Zimt und zurück - Dagmar Bach - E-Book
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Zimt und zurück E-Book

Dagmar Bach

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Beschreibung

Stell dir vor, dein Leben gibt es doppelt … Seit Vicky in Parallelwelten springen kann, ist ihr Leben ganz schön kompliziert geworden. Trotzdem schwebt Vicky auf Wolke Sieben, denn sie ist seit kurzem mit Konstantin zusammen, dem coolsten Jungen der ganzen Schule. Aber wie verhält man sich eigentlich, wenn man einen Freund hat? Vielleicht ist so ein Parallel-Ich sogar ganz praktisch – damit kann sie nämlich in der Parallelwelt »üben«, ein bisschen weniger schüchtern zu sein! Aber Vicky hat die Rechnung ohne das Schicksal gemacht. Denn das hält für sie eine ganz schön große Überraschung bereit, als sie aus ihrer ganz persönlichen »Test-Umgebung« zurückkehrt ... Alle Bände der »Zimt«-Trilogie: Band 1: Zimt und weg Band 2: Zimt und zurück Band 3: Zimt und ewig Sequel: Zimt und verwünscht

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Dagmar Bach

Zimt und zurück

Die vertauschten Welten der Victoria King

FISCHER E-Books

Inhalt

Für SilkeProlog1.2.3.4.5.*** Gebrauchsanweisung für Vickys Leben – TEIL 16.*** Gebrauchsanweisung für Vickys Leben – TEIL 27.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.EpilogFünf Tage späterBrief der Autorin

 

Für Silke

 

Und für alle anderen großen Geschwister, die ihren kleinen Brüdern und Schwestern schon lange vor der Schule das Lesen beigebracht haben.

Prolog

Ein kräftiger Windstoß blies mir plötzlich ins Gesicht, und ich stolperte erschrocken.

Was war denn jetzt los? Hatte ich nicht vor einer Sekunde noch in meinem kuschligen Bett gelegen?

Und nun stand ich offenbar auf unserer Gemeindewiese, ganz alleine, und es war praktisch mitten in der Nacht.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich hier verloren hatte.

Es sei denn, ich war gerade …

Mein Herz begann zu rasen, als die Gewissheit mich packte, und ich musste mich zusammenreißen, nicht frustriert aufzustöhnen.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Ich war wirklich wieder in einer Parallelwelt gelandet!

Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass der Zimtschneckengeruch bald wiederkam und ich ganz schnell zurücksprang.

Raus aus meinem anderen Ich, zurück in mein echtes Leben.

Und hoffentlich ohne, dass meine Parallelversion in der Zwischenzeit irgendeinen Unsinn angestellt hatte …

1.

Die Trompetenfanfaren waren ohrenbetäubend laut und katapultierten mich förmlich aus dem Bett. Mein Herz raste, während irgendwo neben mir die feierlichen ersten Takte erklangen, vorgetragen vom London Symphony Orchestra.

Beziehungsweise meiner Mum.

»God save our gracious Queen …«, tönte es durchs ganze Haus, so laut, dass sogar ein schlafendes Nilpferd davon wach geworden wäre.

Herrje, was …? Ich rieb mir die Augen und versuchte, richtig wach zu werden.

»Send her victorious«, schwang sich die Stimme in höhere Tonlagen auf. »Verflixt nochmal glorious, long to reign over us, god save – o nein!!!«

Ich war ja viel von meiner Mum gewohnt, und dass sie mitten in der Nacht die englische Nationalhymne schmetterte, hielt ich zumindest nicht für ausgeschlossen.

Aber mit falschem Text?

Das war dann doch merkwürdig.

Ein Blick auf meinen Wecker ließ mich allerdings schlagartig hellwach werden.

O Mist! Es war ja gar nicht mehr mitten in der Nacht, sondern schon acht Uhr vorbei! Ausgerechnet an diesem Tag musste ich verschlafen! Dabei war ich es doch gewesen, die meine Mum gestern Abend überredet hatte, die Geburtstagstorte für das Fest erst heute fertigzumachen, und bald würden die Gäste vor der Tür stehen und mein Freund Konstantin, den ich natürlich eingeladen hatte, und …

Panisch sprang ich in meine plüschigen Hausschuhe, die aussahen wie dicke Tigerpfoten, riss meine Zimmertür auf und schlitterte im festlichen Klang von »Not in this land alone« um die Ecke in die riesige Küche unseres Bed & Breakfast.

Und da brauchte ich dann ein paar Sekunden, bis ich die komplette Szene aufgenommen hatte, die sich mir bot:

Meine Mutter rannte wie ein kopfloses Huhn durch den Raum, barfuß, im weißen Spitzennachthemd und noch mit ihrer Schlafmaske auf dem Kopf, und sah dabei mindestens so zerzaust aus, wie ich mich gerade fühlte.

Ich ging zur Anlage und drehte die Lautstärke herunter, so dass man wenigstens sein eigenes Wort verstehen konnte. Gott konnte die Queen wirklich auch schützen, wenn es etwas leiser war.

»Herrje, Vicky«, jammerte Mum, die mit zittrigen Händen zwei Töpfe aus dem Fach unter dem Herd fummelte und lautstark auf die Kochplatten knallte. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. In zwei Stunden geht es los, ich bin noch nicht angezogen, die Geburtstagstorte ist nicht fertig, draußen ist nichts gedeckt, geschweige denn dekoriert, und ich wollte doch noch ein paar Blumengestecke für die Tische machen aus den schönen weißen Hortensien, und jetzt komme ich kaum dazu, den Guss für diese blöde Torte –«

»Mum!«

»Und der Fernseher muss auch noch raus und der ganze Kabelkram und die Tische fürs Büfett und –«

»Mum! Beruhige dich«, sagte ich noch mal und strich mir die plattgedrückten Haare aus dem Gesicht.

»Aber es ist doch ihr Geburtstag!« Mum wimmerte, während sie hektisch im Kühlschrank herumkramte. »Das hat sie nicht verdient.«

Also gut, Vicky. Tief durchatmen.

»Mum, wir kriegen das hin«, sagte ich. »Du hast bestimmt irgendwo deine Checkliste, die gehen wir jetzt einfach Punkt für Punkt durch.« So überzeugt wie ich klang, war ich zwar nicht, aber egal, unsere Feste waren sowieso immer ein wenig … unorthodox. Kein Grund, in Panik zu verfallen.

»Du bist ein Engel«, sagte Mum und fiel mir mit einem verzweifelt-hysterischen Seufzen um den Hals. »Es soll doch besonders schön für sie werden.«

»Ich bin mir sicher, sie wird es zu würdigen wissen«, sagte ich und machte mich sachte von meiner Mutter los, bevor sie mich zerquetschte. »Also, was braucht am längsten?« Ich griff nach der Liste, die auf dem Küchentisch lag. »Der Guss für die Torte, gut, lass uns damit anfangen.«

»O mein Engelchen«, sagte Mum wieder, tapste durch den Raum und fing an, in unserer Süßigkeitenschublade nach der Schokolade für die Glasur zu suchen.

Derweil studierte ich die Liste. »Okay, du bereitest die Schokolade vor und schmierst sie auf den Kuchen, das kannst du besser als ich.« Ich hatte es nicht so mit Feinmotorik, vor allem nicht direkt nach dem Aufwachen. »Dafür bringe ich schon mal die Deko raus und hole die Blumenvasen und das ganze Geschirr.«

»Mein lieber Engel«, murmelte Mum wie ein Mantra, und ich machte mich auf den Weg in den Keller, um die Kartons mit den Fahnen und Girlanden in den Garten zu bringen.

Als ich wieder zurückkam, war Mum nicht mehr alleine in der Küche. Meine Großeltern waren gerade hereingekommen, von draußen, wohlgemerkt.

»Wo kommt ihr denn her?«, fragte ich, während ich mich daranmachte, nach den passenden Gefäßen für die Blumen zu suchen.

»Von unserer Tauwanderung. So herrlich erfrischend, und eine Wohltat für arme alte Füße«, schwärmte meine Oma und pustete sich das frisch gefärbte Haar aus der Stirn. »Meg, hast du den Tee noch nicht fertig?«, fragte sie fast im gleichen Atemzug anklagend.

Mum rollte mit den Augen, schob ihr aber die Thermoskanne zu. Selbst unter größtem Stress kochte sie als Erstes Tee.

»Und was macht man so bei einer Tauwanderung?«, erkundigte ich mich, während ich nach einer Vase ganz hinten im Schrank angelte.

»Man latscht mit nackten Füßen durch die Wiese und passt dabei auf, dass man nicht in Brennnesseln oder Disteln tritt«, antwortete mein Opa brummig und ließ sich mit der aktuellen Tageszeitung neben meiner Oma nieder. »Wir sind noch vor Morgengrauen aufgestanden.«

»Alte Leute brauchen ja nicht mehr so viel Schlaf«, ergänzte meine Oma.

»Und da hättet ihr mich nicht wecken können?«, fragte meine Mum bissig, aber Oma blieb ganz cool.

»Du bist weiß Gott alt genug, dich um dich selbst zu kümmern. Kannst du mir bitte mal die Gala rübergeben?«

»Du bist weiß Gott alt genug, sie dir selbst zu holen«, konterte Mum, um im gleichen Moment aufzuschreien.

»Mist!« Sie zog den Topf, in dem sie eben noch gerührt hatte, mit Schwung vom Herd, so dass er laut ins Spülbecken krachte. Ein bitterer Geruch machte sich in der Küche breit.

»Die schöne Schokolade! Komplett verbrannt!« Und nach einigen ziemlich saftigen Flüchen zog sie erneut unsere Schublade auf und fing an, darin herumzukramen. Und fluchte wieder. Noch schlimmer als vorher.

»Jetzt sind nur noch die blöden Sorten übrig. Traube-Rum-Nuss, Kokos-Krokant oder Chili-Espresso. Wer hat die eigentlich gekauft? Wenn ich Polly noch mal dabei erwische, wie sie unsere Schoko-Vorräte auffuttert, dann Gnade ihr Gott!« Sie nahm die Tafeln trotzdem aus dem Schrank und brach sie in kleine Stücke, während sie dabei die ganze Zeit leise vor sich hin meckerte (im Takt von God save the Queen, das immer noch im Hintergrund auf Dauerschleife dudelte).

Mum war wirklich wütend. Vermutlich mehr auf sich selbst als auf meine Tante Polly, denn sogar ich weiß, dass Schokolade total leicht anbrennt und man sie deswegen nur im Wasserbad schmelzen sollte und nie direkt auf dem Herd.

Na, zumindest würde ein Trauben-Rum-Nuss-Kokos-Chili-Espresso-Gemisch auf der Torte für Aufsehen sorgen.

Was man übrigens auch von meiner Tante Polly sagen konnte, die in diesem Moment in unserer Küche auftauchte. Sie trug noch ihr Prinzessin-Elsa-Nachthemd, in dem sie aussah wie Bellatrix Lestrange auf einem Kindergeburtstag, und ihre Haare standen in wilden Antennen vom Kopf ab. Meine Tante war ziemlich schräg. Ähnlich schräg wie meine Großeltern, die seelenruhig und mit ihren taunassen Füßen am Küchentisch saßen, Zeitung lasen und so taten, als ob sie das alles gar nichts anginge.

»Was stinkt hier denn so erbärmlich?«, fragte Tante Polly und rümpfte die Nase Richtung Spüle, in der der Topf mit den angekokelten dunklen Brocken stand.

»Die kläglichen Reste der guten Schokolade für den Kuchen. Jetzt haben wir für den Guss nur noch die blöden Sorten«, jammerte Mum. »Hoffentlich funktioniert das überhaupt.«

»Warum habt ihr denn nicht die Zartbitter-Tafeln genommen?«, zwitscherte Polly und nahm sich eine Teetasse aus dem Schrank. Die mit dem Spruch FRAUENSCHNARCHENNICHT, FRAUENSCHNURREN.

»Weil. Sie. Nicht. Mehr. Da. Waren.« Mum knirschte geradezu mit den Zähnen. »Denn. Du. Hast. Sie. Komplett. Aufgegessen.«

Tante Polly überhörte Mums anklagenden Unterton. »Aber ich hab dafür gestern extra neue mitgebracht.« Sie ging an Mum vorbei und öffnete den Wandschrank in der Ecke. »Da sind sie doch. Na ja, gut, noch eine. Eine halbe. Im obersten Fach, bei den Staubsaugerbeuteln. Direkt neben dem Orchideendünger.«

»Ach so. Da. Wie dumm von mir, nicht als Erstes genau dort nachzusehen!« Ehe ich mich versah, waren die beiden in eine ziemlich angeregte Diskussion darüber vertieft, wer in dieser Küche das Sagen hatte und wo lebenswichtige und täglich benötigte Hauptnahrungsmittel wie Schokolade aufzubewahren seien.

Der Klang unserer Haustürglocke unterbrach die beiden, und Tante Polly nutzte die Gelegenheit, sich wieder nach oben in ihr Gästezimmer zu verdrücken, das sie bewohnte, seit letzte Woche in ihrer eigenen Wohnung ein Feuer ausgebrochen war, während Mum zur Tür eilte. Vermutlich war es unsere Nachbarin Frau Hufnagel, die besuchte uns jeden Tag fünfmal, gerne auch mal zu komischen Tageszeiten.

Ich widmete mich in der Zwischenzeit wieder Mums Liste. Als Nächstes könnte ich die Kabeltrommel raustragen und dann schnell mit Mum einen der Tische, so dass ich schon mal das Geschirr aufbauen konnte. Aber vielleicht sollte ich vorher schnell ins Bad flitzen, ich war immer noch total verknittert vom Schlafen und trug noch meinen uralten und total verwaschenen Snoopy-Schlafanzug, und eigentlich musste ich mal ganz dringend, und –

Ja, und eigentlich musste ich jetzt mal ganz dringend tot umfallen.

Denn im Türrahmen unserer Küche war hinter meiner Mum noch jemand anderes aufgetaucht.

Konstantin.

Der tollste Junge der Welt.

Und mein Freund, seit genau sieben Tagen.

»Guten Morgen zusammen«, sagte er und sah dabei so lässig aus, dass ich sofort wackelige Knie bekam. Er trug Jeans, ein enges schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt und seine Grübchen im Mundwinkel und sah aus, als ob er direkt vom Cover eines Fitnessmagazins gestiegen wäre. Aber es waren seine Augen, die mich ein ums andere Mal umhauten. Weil sie so schön grünblau leuchteten wie der Sommer. Und weil sie mich ansahen, als ob ich etwas ganz Besonderes wäre.

Leider fiel mir in diesem Moment kein cooler Spruch ein, um die megapeinliche Situation zu überspielen, sondern ich konnte einfach nur dümmlich grinsen, während ich ein »Hi« rausquetschte. Was er ebenso grinsend erwiderte, allerdings nicht dämlich, sondern einfach nur entwaffnend und wunderschön und – ach, ja.

»Konstantin ist ein bisschen früher vorbeigekommen, um uns zu helfen, ist das nicht nett?« Im Gegensatz zu mir schaffte meine Mum es, trotz der Hetze frisch und fröhlich auszusehen. »Und das trifft sich tatsächlich hervorragend, denn Vicky und ich haben ein bisschen verschlafen«, erklärte sie. »Wir können jede Hilfe brauchen.«

Mum brauchte vielleicht Hilfe, aber ich hoffte gerade eher auf ein Wunder, das mich im Boden versinken ließ, denn ich stand hier immer noch mit strubbligen Haaren, verklebten Augen und ungeputzten Zähnen. Vor meinem neuen Freund. Verlegen knibbelte ich am Saum meines ausgeleierten Schlafshirts herum und trat von einer Tigerpfote auf die andere.

Aber Konstantin schien nicht im Geringsten zu stören, wie ich aussah. Er lächelte nur in die Runde, zwinkerte mir kurz verschwörerisch zu und sagte: »Na, dann mal los. Was kann ich tun?«

Mum genierte sich tatsächlich nicht, Konstantin für alles Mögliche einzuspannen. Sie baute mit ihm schnell die Tische im Garten auf, half ihm, unseren Fernseher hinauszuschleppen, und überließ ihm dann vertrauensvoll den ganzen restlichen technischen Kram wie die Verkabelung und so.

Währenddessen blieb ich in der Küche und war hin- und hergerissen, die Tortenglasur (jetzt im sicheren Wasserbad, wohlgemerkt) allein zu lassen, um mir irgendetwas überzuwerfen. Aber die Schokoladensorten mit den komischen Stücken drin waren bereits geschmolzen, und Mum war schon wieder nebenan in der Vorratskammer verschwunden. Okay, erst Glasur, dann Kleidung.

Unter hastigem Rühren versuchte ich gerade, mit Löffeln und Fingern alle Klümpchen und Fremdkörper herauszufischen, als es schon wieder klingelte. Weil ich mittlerweile bis zu den Ellbogen in der Schokolade steckte, musste Mum wieder ran. Meine Großeltern verschanzten sich in aller Seelenruhe weiter hinter ihren Zeitungen.

Als Mum keine Minute später zurück in die Küche kam, stand hinter ihr eine mir unbekannte ältere Frau samt einem riesigen Koffer, und ich musste zweimal hingucken, um alles in mich aufzunehmen – einmal hatte nämlich nicht gereicht. Das war gerade genau wie im Kino. Ich war vor einer Weile in einem IMAX-Film gewesen, da war die Leinwand so riesig, dass man erst nach ganz links und ganz rechts gucken musste, um das komplette Bild zu sehen. Hier war es ähnlich. Die Frau vor mir hatte eindeutig Breitbildformat. Dabei war sie sogar ziemlich groß, fast so groß wie Mum, selbst wenn die ihre cognacfarbenen Lieblingsstilettos mit den Zehn-Zentimeter-Absätzen anhatte. Aber bestimmt dreimal so breit, obwohl sie ein lang wallendes schwarzes Kleid trug, das ihre Figur ein bisschen kaschierte.

Leider kaschierte es nicht, dass die Gute ihren Hals zu Hause vergessen haben musste, denn ihre drei Kinns (oder heißt es Kinne?) lagen direkt auf ihren breiten Schultern auf und sahen dadurch aus wie eine fleischfarbene Halskrause. Zu ihrem massigen Kopf trug sie einen schwarzen Pagenkopf und Unmengen von Goldketten, und ihre grauen Augen hatte sie mit leuchtend blauem Lidschatten umrandet.

Und die guckten richtig böse. Wenn meine Tante Polly eine Doppelgängerin von Bellatrix Lestrange aus Harry Potter war, dann war diese Frau hier Professor Snape. Mit einer kräftigen Portion weiblicher Hormone und hundert Kilo mehr auf den Rippen. Aber mit dem gleichen garstigen Blick.

Mum schien ähnlich zu denken, denn ihr Lächeln wirkte etwas angestrengt, als sie sagte: »Vicky, Liebes, das ist Raimund Grafs Tante. Tante Röschen. Sie wird ein paar Tage bei uns wohnen. Im Gartenzimmer.«

Ich hatte bisher keine Ahnung, dass wir überhaupt ein Gartenzimmer hatten, aber wahrscheinlich wollte Mum sie einfach nur beeindrucken. Was ich sehr gut verstehen konnte, denn Tante Röschen war wirklich ziemlich einschüchternd.

Trotzdem erinnerte ich mich an meine gute Erziehung. »Herzlich willkommen«, sagte ich und nickte freundlich mit dem Kopf, weil meine Hände ja noch in Schokolade badeten. »Ich kann Ihnen leider gerade nicht die Hand geben.«

»Mädchen, was treibst du denn da?«, keifte sie, und ich fühlte mich ein kleines bisschen so, als ob ich wieder fünf Jahre alt wäre und Herr Lindemeyer aus dem Supermarkt mich fragte, ob ich einen Kaugummi bei ihm geklaut hätte. Hatte ich natürlich nicht, aber sein Tonfall ließ mich damals vor Schreck fast in die Hose machen.

Trotzdem versuchte ich, mit einem kleinen Witz die Stimmung ein wenig zu lockern. »Ich hab meine Kontaktlinse verloren«, sagte ich und deutete mit meinem verschmierten Ellbogen in die Schüssel mit der geschmolzenen Schokolade vor mir.

»Wie bitte?« Ihr Tonfall und die hochgezogenen Büschel über ihren Augen (von Brauen konnte keine Rede sein – Bert von der Sesamstraße wäre neidisch gewesen) verrieten, dass die Gute nicht ein Quäntchen Humor hatte. Zumindest nicht meinen.

»Ich hab meine Linsen hier drin verloren, Sie wissen schon, meine Kontaktlinsen, also … Ach, nicht so wichtig«, sagte ich und hielt meine Hände über den Topf, damit die dunkle Soße wieder zurücktropfen konnte.

»Das sind doch hoffentlich keine Lebensmittel, in denen du da rumpanschst?«

»Nein, nein, natürlich keine Lebensmittel – nur die Kuchenglasur«, beeilte Mum sich zu sagen, aber die schmalen Lippen von Tante Röschen wurden trotzdem noch dünner als ein Blatt Papier.

Dann ließ sie sich auf einen unserer Küchenstühle fallen, der daraufhin bedenklich krachte.

»Raimund sagte mir, dass das hier eine Unterkunft mit Vollpension wäre. Ich habe Hunger!«

Na, das kann ich mir denken.

»Äh, ja, kein Problem, wir sind hier nur noch ein bisschen am Vorbereiten, denn nachher kommen Gäste zu einer kleinen Gartenparty« – Mum verschluckte sich fast –, »zu der Sie natürlich auch herzlich eingeladen sind, dann gibt es sofort was …«

»Was heißt nachher?«

Mum sah auf die Küchenuhr. »In einer Stunde.« Ihr Blick wurde panisch. Gleich würde sie wieder mit dem Engelchen anfangen.

»Ich habe aber jetzt Hunger, und ich muss essen, wegen meiner Tabletten.«

»Ich dachte, Sie müssen essen, weil Sie Hunger haben«, sagte meine Oma von der Eckbank aus und fing sich dafür vom Röschen einen giftigen Blick ein.

»Ich kann Ihnen schnell ein paar Rühreier machen und frisches Gebäck dazu«, beeilte Mum sich zu sagen und warf Oma einen warnenden Blick zu.

»Das wäre zumindest mal ein Anfang«, quakte das Röschen. »Aber mit viel Speck!«

»Mit Speck. Öhm, ja. Klar«, sagte Mum und sprintete quasi zur Bratpfanne, um dem Röschen so schnell wie möglich eine Portion Cholesterin zu servieren.

»Der Fernseher läuft. Was jetzt?« Konstantin war wieder zurück in die Küche gekommen und zuckte kaum merklich zusammen, als er das Röschen sah, das wie ein aufgehender Hefekrapfen am Küchentisch saß.

»Na, endlich mal einer, der keinen Schlafanzug anhat. Junge, an der Tür steht mein Koffer, bring den auf mein Zimmer. Aber du brauchst dir nicht die Mühe zu machen, hineinschauen zu wollen, er ist abgeschlossen.«

Unterstellte die Alte da Konstantin gerade, dass er ihr Gepäck durchwühlen wollte? So eine Frechheit!

Mum dachte anscheinend genau dasselbe, denn ihr Blick war merklich kühler geworden, obwohl sie weiterhin freundlich blieb.

»Bleib hier, Konstantin, und kümmere dich mit Vicky lieber um die Gartendeko. Ich helfe Ihnen stattdessen mit Ihrem Koffer«, sagte sie an das Röschen gewandt.

»Auch gut«, antwortete diese gönnerhaft. »Die übrigen Sachen werden heute Nachmittag geliefert.«

Die übrigen Sachen? Mit so einem riesigen Koffer konnten Mum und ich zwei Wochen lang verreisen. Zusammen.

Aber egal, wenn Mum mir schon eine Chance zur Flucht gab, ergriff ich sie natürlich. Ich zog meine Hände aus der Schokolade, schrubbte sie mit Seife ab und floh zusammen mit Konstantin in den Garten.

»Ihr habt ja sehr interessante Gäste in eurem B&B«, sagte er, als wir auf die überdachte Terrasse traten, die die komplette Rückseite unseres Hauses einnahm.

»Die ist kein echter Gast, nur ein Gefallen, den Mum einem Freund schuldet. Kennst du Raimund Graf, den Juwelier? Der hat Mum vor ein paar Wochen aus der Patsche geholfen, und dafür darf seine Tante ein paar Tage umsonst bei uns wohnen.«

»Na, der Gefallen muss aber ziemlich groß gewesen sein.«

»Nicht groß genug, so wie es aussieht«, sagte ich düster. Ich ging hinüber zum Schuppen, wo unsere Holzleiter stand. »Wir schmücken zuerst die Obstbäume, okay?«

Konstantin schob mich sanft zur Seite. »Lass mich das machen, die ist für dich zu schwer. Außerdem soll man mit Tigerpfoten nicht auf Leitern steigen«, sagte er lächelnd. O verflixt, die Hausschuhe! Ich hatte tatsächlich vergessen, wie ich gerade aussah. Schnell schlüpfte ich hinaus und versenkte meine nackten Zehen im feuchten Gras. Vielleicht sorgte ja Tauwandern dafür, dass mein Kopf wieder klar wurde.

Wobei von Tau eigentlich keine Rede mehr sein konnte. Es war kurz nach neun, die Sonne war schon zur Hälfte über unseren Rasen gewandert und ließ unsere Rosen und Hortensien bereits Mitte Juni in vollen Farben erstrahlen, nämlich weiß, rot, blau, den Farben der britischen Flagge. Und wenig später hatten Konstantin und ich sämtliche Buchsbäume, Lorbeersträucher und Obstbäume dem angepasst, denn alles, was uns in die Quere kam, hatten wir mit kleinen Union-Jack-Wimpeln oder dem englischen St.-George-Cross behängt. Jeder, der gleich auf der Party aufschlagen würde, würde gar nicht anders können, als sich einfach nur very British zu fühlen.

Konstantin stemmte seine Hände in die Hüften. »So, alles fertig für ihren Geburtstag. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ihr eine Party für sie gebt.«

»Da kennst du meine Mum noch nicht«, sagte ich. »Die kann ganz andere Sachen.«

Wobei der zweite Samstag im Juni schon eines unserer Jahres-Highlights ist, das muss ich zugeben. Denn wir feiern nicht irgendeinen Geburtstag, sondern den von Queen Elizabeth II., ihres Zeichens Her Royal Highness.

Die hat zwar eigentlich im April Geburtstag, aber in England ist es seit über zweihundert Jahren Tradition, den Jubeltag im Juni zu feiern – ausschließlich des Wetters wegen. Ist das nicht ein toller Brauch? Hätte ich selbst nicht im Juli Geburtstag, ich würde es sofort genauso machen.

Und während in London jede Menge Soldaten in roten Uniformen und Bärenfellmützen der Queen huldigen, feiert Mum jedes Jahr fleißig mit: Sie lädt Nachbarn und Freunde ein, bereitet ein typisch britisches Büfett vor, und gemeinsam sehen wir uns die Live-Übertragung auf der BBC an und bewundern die Royals. (Na ja, Mum, als Prinzessin Kates Schwester im Geiste, bewundert sie, während wir anderen eher die leckeren Scones futtern.)

Und deswegen musste unser Garten auch so üppig wie jedes Jahr dekoriert werden. Aber in unserem Union-Jack-Meer fehlte noch etwas.

»Die Spezialsachen«, sagte ich, ging zu den Pappkartons auf der Veranda, die ich vorhin schon aus dem Keller hochgeschleppt hatte, und begann, darin herumzuwühlen.

»Ah, da ist es ja. Der lebensgroße Pappaufsteller von Prinz Harry. Und die Kate- und William-Gesichtsmasken.« Ich befreite ein Pappgesicht von Kate aus seiner Plastikfolie. »Mum hat vor ein paar Jahren eine William-und-Kate-Party gegeben, kurz vor deren Hochzeit. Wir hatten achtzehn Kates und fünfzehn Williams in unserem Wohnzimmer, das war echt schräg«, erinnerte ich mich. »Nur mein Opa hatte sich geweigert und stattdessen eine Faschings-Maske von Darth Vader getragen und dabei immer wieder God Save Darth Vader gesungen. Aber da hatte er schon ordentlich Grappa intus.«

Als ich die Sachen hervorkramte, spürte ich plötzlich Konstantins Hand auf meiner Schulter. Mit zittrigen Beinen drehte ich mich zu ihm um.

»Wir haben uns heute noch gar nicht richtig begrüßt«, sagte er und strich mir eine meiner zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Und mit dieser einfachen Bewegung schaffte er es, dass mein Magen von einer Sekunde auf die andere wilde Purzelbäume schlug.

»Hallo, du«, murmelte ich und lächelte schwach. Hoffentlich gaben meine Knie jetzt nicht nach.

Konstantin fing an zu grinsen. »Selber hallo. Du siehst übrigens total süß aus. Ich mag Snoopy«, sagte er, und sein Blick wanderte über meinen Schlafanzug wieder nach oben.

Und blieb an meinen Lippen hängen.

Mein Herz fing an, wie verrückt zu klopfen.

Er wollte mich küssen!

Und ich wusste ja, wie toll er küsste, und ich wollte auch nichts lieber tun, als mich von ihm küssen zu lassen.

Wenn ich nur …

Ja, wenn ich heute Morgen Zeit gehabt hätte, mir die Zähne zu putzen.

Aber so konnte ich es leider nicht zulassen, auf gar keinen Fall. Nicht mit muffigem Morgenatem.

Und als Konstantin sich schließlich zu mir herunterbeugte, hob ich deswegen blitzschnell das Pappgesicht von Prinzessin Kate, das ich noch in der Hand hielt, vor meine Nase.

Und Konstantins Lippen berührten die der Duchess of Cambridge.

Angriff abgewehrt.

»Gut, dann eben später. Glaub nämlich ja nicht, dass du mir entkommst. Ich erwische dich schon noch«, sagte er zwinkernd, schnappte sich den Papp-Prinz-Harry und ging damit zu unseren Büfett-Tischen.

Und ich sah ihm nach und träumte davon, wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt hätten.

Und seufzte.

Aber na ja.

Kommt Zeit, kommt Zahnbürste.

Und dann vielleicht auch ein Kuss.

2.

Als Queen Elizabeth II. pünktlich um zehn Uhr in einer schicken Kutsche auf den großen Paradeplatz in London fuhr und freundlich in die Reihen lächelte, saß meine Mum auf einem Gartenstuhl vor dem Fernseher, in einem wunderschönen cremefarbenen Sommerkleid mit kleinen gelben Blümchen und dem passenden Hut auf dem Kopf, die Hände andächtig im Schoß verschränkt, und wippte mit ihrem Fuß im Takt der Musik der Marschkapelle.

Wir hatten es tatsächlich geschafft, bis zur Ankunft der Gäste alles fertigzubekommen. Als die ersten Leute kamen, war Mum geschniegelt und gebügelt, die Torte war mit Schokolade angeschmiert, der Fernseher lief und die Parade noch nicht. Halleluja.

Unsere lieben Nachbarinnen Frau Hufnagel und Frau Rabe waren wie immer die Ersten, und in ihren pastellrosa beziehungsweise pastellblauen Etuikleidern mit passenden Hütchen sahen sie so aus, als ob sie mit der Queen verwandt sein könnten. Na ja, oder wenigstens mit Camilla. Überhaupt hatten sich alle ziemlich in Schale geworfen: Mums beste Freundin Mimi hatte einen royalblauen Hut mit Federn auf und eine passende Clutch dazu, und ihr Mann Konrad trug seinen Hochzeitsanzug. Mit Blume im Knopfloch. Sogar die alte Frau Glockengießer war gekommen, samt Rollator im England-Look, obwohl sie seit ein paar Wochen nicht mehr in dem hübschen Häuschen in unserer Straße wohnte, sondern ins Altenheim gezogen war.

Alle waren in Feststimmung, und keinem schien aufzufallen, dass die Union-Jack-Girlanden hier und da ziemlich wild zwischen den Bäumen gespannt waren und die Verkabelung des Fernsehers ein bisschen abenteuerlich aussah, zumal Konstantin alles noch mit rotem Klebeband umwickelt hatte, damit man sie in unserem schlecht gestutzten Rasen sehen konnte und niemand drüber fiel.

Weniger begeistert waren die Leute allerdings von unserem neuen Gast.

Tante Röschen hatte es tatsächlich geschafft, in nur fünf Minuten, nachdem sie im Garten erschienen war, eine ziemlich unausgewogene Verteilung der Gäste hervorzurufen. Die zwei Stuhlreihen nämlich, die wir wie jedes Jahr in die Wiese vor den Fernseher gestellt hatten, waren, außer dem Platz von Mum, unbesetzt. Stattdessen drängten sich alle auf unserer Veranda am Haus, möglichst weit weg von Mum und dem Fernseher und dem Essen.

Und weg vom Röschen.

Die hatte sich einen Stuhl direkt vor das Büfett gezerrt und saß jetzt mit der Nase in den Gurkensandwiches, die sie passend dazu auch inhalierte, so quasi. Sie machte sich noch nicht mal die Mühe, einen Teller zu nehmen, sondern fasste mit ihren dick beringten Fingern alles an, was sie für genießbar hielt, und schob es sich dann in den Mund. Und das schien außer der Blumendeko so ziemlich alles zu sein, mal abgesehen von der Torte, bei der ich ja mit meinen Fingern die Glasur verseucht hatte.

Ab und zu warf sie mit garstigen Blicken und bösen Kommentaren um sich, was zur Folge hatte, dass niemand sich traute, ans Büfett zu gehen, und alle sich erst mal an die flüssige Verpflegung hielten. (Kein Wunder übrigens, dass Raimund dieses Jahr zum ersten Mal nicht dabei war, obwohl er sich sonst keine Party bei uns entgehen lässt.)

Ich hatte deswegen den ganzen Vormittag gut zu tun, Nachschub aus der Küche zu holen – zum einen, weil der Getränketisch nach einer Stunde geplündert war, zum anderen, weil keiner sonst mehr sicher auf den Beinen stand.

Die Einzigen, die außer mir noch keinen sitzen hatten, waren Konstantin, sein bester Freund Nikolas und meine beste Freundin Pauline, die auch zur Party gekommen waren.

Konstantin hatte mir erst geholfen, aber dann hatte meine Tante Polly ihn in Beschlag genommen. Er saß mit ihr auf der Terrasse und starrte in ihr Handy. Vermutlich musste er ihr irgendeinen Account einrichten, denn sie interessierte sich seit neuestem für Facebook, Instagram und WhatsApp. (Sie hatte nämlich Mums altes Smartphone geerbt.) Armer Konstantin. Vielleicht sollte ich ihn von meiner Tante erlösen, damit er nicht gleich die Nase voll hatte. Obwohl ihm das Chaos heute Morgen nichts ausgemacht zu haben schien – genauso wenig, wie jetzt zwischen meiner Familie und Mums Freunden zu sitzen.

Aber Nikolas und Pauline waren ja auch noch da. Die allerdings hatten nichts Besseres zu tun als zu streiten. Das konnten die beiden den lieben langen Tag tun, um zu verbergen, dass sie sich gegenseitig toll fanden. Das heißt – Pauline verbarg es. Sie wollte sich frühestens in zwanzig, dreißig Jahren mit Jungs einlassen, nämlich dann, wenn sie endlich Wissenschaftlerin war und schon einige Preise abgesahnt hatte. Den Nobelpreis oder so.

Nikolas wollte sich anscheinend nicht so lange gedulden.

»Hab ich Zucker in den Augen, oder bist du wirklich so süß?«, fragte er sie gerade, als ich auf dem Weg in die Küche an ihnen vorbeikam.

Pauline machte Würggeräusche. »Du mit deinen blöden Anmachsprüchen. Heb dir die lieber für die Mädels in der Schule auf, die dir scharenweise zu Füßen liegen.«

»Ich will aber, dass du mir zu Füßen liegst.«

»Das wird nicht passieren. Niemals.«

»Sag niemals nie.«

»Sag du lieber nie wieder so einen bekloppten Spruch zu mir, sonst scheppert’s.«

Ehrlich gesagt wunderte es mich schon ein bisschen, dass sich die beiden wieder so in den Haaren hatten. In der Woche zuvor, als Konstantin und ich zusammengekommen waren, sah es nämlich ganz so aus, als ob auch die beiden ein Paar geworden waren (sie hatten sogar schon Händchen gehalten!). Aber als ich Pauline diese Woche in der Schule gefragt habe, warum sie wieder so ruppig zu ihm ist, wollte sie nicht darüber reden.

Puh. Wie war ich froh, dass Konstantin und ich diese Phase bereits überwunden hatten. Wobei Phase zwei auch nicht ohne war.

Natürlich hatte ich in der Zwischenzeit geduscht, mich angezogen und mir die Zähne geputzt (sicherheitshalber zweimal), aber ich war ein bisschen nervös, dass er den missglückten Prinzessin-Kate-Kuss in einen echten umwandeln wollte. Und obwohl ich doch generell wirklich gerne von Konstantin geküsst werde (er ist ein ganz ausgezeichneter Küsser), war Knutschen in der Öffentlichkeit, noch dazu vor Mums kompletten Freunden und meinen Großeltern, eine echte Herausforderung. Ich traute ein paar von ihnen durchaus zu, dass sie einen Kreis um Konstantin und mich bilden würden, um uns anzufeuern.

Deswegen sorgte ich dafür, dass ich ständig auf Achse war, sobald Konstantin sich mir mit seinem zugegeben sehr verführerischen Lächeln mehr als zwei Schritte näherte. Wenigstens waren wir inzwischen vor den bissigen Kommentaren des Röschens sicher. Die hatte sich nämlich mit einem Tablett Käsehäppchen auf ihr Zimmer verzogen.

Dafür war noch ein verspäteter Gast zu uns gestoßen, auf den ich genauso gern verzichtet hätte. Schleimigerweise hatte er sich direkt neben Mum vor den Fernseher gesetzt – so nah, dass er mit seinen Beinen fast die von meiner Mum berührte. Ich musste mich zusammenreißen, um ihm nicht auf die Schulter zu tippen und zu sagen, dass er seine krummen Politikerstelzen gefälligst von ihr fernhalten solle. Aber mit dieser Ansicht stand ich leider ziemlich alleine da, denn der Typ war unser allseits beliebter Bürgermeister. Der machte meiner Mum seit ein paar Wochen schöne Augen, was sie blöderweise auch noch beeindruckte. (Nicht, dass ihr jetzt denkt, dass ich meiner Mum kein Glück gönne, vor allem nicht in der Liebe. Und vor allem nicht nach der für sie so schmerzhaften Trennung von meinem Dad vor knapp zehn Jahren. Ich wünsche mir nur jemand anderen für sie. Jemanden mit ein bisschen mehr Integrität als der Bürgermeister. Denn der war – ach, das erzähle ich später.)

Ich überlegte also gerade, wie ich den Bürgermeister von meiner Mum loseisen konnte, nachdem ich aus der Küche noch Sekt und Orangensaft geholt hatte, als meine Oma zu mir herüberkam. Mit einem äußerst mürrischen Gesicht. Und ihre Laune hatte nichts mit dem leeren Glas zu tun, das sie in der Hand hielt.

»Wie lange haben wir diese bösartige Person am Hals, die vorhin die Käseplatte geklaut hat?«, keifte sie quer durch den Garten und entwand mir die volle Flasche Sekt. Sie hatte sich umgezogen und trug ihren goldenen Sari, während mein Opa in seine übliche Ich-mach-auf-Rocker-und-bin-ein-cooler-Senior-Kluft geschlüpft war. (Die beiden wollten nachher noch auf eine Tattoo-Messe gehen. Meine Oma hatte sich vor ein paar Wochen das Gesicht von David Garrett auf den Oberarm tätowieren lassen, weil es aber so weh tat, nach der Hälfte abgebrochen. Jetzt sah der dunkelblaue Fleck auf ihrem Arm nicht aus wie das halbe Gesicht eines Geigers, sondern wie ein kleiner Wolpertinger. Sie hoffte, heute wenigstens einen Tiger draus machen lassen zu können.)

»Keine Ahnung, wie lange sie bleiben will. Raimund sagte irgendetwas von einem Familienfest, ich glaube, seine Frau hat einen runden Geburtstag. Deswegen ist sie hier. Wieso?«, fragte ich unschuldig. »Gibt es ein Problem mit ihr?«

»Problem?«, fragte Oma giftig. »Diese Frau ist direkt aus der Hölle gekommen. Vorhin hat sie mich gefragt, ob ich hier die Putzfrau bin, und mir ihre dreckigen Schuhe mitgegeben. So eine Frechheit! Und wie die schon aussieht! Sollte man so in diesem Alter rumlaufen?«

Ich musste mir sehr verkneifen zu sagen, dass sie ungefähr genauso alt war wie meine Oma. »Du kannst die Flasche gern mitnehmen«, schlug ich stattdessen tröstend vor, was sie dazu brachte, sich in Richtung Veranda zu trollen.

»Vicky?« Ich schaute mich um. Konstantin war offensichtlich von Tante Polly entlassen worden und winkte mir zu. Wie er so dastand und mir klarwurde, dass dieses unglaubliche Lächeln tatsächlich nur mir galt, hatte ich das dringende Bedürfnis, ihn von dieser Meute hier wegzubringen und irgendwohin mitzunehmen, wo ich ihn ganz für mich hatte.

Und kaum hatte ich diesen (für mich schon ziemlich mutigen) Gedanken gehabt, roch ich die Zimtschnecken.

Ein intensiver, unglücksschwangerer und mir leider sehr vertrauter Geruch.

O nein.

Nicht schon wieder!

Und nicht ausgerechnet jetzt!

Es gibt nämlich etwas, das ich bisher noch nicht richtig erklärt habe. Ein Geheimnis, von dem nicht mal meine Mum weiß (und die weiß sonst so ziemlich alles über mich).

Am besten, ich erzähle ganz von vorne:

Angefangen hatte alles kurz nach meinem zwölften Geburtstag. Da roch ich zum ersten Mal den Duft von frisch gebackenen Zimtschnecken – einfach so, ohne dass Mum oder sonst wer dem Ofen überhaupt nahe gekommen war.

Und dann verschwand ich von einer Sekunde auf die nächste und landete an einem völlig anderen Ort. In einem riesigen Garten, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.

Nach ein paar Augenblicken, in denen ich vor Schreck beinahe ohnmächtig geworden war, kam erneut der Zimtschneckengeruch, und ich sprang wieder zurück – noch ehe ich auch nur ansatzweise kapiert hatte, was da gerade geschehen war.

Aber es sollte nicht bei diesem einen Sprung bleiben. Seit diesem Tag passierte es immer wieder, ungefähr ein-, zweimal im Monat. Manchmal dauerte es nur fünf Sekunden, manchmal zehn, und meistens war ich schon wieder am Ausgangsort, ehe ich mich an diesem anderen Ort überhaupt orientieren konnte.

Nachdem diese Sache ein paarmal geschehen war, hatte meine Freundin Pauline darauf bestanden, diese merkwürdigen Sprünge zu erforschen und mich eine Art Logbuch im Computer anlegen lassen, in das ich peinlich genau aufschreiben sollte, was wann wie geschehen war.

Und obwohl ich ihren Anweisungen wirklich brav folgte, hatten Pauline und ich in den letzten drei Jahren keine Erklärung für diese Sprünge finden können. Eine Weile befürchtete ich sogar, furchtbar krank zu sein und Halluzinationen zu haben oder so, aber Pauline hatte eine andere Theorie.

Die sich vor ungefähr sechs Wochen bestätigt hatte.

Pauline (die schon seit der Grundschule meine allerbeste Freundin ist und auch die Einzige, der ich von diesen seltsamen Sprüngen sofort erzählte – ich wollte Mum mit meinem unerklärlichen Verschwinden nicht unnötigerweise Sorgen bereiten) glaubt, dass ich tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes springe – und zwar in eine Parallelwelt. In der ich mit einem anderen Ich für ein paar Sekunden den Platz tausche (oder besser gesagt den Körper, denn meiner bleibt immer in meiner alten Welt zurück).

Sie behauptet außerdem, dass es nicht nur ein Universum gebe, sondern ganz viele – und dass ich, ein stinknormales, knapp fünfzehnjähriges Mädchen, einfach so innerhalb dieses riesigen Multiversums hin- und herspränge.

Das klingt alles total verrückt, ich weiß.

Aber das Schlimmste an der Sache ist: Pauline hat recht.

Bei einem meiner Sprünge vor ein paar Wochen nämlich (die aus unerklärlichen Gründen inzwischen immer länger dauerten) konnte ich mich in der anderen Welt im Spiegel sehen – und den Personalausweis meines anderen Ichs checken. Und damit war ganz klar bewiesen: Ich war ich, ohne Zweifel. Gleiches Aussehen (bis auf die Frisur), gleiches Geburtsdatum, gleiches Mädchen.

Nur in einer anderen Welt.

Und genau dasselbe passierte scheinbar jetzt gerade wieder, noch ehe ich mich überhaupt auf den Weg zu Konstantin machen konnte. In der einen Sekunde schraubte ich noch eine Flasche Orangensaft auf, und in der nächsten …

Ja, wo war ich überhaupt gelandet?

Nachdem der Zimtschneckengeruch verflogen war und ich mich nach ein paar Sekunden gesammelt hatte, schaute ich mich um. Orientierung war alles, so viel hatte ich bereits gelernt. Aufgeregt war ich dabei immer noch ziemlich – obwohl es schon so oft passiert war. Aber in diesem Moment war ich auch frustriert. Denn ich hatte gehofft, dass nach meinen letzten Sprüngen in die Parallelwelt das Thema endlich mal vom Tisch war und die Springerei vielleicht ein Ende genommen hatte. Denn die waren wirklich, wirklich nervenaufreibend und ganz anders gewesen als alle anderen vorher. Ich war nämlich praktisch im Minutentakt abwechselnd hier und in dieser anderen Welt gelandet, so dass ich überhaupt nicht mehr wusste, wo oder wer ich war. Das war echt beängstigend, und ich hoffte, dass ich so was nicht noch einmal erleben musste.

Tja, zu früh gefreut.

»Victoria, bring doch eben mal den Müll runter«, sagte Mum zu mir. Und zwar meine Parallelwelt-Mum, die zum Glück die Gleiche war wie in meinem echten Leben.

»Klar«, antwortete ich automatisch. Nur nicht auffallen war schon immer meine Devise bei solchen Sprüngen.

Im Geiste ging ich Paulines Checkliste aus dem Logbuch durch, die ich längst verinnerlicht hatte:

Geschätzte Dauer des Sprungs: Keine Ahnung, bin ja gerade erst angekommen

Ausgangsort: Unser Garten, vor dem Büfett

Zielort: Gute Frage.

Ich guckte mich möglichst unauffällig um und erkannte sofort Tante Pollys Wohnung. Die Küche, um genau zu sein, in ihrem Häuschen mitten im Ort, das in meiner Welt vor einer Woche beinahe komplett abgebrannt war. Zum Glück war das hier anscheinend nicht passiert.

Zimtschneckenfaktor (auf einer Skala von 1 bis 10): Intensiv. Eine 7, würde ich sagen

Besonderheiten und neue Erkenntnisse: Mal sehen. Nein, noch keine.

So weit, so gut.

Tante Pollys Küche also. In der kannte ich mich wenigstens aus, obwohl sie hier viel vollgestopfter war als in unserer Welt. Es gab neben dem Ecktisch noch eine kleine Couch, eine Glasvitrine mit Geschirr und einen Fernseher auf dem Kühlschrank, den meine Parallel-Mum gerade ausschaltete. Man konnte gar nicht normal durch den Raum gehen, ohne irgendwo anzustoßen.

»Victoria«, sagte Mum jetzt wieder, »der Müll!«

»O ja, natürlich«, antwortete ich schnell und schnappte mir den vollen Beutel aus dem Eimer unter der Spüle, in den Mum gerade noch ihre letzten Teebeutel gestopft hatte.

Sie lächelte mich kurz an, ehe sie einen Lappen nahm und den Tisch abwischte, und ich tat so, als ob ich den Plastiksack erst ordentlich verknoten musste. Ich wollte noch einen Moment hierbleiben und sie beobachten. Sie sah genau aus wie zu Hause: die schönen langen braunen Haare, die schmalen Schultern, die rotlackierten Fingernägel. Sogar ihr Kleid kannte ich. Wir hatten es bei einem unserer London-Urlaube gekauft, ein wunderschönes Millefleurs-Kleid aus einem Baumwoll-Seidengemisch mit Biesen. In unserer Welt hütete sie es wie einen Schatz, denn beim Waschen lösten sich die vielen kleinen Zierknöpfchen gerne ab, und Mum trug es nur zu ganz besonderen Anlässen. Hier war das Kleid allerdings schon fadenscheinig vom vielen Waschen, und ein paar Knöpfe fehlten.

Merkwürdig.

Egal, ich durfte nicht auffallen. Ich verzog mich also nach unten, um den Müll wegzubringen, und als ich zurückkam und wieder Tante Pollys Flur betrat, kam Mum gerade aus dem Badezimmer.

»Was machen wir denn heute noch?«, fragte ich und war ganz stolz, wie cool ich diesmal diesen unerwarteten Sprung nahm und dass ich sofort daran gedacht hatte, zu versuchen, etwas über diese Parallelwelt herauszufinden. Denn soweit ich es bis jetzt beurteilen konnte, war ich in dieser hier noch nie gewesen. (Bis heute hatte ich leider kein Schema hinter den Sprüngen entdeckt. Manchmal sprang ich jedes Mal woanders hin, oft aber, so wie in den letzten paar Wochen, mehrmals hintereinander in ein und dieselbe Welt.)

Vielleicht verriet mir das Nachmittagsprogramm meiner Parallel-Mum etwas über unser Leben hier. Zumindest wusste ich schon mal, dass wir die Parade dieses Jahr hier bei Tante Polly angesehen hatten. Das hatten wir vor drei oder vier Jahren schon mal gemacht, als bei uns im B&B kurz vorher der Satellitenreceiver kaputtgegangen war und Mum nicht nach oben zu unseren Großeltern gehen wollte.

Meine Parallel-Mum schien meine Frage allerdings nicht gehört zu haben, denn sie ging zurück in die Küche und fing an, im Kühlschrank herumzukramen.

Ich folgte ihr. »Mum?«

»Hm?«

»Was ist denn heute Nachmittag noch geplant?«

»Wie meinst du das, noch geplant?«, fragte sie und überprüfte die Verfallsdaten von diversen Joghurtbechern.

»Na ja, ich meine, was unternehmen wir noch?«

»Das ist nicht witzig, Victoria«, murmelte sie und entschied sich für ein Birchermüsli. »Du weißt genau, dass ich heute noch arbeiten muss.«

»Aber es ist doch Samstag!« Mum führte zwar in meiner Welt das B&B mit vollem Herzblut und Einsatz, aber Samstagnachmittag hatte sie selten etwas zu tun, weswegen diese Zeit auch oft für uns beide reserviert war.

»Tja, und wie jeden Samstagnachmittag muss ich auch heute wieder ins Rathaus«, antwortete sie mit gepresster Stimme und schob sich an mir vorbei hinaus in den Flur. »Sollte es unser lieber Bürgermeister in Zukunft mal schaffen, seine Arbeit unter der Woche zu machen, dann kann ich mir möglicherweise freinehmen. Aber auch nur vielleicht«, murmelte sie bitter und schlüpfte in ihre cremefarbenen Pumps.

Meine Mum arbeitete im Rathaus?

»Schließ die Haustür gut zu, wenn du noch weggehen solltest, Schatz«, sagte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Bis sechs müsste ich wieder zu Hause sein.«

Zu Hause.

Ich schluckte.

Und als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel und das Klackern ihrer Absätze auf der Treppe immer leiser wurde, drehte ich mich langsam um.

Ich kannte mich in Tante Pollys Wohnung natürlich bestens aus, sie wohnte hier schon, seit ich denken konnte. Aber in dieser Welt war alles irgendwie voller. Sehr viel voller. Die Küche. Und auch der Flur, in dem die kleine Einbaugarderobe vor Jacken, Schals, Tüchern, Taschen und Regenschirmen nur so überquoll.

Mit einem komischen Gefühl in der Magengrube ging ich ein Stückchen weiter und stieß die erste Tür auf, links neben dem Eingang.

Hier war Tante Pollys Schlafzimmer. Es sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Der Raum dahinter allerdings, den sie in meiner Welt als Wohnzimmer nutzte, war hier kein Wohnzimmer. Sondern, nach den Sachen zu urteilen, die hier herumlagen – Mums Schlafzimmer.

Konnte das sein? War es möglich, dass wir …

Mit klopfendem Herzen öffnete ich die dritte Tür, zum kleinsten der drei Zimmer, eigentlich eine bessere Besenkammer, in der Polly bei mir zu Hause ihren Bürokram aufbewahrte.

Und blieb stocksteif im Türrahmen stehen.

Denn das hier war offensichtlich mein Zimmer. Oder anders gesagt: das Zimmer von Parallel-Vicky. Ein Bett und ein Schreibtisch standen darin, dazu ein schmales Wandregal mit einem gepunkteten Vorhang davor. Mehr passte nicht rein. Und auch so konnte man sich kaum um sich selbst drehen.

Und in dem Moment, als ich begriff, dass wir hier alle zusammenwohnten, in Tante Pollys kleiner Wohnung über ihrem Laden, kam der Zimtschneckengeruch, und ich sprang in meine eigene Welt zurück.

Wo ich von einem entsetzten Schrei meiner Mum empfangen wurde.

»UMHIMMELSWILLEN!«

Fast gleichzeitig schepperte es direkt vor mir, als ob der kompletten Marschkapelle der Queen gerade die Instrumente aus den Händen gefallen wären.

Aber deswegen hätte Mum sicher nicht so geschrien.

Oder sich die Hände vors Gesicht geschlagen.

Langsam und mit klopfendem Herzen sah ich nach unten.

Und zuckte vor Schreck zusammen.

3.

Nachdem ich gesehen hatte, was passiert war, hätte ich am liebsten genauso laut aufgeschrien wie Mum.

Denn so, wie ich schließlich die Situation überblickte, ergab sich folgendes Bild:

Erstens: Ich befand mich immer noch im Garten, und zwar in Höhe des Büfetts. Mein Parallel-Ich hatte sich also nicht aus lauter Angst in mein Zimmer verkrümelt, sondern offenbar Hunger gehabt.

Zweitens: Konstantin lag vor mir auf dem Boden. Mit einer guten Portion Queen-Elizabeth-Geburtstagstorte in seinen Haaren.

Drittens: Unter Konstantin lag der Gartentisch in mehreren Einzelteilen samt den Resten vom Büfett.

Viertens: Unser Fernseher war mit dem Bildschirm nach unten in der Wiese gelandet. Der BBC-Sprecher hustete gerade noch mit dumpfer Stimme etwas in den Rasen, ehe es laut knisterte und knackte und das Gerät schließlich verstummte.

Fünftens: Obwohl das alles ziemlich unbequem aussah, fing Konstantin an, mich schief anzugrinsen.

Und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich einfach nur zurückgrinsen wollte oder doch lieber im Boden versinken. (Ich entschied mich für Ersteres, alleine der Praktikabilität wegen.)

Zwar konnte ich mir noch nicht hundertprozentig zusammenreimen, was da kurz vor meinem Rücksprung geschehen war, aber das ganze Chaos hier ging zweifelsfrei auf das Konto meines zweiten Ichs, das in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit meinen Platz eingenommen hatte. Sie musste Konstantin mitten in die Torte geschubst haben. Absichtlich oder auch nicht.

»Ist alles okay?«, fragte ich ihn und hielt ihm beide Hände hin. »Bist du verletzt?«

Er ließ sich von mir auf die Beine helfen und schüttelte den Kopf.

»Nein.« Er klopfte sich ein paar Gurkenscheiben vom T-Shirt. »Nur vielleicht mein Stolz, ein ganz kleines bisschen.«

Sofort waren auch Pauline und Nikolas an meiner Seite, und Pauline flüsterte: »Du warst weg, oder?«

»Ja, aber nur kurz«, zischte ich zurück. »Konntet ihr vielleicht sehen, was mein anderes Ich gerade angestellt hat?«

»Nein, nicht die Spur, es kam ja so plötz–«

»Vicky, um Himmels willen!« Mum drängte sich zwischen uns, und wir mussten unsere geflüsterte Diskussion unterbrechen. (Wobei ich unheimlich froh war, nach dem Sprung und seinem desaströsen Ausgang meine Freunde und Verbündeten um mich zu haben. Denn mittlerweile wussten neben Pauline auch noch Nikolas und Konstantin Bescheid. Hatte sich irgendwann gar nicht mehr vermeiden lassen.)

Peinlicherweise wandte Mum sich in diesem Moment direkt an Konstantin: »Hast du dir weh getan?«, fragte sie und tastete mit den Händen seinen Arm ab.

Konstantin blieb wie immer cool. »Nein, das ist nur die Torte.« Er wischte sich einen Klecks Kirschfüllung aus dem Gesicht.

»Was ist denn nur passiert? Und wie ist der Fernseher im Gras gelandet?« Meine Mutter rang die Hände, und ich fühlte mich richtig mies. Eine kaputte Geburtstagstorte war die eine Sache. Aber der Fernseher? Ich wusste genau, dass wir im Moment kein Geld übrig hatten, ihn zu ersetzen. Das B&B lief zwar ganz gut, aber große Anschaffungen waren selten drin.

»Wir haben eine Haftpflichtversicherung«, sagte Konstantin in diesem Moment, als ob er meine Gedanken lesen konnte, und ich lächelte ihn dankbar an.

»Was für ein Malheur!« Jetzt quatschte auch noch der Bürgermeister dazwischen, der seinen gegelten Kopf ein bisschen zu eng an Mums Schulter presste. Wer hatte denn den bitte schön um seine Hilfe gebeten? Ich jedenfalls nicht.

»Wir kommen schon klar!« Pauline konnte den Kerl zum Glück genauso wenig leiden wie ich, aber weder er noch Mum ließen sich leicht abwimmeln. Dabei brannte ich darauf, mit Pauline, Konstantin und Nikolas mein Erlebtes unter acht Augen zu teilen. Und ihnen ging es bestimmt ähnlich.

»So ein Missgeschick!«, säuselte der Bürgermeister wieder. Schleimer.

»Missgeschick?« Eine Stimme, scharf wie eine Rasierklinge, schnitt durch unseren Garten. Ein hoher, beißender Ton, so dass mir die Ohren klingelten. »Ich hab genau gesehen, was passiert ist!«