Zidane schweigt - Frédéric Valin - E-Book

Zidane schweigt E-Book

Frédéric Valin

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Beschreibung

Juli 1998. Die französische Nationalmannschaft schlägt Brasilien im WM-Finale. Es ist nicht nur der Sieg des Underdogs gegen den Favoriten, es ist auch der Beweis für ein Gelingen des Multikulturalismus in Frankreich. Während sich das Land in einer seit 30 Jahren andauernden ökonomischen Krise befindet, werden Zidane, Desailly und Thuram zum Symbol der neuen Republik. Präsident Chirac spricht von ›France tricolore et multicolore‹ und feiert die Mannschaft als Paradebeispiel erfolgreicher Integration. Warum aber steht eben diese Mannschaft Jahre später für das Auseinanderbrechen der französischen Gesellschaft und das Scheitern des Multikulturalismus? Warum erlebt der rechtsextreme Front National in dieser Zeit seinen größten Aufschwung? Und warum ist Patrick Vieira eigentlich ein viel interessanterer Spieler als der große Zidane? Frédéric Valin widmet sich diesen Fragen neben vielen anderen in seinem Essay "Zidane schweigt" und verknüpft in dichten Momentaufnahmen Fußball- mit Sozialgeschichte, Alltagsbeobachtungen mit Spielanalysen, persönliche Begeisterung mit dem Blick auf das gesellschaftliche Ganze. So entsteht eine Studie der französischen Gesellschaft, die ihren Ausgangspunkt auf dem Rasen hat. "Was ist Frankreich? Das ist es. Dieses Tor, dieser Jubel. Dieser Konfettiregen." Mit "Zidane schweigt" startet die neue eBook-Reihe des Verbrecher Verlags: die "Edition Elektrobibliothek". In dieser Reihe werden demnächst Romane, Erzählungen und Essays in ausschließlich elektronischer Form veröffentlicht.

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Frédéric Valin

Zidane schweigt

Die Équipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft

ES IST DER12. JULI 1998, kurz vor halb zehn, ein Vorort von Paris. 80.000 Menschen stehen in einer lauen Sommernacht und schauen auf das Stück Rasen vor ihnen. Überall auf der Welt reden Kommentatoren davon, dass heute Geschichte geschrieben werde. Es ist das Finale der WM, Frankreich gegen Brasilien.

Brasilien steht hinten drin und wartet. Den Gegner kommen lassen. Man hat einen Plan. Frankreich spielt quasi ohne Angreifer. Vorne drin steht Gui­­varc'h, der wahrscheinlich schlechteste Mittelstürmer, der je ein großes Turnier gewinnen wird. Selbst wohlmeinende Kommentatoren sagen zu seinen Qualitäten: Er läuft viel. Nach der Vorrunde haben ausschließlich Verteidiger die Tore für Frankreich gemacht, einmal Blanc, zweimal Thuram. Vorne das Elend, hinten die Not: Im Tor der Franzosen steht Bar­thez, die Knalltüte. Bei Flanken eiert er durch den Strafraum wie ein Flummi. Mit etwas Glück fällt irgendeinem der Brasilianer ein Ball auf den Kopf, und dann ab dafür. Brasilien hat Rivaldo, Ronaldo und Bebeto im Sturm, jeder von denen kann in einem hellen Moment die französische Abwehr zu einem Kranich falten. Man wartet auf eine ihrer Eingebungen.

Bis jetzt ist Frankreich, wie man heute sagt, griffiger in den Zweikämpfen, es wird nach dem Spiel viel von Wille und Einsatzbereitschaft zu lesen sein. Die einzige Großchance aber hatte Brasilien. Bis zur 27. Minute, als Frankreich zu seinem ersten Eckball kommt. Vernünftigerweise kann der eigentlich nur drei Abnehmer haben: Desailly, Lebœuf oder Thuram. Die sind zugestellt. Der Ball aber segelt an den ersten Pfosten, Zidane wuchtet sich in die Flugbahn, Kopfballtor, kurz vor der Halbzeit wird er ein zweites nachlegen. Wer darauf gewettet hat, hat genug Geld gemacht, um dieses Buch auf dem Sonnendeck seiner Jacht vor Kreta lesen zu können.

Brasilien hat jetzt nichts mehr auf der Pfanne. Ronaldo hätte nach Willen vieler Beobachter bei dieser WM seine Metamorphose vom Star zur Legende vollenden sollen; heute verkantet er sich immer wieder in der französischen Viererkette. Hinterher wird es heißen, er sei nicht fit gewesen und mit fragwürdigen Substanzen gesundgespritzt worden; andernfalls natürlich, wer weiß schon, was andernfalls geschehen wäre. Jedenfalls wird danach sehr viel über Ronaldos Knie gesprochen werden.

Das Thema verdeckt den tatsächlichen Grund für das Scheitern Brasiliens: dass nämlich der Trainer Zagallo keinen Offensivplan haben zu müssen glaubte. Den aber hätte es gebraucht, mindestens als Alternative. Verteidigung lässt sich einfacher organisieren als Angriff. Und in einem Finale in Rückstand zu geraten, ist fast schon gleichbedeutend mit einer Niederlage; das letzte Mal ein Spiel drehen konnten die Deutschen, 1974, 24 Jahre ist das her. Seither ist es nur noch einer Mannschaft gelungen; Italien 2006 gegen Frankreich. Brasilien gelingt es nicht.

Schlussendlich ist ein anderer zur Legende aufgestiegen: Zinédine Zidane. Bereits an diesem Abend verdichtet sich seine Aura ins Halbgotthafte. 2006 wird sich seine Einzigartigkeit auf dem Platz noch ein letztes Mal manifestieren. Danach wird er sich für ewig in die Geschichte des französischen Fußballs eingeschrieben haben; mehr noch: in die Geschichte Frankreichs.

Also, was im Fußball halt ›ewig‹ heißt. Ein paar Jahrzehnte auf jeden Fall.

Der Titelgewinn 1998kommt zu einer untypischen Zeit: Gerade in Frankreich sind die 90er eine Zeit des Niedergangs, eine Epoche der lähmenden Krise. Nach Fukuyamas ›Ende der Geschichte‹ füllen Apokalypsen die Feuilletons: Der Kommunismus ist passé, die Revolution endgültig Historie, selbst die Literatur gilt als erledigt.

Das Land ist müde. Seit 1974 geht nichts mehr voran. Der Ölschock hat dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit – den ›trente glorieuses‹ – ein Ende gesetzt, seither hat sich die Wirtschaft nicht mehr erholt. Die Arbeitslosenquote stagniert seither auf plusminus zehn Prozent.

Anfang der 80er versucht sich Frankreich an einer Alternative: Die Konservativen werden abgewählt, eine sozialistisch-kommunistische Regierung kommt an die Macht. Sie hat versprochen, das Diktum der Austeritätspolitik zu durchbrechen und – zumindest vorsichtig – das Wirtschaftssystem im Sinne der Arbeitnehmer umzubauen.

Der Beginn ist vielversprechend: Große Unternehmen werden verstaatlicht, der Mindestlohn heraufgesetzt, die Zinssätze abgesenkt. Es ist die Zeit des ›état de grâce‹, des Gnadenstaates. Die Ausgaben wachsen, man hofft auf eine baldige Erholung der Weltwirtschaft.

Hilfreich wäre ein generelles Konjunkturprogramm. Aber die anderen Länder beharren auf der bisherigen Linie der strikten Kostenkontrolle. Frankreich isoliert sich mit seinem Versuch, einen anderen Weg zu finden. Es reicht nicht, dass sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt stabilisiert und der Binnenmarkt anzieht. Durch die höheren Steuern tun sich einige französische Firmen schwer im Wettbewerb. Obendrein bleibt der Dollar stark: Staats- und Außenhandelsdefizit wachsen an. Also muss der Franc abgewertet werden, dreimal zwischen 1981 und 1983.

Gleichzeitig macht die De­in­dus­tri­ali­sie­rung, das Abwracken unrentabler Industriezweige, ganze Gegenden nach und nach zu urbanen Wüsten. Im Nordosten und in Lothringen vor allem hat sie tote Städte hinterlassen.

Das Experiment scheitert endgültig, als die Finanzmärkte beginnen, gegen den Franc zu wetten. Die Währung droht endgültig zusammenzubrechen und die exportorientierte Industrie mit sich zu ziehen. Frankreich bleibt nur die Wahl zwischen kompletter Abschottung und einer Rückkehr zum Liberalismus.

Die Sozialisten optieren für Zweiteres, die Kommunisten folgen halbherzig. Bald danach schon verlassen sie die Regierung und versinken in der Bedeutungslosigkeit. Es ist das Ende der Hoffnung, dass ein anderes Frankreich möglich ist. Von jetzt an wird es kein fortschrittliches politisches Projekt mehr geben. Stattdessen nähern sich die Parteien der Mitte aneinander an.

Die französische Republik ist etwas anders arrangiert als die deutsche; hier ist der Präsident mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Er wird außerdem für sieben Jahre direkt vom Volk gewählt, weswegen Phasen der sogenannten Kohabitation entstehen, heißt: Der Präsident kommt aus einem politischen Lager, die Regierung (bzw. die Parlamentsmehrheit) aus dem anderen.

Genau das geschieht 1986: Jacques Chirac, Kandidat der Rechten, gewinnt die Parlamentswahlen. Er wird vom sozialistischen Präsident Mitterrand zum Premierminister bestellt, es ist die erste Kohabitation seit 1958. Es ist auch der erste große Erfolg des Front National: Er holt fast zehn Prozent der Stimmen und zieht mit 35 Abgeordneten ins Parlament ein.

In der Welt des Sportsist Frankreich lange Zeit der sympathische Verlierer. Französische Sportler schlagen sich achtbar, scheitern aber meistens am schnöden Zwang zum Ergebnis. Es ist das Land des verspielten Sports, in Deutschland sagt man: Der Biss fehlt. Es gibt kein Pendant zu Lothar Matthäus.

Erst in den 90ern entdeckt der französische Sport seinen Siegeswillen. Drei Mal olympisches Gold für Marie-Jo Pé­rec, zwei Mal holt man den Davis­cup, Gold und Bronze bei den Hand­ball­welt­meis­ter­schaf­ten, drei Mal Gold für die Rug­by­natio­nal­mann­schaft beim Six Nations.

Es ist der Fußball, bisher ein Sport unter vielen, der der gebeutelten Nation ihren größten Triumph beschert: Olympique Marseille gewinnt 1993 den Europapokal der Landesmeister. Drei Wochen lang läuft auf den drei Fernsehsendern nichts anderes als das entscheidende Kopfballtor von Ba­sile Boli, in den immer gleichen drei Einstellungen, bis es sich in die Gehirne aller ›compatriotes‹ eingebrannt hat.

Was ist Frankreich? Das ist es. Dieses Tor, dieser Jubel. Dieser Konfettiregen.

Bernard Tapie, Präsident von OM, wird später wegen Schiedsrichterbestechung belangt und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das war 1996: eine Fußnote, die der Weltmeistertitel zwei Jahre später locker überstrahlt.

Bernard Tapie ist der Prototyp des erfolgreichen Geschäftmanns, den der Cä­saren­wahn befällt. Er ist auch Sinnbild für die Jahre Mitterrands. Wären alle Verstrickungen der 90er zwischen Fußball, Wirtschaft und Politik ein Spinnennetz, Tapie säße in der Mitte.

Bernard Tapie wird 1943 geboren und wächst in Le Bourget auf, einem Vorort von Paris. Er ist der Sohn eines Schlossers und einer Krankenpflegerin. Seine berufliche Karriere beginnt er als Sänger und Formel-3-Fahrer, ein Unfall zwingt ihn dazu sich umzuorientieren. Er eröffnet ein Fernsehgeschäft, das er nach einigen Jahren mit Gewinn verkauft.

Das Geld gefällt ihm; er wird Unternehmer. Er vertreibt unter anderem Not­ruf­bee­per für Herzkranke. Ein Kunde kommt zu Tode, vermutlich auch, weil der Bereitschaftsdienst keinen Mediziner schickt, sondern einen ehemaligen Lieferwagenfahrer. Die Ärztekammer geht gerichtlich gegen ihn vor: Tapie wird zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Ab 1977 spezialisiert er sich auf den Aufkauf insolventer Unternehmen, die er nach einigen Jahren weiterveräußert. Die Renditen sind teilweise sagenhaft: 1984 erwirbt er den Batterienhersteller Wonder für einen symbolischen Franc und verkauft ihn vier Jahre später für 400 Millionen Francs weiter. Der größte Coup, aber kein Einzelfall: Bald, sehr bald schon ist Tapie ein reicher Mann.

Er ist nicht nur reich, er ist auch eitel: Bernard Tapie zeigt sich gern in der Öffentlichkeit. Und die Öffentlichkeit liebt ihn. Er wird regelmäßig Gast in diversen Life­style-Shows, 1984 wählt ihn das Publikum zu Frankreichs »Mann des Jahres«. Zwei Jahre später realisiert er die Doku­soap Ambitions, in der er einem jungen Kandidaten hilft, ein Unternehmen aufzubauen.

Seine Leidenschaft aber gilt dem Sport. 1984 übernimmt er ein Radfahrteam, das dreimal die Tour de France gewinnt, und kauft für einen symbolischen Franc Olympique Marseille