gehöriger Achtung und Beklemmung, ob ich imstande sein werde, ihre Seiten so wahrheitsgetreu zu füllen, wie ich die Geschehnisse in meinem Inneren erlebte. Es wird jetzt allmählich still um mich nach einem halben Jahrhundert ärztlicher Tätigkeit. Dreizehn Etagen tiefer schlängelt sich unser gemächlich dahinfließender Vater Rhein. An seinen Ufern hat mich das Schicksal nach so viel Unbill als Strandgut zur Ruhe gesetzt. Er begleitet mich bei meinen Spaziergängen an seinem waldbedeckten Ufer, wobei er mir die Gelegenheit gibt, bei seinem gleichmäßigen Rauschen über meine bewegte Vergangenheit nachzusinnen. Hie und da versucht er, meine Visite schon nach ein paar regnerischen Tagen zu erwidern, aber das gelang ihm meist nur bis zur Tiefgarage.

Ich bin das Kind dieses Jahrhunderts. Neun Jahre alt war es, als ich mich seinem holprigen Weg im Jahre 1909 zugesellte. Als ich in der schläfrig-summenden Tätigkeit der damals noch zur Österreich-Ungarischen Monarchie gehörenden Provinzstadt Neumarkt mein Bewußtsein erlangte, war schon der Erste Weltkrieg da. Sieben Jahre alt war ich, als wir mit meiner Familie vor dem rumänischen Einfall zu meinen Großeltern nach Debrezin in der ungarischen Tiefebene fliehen mußten. Nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel die Monarchie, und Siebenbürgen wurde endgültig Rumänien einverleibt.

Als mittelmäßiger Schüler polierte ich dann weiter die schon vier Jahrhunderte abgewetzten Schulbänke des berühmten Neumarkter Kollegiums. Hier wurde ich mit dem lauwarmen Antisemitismus erstmals konfrontiert, nach der bewährten Regel: Antisemit ist, wer die Juden über das notwendige Maß hinaus haßt. Die fünfzig Prozent meiner jüdischen Schulkameraden, die die Nazizeit überlebten, haben mit ihrem Samen drei Kontinente mit Nachkommenschaft befruchtet. Wahrlich ein harter Job für die praktizierenden Antisemiten, die Welt judenrein zu machen!

Die Reife habe ich in der rumänischen Sprache, die ich kaum beherrschte, 1927 mit Müh und Not bestanden. Wegen antisemitischer Ausschreitungen konnte man damals als Jude auf rumänischen Hochschulen kaum studieren; so habe ich mein Medizinstudium in der Weimarer Republik in Leipzig absolviert, nach der Machtergreifung der Nazis unter den letzten nichtarischen Kandidaten. Wie ich mich heute zurückentsinne, war es beileibe kein Honigschlecken, was ich als Augenzeuge in diesem bewegten Frühling ’33, als das Nazizeitalter in Deutschland begann, in Leipzig miterlebte. Der tierische Vandalismus, der Boykott-Tag am 1. April, das Wüten der Schlägertrupps, nächtliche Schüsse, Schreien, Terror überall. Ich empfand die damaligen Berichte als eine nur abgemilderte Wiedergabe der Realität, was u.a. auch an der schwierigen und gefährlichen Berichterstattung liegen konnte.

Mit meinem frischerworbenen Diplom, mit den begehrten zwei Buchstaben vor meinem Namen habe ich mich an der HNO-Abteilung des Budapester Israelitischen Krankenhauses um eine Assistentenstellung beworben. Ich hatte nämlich mit diesem Fach als Medizinstudent bei Professor Lange in Leipzig schon Kontakte gehabt; außerdem hegte ich den kindisch-naiven Plan, meine durch Scharlach taub gewordene ältere Schwester zu heilen. Bereut habe ich es nie, dieses Fach gewählt zu haben, das mir, wie sich später herausstellte, das Leben gerettet hat. Meine beiden dortigen Lehrer, der Laryngologe Professor Pollatsek und der Otologe Fleischmann, standen im Geiste bis zuletzt oft bei meinen beruflich schwierigen Situationen an meiner Seite und führten meine unsicheren Hände. Das war in den Jahren ’33 bis ’36. Von da ging ich, um mein Studium zu vervollständigen, für ein Jahr zu dem damaligen Papst der Ohrenheilkunde, zu Professor Neumann nach Wien. Ich wurde bald sein Liebling, nicht wegen meiner Fachkenntnisse, weit gefehlt, eher, weil ich die drei Sprachen beherrschte, von denen er keine richtig sprach, Deutsch, Ungarisch und Rumänisch; und als Gegenleistung für die Hilfe beim Erledigen seiner ausufernden Korrespondenz durfte ich schon bald operieren. Zu meinem Bedauern mußte ich schon vor Jahresfrist zum Sterbebett meines lieben und verhältnismäßig jungen Vaters nach Bukarest eilen, wo jetzt meine Familie lebte.

Ich konnte mich da kaum umsehen, als mich die Weltgeschichte wieder einholte. Das kriegerische Gehaben des Dritten Reiches hatte die europäischen Völker, somit auch Rumänien, zur Vorsicht gemahnt. Man wurde für kürzer-längere Zeitabschnitte zum Militär einberufen. Ich wurde als Regimentsarzt in eine kleine moldowenische Provinzstadt, Roman, geordert. Der Kollege, den ich ablösen sollte, übergab mir eine einzige Injektionsspritze mit einer Kanüle, um bei den einberufenen Rekruten die von ihm begonnene Typhus-Schutzimpfung fortzusetzen. Die ein einzigesmal ausgekochte Spritze sollte vor Gebrauch lediglich mit einem Alkoholtupfer abgewischt werden. Als ich mich weigerte, diesen Usus fortzusetzen, und bei dem Regimentsoberarzt Beschwerde anmeldete, ermahnte er mich kurz, daß das ein Befehl sei, und niemand sei daran gestorben. Gestorben daran war auch niemand; zu meiner angenehmen Überraschung war sogar bei den Hunderten von Geimpften keine einzige entzündliche Reaktion entstanden; aber bei mir dachte ich an den geistreich formulierten Rat meines Lehrers weiland Professor Sonntag in Leipzig, daß man die Lues womöglich auf dem »Felde der Ehre« erwerben soll, um wenigstens etwas Freude dabei zu haben. Sonst wurden meine mit Müh’ erworbenen medizinischen Kenntnisse kaum in Anspruch genommen. Das Studium der verschlungenen Wegspuren der Fliegen auf den dreckigen Fensterscheiben in meiner engen Behausung und die Lektüre – die Abenteuer des »kleinen Prinzen« – dienten dazu, mir die Zeit zwischen den Rundfunknachrichten auszufüllen, die immer beunruhigender wurden.

Es war im Wonnemonat Mai. Wir schrieben 1940. Ich begriff die Notwendigkeit, meine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen, und rief meine Freundin, die aus Temesvar stammende Gebrauchsgrafikerin Hedy Németi, in Bukarest an.

»Willst du mich heiraten?« begann ich überstürzt.

Nach kurzer Pause:

»Da ich momentan kein besseres Angebot habe, einverstanden.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch, aber wenn es nur wieder um deinen verlorenen Hosenknopf geht, den nähe ich auch an, ohne daß du mich heiratest.«

Sie kam, und wir heirateten in Roman im Beisein der lokalen militärischen »Hochprominenz«: des Leutnants und des Korporals vom Sanitätsdienst.

Nun mischte sich aber die höhere Politik in meine privaten Angelegenheiten; unsere Hochzeitsreise – wenn ich das so bezeichnen kann – wurde nämlich durch die Sowjetmacht bestimmt, die kurz nach unserer Heirat Mitte Juni 1940 Bessarabien und einen Teil der Bukowina besetzte. Sie kamen auf unseren Standort zu, und niemand wußte, wo sie stehenbleiben würden. Es brach eine Kopflosigkeit in diesem Ameisenhaufen aus. Alle liefen irgendwohin. Wir nahmen die Gelegenheit wahr und fuhren ohne viel Federlesens nach Bukarest zurück. Unser Abgang in diesem Chaos sah wahrhaft nicht nach einer Hochzeitsreise aus. Hier ließ uns die Weltgeschichte ein paar Wochen, die nicht besonders flitterten, Ruhe bis zum sogenannten Wiener Schiedsspruch Ende August, laut welchem Rumänien einen großen Teil Siebenbürgens an Ungarn abtreten mußte.

Nun stellte sich die Gretchenfrage: Bleiben oder hinübergehen? Zwar waren wir Siebenbürger, doch sprach vieles für das Bleiben: unsere Familie, die Freunde, eine eingerichtete Praxis, die in Kürze eröffnet werden sollte. Aber auch für das Überwechseln waren Gründe vorhanden: Erstens war ich ein Fahnenflüchtiger, und wer weiß, wenn sich die Umstände beruhigen, würde man solche Fälle vielleicht untersuchen. Und da war noch das Angebot von meinem Professor Pollatsek, eine interessante Gelegenheit zur Zusammenarbeit, falls ich die ungarische Staatsangehörigkeit erlangte. Und nicht zuletzt dachten wir auch, daß die Rumänen ihre Wut wegen des Territorialverlusts an den zurückgebliebenen Siebenbürgern auslassen würden. Wenn man aber so viele Gründe anführt, so geschieht es manchmal, daß keiner stichhaltig ist. Wir wählten natürlich falsch, als wir mit dem letzten Zug, unter den Tränen der Zurückbleibenden, nach Neumarkt abreisten.

Wir täuschten uns gewaltig, wenn wir die Ungarn in Siebenbürgen als westlich-emanzipiert erwarteten. Wir mußten bald einsehen, daß man die Menschlichkeit nicht nach Breitengraden einteilen kann. Hier herrschte eine durch den unerwarteten territorialen Zuwachs angefachte nationalistisch-antisemitische Stimmung. Mit den wiedergetroffenen Freunden aus unserer Jugend haben wir dann die bangen Tage der Ankunft der ungarischen Soldateska, an der Spitze der Reichsverweser Horthy, gebrechlich auf einer weißen Stute sitzend, mit böser Vorahnung durchlebt. Wir waren unvermögend; unsere materiellen Verhältnisse waren begrenzt. Die Ärztekollegen, die mich seit meiner Jugend kannten und jetzt in der Ärztekammer zu sagen hatten, haben mein Gesuch um Praxiseröffnung nur für jüdische Patienten genehmigt. Bald wurden wir auch aus der Wohnung, die wir nach unserer Ankunft gemietet hatten – damals standen wegen des Abgangs vieler Rumänen viele Wohnungen leer –, ohne vorherige Kündigung hinausgeschmissen. Bela Silberberg, den wir damals kennen- und schätzenlernten, hat uns sozusagen von der Straße in seine bescheidene Wohnung geholt und gestattete mir, das kleine Vorzimmer als Praxisraum zu benutzen, das sich dann als zu groß erwies, denn es kam niemand.

Im Mai ’42 war der größte Teil der jüdischen Jugend, besonders die Intellektuellen, zum Arbeitsdienst zu der in Rußland operierenden ungarischen Armee einberufen worden; ich war glücklicherweise davon verschont geblieben. Vielleicht wegen meines nur kurzen Aufenthalts in der Stadt oder meiner kaum bekannten Praxis, wer weiß. Aus dieser Gruppe kamen nur wenige zurück; die Strapazen des 1942/43er Rußlandwinters hatten sie dezimiert. Die wechselnden Nachrichten mal über ein Vorrücken der Alliierten und die Rückschläge, die dauernde Unsicherheit haben wir mit der Fabel illustriert, wonach die Köchin die Krebse für die Suppe wiederholt zum Kochen auf den Herd stellt und dann, wenn die Gäste absagen, den Topf wieder absetzt.

Am ersten Oktober des Jahres ’42 war ich dann auch zu einem für Rumänien eingerichteten Arbeitsdienst in Kocsoladfalva bei Dézs[1] als Arzt einberufen worden; der militärische Leiter des Arbeitslagers, ein junger Leutnant, fand, daß man einem jüdischen Arzt nicht mal walachische Arbeiter anvertrauen dürfe. So wurde ich zur Feldarbeit eingeteilt.

Die Arbeit, einen Kubikmeter Erde täglich auszuheben, war besonders für Ungeübte sehr anstrengend. Da unter mehreren hundert Schwerarbeitern ziemlich oft ärztliche Hilfe nötig war, habe ich es so eingerichtet, daß ich abends nach der Arbeit, natürlich heimlich, die Kranken mit bescheidenen Mitteln zu behandeln versuchte. Wir haben im nahe gelegenen Dorf, wo wir für die Heeresleitung die Bahnstrecke bauten, von den dort wohnhaften Bauern, meist Rumänen, etwas Medikamente, meist Hausmittel nebst Verbandzeug erhalten. Sowohl die Einwohner des Dorfes als auch meine Arbeitskollegen waren mir sehr zugetan; um mir zu helfen, haben sie mein Arbeitspensum unter sich aufgeteilt, wodurch ich meiner ärztlichen Arbeit besser nachgehen konnte. Dieser Zustand dauerte, bis eines Tages der Hauptmann, der uns hie und da Kontrollbesuch abstattete, mich mit beinah menschlichen Worten um ärztliche Hilfe wegen seiner eingewachsenen Zehennägel bat. Seit ich ihm Hilfe leistete, wurde mir gestattet, mich gänzlich meiner ärztlichen Aufgabe zu widmen.

Eigentlich sollte ich diesem Arbeitslager eher dankbar sein, denn diese ein paar Monate dauernde »Abwechslung« hat mich von meinem seit meiner Studienzeit andauernden Magenleiden in kurzer Zeit gänzlich und vollständig befreit. Und das kam so: Da ich wegen der erwähnten Krankheit unter ärztlich vorgeschriebener strenger Diät leben mußte, hatte meine Frau meinen Rucksack hauptsächlich mit Zwieback, Keksen und ähnlichem Diätfraß vollgestopft. Wir kamen an einem kühlen Herbstabend im Arbeitslager Kocsolad an. Obwohl ich während der Fahrt im Viehwaggon meinen Rucksack leergefressen hatte, verspürte ich einen nagenden Hunger. Ich sah meinen frühen Tod in Form von Schweinshaxen mit Sauerkraut im klimpernden Blechnapf sich mir nähern. Ade! rief ich mir in Gedanken zu und verschlang im Nu den wunderbar riechenden Fraß. Auf mein wohlverdientes Ende wartend, war ich in kurzer Zeit wieder so hungrig wie vor dem Schmaus.

Bis zur Stunde von Magenbeschwerden heil, kehre ich nach dieser psychosomatischen Abschweifung zu meinem sejour in Kocsolad zurück. Es war Spätherbst geworden, die Tage kürzer, das Wetter kühler. Die Arbeiter waren nicht genügend gegen Kälte ausgerüstet. Sie waren heruntergekommen. Viele fieberhafte Erkältungsfälle, und ich hatte kaum die nötigen Medikamente zur Hand. Da die Widerstandskraft gegen Infektionen bei den Leuten nachließ, litten viele unter eitrigen Hauterkrankungen. Eines Tages mußte ich bei einem Arbeiter einen Abszeß des Daumens öffnen. Ungefähr nach zwei Wochen bemerkte ich eine kleine Erosion an meiner rechten Hand, die sich allmählich vergrößerte. Es stellte sich heraus, daß der Patient, bei dem ich den Abszeß geöffnet hatte, an Lues litt. Ich glaube, ich brauche erst gar nicht zu erwähnen, daß ich, um mich bei dem chirurgischen Hantieren zu schützen, überhaupt nichts, nicht mal einen Gummihandschuh, zur Verfügung hatte. Ich war beinahe sicher, daß ich die Syphilis akquiriert hatte. Zudem kündigte sich zu Besuch meine Frau an; ich weiß nicht, wie sie die Erlaubnis dazu erwirkte. Was nun? Wir hatten von Anfang an eine starke sexuelle Beziehung miteinander. Ich war ratlos. Was soll ich machen? Wie mich verhalten? Hätt ich nur jemanden mir Nahestehenden zu Rate zu ziehen. Aber die Natur der Angelegenheit war sehr delikat, und ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Oder doch; kaum zu glauben, wie erfinderisch man in Nöten sein kann. Ich ging schnurstracks zu dem dortigen Geistlichen der reformierten Kirche, den ich schon kannte und für einen taktvollen einfühlsamen Menschen hielt. Als ich ihm mein Problem etwas stotternd vorbrachte, beruhigte er mich erst und verlangte von mir nur so viel, daß ich die Ankunftszeit meiner Frau Hedy ihm mitteilte, damit er sie vom Bahnhof abhole, womit ich einverstanden war. Vor lauter Erwartung war ich kaum imstande, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Als ich endlich, keuchend vor Aufregung, in die Baracke rannte, sah ich im Dunkel zuallererst ihre tränengefüllten Augen schimmern, und dann flog sie in meine Arme. Ich konnte mich kaum zusammenreißen, als ich gleich danach in die Administration gerufen wurde. Was mir alles in dem Augenblick meine Gedanken durchzuckte … Ich bekam nach beinahe sechs Monaten Dienst meine Entlassung.

Wir nahmen den ersten Zug nach Klausenburg, um einen dortigen Freund, den Dermatologen Dr. S., wegen meiner vermeintlichen Luesinfektion zu konsultieren, die dann zu unserer Freude sich als eine banale Hautinfektion herausstellte, welches, wie mir Hedy jetzt erzählte, der taktvolle Dorfpastor als etwas Wahrscheinliches ihr vorhergesagt hatte. Endlich konnten wir uns jetzt in einem Zugabteil richtig aussprechen. Wir hatten uns sehr viel zu erzählen. Unsere lange Trennung konnten wir mit knappen zensierten Mitteilungen kaum überbrücken. Es war grausam, daß ich mir ihr Gesicht zuletzt kaum mehr in meinen Träumen, Gedanken hatte vorstellen können. Als ich sie fragte: »Wie bist du finanziell über die Runden gekommen?«, sagte sie: »Kannst du dich erinnern, als nach unserer Heirat mein Vater dir die lächerliche Papiertüte mit altem Kram von kaputten Ketten und Broschen überreichte? Das war die Frucht seiner langjährigen Arbeit als Buchhalter, die er für seine Tochter zusammengespart hatte. Was soll ich dir sagen: Er hätte uns damals auslachen können ob unserer Naivität; in den heutigen Kriegszeiten ist Gold die beste Anlage.«

»Siehst du«, erwiderte ich ihr, »es gibt nicht nur die Vernunftheirat, wo die gegenseitige Liebe vielleicht später doch erwacht, sondern auch umgekehrt: wenn aus einer Liebesheirat eine Vernunftehe wird, wie die unsere.«

Unsere heitere Stimmung, das kleine Blaue vom Himmel, verflüchtigte sich bald. Die Krebssuppe begann bald zu kochen. Es war kaum Hoffnung mehr, daß die Gäste absagen.

Ungarn wurde wegen vermuteter Fühlungnahme mit den Alliierten am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt. Es verdichteten sich die Nachrichten über eine baldige Deportation der Juden. Wir mußten den Judenstern aufnähen. Bald mußten die jüdischen Einwohner der Stadt unter angedrohtem Vergelt sich zur Registrierung melden und ihre Wertsachen, Juwelen, Gold, abgeben. Wir haben, wie so viele, unsere alleinige Habe, unser Bruchgold, im Garten des Hauses, wo wir wohnten, vergraben, was ich nie wieder gefunden habe. Das deutsche Militär blieb unsichtbar. Doch nicht ganz: Denn eines Vormittags meldete sich ein Heimwehrsoldat in meiner Praxis mit einem verrutschten blutverschmierten Nasentampon bei bestehendem Nasenbluten. Auf meine Bemerkung, das sei keine richtige Praxis und ich dürfe nur Juden behandeln, berief er sich auf meine Menschlichkeit und auf seine jüdische Urgroßmutter. Das war aber schon zu viel, als daß ich meinen Lachkrampf hätte beherrschen können, und ich stand mit schallendem Gelächter vor diesem Haufen rhynologisch-moralischen Elends, der mich blöd anschaute, passend für ein Standbild der Situation, und verpaßte ihm ein improvisiertes Nasentampon. Das Zücken seiner Geldbörse wehrte ich mit einer Handbewegung ab.

Die Menschen, die uns kannten, sogar die, mit denen wir gesellschaftlichen Umgang pflegten, vermieden unsere gelbliche Gesternlichkeit und schlugen schon von weitem einen Bogen um uns. Von den wenigen Ausnahmen nenne ich vor allem meine gewesenen Schulkameraden und den Bruder des späteren letzten bürgerlichen Staatspräsidenten Groza, den ich wegen seiner hemmungslosen Wut auf die Nazis, die er auch öffentlich nicht verhehlte, von jetzt an aus Angst mied.

Es wurde mir auferlegt, ausnahmsweise die Tochter eines Polizeiobermanns zu behandeln, wenn auch ohne Honorar; dafür hatte er mir hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt, daß alles über die Deportation der Juden Greuelmärchen seien. Ihm könnten wir Vertrauen schenken, wenn er uns versichere, daß man uns nur zur Arbeit nach Nyirseg in der ungarischen Tiefebene transportiere. Somit genoß er nicht nur ärztliche Gratisleistung, sondern hat auch noch sein Desinformationspensum, das wahrscheinlich auferlegt war, gleichsam erfüllt. Überhaupt war die aus dem ungarischen »Mutterland« eingeschleuste Administration, die sogenannten Mutterländler, meist hochnäsig arrogant auftretende Gesellen, sogar von ihren hiesigen Artgenossen verpönt. Die BBC, die wir insgeheim abhörten, brachte ganz andere Nachrichten. Sie berichteten über die Vergasung abertausender Juden in Auschwitz. Wir fanden diesen Ort in unseren Karten nicht und konnten außerdem mit normalem Verständnis einem sogenannten Kulturvolk im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts ähnliches nicht zutrauen.

Nur allmählich taucht durch die alles ebnende Zeit das bärtige Gesicht meines Schulkameraden und Namensvetters Laci Rend. So was zu wagen wie einen Vollbart in damaliger Zeit und noch dazu mit achtzehn Jahren, wo die Altersgenossen noch vergeblich ihr flaumiges Gesicht um ersehnten Bartwuchs täglich mit dem Rasiermesser blutig kratzten. Umsonst hat ihn unser immer auf Humor ausgerichteter Literaturlehrer Molter beim Abhören aufgefordert: Nehmen Sie gefälligst Ihren Bart ab, wenn Sie mit mir sprechen! Er konnte es bei bestem Willen nicht, da seine rechte Hand, seit ihm seine Flinte gelegentlich einer Pirsch unglücklicherweise losging, gelähmt geblieben war. Er besuchte uns ein paar Tage vor unserem Abtransport und bestätigte die Nachrichten aus London, daß unsere Verschleppung auch unsere Vernichtung sein werde.

Er beschwor uns, zu ihm zu fliehen. Er war hauptberuflich Oberpostinspektor und betrieb ein kleines Gehöft in der Nähe der Stadt. Ein kleiner Planwagen stand vor unserem Tor, und wir konnten uns nicht entschließen; wir standen auf verlorenem Posten auf legaler Basis. Laci glaubten wir nicht, jenem schöndekorierten Polizeioffizier ja. Wir übergaben ihm eine noch bei mir gebliebene goldene Taschenuhr von meinem gottseligen Vater und einen Perser-Gebetsteppich zum Aufbewahren. Das zierliche kleine Pferd mit dem Planwagen und darauf der schöne unwahrscheinlich lange Bart mit Laci Rend gingen von unserem Fenster und verschwanden mit unserer letzten Chance in der Dämmerung. Wir schauten uns ratlos und verloren an.

Bevor ich weitererzähle, möchte ich noch über Laci einiges berichten. Wäre ich ein begnadeterer Berichterstatter, müßte schon aus den paar Sätzen, die ich über ihn schrieb, seine menschliche Größe erscheinen. Nach meiner Rückkehr aus der Deportation erfuhr ich, daß er während des Krieges als Postbeamter getarnt für den britischen Geheimdienst tätig war und so über die Deportation genau Bescheid wußte. Zwar durfte er darüber unter keinen Umständen sprechen, doch das Verschweigen ließ sein Gewissen nicht zu. So war er – wie er mir erzählte – auf das Schlimmste gefaßt, als nach unserer Verschleppung die Männer der Sicherheitsorgane in seiner Wohnung erschienen. Und siehe – solche Wunder gab es auch –: Sie sind nur wegen der paar Sachen angetreten, die wir auf seinen Vorschlag ihm zur Aufbewahrung anvertraut hatten. Wer ihn verraten hatte, wisse er nicht. Ich konnte ihm die Angelegenheit aber gleich erklären: Derjenige, der ihn preisgab, war ich. Die Schergen der Polizei haben mich nämlich im Sammellager in der Ziegelfabrik vorgenommen und ermahnt, wenn ich den Verbleib meiner Wertgegenstände nicht preisgebe, dann schlagen sie es aus meiner Frau heraus. Diesen Beweggrund ließ Laci gelten mit der Bemerkung, daß er die zwei Wochen Arrest, die er absitzen mußte, als Devotament für das Andenken meiner im Lager ermordeten Frau betrachten wolle.

Mitte April war’s dann so weit: Die Deportation der Juden begann. Wir durften so viel mitnehmen, wie jeder tragen konnte. Am Vorabend saßen wir noch mit meiner Frau Hedy zusammen neben unseren mit Habseligkeiten gefüllten Rucksäcken und unterhielten uns halblaut über tausend Neben- und Hauptsächlichkeiten, z.B. wie aktuell jetzt für uns die bekannte spielerische Frage sei »Was würdest du mitnehmen auf eine verlassene Insel, wenn …« in Anbetracht unserer armseligen Bündel, wobei uns ein unruhiger halbwacher Schlaf überfiel, aus dem wir frühmorgens unsanft durch schrilles Pfeifen und laute Kommandos von der Straße gerissen wurden. Unter Frauen- und Kindergejammer haben wir uns fertiggemacht. Inzwischen hat sich eine sich durch die ganze Stadt windende Kavalkade aus der jüdischen Bewohnerschaft der Stadt gebildet, die langsam Richtung Stadtmitte sich fortbewegte, eskortiert durch ungarische Polizeischergen. Von SS oder deutschen Wehrmachtsoldaten sahen wir vorerst niemanden.

Ich befand mich mit Hedy in der Reihe neben unserem Rabbiner Dr. phil. Franz Löwy, einem hochgebildeten Theologen und Europäer. Er zitierte den »morituri-te-salutant«-Spruch dem Polizisten, der ihm mit »Leck mich …!« antwortete. Hinter uns an der Seite kauerte auf einem Planwagen der elegante und immer auf gute Manieren bedachte Bankdirektor, der kurz vorher eine Herzattacke erlitten hatte. Neben ihm ging die immer, sogar auch jetzt, elegante Ehefrau E. Etwas weiter vorn erblickten wir die jüdische Besatzung des Etablissements in der Malom-Gasse, mit dem totumfactum immer auf Spaß ausgerichteten Halandzsa Berci auf der Seite, der jetzt mit gesenktem Auge in sich gekehrt bei Tageslicht befremdet aussah – oder vielleicht war das sein wahres Gesicht, sozusagen a.D. Und dann die Kollegen: Zunächst fällt mir der beleibte kränkliche Kinderarzt Dr. H. ein, schwitzend, keuchend unter seinem überdimensionierten Rucksack nebst Handkoffer, den er bald am Wege stehen ließ. Wer weiß, wer sich der reichen Beute hinterher bemächtigte. Neben ihm stelzte auf seinen Kranichbeinen sein ewiger Konkurrent Dr. Gidali, der im KZ vor meinen Augen beim Schienenschleppen starb, ohne daß ich ihm helfen konnte.

Weiterhin erinnere ich mich noch an V., den reichen Besitzer eines gutgehenden Modegeschäftes, mit Frau und schöner Tochter, alle mit aparten kleinen Rucksäcken nebst eleganten Köfferchen. Was für eine Auszeichnung, nun durfte ihn der kleingewachsene, immer etwas ungepflegte orthodoxe Textil-Kleinladenbesitzer S. Sch. als Weggefährte in die Ewigkeit begleiten. Übrigens alles gute Bekannte, langjährige Kollegen meines gottseligen Vaters. Ich dachte mit Zufriedenheit, daß er das alles nicht erleben mußte. Weiterhin erinnere ich mich an den selbstsicheren egoistischen Buchhandlungsbesitzer mit ewigem Hader mit seinem Bruder, der ihm mit seinem kleineren Buchladen die Konkurrenz machte, daneben sein Sohn, der begabte Cellist, seit einer Kinderlähmung hinkend; er kam wie alle Behinderten gleich nach Ankunft im KZ in die Gaskammer.

Als wir an der katholischen Kirche vorbeikamen, drehte sich der Rabbiner zu uns zurück:

»Seht ihr, wenn auch unser Planet von Kirchtürmen wie ein Igel bespickt ist, konnte die Religion bis jetzt das Tierische im Menschen nicht besiegen.«

Ich erwiderte: »Bitte, Hochwürden, die Tiere nicht zu beleidigen, denn die töten ihre Artgenossen nur im Zwang.«

Ich ging mit festem Schritt, dem uns anstarrenden Pöbel, der uns in dichten Reihen meist teilnahmslos anglotzte, ins Auge schauend. Ich sah lediglich eine ärmlich gekleidete Frau, die ihre Tränen abwischte. Die besser gestellten Bürger unserer Stadt, die auch meistens Bekannte, sogar Freunde in der Kolonne der Verschleppten hatten, zogen es vor, aus ihrem sicheren Hort hinter den Fenstergardinen ihrer Wohnungen herauszuspähen. Ich sah kaum bekannte Gesichter zwischen den Glotzenden auf der Straße.

Am Hauptplatz sammelte sich die aus verschiedenen Stadtteilen herströmende Menge, hauptsächlich aus Frauen, Kindern und älteren Männern bestehend. Die jüngeren Jahrgänge gingen inzwischen in Rußland zugrunde. Vom Hauptplatz aus wurden wir dann zu der am südlichen Rand der Stadt befindlichen alten Ziegelfabrik geführt. Das Wetter spielte anscheinend nicht mit, denn es war ein herrliches Frühlingswetter. Als wir da anlangten, suchte jeder ein Plätzchen außerhalb des verlassenen Fabrikgebäudes, um sich irgendwie einzurichten. Die meisten, wie auch wir, bauten sich aus Bettlaken ein Zelt auf. Um die Ziegelfabrik erhob sich ein Wall aus jahrzehntelang angehäuftem Ziegelschutt, eine gute Möglichkeit für die schaulustigen Umherwohnenden, der ameisenhaften Tätigkeit der Verdammten zuzuschauen. Für die Kranken war in der Synagoge in der Stadt ein Notkrankenhaus eingerichtet, wo wir Ärzte täglich unter sehr primitiven Umständen Dienst leisteten. Da traf ich meinen Onkel Izsak, der dann noch auf dem Transport im Waggon starb. Dann den hervorragenden schlaksigen Internisten, den schon bejahrten Dr. H., der noch dort im Krankenhaus Selbstmord beging. In einer Ecke traf ich unsere ehemalige Nachbarin, die Ehefrau des Bankdirektors und engagierten Sozialisten J.H., die – wie sie mir angab – noch nie in einer Synagoge gewesen war. Zwar war die Bewachung mangelhaft; trotzdem hat niemand zu flüchten versucht, wobei manche – wie wir auch – ahnten, was auf uns zukommt. Der Name »Auschwitz« wurde schon hie und da erwähnt. Wie eine Zwangsjacke hat sich die Passivität unser bemächtigt. Wir waren eine kopflose Herde auf dem Wege zur Schlachtbank. Lag es vielleicht am Fehlen der aktiven jugendlichen Jahrgänge? Wer weiß es? Heute kommt es mir grauenhaft vor, wie wir uns ohne Widerspruch fügten. Ich kann selber mein damaliges Selbst nicht mehr verstehen.

Verschleppung

Es kam der Tag der Einwaggonierung. Jetzt haben wir zum allererstenmal die SS kennengelernt. Unter ihrer Aufsicht wurden wir von den ungarischen Gendarmen wie ein Haufen lebloser Müll in die Viehwaggons hineingetrieben. Ohne Treppen mußten wir selber unsere Frauen, Kinder, Alten, Kranken in die dreckigen Waggons hieven, sechzig bis siebzig in einen 10-Tonnen-Waggon. Wir klebten aneinander wie Ölsardinen. Die meisten ließen ihr mitgeführtes Gepäck liegen vor Hast und Gedränge. Hedy und ich hatten unsere Rucksäcke nebeneinander gestellt und hofften darauf, später sitzen zu können. Vorerst halfen wir, die Menschen in dieser Enge irgendwie zu organisieren. Da wir nicht wußten, wie lange die Reise dauerte, haben wir sie ermahnt, die Getränke in dieser warmen Zeit einzuteilen. Wir ahnten schon, daß wir während der Fahrt nicht versorgt werden würden. Am grausamsten war es mit den Kleinkindern und Alten. Schon nach kurzer Zeit hatten wir einen Herztoten. Die plombierten Waggons wurden nicht geöffnet; die Toten blieben bei uns. Es wurde heiß im Innenraum. Der Verwesungsgeruch machte sich bald bemerkbar. Die durch Stacheldraht gesicherten zwei hochstehenden Fensterluken langten für die notwendige Lüftung nicht. Die Getränke gingen allmählich zur Neige. An manchen Haltestellen wollten barmherzige Menschen, meist Frauen, uns etwas Obst oder Wasser durch die Luken reichen, was die Geleitmannschaft grob vereitelte. Es gab immer mehr Tote: alte Leute und Säuglinge, die meist verdursteten. Ein ständiges Stöhnen, Weinen, Zetern, Schreien hat die Menschen bis zum Wahnsinn getrieben. Wir, wie auch andere, die ihre Getränke den Kleinkindern und Kranken gaben, litten unter quälendem Durst. Jetzt ahnten schon die meisten, wohin die Reise ging; anders konnte man diese Grausamkeit nicht erklären. In der dunklen Ecke des Waggons schrie ein fünf- bis sechsjähriger Junge auf einmal mit aufgerissenen Augen wie besessen: Man führt uns in den Tod, ins Verderben, man wird uns ersticken!

Am Bahnhof Dej erkannte mich, wie ich aus der Waggonluke hinausspähte, der Stationsvorsteher, den ich einst behandelt hatte, der mir zu verstehen gab, daß wir um jeden Preis flüchten sollten, denn er wisse genau, daß man uns nach Auschwitz bringe, um uns zu vernichten. Jetzt wußten wir es genau. Das war am dritten Tag unserer Reise. Was tun? Wir haben darüber niemandem etwas gesagt. Wozu auch? Was konnten diese ausgemergelten Frauen und Kinder schon unternehmen? Wir saßen auf unseren Rucksäcken, hielten einander fest und verabschiedeten uns voneinander und vom Leben, von dem draußen tobenden Frühling mit den sogar hierher verirrten Düften, von den sprießenden Feldern, von unserer kurzen gemeinsamen Vergangenheit.

Am vierten des Morgens kamen wir in Auschwitz-Birkenau an. Die Hilfeleistung bei den zermarterten Frauen und Kindern bei den ständigen »Los!-Los!«-Rufen der SS-Schergen nahm mich so in Anspruch, daß ich kaum merkte, was um mich geschah, bis ich plötzlich vor Dr. Mengele stand, der die Angekommenen mit seinem berüchtigten »nach rechts« zur Arbeit und »nach links« in den Gastod selektierte. Hedy blieb bei den Frauen, denn man hat gleich beim Aussteigen Frauen und Männer getrennt. Wir konnten uns nicht einmal Lebewohl sagen, denn die polnischen Kapos haben uns mit ihren Gummiknüppeln weitergetrieben. Ich drehte mich, sie suchend, ein paarmal um und erhaschte den Anblick ihres mir wohlbekannten Pepitakleids, wie es dahinwandelnd von der wallenden Menge verschluckt wurde. Meine Augen liefen mit Tränen voll. Hedy, Hedy, mein Liebes, wiederholte ich flüsternd, verlaß mich nicht. Das war der Abschied. Ich sah sie nie wieder. Die Welle der Masse riß mich weiter meinem dunklen Schicksal entgegen.

Als wir ein eisernes Tor passierten, an welchem die blecherne Schrift »Arbeit macht frei« zu lesen war, erkannte ich, woher die unaufhörlichen rhythmisch-dumpfen Schläge, die mir seit der Ankunft im Ohr nisteten, rührten. Es musizierte eine unwahrscheinlich bizarre kleine Musikkapelle aus Hampelmännern in gestreiften Häftlingsanzügen mechanisch, plärrend, monoton, mit müden maskenhaften Gesichtern, unter der Fuchtel eines kleinen kahlköpfigen verschrumpften Dirigenten ewig den wiederkehrenden Refrain des damaligen Schlagers »Rosamunde, schenk mir dein Herz und dein Ja« – eine passende Vorbereitung zum Todestanz, wie ich es vorahnte.

Ich fühlte mich schmerzlich allein gelassen in dieser traurigen Menschenmasse. Unsere Habseligkeiten wurden durch Gestalten mit gestreiftem Häftlingsanzug eingesammelt. Einer raunte mir im Vorbeigehen zu, auf die rauchenden Fabrikschlote weisend: Dort verbrennen deine Frau und deine Kinder, und du folgst ihnen auch bald durch die Schlote.