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Es scheint so, dass Zeit und Information in einem gewissen Wechselverhältnis stehen. Es ist das Thema vorliegenden Buches. Er zeigt den Zusammenhang von Information, Kultur und Zeitverständnis, liefert einen Einblick in die originellen Einsichten der alten Philosophen, beschreibt wie Physiker das Wesen der Zeit sehen, dass sie Zeit aber auch als überflüssig in ihren gegenwärtigen Theorien betrachten und schließlich wie besondere Uhren ticken. Ausführlich befasst sich der Inhalt, mit dem Menschheitstraum, Zeitreisen und mit dem Phänomen des nie endenden Jetzt. Auf die Problematik der Zeitumstellungen und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit und Psyche der Arbeitenden und Schulkinder wird ausführlich aufmerksam gemacht.Selbst das merkwürdige Zeitverhalten des Schlüpfens gewisser Insekten wird erklärt. Wie der Autor den Begriff der Information definiert, so dass er zum Schlüssel für das Verständnis der Zeit wurde, ist im zweiten Teil dieses Buches enthalten.
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Seitenzahl: 452
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Diether Elstner
Zeit und Information
Es gibt Uhren - gibt es auch Zeit?
Tredition Verlag
© 2021 Diether Elstner
3. Auflage, Vorgängerausgabe 2022
ISBN Hardcover: 978-3-347-81821-7
ISBN E-Book: 978-3-347-81822-4
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Grundsätzliche Erörterungen gehören zu
der Selbstbesinnung einer Wissenschaft,
aber unterhaltend sind sie selten.
(C.G. Jung)
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Vorwort zur II. Auflage
Vorwort zur III. Auflage
ZEIT
1. Einleitung
2. Zeit und Kultur
3. Die alltägliche abendländische Zeitvorstellung
4. Zeit in der Philosophie
Platon (428/427 - 348/347 V.Chr.)
Aristoteles (384 V. Chr. - 322 V. Chr.)
Plotin (204 n.Chr. – 270 n. Chr.)
Augustinus von Hippo (354 – 430)
Galileo Galilei (1564–1642) und Isaac Newton (1642 - 1727)
Leibniz (1646-1716)
Emanuel Kant (1724 - 1804)
Edmund Husserl (1859 - 1938)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831)
Henri Bergson (1859 - 1941)
Martin Heidegger (1889 – 1976)
John McTaggart Ellis McTaggart (1866 – 1925)
5. Zeit in der Physik
Zeit und klassische Physik – retrospektiv
Zeit in der nichtklassischen Physik
Ausschluss der Zeit in der klassischen Physik
Zeit und Kausalität
6. Zeit und einige Positionen in der Physik zum Zeitverständnis
Carl Friedrich von Weizsäcker (1912 – 2007)
Hans-Peter Dürr (1929 -2014) und Peter Eisenhardt( †2017)
Wolfgang Deppert (*1938): Analyse des Zeitbegriffs
Kurt Gödel (1906 - 1978) – Stephen Hawking (1942 – 2018)
Ilja Prigogine (1917–2003): Irreversibilität und Zeitpfeil
Carlo Rovelli (*1956): Zeit existiert nicht, Lee Smolin(*1955): Zeit existiert
Julian Barbour (*1937): Zeitkapseln
Carl Friedrich von Weizsäcker Zeitpunkte in der abstrakten Quantentheorie306
George Francis Rayner Ellis (*1939): Evolvierendes Blockuniversum
Resümee
7. Zeit und Zustand
8. Zeit und Information
9. Zeit und Zeiterleben
10. Zeit und Organisation
Organisationen und ihre Zeittakte
Zeit - Produkt von Organisation
Der Zeittakt innerhalb der Organisation
Zeittakte - Zeitumstellungen
Zeit das Produkt von Organisation II - Ereigniszeit
11. Zeitreisen
12. Zeit und das Jetzt
13. Uhren und einige ihrer Probleme
14. Zeit – Horizont des Seins
15. Schluss
Information
1. Einleitung
2. Information - Flickenteppich oder Gordischer Knoten
3. Information und Organisation
4. Das Wechselspiel von Information und Organisation
Der Messvorgang
Tables logarithmiques et trigonometriques
Volkswahlen
Markt und Ware
Musik
Biologische Zellen
Umgangssprache und Kausalitätserwartung
5. Das Verhältnis von Information und Organisation
6. Beobachtung und Information
7. Informationsübertragung
8. Information und Kommunikation
Definition V: Kommunikation ist ein Prozess, bei dem zwischen Systemen Strukturen ausgetauscht werden.
9. Information ohne Kommunikation
10. Kommunikation und Organisation
11. Informationssysteme
12. Information und Gesellschaft
13. Organisation und Kräfte
14. Information und Wirkung
15. Das Phänomen Information – eine Analogie zur Wärmelehre
16. Schluss
Nachwort
Danksagung
Literatur
Namensregister
Bildnachweise:
Anhang A
Ein Dialog mit Chat-GPT*
Anhang B
Was ist Zeit?*
Anhang C
Das Wesen der Zeit*
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Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Anhang C
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Vorwort
Zeit und Information sind in der modernen Gesellschaft alltägliche Begriffe. Zeit können wir nicht genug besitzen, haben wir aber fast nie. Mit der Information verhält es sich eher umgekehrt, ein Überangebot unnützer Informationen steht einem schmalen Spektrum uns wirklich interessierender bzw. uns bewegender Informationen gegenüber. Im Prinzip wäre das schon alles, was über beide zu sagen wäre. Doch es existiert eine kaum übersehbare Zahl an Schriften zu beiden Themen. Und das scheint, Gründe zu haben. Zeit wird zwar erlebt, aber kaum verstanden, da nicht greifbar. Informationen sind zwar greifbar und förmlich vor der Nase, aber ihr Begriff ist strittig. Auch der Autor dieser Schrift meint, Gründe für ihre weitere philosophische Betrachtung zu haben. Für beide Begriffe gilt, dass sie in der Industriegesellschaft, als messbare Größen gehandhabt werden. Zeit ursprünglich in Stunden angegeben, entwickelt sich in den Berichten aus Wissenschaft und Technik in für uns nicht nachvollziehbare Milli-, Piko- und Attosekunden und Informationen - anfänglich in Byte und Kilobyte veranschlagt - erfordern inzwischen Rechnerfarmen mit Speicherkapazitäten in gigantischen Peta- und Zetta-Byte-Dimensionen. Zeit und Information sind miteinander verkoppelt. Je mehr Sachverhalte in elektronischen Informationssystemen vorhanden sind, umso weniger Zeit benötigen wir, um auf sie zuzugreifen und je mehr Daten wir speichern, umso mehr Zeit und Energie werden benötigt, um leistungsfähige Speichermedien und Übertragungswege zu entwickeln. Die entsprechenden quantitativen Berechnungen bereiten an sich keine Schwierigkeiten, komplizierter wird es mit dem Verständnis, was Zeit und Information als Phänomene bedeuten. Zeit bei spannender Lektüre oder im Abenteuer vergeht wie im Fluge, schleicht aber beim Warten - und was vergeht da eigentlich? Eine Nachricht, im alltäglichen Sinne als „Information“ gewertet, ist bei ihrer Wiederholung uninteressant, fast wertlos. Beide Nachrichten, in Byte angegeben, sind absolut identisch, ihr Neuigkeitsgrad oder ihr „Informationsgehalt“ ist vollkommen verschieden. Schlimmer noch, Informationen zwischen den Zeilen sind sogar als Bit oder Byte nicht zu finden. Was also scheint Information zu sein und gibt es überhaupt Zeit? Und wenn sie beide nicht greifbar sind, wie kann dann Zeit und Information miteinander verbunden sein? Der Inhalt vorliegender Lektüre versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Er gliedert sich in die Kapitel Zeit und Information, wobei das zur Information vor dem der Zeit und zwar ohne Berücksichtigung des Zusammenhangs von Zeit und Information entstand, ursprünglich als Beitrag in der online Zeitschrift TripleC1 abgefasst. Ausgangspunkt dortiger Betrachtungen war der Wunsch, zu verstehen, was Organisation in der Natur ist. Es zeigte sich, dass ihr Wesen, ohne die Begrifflichkeit der Information, nicht zu klären ist. Gleiches gilt für das, was wir unter Zeit zu verstehen meinen. Information wird als Einheit zweier gegensätzlicher Vorgänge gesehen: Erstens als Prozess, in dem das perzipierende System eine Veränderung erfährt und zweitens als Reproduktion dieser Veränderung – Speicherung – durch das nun veränderte System. Information besitzt in dieser Auffassung als objektives Maß das der kleinstmöglichen physikalischen Wirkung.
Ohne Beachtung der Zeit ist die moderne Gesellschaft mit ihren verflochtenen Prozessen nicht realisierbar. Zeit ist dort von zentraler Bedeutung und wird als messbare physikalische Größe gehandhabt. Im Allgemeinen jedoch ist Zeit ein unverstandenes Phänomen, was sich in der theoretischen Physik als ein ernstes Hindernis in der beabsichtigten Vereinigung von Quantenphysik und allgemeiner Relativitätstheorie erweist und Anlass zu Bestrebungen gibt, Zeit in ihrer Eigenschaft als fundamentale Größe abzuschaffen. Seit der Antike wird um das Verständnis der Zeit gerungen; die Vielzahl an Veröffentlichungen zu überblicken, geschweige denn, sie vollständig zu reflektieren, ist aussichtslos. In den nachfolgenden Ausführungen werden Zeitverständnisse herausragender Philosophen und Physiker unter dem Blickwinkel eigener Überlegungen wiedergegeben, wobei in letzteren zwischen Zeit und Dauer unterschieden wird. Bereits Aristoteles in der Antike und Leibniz in seinen Disputen mit Newton trennten klar zwischen Zeit und Dauer. Zeit wird in dieser Schrift als ein Begriff für besondere Zustände verstanden, entsprechend dieser Auffassung, vergeht nicht Zeit, es vergehen Zustände; Uhren zeigen Zustände an. Objekte mit regelmäßigen Zustandsänderungen gestatten es, die Dauer anderer Zustände oder Prozesse zu bestimmen und einen Bezug zwischen ihnen herzustellen – somit Informationen zu gewinnen. Zeit als Begriff entwickelte sich aus der Notwendigkeit, komplexe wiederkehrende Naturphänomene zu benennen, ihnen koordiniert zu begegnen, bzw. im Einklang mit ihnen zu handeln; sie ist ein Mittel, die Umwelt und ihre Bewegungen zu verstehen, sie zu nutzen, zu formen und letztlich in ihr zu bestehen. Innerhalb der menschlichen Gesellschaft ist Zeit aber vor allem ein Normativ zur Koordinierung arbeitsteiliger Prozesse; sie passt das Individuum in die allgemeinen Prozesse der Gesellschaft bei gleichzeitiger Einengung seiner Freiheiten ein. In der Wissenschaft ist Zeit ein notwendiges Instrument, Prozesse der Natur zu reflektieren. In der Endkonsequenz der Überlegungen dieses Essays wird Zeit als reines Produkt und Instrument der Gesellschaft und letztlich des menschlichen Geistes angesehen.
Berlin, August 2019 Diether Elstner
1 Er liegt ungeachtet des positiven, aber verleugneten, Peer-Reviews als Reflection (Non Peer-Reviewed) in https://triple-c.at/index.php/tripleC/article/view/208 vor.
Vorwort zur II. Auflage
Da seit dem Erscheinen der 1.Auflage nur anderthalb Jahre verstrichen sind, gab es keine Gründe, wesentliche Änderungen im Text - außer drei Ergänzungen - vorzunehmen, einmal im Abschnitt Zeit und Zustand zur Zeitproblematik in der Urknalltheorie, im Punkt Zeit und Organisation bezüglich der Informationspolitik zweier Organisationsformen in der Covid-19 Pandemie und schließlich zum Punkt Information und Gesellschaft. Mein eigentliches Anliegen besteht darin, den hervorragenden Artikel (Anhang C) des Physikers Julian Barbour aus dem Jahre 2008 in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Möge der an Formeln ungewohnte Leser sich dort an diesen nicht allzu sehr stören und sie einfach übergehen, sie gehören nun einmal zur Fundierung physikalischer Aussagen dazu, ihr Aussparen käme dem Weglassen von Salz und Gewürz in einer Speise gleich.
Noch eine Bemerkung zu den häufigen Zitaten im Text. Sie sind ihrer Prägnanz halber aufgenommen, einerseits als Verbeugung vor der Scharfsinnigkeit ihrer Autoren und andererseits meine Art der Wiedergabe und Bewahrung von Originalgedanken.
Berlin, Januar 2021 Diether Elstner
Vorwort zur III. Auflage
Grund für eine dritte Ausgabe ist, meine ursprüngliche Vorstellung zum Umfang dieses Essays zu verwirklichen. Wesentliche Ergänzungen betreffen das „Jetzt“, und den neu aufgenommenen Anhang B. Entfernt wurden Ausführungen zur Informationspolitik zweier Organisationen in der Covid19 - Pandemie, da zu speziell, denn alle Organisationen sind bestrebt, jede Kommunikation zu kontrollieren und die ihren Zielen als störend erscheinenden Informationen zu unterdrücken oder passend zu modifizieren. Ende 2022 lud die US-amerikanische Firma OpenAI die Öffentlichkeit ein, ihr Sprachmodell Chat-GPT zu testen und entfachte einen Wettlauf hinsichtlich schnellster Einbindung von KI-Werkzeugen in alle möglichen digitalen Anwendungen. Obwohl verlockend und möglich, ist kein Text dieses Buches, bis auf den Anhang A, mit Hilfe eines KI-Systems erstellt, ergänzt bzw. lesefreundlicher gestaltet worden. Noch eine Bemerkung zu den angeführten Zitaten. Ihr Zusammenhang zum Text scheint nicht immer offensichtlich und ein verbindender oder erläuternder Text hierzu scheint wünschenswert zu sein. Es sind in meinen Augen oft sehr tiefgründige Aussagen ihrer Autoren, die bewusst dem Leser zur eigenen Kontemplation überlassen wurden.
Die ungeliebte Zeitumstellung sollte im Jahre 2022 in der EU abgeschafft werden, aber wie bereits befürchtet, hat sich in dieser Frage im europäischen Parlament aufgrund der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine nichts getan; im Gegensatz zu Mexiko, das 2022 diese, allerdings auch nach jahrelangen Diskussionen, wegen Ineffizienz hinsichtlich des Energiesparens, abschaffte. Vielleicht sind die Wissenschaftler der führenden Weltraumorganisationen der Erde, angesichts ihrer aktuellen Pläne hinsichtlich Exploration und Besiedlung von Mond und Mars, etwas schneller, ein eigenes Zeitsystem für jeden dieser Himmelskörper zu vereinbaren.
Berlin, Juni 2023 Diether Elstner
ZEIT
1. Einleitung
Der Schritt in die Philosophie geschieht faktisch jedes Mal, wenn Wissenschaftler merken, dass sie nicht wissen, was die Worte bedeuten, in denen sie ihre Methoden auslegen. (C.F. v. Weizsäcker)
In einem Navigationssystem Ort, Straßenname und Hausnummer oder nur „Kölner Dom“ einzugeben ist hinreichend, um zum Kölner Dom geführt zu werden. Für den Besuch des Dominneren genügen diese Angaben allerdings nicht, hier ist das Wissen um eine weitere Angabe vonnöten – die sogenannte Öffnungszeit des Doms. Ein Ausflug in die blühende Natur bedarf neben gewissen Ortskenntnissen der Kenntnis der Blütezeiten der einzelnen Pflanzen - Früchte zu ernten, des Wissens um ihre Reife. Die Abhängigkeit von diesen Zeiten ist in der modernen Gesellschaft für den Einzelnen moderat, deutlicher wird sie bei der Urlaubsplanung, in der verschiedene Zeiten, wie Arbeitszeiten, Ferienzeiten der Kinder und Empfangszeiten von Zielorten etc., aufeinander abgestimmt werden müssen. Es sind Ereigniszeiten, nach denen wir uns richten.
Im gleichen Maße wie Intensität und Grad der Verflechtung unserer Arbeit und der unterschiedlichsten Prozesse untereinander wächst, leben wir hauptsächlich nicht mehr nach Ereigniszeiten, sondern Rhythmus und Tempo unserer Tätigkeiten reguliert die sogenannte Uhrenzeit und diese Abhängigkeit nimmt mit dem Fortschritt der Gesellschaft zu. Diese Zeit zeigt sich als eine reale Größe, deren Nichtbeachtung das Individuum in Bedrängnis und die Gesellschaft an den Rand des Chaos bringen könnte.
Mit einer synchron gehaltenen Überzahl an Uhren – an fast allen technischen Geräten, die wir bedienen oder die uns umgeben - koordinieren wir private und die in Wirtschaft und Gesellschaft von uns geforderten bzw. erwarteten Aktivitäten. Wären diese Uhren nicht aufeinander abgestimmt, wären sie nutzlos und wirkten höchst destruktiv. Ihre zunehmende Zahl ist Ausdruck des steigenden Verflechtungsgrades der verschiedensten Prozesse untereinander, der Verkürzung von Produktionszyklen sowie immer schnellerer Reaktions- und Rückwirkungszeiten der Systeme.
Was aber ist eine Uhr? 1910 definierte Albert Einstein (1879 – 1955):
Unter einer Uhr verstehen wir alles, was durch das Phänomen periodisch wiederkehrender identischer Phasen charakterisiert ist, so dass wir, gemäß dem Prinzip des hinreichenden Grundes, annehmen müssen, das alles, was in einem bestimmten Zeitraum geschieht, identisch ist mit dem, was in einem beliebig anderen Zeitraum passiert.2
Das heißt, angefangen bei den Sonnen-, Mond- und Sternpositionen sowie den Jahreszeiten, sind wir in natura von einer Vielzahl von Uhren umgeben. Darüber hinaus ist fast jede unserer eigenen biologischen Zellen mit einer inneren Uhr ausgestattet und wird durch die Hauptuhr im Gehirn synchronisiert, die sich wiederum an der Uhr des Tag- und Nachtwechsel orientiert.3
Unser Körper, unser gesamtes Leben ist der Zeit und ihren unterschiedlichsten Rhythmen unterworfen. Dabei ist ihr empfundener Lauf bekanntermaßen eigenartig: Mal scheint sie quälend langsam zu schleichen und andermal läuft sie uns förmlich davon. Aber auch unser soziales Verhältnis zur Zeit ist unterschiedlich: Das individuelle Zeitreservoir - die Zeit in der anscheinend keine Abhängigkeiten von äußeren Faktoren, wie Arbeitszeiten oder inneren Zwängen, wie die Einhaltung von Verhaltensregeln zur Gesunderhaltung etc. existieren - wird weitgehend als Luxus betrachtet, während in der eigentlichen Luxusgesellschaft - die frei von materiell bedingten Zwängen der Lebensführung scheint - der wahre Luxus in der effizienten Zeitausnutzung gesehen wird.
Mit Uhren meinen wir, Zeit sichtbar machen zu können und zu beherrschen. Aber tun wir das wirklich und was ist das, was wir beherrschen wollen?
Die Internetplattform FQXI schrieb 2008 einen Wettbewerb zu der Frage aus „Was ist Zeit?“. An ihr beteiligten sich Physiker als auch Philosophen. Es zeigte sich, dass paradoxerweise gerade die Physiker, die unsere Zeitauffassung prägten, sie präzisieren und letztlich die Mittel zur genauen Zeitmessung bereitstellen, dabei sind, die Zeit als physikalische Grundgröße in ihren fortgeschrittenen Theorien zu eliminieren. So gebrauchte der Physiker Julian Barbour (*1937) in seinem, mit dem ersten Platz ausgezeichneten Essay(Anhang C), den bildhaften Vergleich mit “Des Kaisers neue Kleider“, dem Märchen von Hans Christian Andersen, wobei hier die Zeit als Kaiser sich in den verschiedensten Kleidern präsentiert, nur mit dem Unterschied, dass unter diesen ein Nichts wandelt. Alles, was wir über die Zeit zu sagen vermögen, ist, so Julian Barbour, ihre Kleider zu beschreiben.
2 Einstein A., „Principe de relativité" Arch. Sci. Phys. Natur., ser. 4. 29 5 (1910).
3 Summa, K.; Turek, F.W. 2015, S. 36 - 41
2. Zeit und Kultur
Und wie es scheint, sind wir es mit unserer Kultur und Sprache, die der Zeit die Kleider überstülpen, um dann über ihre Erscheinungen verwundert zu sein.
Europäer betrachten die Zukunft als „vorn“ und die Vergangenheit als „hinten“ und neigen unwillkürlich den Körper vorwärts, wenn sie an die Zukunft denken und rückwärts bei Gedanken an die Vergangenheit. Aymara eine in den Anden verbreitete Sprache, verlegt die Vergangenheit nach vorn und die Zukunft nach hinten. Bewohner, die diese Sprache sprechen, deuten vor sich, wenn sie über die Vergangenheit reden und hinter sich, wenn sie die Zukunft meinen.4
Für die Zande im Südsudan überlappt sich Gegenwart und Zukunft, so ist das zukünftige Schicksal von zukünftigen Bedingungen abhängig, die aber als bereits gegeben angenommen werden. Für die Nuer, eine andere sudanesische Volksgruppe, gibt es keine Entsprechung für Zeit. Die einzelnen Jahre werden nach Überschwemmungen, Epidemien, Hungersnöten, Kriegen etc. benannt, die in ihnen stattfanden, wobei diese im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Den Abstand zwischen Ereignissen messen die Nuer mit Hilfe von Begriffen, die sich auf Altersgruppen ihrer Angehörigen beziehen, wobei die Bezugspunkte eine Projektion der gegenwärtigen Beziehungen sozialer Gruppen in die Vergangenheit darstellen.5
Auch viele Indianerkulturen Nordamerikas bezeichnen die Zeit in ihrer Sprache nur indirekt. Die Sioux haben kein einzelnes Wort für „Zeit“, „spät“ oder „warten“. Die Hopi verfügen nicht über Verbzeiten für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Kachin und Hopi haben Schwierigkeiten, Zeit als Größe wahrzunehmen, aber setzen sie auch nicht mit Geld oder der Uhr gleich. Zeit existiert nur in der ewigen Gegenwart.6
Bei Naturvölkern wurde oft unter einem „Jahr“ nur der Zeitraum verstanden, der mit produktiver Arbeit ausgefüllt war. Die dafür nicht nutzbare Periode dagegen wurde, besonders im hohen Norden, als leere Zeit empfunden, die man weder registrieren, noch in Abschnitte zu unterteilen brauchte.7
Gleiches galt für die Frühzeit des römischen Reichs, in der das Jahr nur in 10 Monate, von März bis Dezember, unterteilt war. Die Zeit von Mitte des Winters bis Frühjahrsbeginn wurde ebenfalls ausgelassen, da in dieser Zeit wenig landwirtschaftliche Arbeit anfiel.8
Wichtige Arbeitsvorgänge fielen in der „leeren Zeit“ aus. Die leere Zeit war der Zustand des Fehlens notwendiger und festgelegter Arbeiten.
Zeit begegnet [uns]9 hier als das, worüber zu disponieren ist, was man so oder anders ausfüllen kann und das man daher zu verwalten hat.10
Nicht nur primitive Völker, sondern auch hochentwickelte Kulturen haben dem zeitlichen Modus des Seins und der Notwendigkeit einer zeitlichen Perspektive unterschiedliche Bedeutung beigemessen.11 Anders als im Abendland wurde Zeit im alten Ägypten nicht als Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft empfunden, sondern als ein Phänomen dem zwei Aspekte zugrunde liegen: Zyklische Wiederholung und ewige Dauer - Neheh und Djet, wobei diese nicht auseinander hervorgehen und nicht voneinander unterschieden wurden, sondern erst zusammen in ihrer Gesamtheit Zeit bezeichnen. Für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft behalf man sich mit Umschreibungen.12 Jede Stunde war in Ägypten einem entsprechenden Gott zugeordnet.13
Babylonische Zeitbegriffe definierten Vergangenheit wörtlich als „Vorderseitiges“ oder „im Angesicht Daliegendes“, die Zukunft mit dem Begriff des „das im Rücken Liegende“, der Ansicht Verschlossenes. Die normative Kraft der Tradition, deren Idealbild der Gesellschaft stets in der Urvergangenheit angesiedelt war, ließ die Entwicklung der Gesellschaft nicht als Fortschritt, sondern als Restauration einer anfänglichen Ordnung und Stabilität verstehen.14
In den frühesten Kulturen bestanden eindeutige Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen. So wurde in Ägypten die Krönung eines neuen Pharaos häufig auf den Beginn eines neuen Zyklus der Natur verschoben. Ein günstiger Zeitpunkt war entweder das Ansteigen des Nils oder das Absinken, wenn die schlammgedüngten Felder saatbereit waren.15
Für die alten Kulturen, bedingt durch ihre Abhängigkeit von zyklisch auftretenden Phänomenen der Natur, ist ein ebenso zyklisches Verständnis für Zeit charakteristisch, in der Entwicklung entweder nicht möglich oder als eine Annäherung an einen als verloren gegangenen Idealzustand längst vergangener Perioden gedacht war. Angesichts zu ertragender Verluste durch Tod und Zerstörung, verursacht durch Naturereignisse oder Kriege, diente ein zyklisches Zeitverständnis dem Glauben an die Wiederkehr verloren gedachter idealer Zustände. Vorbild war hier die Wiederkehr kosmischer und irdischer Konstellationen. Die Bewegungen der Gestirne, ihre Stellungen und Bewegungen am Himmel wurden in allen alten Hochkulturen genauestens beobachtet, registriert und in Korrelation zu erfolgten bzw. befürchteten oder zu erwarteten Göttertaten auf der Erde gesetzt.
Hinsichtlich der sich unaufhörlich ereignenden Göttergeschichten gab es keinen Unterschied in der Zukunft und in der Vergangenheit. Der kommende Frühling war das identische göttliche Ereignis des vergangenen Frühlings.16
Lebten die antiken Völker in einer Kultur mit von unterschiedlichen Göttern regierten Zeiten so änderte sich dies für die frühen europäischen Länder mit der Deklaration des Christentums als Staatsreligion grundlegend.
Die europäische [christliche] mittelalterliche Kultur besaß eine lineare Zeitauffassung, war jedoch überzeugt, verdammt zu sein, von einem Idealzustand - dem Paradies - auf den Weltuntergang zuzusteuern.17 Diese biblische Zeitauffassung hatte ernste Konsequenzen hinsichtlich der Entwicklung von Gesellschaft und Kultur.
Christliche Gelehrte berechneten anhand von Zahlenangaben in der heiligen Schrift, dass der Schöpfung nur eine Zeitspanne von 6000 Jahren gegeben sei und erwarteten für das 17. Jahrhundert die Apokalypse. Die Zukunft war somit vorbestimmt und es musste nur noch auf den Untergang gewartet werden. Zukunft war de facto bereits vergangen. Der Unterschied zwischen historischen Zeiten wurde zwar gesehen, aber nicht thematisiert, wichtiger war die Überblendung dieser Unterschiede als Synchronismus, als das Zusammenfallen unterschiedlicher Zeiten in der Gleichzeitigkeit18 [Gottes].
Gegen Ende des 17. Jahrhundert erfolgten Veränderungen im zugrundeliegenden Zeitmodell. Auslöser waren Genealogien, die mit Beginn des 16. Jahrhunderts vermehrt auftauchten und den rivalisierenden Adelsgeschlechtern zur Legimitierung ihrer Ansprüche auf Land, Abgaben, Rechte etc. und der Vergegenwärtigung ihrer Generationen dienten. Im medialen Zeitbewusstsein erfolgte ein Wechsel von der Ewigkeit zur Aktualität. Mit Aufkommen von Zeitungen, in denen genealogische Informationen und Nachrichten über Ereignisse in europäischen Herrscherhäusern eine wichtige Rolle spielten, änderten sich diese Genealogien in Richtung aktueller Information über den status quo.19
Mit anderen Worten: Informationen bedingten das Aufkommen eines neuen Zeitverständnisses, führten aber noch nicht zur Ablösung alter Zeitauffassungen. Nach Achim Landwehrs (*1968) Untersuchungen ist das 17. Jahrhundert deshalb ein Neben-, Über- und Durcheinander unterschiedlicher Zeitmodelle.
Diese Veränderungen im 17.Jahrhundert verdeutlichen, Zeit ist ein kulturelles Phänomen, das sich als ein Ordnungsparameter der Gesellschaft herausbildete, zum Anfang um Herrschaftsansprüche geltend zu machen und in der Folge, das Zusammenwirken der verschiedensten Kräfte und Bewegungen in der Gesellschaft zu koordinieren.
Seit rund 1.400 Jahren wird in Japan jede Kaiserregentschaft mit einer neuen Herrschaftsdevise begleitet. Der Begriff dabei ist nicht nur namensgebend für den Kaiser selbst, sondern für die gesamte Zeitrechnung im Land. Mit einem Kaiserwechsel, ändert sich auch die Zeitrechnung: Die Kalender springen zurück auf das Jahr 1. So wurde die Ära des bis zum 30.
April 2019 amtierenden Akihito mit Heisei betitelt (Frieden überall, 1989-2019), an dessen Vater Hirohito erinnert man sich als Showa-Kaiser (Erleuchteter Frieden, 1926-1989). Mit Kaiser Naruhito wurde seit dem 1. Mai 2019 das Jahr 1 der Reiwa-Ära (Schöne Harmonie) eingeläutet. Da in offiziellen Dokumenten aller möglichen Institutionen - von Behörden über Medien bis zu Unternehmen - nicht der gregorianische Kalender verwendet wird, sondern die Zeitrechnung der Kaiserären, mussten die Informationssysteme auf den neuen Äranamen umgerüstet und aufs Jahr 1 zurückgestellt werden. Das war ein besonderes Problem, weil Naruhitos Inthronisierung den ersten Ärawechsel seit 1989 markiert - also den ersten, seit Computer die Gesellschaft durchdrungen haben. Dateien, die ab Mai 2019 noch mit dem 31. Jahr der Ära Heisei datiert wurden, obwohl schon das 1. Jahr von Reiwa begonnen hatte, konnten verloren gehen, wie in der Stadt Koga, wo durch die Umstellungsbemühungen versehentlich knapp 1.700 Wasserrechnungen gelöscht wurden.20
Zeitauffassung und Kultur sind offensichtlich eng miteinander verwoben. Welche grotesken Folgen sich ergeben, wenn Zeit aus dem Kontext ihrer Kultur gelöst wird, beweist der Medienhype in der westlichen Welt bezüglich des Endes eines Langzeitzyklus im Kalender der Maya am 21.12.2012 „als dem Ende der Welt“.
Christlich Orientierte suchen immer nach Hinweisen darauf, dass die Welt untergeht, während die Maya dagegen stets Beweise dafür gesucht haben, dass sich nichts verändert. Die Maya dachten in Zeitzyklen und nicht in linearen Zeitabläufen. Das ist eine völlig andere Geisteshaltung21 – sprich Kultur.
Das objektiv zu beobachtende Zeitempfinden der Lebewesen ist Anpassung an regelmäßig wiederkehrende Phänomene in einer sich ständig verändernden Welt. Aus dieser ursprünglichen Adaption entstand in der menschlichen Entwicklung ein Instrument, das der koordinierten Handlung in der Gesellschaft dient. Aus der Funktion der Einhaltung kultureller Riten zur Anbetung und Gnädigstimmung von Göttern, gut belegt durch die Geschichte der Ägypter und Maya, entwickelte es sich mit Beginn der Arbeitsteilung aus einem Herrschaftsinstrument zum Instrument der Organisation der gesellschaftlichen Tätigkeiten und des Zusammenlebens.
Vor der Erfindung der mechanischen Uhr war es nahezu unmöglich, Aktivitäten [präzise] zu koordinieren. Verabredungen fanden, üblicherweise im Morgengrauen statt. Es ist deshalb kein Zufall, dass viele wichtige historische Ereignisse auf die Zeit des Sonnenaufgangs fielen – Duelle, Schlachten, Zusammenkünfte.22
Der Sozialpsychologe Robert Levine (*1945) beschrieb in seiner Monographie „Eine Landkarte der Zeit“ seine Studienergebnisse zur allgemeinen Schnelligkeit des Lebenstaktes in 31 verschiedenen Ländern. Aus diesen ergaben sich fünf Grundfaktoren, die das Tempo der Kulturen in der ganzen Welt bestimmen. So bewegen sich Menschen in Regionen mit einer blühenden Wirtschaft, einem hohen Industrialisierungsgrad, einer größeren Einwohnerzahl, einem kühleren Klima und einer auf den Individualismus ausgerichteten kulturellen Orientierung, tendenziell schneller. Darüber hinaus konstatierte er, dass zwei fundamental unterschiedliche Zeitkulturen existieren bzw. gehandhabt werden, in denen entweder nach der Ereigniszeit oder der Uhrenzeit gelebt bzw. gehandelt wird, wobei jede Kultur festgelegte Regeln über die Reihenfolge von Ereignissen hat.23
Was noch nicht zum Allgemeinwissen unserer Zeit gehört, ist die Tatsache, dass Unterschiede im sozialen Habitus der Mitglieder verschiedener Gesellschaften häufig für Schwierigkeiten oder sogar Blockierungen der Verständigung zwischen ihnen verantwortlich sind. Solche Blockierungen sind besonders wahrscheinlich und besonders massiv, wenn Gesellschaften miteinander in Berührung kommen, die verschiedene Stufen der sozialen Entwicklung vertreten. Ein weniger zeitbewusstes Verhalten kann leicht als Beleidigung oder als Unverantwortlichkeit erscheinen.24
Jede Kultur glaubt, sie selbst lebe im wahren Raum und der wahren Zeit, und jedes andere Raum- und Zeitverständnis sei entweder eine Annäherung an die eigene Auffassung oder eine Pervertierung derselben.25
In der Industriegesellschaft gehört zum Allgemeingut die Überzeugung, dass die Wirklichkeit durch Naturgesetze bestimmt wird, und dass Zeit deshalb auch identisch ist mit physikalisch messbarer Zeit.26 Sie ist seit 1972 die sogenannte koordinierte Weltzeit (UTC) – und basiert auf der Internationalen Atomzeit (TAI), ein gewichtetes Mittel der Signale von 450 über 80 Orte der Erde verteilten Atomuhren.27 Es ist die Zeitauffassung der klassischen Physik, die auf Newton zurückgeht und deren Anfänge bis zu den griechischen Denkern Plato und Aristoteles reicht. Es ist eine Zeitauffassung mit den drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wo Vergangenheit durch Fakten bestimmbar ist und Zukunft in Form von Möglichkeiten erwartet bzw. erahnt wird. Gegenwart wird als das bewegte ewige Jetzt des Augenblicks gedacht, das sich aber im Vorgang seines Bewusstwerdens zum Fakt des Vergangenen wandelt.
Jetzt wissen wir das Vergangene in Form von Fakten. Jetzt wissen wir das Zukünftige in Form von Möglichkeiten. Das Jetzt verrinnt unablässig.28
4 Boroditsky, L. 2012, S. 31-32
5 Whitrow, G.W.1999, S. 27
6 Leach,E: R, Rethinking Anthropology, Hall, E., The Dance of Live, zitiert in Levine,R. 2016, S.137
7 Hahn, I. 1989, S.11
8 Hahn, I. 1989, S.112
9 In eckige Klammern sind eigene Einfügungen eingeschlossen.
10 Hans Georg Gadamer, Über leere und erfüllte Zeit in Zimmerli 2007, S.284
11 Whitrow, G.W. 1999, S. 48
12 Assmann,J. 2010, S. 63
13 Wikipedia.org/wiki/Stundengottheiten
14 Maul, S. 2010, S. 73
15 Whitrow, G.W. 1999, S. 48
16 Deppert, W. 1989, S.206
17 Goetz 1992, Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelarterlichen Geschichtsbewusstsein, zitiert in Landwehr, A. 2014, S. 104
18 Ebd.
19 Ebd., S. 116 -125
20 https://www.golem.de/news/neue-kaiseraera-in-japan-das-jahr-1-problem-1904-140875.html
21 Saturno,W. 2012
22 Levine,R. 2016, S. 98
23 Ebd., S. 38, 258
24 Elias, N. 1990, S. 117-118
25 Levis Mumford zitiert in Levine,R. 2016, S. 245
26 Ebd., S. 33
27 https://en.wikipedia.org/wiki/International_Atomic_Time
28 Weizsäcker, C. F. v., 1992, S. 278
3. Die alltägliche abendländische Zeitvorstellung
Die durch Kultur und Sprache vorgeprägte, abendländische Zeitauffassung wird vor allem durch Wirtschaft und Technik dominiert. Sie stellt hier eine Art Ressource dar, zwar nicht greifbar, da „verfließend“, aber dennoch bezifferbar.
Durch eine seltsame Anstrengung des Intellekts hat der zivilisierte Verstand die Zeit- das obskurste und abstrakteste aller immateriellen Güter- auf die objektivste Größe überhaupt reduziert – Geld.29
Die lineare Orientierung dieser Zeitauffassung geht auf das Christentum zurück, wobei Kalender und die Konventionen der Zeitrechnung hauptsächlich von den Römern übernommen worden sind. Die Kreuzigung Christi wird als einmaliges, unwiederholbares Ereignis angesehen. Zeit wird damit zwangsläufig linear und nicht zyklisch; sie beginnt mit der Schöpfung und endet, christlicher Auffassung entsprechend, mit dem Weltuntergang.30
Die gegenwärtig durch Technik dominierte und durch die neueren Erkenntnisse der Physik und Kosmologie beeinflusste Zeitauffassung, geht allerdings nicht von einer göttlichen Schöpfung aus, sondern vom sogenannten Urknall und ist sich allerdings, eben dieser neueren Erkenntnisse zufolge, hinsichtlich einer möglichen Unendlichkeit oder eines Endes der Zeit nicht sicher.
Neben den drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen dieser Auffassung gleichfalls die zwei Aspekte zyklische Wiederholung und ewige Dauer zugrunde und werden ebenfalls erst zusammen in ihrer Gesamtheit als Zeit bezeichnet, hier nur mit dem Unterschied, dass wir nicht, wie im Alten Ägypten, vor der zyklischen Wiederholung von Kontinuitäten individuellen Göttern zugeordneter Zustände zu stehen meinen, sondern mittels eines sich zyklisch ändernden Systems (Uhr) vor der Kontinuität abzählbarer und damit individueller nicht wiederkehrender Zustände im Kalender stehen.
Abbildung: 1
Es besteht kein Grund die rückwärtsgerichtete zyklische Zeitauffassung der Altvorderen in Bezug auf unsere Zeitbetrachtung zu belächeln. Eine gedacht ideale Uhr ist ein reversibler Prozess, in der ebenfalls gleiche Zustände immer wieder reproduziert werden und somit auch hier Zeit periodisch „rückwärts läuft“ und eine konkurrierende Theorie zu der des Urknalls ist die des Big Bounce, die ein zyklisches Aufblähen und Zusammenfallen des Raumes postuliert.
Die Einordnung von Ereignissen nach vergangen und zukünftig wird in der alltäglichen Zeitauffassung zusätzlich durch die Begriffe früher, später oder gleichzeitig verfeinert. Vermittelt wird diese Unterscheidungen durch das sogenannte „Verstreichen“ von Zeit - der durch Uhren suggerierte stetige Zeitfluss - wobei der Richtungsverlauf dieses Fließens von früher zu später postuliert ist. Die sich so ergebenden beiden Begriffstripel „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ und „früher, gleichzeitig, später“ werden nach dem Philosophen McTaggart (1866 – 1925) als die A- und B- Serie und kausalverknüpfte Ereignisse als die C-Serie bezeichnet.
Mit dem „Verstreichen“ von Zeit wird die sogenannte „Zeitdauer“ von Prozessen gekennzeichnet; es werden hier die Begriffe, der durch Uhren gemessenen kürzeren, längeren oder gleichen Dauerabschnitte genutzt, die sich in der Hierarchie von „Zeitabschnitten“: Sekunde, Minute, Stunde, Tage etc. bis hin zu Äonen wiederspiegeln.
Die in der täglichen Sprache gebrauchten Begriffe wie Uhrzeit, Öffnungszeit, Urlaubszeit, Betriebszeit, Steinzeit usw. sind sowohl dynamisch als auch statisch besetzt, wobei die Frage nach der Uhrzeit auf eine momentane Stellung der Uhrzeiger abzielt und weitere Zeiger- bzw. Zifferänderungen ignoriert.
Das Betreten eines nicht „zeitgemäß“ gestalteten Interieurs bedingt Kommentare, wie „…die Zeit ist stehengeblieben“ bzw. „…in die Zeit zurückversetzt“, je nachdem, ob Untätigkeit oder Absicht des Besuchten vorlagen. So schrieb Peter Scholl Latour (1924 - 2014) in „Fluch der Bösen Tat“:
In dem stilvollen historischen Gästehaus Ehsan kam bei mir endlich das Gefühl auf, im tiefen Orient eingetroffen zu sein. Hier war die Zeit stehengeblieben .31
Meist sind es Reminiszenzen modischer oder kultureller Art. Die zeitorientiert gegensätzliche Art des „Festhaltens“ von Zeit, das Versenden von Zeiteindrücken in die Zukunft, liegt bei sogenannten „Zeitkapseln“ vor, mit denen Informationen zur „gegenwärtigen Zeit“ späteren Generationen übermittelt werden sollen; meist bei Grundsteinlegungen angelegt und eingemauert. Ihre Inhalte sind die „Mittel der Zeit“ und damit Vermittler der Zeit: Chronologien, Dokumente zu aktuellen Geschehnissen, Zeitungen, Film- und Tonaufnahmen, Münzen etc. Das Deponierte sind im weitesten Sinne Strukturen, die einen Rückschluss auf bestimmte Verhältnisse eines Zustandes der Gesellschaft zulassen, aus denen sie ursprünglich stammen und die umgangssprachlich mit dem Begriff „unsere Zeit“ belegt werden.
Wo keine Veränderungen erfolgen, existiert keine verfließende Zeit - alles steht still. Bernsteineinschlüsse, deren Inklusionen es gestatten, Einblicke in die Lebenswelt und Luftverhältnisse der Kreidezeit zu erlangen, sind natürliche Zeitkapseln. Das im Jahre 79 von glühender Lava verschüttete Pompeji, in der das Leben, ähnlich wie im Bernstein, auf schreckliche Art fixiert wurde, stellt ebenfalls eine - für die betroffenen Leben furchtbar tragische - Zeitkapsel dar.
Zeit weist im erweiterten Sinn auf Systeme hin, in denen Prozesse ablaufen bzw. abliefen. Dies zeigt sich in Begriffen wie: Lebenszeit, Blütezeit, Arbeitszeit, Zeit Karls des Großen oder Kreidezeit, wobei diese Benennungen es offenlassen, ob es sich um die Charakterisierung der damit umschriebenen Gesamtheit von Prozessen oder um deren Dauer handelt. Zeit besitzt im allgemeinen Sprachgebrauch Mehrdeutigkeit.
Diese Widersprüche, die im Alltagszeitverständnis verborgen liegen, sind einer der Gründe, warum uns der Zeitbegriff so dunkel und unverständlich vorkommt und warum so viele Philosophen versucht haben, durch das Entwerfen von Zeittheorien, unversöhnliche Gegensätze im Verständnis von der Zeit auszuräumen.32
29 Levine, R 2016, S. 147
30 Whitrow, G.W. 1999, S. 96,108
31 Peter Scholl Latour, 2014 „Der Fluch der bösen Tat“, S. 329
32 Deppert, W. 1989, S. 34
4. Zeit in der Philosophie
Ob die Zeit überhaupt Realität hat, ist eine Frage, die durch die ganze Tradition des abendländischen Philosophierens das Denken begleitet. (Georg Gadamer)33
Die hier aufgeführten Zeitauffassungen von Philosophen des Altertums erfolgen unter dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts und stützen sich auf ausgewählte Literaturstellen und werden somit deren Ansichten nicht im vollen Umfange gerecht. Es werden Betrachtungen und Zitate von Philosophen - vor allem der Neuzeit - übernommen, die sich mit ersteren historischphilologisch und philosophisch ausführlicher auseinandersetzten und die die klassischen Philosophen sicher treffender als ich charakterisierten. Eine Wertung dieser Aussagen gegeneinander wird nicht erfolgen, da jene - historisch bedingt - vor einem jeweilig anderem wissenschaftlichen Hintergrundwissen erfolgten.
Philosophieren über Zeit steht vermeintlich vor dem Problem, dass Zeit im ontologischen Sinne kein Sein zugeordnet werden kann, aber wahrgenommen wird. Augustinus von Hippo brachte es durch seinen berühmten und oft kolportierten Ausspruch auf den Punkt: Zeit ist erfahrbar, aber nicht vorzeigbar.34
Platon (428/427 - 348/347 v.Chr.)
Nach Gernot Böhme (*1937) machte Platon unter dem Begriff Chronos die Zeit zum ersten Mal in der Geschichte zum Thema philosophischer Betrachtungen. Zwar werden bereits Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft von Homer und anderen vor Platon in der Literatur verwendet, aber Platon sei der Erste, der die Zeitmodi in Zusammenhang mit dem Begriff Chronos betrachtet.35
Im Parmenides entwickelt Platon eine Logik der Zeit: „Kein Gegenstand, der älter oder jünger ist als ein anderer, kann also jemals älter oder jünger werden als dieser, sofern er stets um ein gleiches Maß im Alter von ihm sich unterscheidet, sondern er ist bereits und ist geworden älter oder jünger, nicht aber wird er es erst.“36
Der Ursprung von Zeit - wie von Allem - wird bei Platon einem Schöpfungsakt zugeschrieben. Es drängt sich die Frage auf: Warum eigentlich? Reflektionen unserer Vorfahren über das eigene Ich und besonders die philosophischen Gedanken der großen Denker der Vergangenheit erfolgten fast immer, angesichts des Werdens und Seins von Harmonie und Vollkommenheit in der Natur und der Erkenntnis, selbst gestalten zu vermögen, gleichermaßen jedoch im schmerzlichen Bewusstsein der Beschränktheit menschlicher Fähigkeiten - auch hinsichtlich des Verstehens des Weltgeschehens - in der befürchteten Annahme der Existenz einer höheren vollkommenen Schöpferkraft und Vernunft, der Existenz eines allmächtigen Schöpfers und allwissenden Geistes.
Bei Platon wurde dieser Glaube durch die zusätzliche Annahme der Existenz einer zweiten Welt von reinen, für sich und nur unter sich im Verhältnis stehenden zeitlosen Ideen überhöht.
Dadurch ist bei Platon Erkenntnis immer nur Erkenntnis der Ideen, wobei diese nie direkt, sondern nur mittelbar durch ihre Bilder, als Abglanz ihres wahren Seins, der begrenzten menschlichen Vernunft zugängig seien. Aus der Betrachtung des Bildes, wird ermittelt, wie das Original zu denken ist, um dann das Bild zu erklären. Zeit ist bei ihm ein Abbild der Ewigkeit37, wobei der Kosmos diese zur Darstellung bringt.38
Dieses Ewige, das in Platons Erkenntnis als das sogenannte Eine gilt, ist, wie auch immer gedanklich vervielfältigt, wiederum das Eine – das Ewige unveränderliche, orts- und zeitlos. Der sich bewegende Kosmos hingegen kann dann, entsprechend dieser Logik, nur ein Abbild sein:
..aber ein bewegtes Bild der Ewigkeit beschließt er zu machen und bildet, um zugleich dadurch dem Weltgebäude seine innere Einrichtung zugeben, von der in der Einheit beharrenden Ewigkeit ein nach der Vielheit der Zahl sich fortbewegendes dauerndes Abbild, nämlich eben das, was wir Zeit genannt haben. Nämlich Tage, Nächte, Monate und Jahre, welche es vor der Entstehung des Weltalls nicht gab …39
Die zeitlose Ewigkeit nach der Vielheit der Zahl Ablesende bzw. Abbildende ist die Zeit. Die Gestirne bilden hierbei die „Werkzeuge der Zeit“, wobei Sonne und Mond eine Sonderstellung einnehmen: „Nun aber nehmen wir … Tag und Nacht und auch die Monate und die Jahresumläufe wahr und haben so durch dies alles die Zahl sowie den Begriff der Zeit empfangen“.40
Mit der Auflösung des Kosmos – der Ordnung - ist für Platon auch das Ende der Zeit gedacht: „So entstand denn also die Zeit zugleich mit der Welt, damit beide, zugleich ins Leben gerufen, auch zugleich wieder aufgelöst würden, wenn ja einmal ihre Auflösung eintreten sollte.“ ….41
Interessanter Weise existiert für Platon nicht schlechthin eine Zeit, sondern: Auch bei Gestirnen, die weder einen besonderen Namen tragen, noch deren Umläufe zahlenmäßig bestimmt wurde, findet er „dass auch ihre Bahnen, deren Menge verwirrt und deren Mannigfaltigkeit wunderbar ist, eine Zeit bezeichnen.“42
Es gibt, Platon zufolge, Zeit, weil es Veränderungen gibt und unter den Veränderungen nehmen Gestirnbewegungen die erste Stelle ein, weil von ihnen alle Prozesse abhängen. Aber worauf es Platon, laut Kurt Flasch(*1930) , ankommt, ist das der Charakter der Zeit ein ständiges Werden darstellt, das nach den Gesetzen der Zahl geregelt ist.43
Für unser, durch Newton geprägtes, Zeitverständnis ist das des Platons nicht leicht nachvollziehbar. Eine Erklärung hierzu kann aus seinem Verständnis von Erkenntnis abgeleitet werden: Aus dem Abbild ist auf das Original, die Idee, zu schließen. Die Zeiten, beobachtet als vollständige Umläufe der Gestirne können somit als vollständige, wenn auch mehrfache, Abbilder eines Originals verstanden werden. Ein Teilbild bzw. das Abbild eines Teils des Urbildes würde hingegen zum unendlichen Regress auf der Erkenntnissuche nach dem wiederum dahinter befindlichen, ganzheitlich gedachten Original führen.
Für Platon ist Zeit ein Derivat der Bewegung.44
Allerdings nicht jeder Bewegung - sondern nur einer Ideales als Ganzes abbildenden Bewegung.
Zusammen mit der „Zeit“ gelangte eine nicht minder unverstandene und umstrittene Entität in die Welt: “Die Darstellungsweise ist mit den Gegenständen, welche sie zum Verständnis bringen soll, auch selber verwandt und daher ist zu erwägen, dass die Darlegung des Bleibenden und Beständigen und im Lichte der Vernunft Erkennbaren selber das Gepräge des Bleibenden und Unumstößlichen an sich trägt.“45
Es ist die Seele, göttliche Vernunft abbildend und verkörperlichend, die den Bau des Weltalls ermöglichte, so „dass diese Welt als wirklich beseeltes und vernünftiges Wesen durch Gottes Vorsehung entstanden ist.46 …. Nachdem nun also alle die Sterne, welche zur Erzeugung der Zeit mitwirken sollten, in den einem jeden zukommenden Umschwung gebracht und durch beseelte Bänder, die ihren Körper zusammenhielten, zu lebendigen Wesen erhoben und des ihnen Aufgetragenen inne geworden waren.47 … Denn die Entstehung dieser Welt war ja eben eine gemischte, indem sie aus einem Zusammentreten der Vernunft und der Notwendigkeit hervorging; jedoch herrschte hierbei die Vernunft über die Notwendigkeit.“48
Aufgabe dieser Weltseele ist es, die Ordnung der reinen Bestimmungen (Ideen) und Proportionen (Zahlen) zu dynamisieren und Gesetzmäßigkeit und Definitionskonformität in die Stoffwelt und ihre Prozesse einzuführen. Sie soll sichern, dass das Logische auch Kraft erhalte.49
In Platons Vorstellung wurde sie in unterschiedlichen Proportionen auf die Stofflichkeit aufgeteilt und erzeugte so den jeweiligen abgestuften Vernunftsgrad der Bewegungen der Gestirne, der Sonne, des Mondes, der Menschen und Tiere.
Platons Ausgangshypothese ist die Existenz der Ewigkeit, des sogenannten Einen, der orts- und zeitlosen Ideen, der Existenz eines Schöpfer - dem Demiurgen (Schöpfer) – und der Existenz einer sich in chaotischer Bewegung befindliche Materie.
Die Entstehung der Welt wird dem Demiurg zugeschrieben, der die Gestirne mit Hilfe der Zeit ähnlich der Ewigkeit und die Götter unter Beteiligung, als auch Hinzunahme der Seele, in entsprechender Verteilung, ähnlich ihm und die Menschen ähnlich denen und letztlich die übrigen Anteile der Welt erzeugt. Die Seele ist anteilmäßig als Weltseele somit in jeder Daseinsform enthalten. Als „Darlegung des Bleibenden und Beständigen“, verhaftet der Welt und mit dem „Gepräge des Bleibenden und Unumstößlichen“, vermitteln Zeit und Seele die Widersprüchlichkeit des Seins.
Es ist Platons Ansatz zur Erklärung von Geschichtlichkeit und Kausalität der Evolution: Die Existenz einer außerirdischen Welt der Ideale und einer diesseitigen, ursprünglich chaotischen Materie, die gemäß ersterer geformt und, um das rätselhafte Wirken von Gesetzen zu erklären, beseelt wird.
Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.)
Aristoteles ist zwar Platons Schüler, übernimmt aber nicht dessen Konzept einer übergeordneten Ideenwelt. Zeit ist bei ihm ebenfalls Folge von Veränderungen, nur entwickelt er sie subtiler, indem er den Bewegungsverlauf als solchen unterteilt. Böhmes Analyse der Schriften des Aristoteles hinsichtlich des Zusammenhangs von Zeit und Zahl, die im Folgenden wiedergegeben wird, widmet sich speziell dieser Frage und fördert dessen Dialektik in der Zeitauffassung zu Tage, wobei Böhme selbst diese Wortwahl meidet:
Aristoteles fand als Platons Schüler in dessen Lehre und der des Pythagoras einen Zahlbegriff vor, der unserem Verständnis von Zahl als Anzahl verschieden ist. Zahl ist nach alter griechischer Auffassung eine bestimmte Weise von Einheit. Dinge können danach Zahlen sein. Dort wo Zahl zur Bestimmung des Wesens der Zeit dient, wird sie selbst nicht als Quantum verstanden, sondern als strukturelle Einheit eines bestimmten Seinstyp.
…Die Zeit aber ist Zahl, nicht solche mit der wir zählen, sondern gezählte Anzahl.50
Platon unterschied die Seinsbereiche des Denkbaren und des sinnlich Erfahrbaren, die bei ihm Rangfolgen mit abgestuften Abhängigkeitsverhältnissen bildeten. Ideen-Zahlen stellen den obersten Bereich dar, auf den Linien- und Flächen folgen und zuletzt der Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Körper. Die jeweils höhere Stufe enthält dabei die nachfolgenden. Diese Hierarchie konstruierte er analog zu den Dimensionen. Platon setzte die Dimensionsfolge als Zahl-Linie-Fläche-Körper, d.h. er begann nicht mit dem Punkt, den er nicht als etwas Seiendes, sondern als eine mathematische Annahme betrachtete. Den Stufen des Seins sind, entsprechend der Folge der Dimensionen, die Zahlen 1, 2, 3, 4 zugeordnet. Die Idee der Linie ist die Zwei, oder: In der Linie erscheint die Idee der Zwei. Für Aristoteles ist somit die Strecke „Zweiheit im Kontinuum“, d.h. Zweiheit in der Länge.51
Wir haben demnach Zeit als konkrete Zahl (d.h. primär konkrete Zwei) zu betrachten, d.h. als Etwas, das durch zwei Jetzte begrenzt ist. Dabei hat man als Zeit (entsprechend den Verhältnissen bei der Strecke) weder die Jetzte allein, noch das zwischen ihnen allein anzusehen, sondern das Ganze (aus beiden).52
Für die weitere Analyse der Aristotelischen Zeitauffassung wählt Böhme die Analogie zur Pythagoreischen Musiktheorie. Dort wurde ein Intervall als ein Abstand begriffen, der durch Töne als seine Grenzen definiert ist. Dabei ist nicht an ein gleichzeitiges Zusammenklingen von zwei Tönen zu denken, sondern an deren Reihung. Es ist das Zusammen dieser Töne – ihre gefügte Reihung. Man kann somit ein Intervall durch Töne bilden; die Töne sind aber selbst nicht Teile des Intervalls. Ebenso kann man Zeit durch Jetzte abgrenzen, die gleichfalls nicht Teile der Zeit sind. 53
Aristoteles: „Was nämlich begrenzt ist durch ein Jetzt, das ist offenbar Zeit. Und das soll zugrunde gelegt sein“.54 Nach Auffassung von Böhme ist dies die eigentlich ausschlaggebende Definition der Zeit.
Die Analogiebetrachtung zur Akustik wird uns weiter unten noch einmal bei Husserl´s Zeitvorstellung begegnen.
Die Anzahl der Jetzte spielt in Aristoteles Zeitauffassung eine gewisse Rolle, aber Zeit ist nicht ihre Anzahl. Ebenso wenig ist Zeit eine Anzahl von Bewegungsabschnitten: denn Zeit ist bereits festgestellt, wenn eine Bewegung festgestellt ist. Zeitabschnitte, d.h. solche Zahlen, die wiederkehrende Bewegungsabläufe darstellen, sind - wie Aristoteles explizit als Beispiele nennt - Jahr, Frühling, Herbst.55
Zeit ist das durch Jetzte Aufgespannte, insofern die Jetzte als frühere und spätere unterschieden und das frühere und das spätere Jetzt aufeinander bezogen sind, wobei die Jetzte dauerlos nicht der Zeit angehörig sind. Heidegger (1889 – 1976) formuliert diese Auffassung bildhafter und lässt Aristoteles sagen:
Das nämlich ist die Zeit, das Gezählte an der im Horizont des Früher und Später begegnenden Bewegung.56
Den erwarteten Einwänden, dass die Begriffe „davor“ und „danach“ schon einen Zeitbegriff vorwegnehmen entgegnete Aristoteles schon einmal präventiv: „Die Bestimmungen „davor“ und „danach“ gelten also ursprünglich im Ortsbereich; da sind es also Unterschiede der Anordnung; indem es nun aber auch bei (Raum)Größen das davor und danach gibt, so muss [uns] notwendigerweise auch in dem Bewegungsablauf das „davor“ und „danach“ begegnen, entsprechend den (Verhältnissen) dort. Aber dann gibt es auch in der Zeit das „davor“ und „danach“, auf Grund dessen, dass hier ja der eine Bereich dem anderen unter ihnen nachfolgt.“57
Die Zeit ist einerseits als Ganzes, als eine Einheit – als Zahl - zu betrachten. Andererseits, durch ihre Bestimmung mittels einer Bewegung, besteht für Zeit die Möglichkeit der Teilbarkeit, wobei die Teilbarkeit der Bewegung vorausgesetzt wird.
„Wenn eine Zeit vergangen zu sein scheint, scheint gleichzeitig auch eine bestimmte Bewegung vor sich gegangen zu sein. Also: Entweder ist die Zeit gleich Bewegung oder sie ist etwas an dem Bewegungsverlauf. Da sie nun aber gleich Bewegung eben nicht war, so muss sie etwas an dem Bewegungsverlauf sein“.58
Es gibt zwei Grundvoraussetzungen für diese Auffassungen: Erstens lehnt Aristoteles die Existenz der Platon´schen Ideenwelt ab: Dinge sind real, sie sind keine Abbildungen einer Idealität und der Mensch ist befähigt, die diesen Dingen anhaftenden Eigenschaften selbst zu erkennen. Zweitens: Zahlen, als Quantum, sind aus einer Einheit zusammengesetzt zu betrachten.
Das heißt: Ideale sind Eigenschaften realer Dinge, die sich dort in jeweils unterschiedlichen Proportionen zeigen und erkannt werden können. Bewegung an sich ist nicht teilbar, geteilt wird der Bewegungsverlauf. Es wird ein Teil der Bewegung durch ein Früheres und ein Späteres bestimmt und somit werden der an sich gleichfalls nicht teilbaren Zeit zwei Zeiten zugeordnet und als Teilzeiten betrachtet.
Es folgt nämlich die Bewegung der Größe der Bewegung, aber die Zeit darin, dass sie Quanta, kontinuierlich und teilbar sind. Weil nämlich die Größe von der Art ist59, stößt dies der Bewegung zu, und durch die Bewegung der Zeit.60
Zeit und Bewegung werden also stets zusammen abgegrenzt und Aristoteles sagt: „So groß die Bewegung war, eine so große Zeit scheint auch jeweils sich ergeben zu haben“.61 Diese Erkenntnis verallgemeinert Aristoteles noch einmal:
Denn das ist eben Zeit: die Messzahl von Bewegung hinsichtlich des„davor“ und„danach“.62
Für Aristoteles ist aber auch klar, dass das Immerseiende, insofern es immerseiend ist, nicht in der Zeit ist: es wird ja nicht von Zeit eingefasst, undes wird nicht die Dauer seines Seins von der Zeit gemessen. Und da die Zeit Maß von Bewegung ist, so wird sie auch von Ruhe das Maß sein: jede Ruhe findet statt in der Zeit.63
Und die Zeit ist also auf Grund des Jetzt sowohl zusammenhängend, wie sie auch mittels des Jetzt durch Schnitte eingeteilt wird.64 Es ist Aristoteles Dialektik pur.
Es ist seine Formulierung des gefühlten ewigen Jetzt der Gegenwart und des Jetzt der Zeitteilung. Wie Böhme meint, war Aristoteles, wie auch alle anderen über Zeit Nachdenkende sich folgenden Faktes bewusst:
Die Bestimmung von etwas als ein quantum continuum geschieht durch Messung. Eine Messung besteht darin, dass ein Ganzes als Vielfaches eines seiner Teile, als Einheit genommen, bestimmt wird. Eine derartige Messung ist nun bei Zeit und Bewegung nicht möglich, weil ein Teil des Ganzen als verfügbare Einheit nicht existiert.65
Aristoteles selbst:
Sie ist nur möglich, da Zeit „…etwas an dem Bewegungsverlauf“ ist. „So kann ich eine Reise als ein Vielfaches eines Teils bestimmen“.66
Eine definierte Bewegung setzt die Zeiteinheit; die Zahl dieser Einheiten somit die ganze Bewegung hinsichtlich ihrer Dauer. So kann Aristoteles schließlich sagen:
Wir messen nicht bloß Bewegung mittels Zeit, sondern auch Zeit mittels Bewegung, weil sie durch einander bestimmt werden.67
Der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russel (1872 - 1970) tat sich mit seiner von Newton geprägten Zeitauffassung - ähnlich uns - schwer, Zeit durch Zahl definiert zu verstehen – sie blieb für ihn unerschlossen und er meint:
Nach seiner Auffassung ist Zeit Bewegung, die sich zählen lässt. (Es ist nicht klar, warum er das Zählen für wesentlich hält.)68
Es ist die Dualität des „Zahlbegriffs“, die sich Aristoteles offenbarte und Zeit erst - im wahren Sinne des Wortes - für ihn begreifbar machte. Zeit war zum einen Zahl im Sinne Platons – Abbild einer Idealität, ein nicht greifbares Bild. Zum anderen - und das ist seine Entdeckung - eine Größe, der durch Definition, Setzen und Abzählen von Bewegungsabschnitten, also irdisch definierte Einheiten, eine Mess-Zahl und damit eine Dauer, d.h. eine Eigenschaft von dieser Welt, zugeordnet werden kann. Zeit erhielt durch das Zählen als Dauer eine irdische Eigenschaft. Dauer wurde die irdisch natürliche Größe der Zeit.
Für Aristoteles ergab sich damit ein Problem:
„Wenn aber nichts anders von Natur begabt ist, zu zählen als das Bewusstsein … dann ist es unmöglich, dass es Zeit gibt, wenn es Bewusstsein (davon) nicht gibt, außer etwa … wenn es Veränderungsvorgänge ohne Bewusstsein davon gibt. Das „früher“ und „später“ ist (wohl Bestimmungsstück) an der Veränderung, Zeit dagegen ist dies (erst), insoweit dies zählbar ist“.69
Für ihn ist Zeit nicht nur Sequenz, sondern vor allem „Reihenfolge im Hinblick auf ein Zählen“. Demzufolge besitzt Zeit keine stoffliche Existenz, sondern ist eine geistige Vorstellung bzw. ein Hilfsmittel, um Messungen durchzuführen.70 Dieser Gedanke, der Existenz von Zeit nur für ein Bewusstsein, wird noch mehrfach und - geschichtlich gesehen - zunächst von Augustinus geäußert.
Sein zweites Problem war diffiziler: Es gibt unterschiedliche Bewegungsformen, die eine ist Ortsveränderung, die zweite Eigenschaftsveränderung, somit unterschiedlich wie Hunde und Pferde - Aristoteles beliebter Vergleich. Gibt es dann unterschiedliche Zeiten, wie Platon möglicherweise antworten würde?
Dennoch ist die Zeit die gleiche, wenn ihre Zahl gleich ist und sie gleichzeitig abläuft, die der Eigenschaftsveränderung und die der Ortsveränderung.71
Und Aristoteles schlägt auch vor, wie hier zu messen sei: „Durch ein mittels Zeit abgegrenztes Bewegungsstück, wird von der Bewegung ihr „wieviel“
gemessen, und von der Zeit (dann auch).“ Soll ein einheitliches Maß gelten, so ist dies die Kreisbewegung, da sie gleichmäßig und die „Zahl dieser die erkennbarste“ ist.72
Hier zeigt sich ein Fakt, der sich seit Aristoteles bis in die jetzige Physik zieht: Obwohl eindeutig zwischen der Zeit als Einheit (Zahl) und der ihr zugeordneten Dauer (gezählte Mess-Zahl) unterschieden wird, werden sie begrifflich nicht mehr getrennt. Für Aristoteles an sich logisch, da der Zeit keine stoffliche Eigenschaft zugeordnet werden kann, ist sie, in seiner die stoffliche Natur zu untersuchende Physik, eben nur irdische Dauer und Newton setzt sie später pragmatisch gleich. Dauer ist in der Physik definiert, Zeit jedoch nicht.
Aristoteles geht in seiner Zeitauffassung gegenüber Platon und Newton vorwegnehmend davon aus, dass es nur eine Zeit gibt, die unabhängig von anderen Bewegungen abläuft:
„Wenn es mehrere Himmelskugeln gäbe, dann wäre ja wohl entsprechend die Zeit die Bewegung einer jeden von ihnen; so gäbe es denn viele Zeiten neben einander her. …Veränderung kann schneller und langsamer ablaufen, Zeit kann das nicht. „Langsam“ und „schnell“ werden ja gerade mit Hilfe der Zeit bestimmt…. Zeit dagegen ist nicht durch Zeit bestimmt, weder nach der Seite ihres „Wieviel“ noch nach der ihres „Wie – geartet“. 73