Zuckerblut - Bernd Leix - E-Book

Zuckerblut E-Book

Bernd Leix

4,4

Beschreibung

Im jungen Grün des Frühlingswaldes hinter dem Karlsruher Schlossgarten entdecken zwei Joggerinnen die Leiche einer erwürgten Frau. Gibt es Zusammenhänge zu einem Stadtplan mit seltsamen Markierungen, den Kriminalhauptkommissar Oskar Lindt kurz zuvor anonym erhalten hat und der auf mehrere Todesfälle bei vermögenden älteren Menschen hinweist? Die Spurensuche im Umfeld eines privaten Pflegedienstes und einer dubiosen Rechtsanwaltskanzlei ergibt zwar vage Verdachtsmomente, aber kaum verwertbare Ergebnisse. Auch eine humanitäre Kinderhilfsorganisation ist mit im Spiel, doch nirgends finden sich Beweise. Der erfahrene Kommissar gerät durch das drohende Scheitern seiner Bemühungen in eine schwere persönliche Krise, als ein Zufall überraschend Bewegung in die Ermittlungen bringt …

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Bernd Leix

Zuckerblut

Oskar Lindts zweiter Fall

Zum Buch

BLUTIGE STERBEHILFE Im jungen Grün des Frühlingswaldes hinter dem Karlsruher Schlossgarten entdecken zwei Joggerinnen die Leiche einer erwürgten Frau. Gibt es Zusammenhänge zu einem Stadtplan mit seltsamen Markierungen, den Kriminalhauptkommissar Oskar Lindt kurz zuvor anonym erhalten hat und der auf mehrere Todesfälle bei vermögenden älteren Menschen hinweist? Die Spurensuche im Umfeld eines privaten Pflegedienstes und einer dubiosen Rechtsanwaltskanzlei ergibt zwar vage Verdachtsmomente, aber kaum verwertbare Ergebnisse. Auch eine humanitäre Kinderhilfsorganisation ist mit im Spiel, doch nirgends finden sich Beweise. Der erfahrene Kommissar gerät durch das drohende Scheitern seiner Bemühungen in eine schwere persönliche Krise, als ein Zufall überraschend Bewegung in die Ermittlungen bringt …

Bernd Leix ist Schwarzwälder durch und durch. 1963 wurde er in Klosterreichenbach geboren, hat Forstwirtschaft studiert, lebt in Freudenstadt und arbeitet dort als Personalratsvorsitzender des Landratsamtes. Als Revierförster betreute er viele Jahrzehnte die Wälder rings um das Klosterstädtchen Alpirsbach. Zuvor war er einige Zeit im von Kriminalität durchdrungenen Karlsruher Hardtwald tätig. Deshalb machte er die badische Fächerstadt häufig zum Schauplatz seiner Krimis um den behäbigen, Pfeife rauchenden Kommissar Oskar Lindt. Doch der Mordermittler aus der Großstadt gerät bei seinen Ermittlungen immer öfter in die dunklen Wälder des Schwarzwaldes. »Teuchel-Mord«, der zwölfte Oskar-Lindt-Krimi, führt direkt unter die riesigen alten Tannen des Erholungswaldes der sonnigen Höhenstadt Freudenstadt.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von pixelquelle.de

ISBN 978-3-8392-3198-2

Vorbemerkung

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Sollte es trotzdem Übereinstimmungen geben,

so würden diese auf jenen Zufällen beruhen,

die das Leben schreibt.

1

›Herrn

Kriminalhauptkommissar

Oskar Lindt

– persönlich –

Polizeipräsidium – Mordkommission

Beiertheimer Allee

Karlsruhe‹,

stand handgeschrieben auf einem mittelgroßen, braunen Briefumschlag, der versteckt im Stapel der Eingangspost auf Lindts Schreibtisch lag.

Meistens erledigte er seine Bürogeschäfte zügig, aber an manchen Tagen, vor allem, wenn kein aktuelles Tötungsdelikt aufzuklären war, hatte er mit einem massiven Anfall von Lustlosigkeit zu kämpfen. Am liebsten wäre er nach draußen gegangen, um bei einem Spaziergang den Frühlingstag an der frischen Luft zu genießen, doch vor einer Stunde hatte es begonnen, Bindfäden zu regnen und sein großer schwarzer Stockschirm stand zuhause.

Zudem war er am Freitag der letzten Woche in der Fußgängerzone einem Ermittler vom Dezernat für Wirtschaftsstraftaten begegnet, der gerade aus der Tür einer Rechtsanwaltskanzlei trat, geschäftig eine schmale Aktenmappe aus edlem Leder unter den Arm geklemmt.

»Hoppla Oskar, frei heute?«

»Nein, nein«, konterte Lindt schnell, »wir ermitteln immer, bei uns geht die Arbeit nie aus.«

»Ach ja, man sieht’s. Aber hast du dich jetzt auf Kaufhausdiebstähle spezialisiert?«

Der nach teurem Rasierwasser duftende, sonnenstudiogebräunte Kollege im eleganten Maßanzug hatte grinsend auf die kleine ›Karstadt‹-Tüte in der Hand des Kommissars gezeigt und war davongeeilt, ehe der noch etwas entgegnen konnte.

Obwohl er sich wegen seiner unzähligen, niemals notierten Überstunden ganz und gar kein schlechtes Gewissen machte, auch tagsüber eine persönliche Besorgung zu erledigen, wurmte ihn die Begegnung doch.

›Da haben die im Wirtschaftsdezernat beim Kaffee wieder was zu ratschen‹, ging es ihm durch den Kopf, als er daran zurückdachte.

Abwechselnd schaute Lindt nach dem Wetter und dann wieder zu den Aktenstapeln auf dem Schreibtisch. Seine Stimmung verbesserte sich nicht. ›Erst mal etwas zum Ablenken‹, dachte er.

Er griff in die unterste Schreibtischschublade, holte den Vorrat an Pfeifentabak hervor und füllte die kleine rechteckige Tabaksdose auf, die er in seiner Jackentasche ständig bei sich trug.

Anschließend schaffte er Platz auf seinem Schreibtisch und zog den langen hölzernen Pfeifenständer, den er neben dem Telefon platziert hatte, zu sich her. Nacheinander nahm er alle neun Pfeifen heraus, reinigte sie gründlich, versah sie mit neuen Neun-Millimeter-Filtern und stellte sie wieder an ihren Platz.

›Auch ein Zufall, meine Pfeifen und unsere Dienstpistolen haben dasselbe Kaliber‹ und als er eine halbe Stunde lang borstige Pfeifenreiniger durch die Rauchkanäle gezogen hatte, war seine üblicherweise gute Laune schon fast wieder zurückgekehrt.

Schnell säuberte er seine Schreibunterlage von den Überbleibseln der Aktion, wusch sich gründlich die Hände, um die klebrigen Teer- und Nikotinreste zu entfernen, stopfte eine lange gebogene Pfeife und nahm umgehend den Papierberg der Eingangspost in Angriff.

Er zeichnete drei Schreiben der Staatsanwaltschaft ab, las den Bericht über die Razzia in einem illegalen Spielclub und ging die neuesten Fahndungsmeldungen durch.

Briefe, die von außen kamen, wurden normalerweise schon in der zentralen Poststelle geöffnet und dann auf die jeweils zuständigen Abteilungen verteilt. Der Kommissar wunderte sich deshalb über den geschlossenen Umschlag, den er nun in der Hand hielt.

›Wer schickt denn persönliche Post an mich hierher ins Präsidium?‹ Er tastete das Kuvert ab.

›Für eine Briefbombe ist es auf jeden Fall zu dünn.‹ Lindt lächelte kurz über seine Bedenken, es könnte ihm jemand etwas Explosives zuschicken. Außerdem wurde die gesamte Post schon in der Zentrale mit Metalldetektoren überprüft. Für besonders verdächtige Sendungen hatten sie seit neuestem sogar eine Durchleuchtungsmöglichkeit.

Allerdings konnte er sich durchaus einige Personen vorstellen, die meinten, eine alte Rechnung mit ihm begleichen zu müssen. Die meisten dieser Kandidaten befanden sich aber noch immer auf Staatskosten im mehrjährigen Zwangsurlaub.

›Kommt schon was zusammen in fast fünfunddreißig Dienstjahren.‹ Einige spektakuläre Fälle hatte er gemeinsam mit seinen Mitarbeitern lösen können.

Lindt suchte auf dem Umschlag vergeblich nach einem Absender und genauso vergeblich auf seinem Schreibtisch nach einem Brieföffner. Automatisch griff er nach dem Schweizer Taschenmesser in seiner Hosentasche.

Er schlitzte das Kuvert auf. ›Sieht schon gebraucht aus‹, dachte er. Er erkannte den Rest eines Poststempels und die Stelle, wo die dazugehörige Briefmarke geklebt hatte.

Der Brief musste wohl direkt beim Polizeipräsidium eingeworfen worden sein. Lindts Adresse war von Hand auf ein ausgeschnittenes Stück von kariertem Papier geschrieben und dann mit einer dicken Portion Alleskleber auf dem Umschlag befestigt worden.

›An der Stelle war sicher auch schon mal eine andere Adresse aufgeklebt‹, dachte sich der Kommissar und drehte den Brief so lange hin und her, bis dabei der flache Inhalt herausrutschte.

Ein Stadtplan kam zum Vorschein. ›Wer meint denn, dass ich nach so vielen Dienstjahren noch eine Straßenkarte von Karlsruhe brauche?‹ Er war sich sicher, nahezu jede Adresse im Stadtbereich auch ohne Plan zu finden.

Lindt drückte das Kuvert auseinander, um nachzuschauen, ob noch etwas drin war, konnte aber nichts mehr entdecken. ›Ein Ansichtsexemplar vom Verlag vielleicht? Zur Überprüfung? Nein, eher nicht.‹

Er nahm den Stadtplan und begann, ihn aufzuklappen. Eine völlig normale Karte, allerdings nicht mehr ganz aktuell, stellte er fest, und schon öfter gebraucht. An den Knickstellen waren bereits leichte Risse entstanden.

Lindt entfaltete den Plan vollends und betrachtete ihn intensiv. Er schaute sich die Rückseite an, fand aber nichts Außergewöhnliches und dreht ihn wieder nach vorne.

»Verstehe ich nicht«, sagte er zu sich selbst, denn außer ihm war keiner im Büro. Jan Sternberg feierte Überstunden ab und Paul Wellmann verhörte gerade einen Verdächtigen in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal.

Lindt fuhr mit der flachen Hand über das Papier, um es zu glätten. Dabei bemerkte er eine winzige Unebenheit. Irgendetwas klebte darauf. Er wollte den vermeintlichen Schmutzpartikel schon mit dem Fingernagel abkratzen, stutzte aber, als er einen kleinen rotbraunen kreisrunden Fleck bemerkte. Er hielt den Plan hoch, um flach über die Oberfläche peilen zu können und entdeckte dabei noch vier weitere leicht erhöhte Stellen. Überall waren die Flecke zwei bis drei Millimeter im Durchmesser und von rötlich brauner Farbe.

Der Kommissar griff in eine Schublade und zog eine große rechteckige Lupe hervor. Er schaltete, obwohl es mitten am Tag war, die Schreibtischlampe ein und zog sie nahe heran, um die Oberfläche des Stadtplans gut auszuleuchten.

»Könnte das möglicherweise …?« Er hob und senkte die Lupe, bis die Flecke ganz scharf waren. Je einer fand sich in der Ost- und in der Südstadt, in den Stadtteilen Rüppurr und Mühlburg und der fünfte Fleck klebte westlich des Hauptbahnhofs.

Die Oberfläche der kleinen Kleckse hatte eine ganz leicht raue Struktur, die braun-rötliche Farbe aber war es, die Lindt veranlasste, den Plan schleunigst wieder zusammenzufalten. Mitsamt Umschlag steckte er ihn in eine durchsichtige Hülle und verließ eilig sein Büro.

Ohne anzuklopfen trat er in die Räume der Kriminaltechnik ein und steuerte geradewegs auf die Tür von Ludwig Willms zu.

»Grüß dich, Oskar!« Willms stand an einem Stehpult neben dem Fenster und blickte erstaunt zur Tür, als Lindt eintrat. »Der Leiter der Mordkommission kommt selbst? Welche Ehre für uns. Normalerweise sind dir doch die Treppen zu viel und du schickst einen Mitarbeiter vorbei.«

»Keiner da und außerdem keine Zeit für Sticheleien: Hier – sieh dir das doch mal an. Zieh bitte Handschuhe an. Meine Fingerabdrücke sind leider schon drauf.«

»Also …«, vorwurfsvoll warf der schlanke durchtrainierte KTU-Chef einen Blick über den nicht vorhandenen Rand der Brille hinweg in Richtung seines alten Freundes.

»Die Grundregeln, wie mit Beweismaterial umzugehen ist, brauche ich dir doch wohl nicht mehr beizubringen.«

Der Kommissar reichte ihm die Hülle mit Briefumschlag und Stadtplan und brummte leicht genervt: »War ja in der normalen Post.«

Willms schob seinem Kollegen die Schachtel mit den Einmalhandschuhen hin. »Zieh wenigstens jetzt welche an, damit es nicht noch mehr Fingertatzen gibt.«

Im Nebenraum steuerten sie einen großen Metalltisch an. Mit mehreren Lampen beleuchtete der Kriminaltechniker die Fläche, nahm Plan und Kuvert aus der Hülle und breitete beides aus.

»Hier, das hat mich stutzig gemacht.« Lindt zeigte auf die kleinen Flecke. »Da und da und auch dort. Insgesamt fünf Stück. Ich habe sie mit meiner Lupe angeschaut. Von der Farbe her, dachte ich, könnte es auch …«

Willms hatte eine stationäre Vergrößerungseinrichtung, die an einem Gelenkarm befestigt war, herangezogen und betrachtete die Kleckse nacheinander.

»Blut? Meinst du Blut? Hm, nicht ausgeschlossen. Müssen wir untersuchen.«

»Wie lange braucht ihr dazu?«

»Kommt drauf an, was du alles wissen willst, Oskar. Die reine Analyse, ob es sich tatsächlich um Blut handelt, hast du bis in zwei Stunden. Fingerabdrücke sichern wir dann auch gleich. Falls du aber Recht hast und wir noch die DNA bestimmen sollen, dauert es auf jeden Fall bis morgen Mittag. Eventuell brauchen wir das Labor vom Landeskriminalamt dazu.«

»Gut, dann fangt mal gleich an. Ach …«, Lindt drehte sich unter der Tür nochmals um. »Kannst du den Plan noch kurz auf den Kopierer legen? Es gibt zwar bisher keine Anhaltspunkte, die zu einem aktuellen Fall passen würden, aber ich muss das Ganze noch mal in Ruhe anschauen. Es war an mich persönlich adressiert und das bestimmt nicht ohne Grund.«

Aktuelle Fälle gab es im Dezernat für Tötungsdelikte eigentlich immer, aber in der Regel klärten sich die Umstände bereits nach kurzer Zeit. Beziehungstaten machten den größten Teil der Arbeit aus. Häufig waren die Täter schon von vornherein bekannt und auch geständig. Die Zahl der wirklich rätselhaften Angelegenheiten war sehr gering, dafür allerdings umso interessanter für die Öffentlichkeit.

Lindt hatte in seiner langen Dienstzeit bisher lediglich vier Morde nicht aufklären können. Diese Zahl hielt er auch selbst für ein achtbares Ergebnis. Einige spektakuläre Fälle hatten sich zwar über mehrere Jahre hingezogen, konnten letztendlich aber doch gelöst werden.

Momentan brachte Lindts Ermittlungsgruppe gerade einen Fall von fahrlässiger Tötung zu Ende, wobei für die Staatsanwaltschaft noch ein abschließender Bericht zu fertigen war.

Während einer Gaststättenschlägerei waren verschiedene Gegenstände durch die Luft geflogen. Der scharfkantige Hals einer abgebrochenen Bierflasche hatte den Wirt erwischt und unglücklicherweise die Halsschlagader des gänzlich unbeteiligten Opfers durchtrennt. Die Tat geschah in einer etwas abgelegenen Landgemeinde an der Grenze zum Nachbarkreis und als der Rettungsdienst vierzehn Minuten nach der Alarmierung dort eintraf, war der Blutverlust schon so hoch, dass der Mann auf dem Weg ins Krankenhaus starb.

Für den Kommissar und seine Mitarbeiter zwar ein tragischer Fall, aber trotzdem schnell erledigt. Nach einer Stunde Verhör waren die Tatumstände geklärt und der Flaschenhalswerfer ermittelt.

Der nun vor ihm liegende Stadtplan gab Oskar Lindt da weitaus mehr Rätsel auf.

›Wer schickt mir diesen Plan? Was sollen diese fünf markierten Punkte bedeuten? Wieso sind keine weiteren Erklärungen dabei – oder wenigstens ein Anruf? Wieso gerade an mich adressiert?‹ Diese Gedanken kreisten in seinem Kopf, als er sich wieder an den Schreibtisch setzte, um die Plankopie eingehend zu betrachten.

Lindt kannte die Karlsruher Innenstadt wie seine Westentasche. Mit einer kurzen Unterbrechung von zwei Jahren, in denen er am Bodensee war, hatte er sein gesamtes Berufsleben in dieser Stadt verbracht. Manchmal gab es auch Vorkommnisse irgendwo im Landkreis, so wie der verblutete Wirt, aber die überwiegende Zahl seiner Fälle spielten sich im Stadtgebiet ab. »Ist doch klar, da, wo die meisten Leute wohnen«, hatte Paul Wellmann erst vor kurzem einmal bestätigt.

Der Kommissar versuchte, sich aus dem Gedächtnis heraus vorzustellen, wie die Örtlichkeiten aussahen, die auf dem Stadtplan markiert waren. Hinfahren und in Augenschein nehmen? Später vielleicht.

Alle fünf Stellen lagen abseits großer Durchgangsstraßen in reinen Wohngebieten. Er war sich auch schon ziemlich sicher, dass an den gesuchten Orten keine größeren Geschäfte, Banken, Firmen oder Hotels lagen.

›Wohnhäuser, da stehen nur ganz normale Wohnhäuser.‹ Darüber war sich der Kriminalist nun mehr und mehr im Klaren. ›Also doch mal anschauen!‹

Er wollte schon aufstehen, als ihm eine Idee kam. Er griff nach einem langen Lineal, legte es auf den Stadtplan und verband mit dünnen Bleistiftstrichen die Punkte untereinander.

Ein unsymmetrisches Spinnennetz entstand. Lindt war mit dem Ergebnis seiner geometrischen Übung nicht zufrieden. Insgeheim hatte er gehofft, die Linien würden sich an einem gemeinsamen Punkt schneiden und so vielleicht auf einen bestimmten Ort hinweisen.

›Leider nicht, schade, wäre ja auch zu schön gewesen‹, dachte er und grübelte weiter über die Bedeutung der Punkte, als Paul Wellmann von der Vernehmung in der JVA zurückkehrte.

»Schau mal, Paul, da gibt uns jemand ein Rätsel zu knacken«, begrüßte er seinen langjährigen Mitarbeiter und zeigte ihm den Plan. Wellmann war fast in Lindts Alter und vor einigen Jahren auch zum Hauptkommissar befördert worden. Seit über zwanzig Jahren arbeiteten die beiden eng zusammen. Es war ein harmonisches Verhältnis unter Kollegen, eigentlich schon freundschaftlich, was sie verband. Häufig redeten sie auch über private Angelegenheiten und wenn der eine etwas zu feiern hatte, war der andere mit dabei.

»Kannst du dir vorstellen, was diese fünf Markierungen bedeuten sollen? Mir fällt nichts Außergewöhnliches dazu ein. Alles Wohnhäuser, wenn ich die Orte richtig im Kopf habe.«

»Lass uns doch die Punkte mal anfahren. Vielleicht fällt uns etwas auf.«

Lindt nickte und griff nach der Jacke, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte.

»Wo? … Ja, ich weiß … Wir kommen sofort!«

Wellmann hatte nur Gesprächsfetzen mitbekommen, konnte sich aber schon denken, worum es ging.

»Weibliche Leiche im Wald hinterm Schlossgarten, nicht weit von der Majolika«, informierte ihn sein Kollege, als sie zum Wagen eilten.

2

Es hatte um die Mittagszeit zwar aufgehört zu regnen, aber nach wenigen Schritten durch das Unterholz am Tatort waren die Hosenbeine der beiden Hauptkommissare dennoch klatschnass. Von der Schutzpolizei war mit rot-weißem Band weiträumig abgesperrt worden und die Spurensicherung packte gerade ihre Gerätschaften aus. Zwei Studentinnen der nahe gelegenen Pädagogischen Hochschule hatten beim Joggen die leblose Frau im Dickicht entdeckt.

»Es sah erst so aus, als hätte jemand dort Altkleider und Schuhe weggeworfen«, berichteten sie. »Wir sind dran vorbei gelaufen, haben aber irgendwie noch mal zurückgeschaut und dann einen riesigen Schreck bekommen.«

Lindt betrachtete aus einigen Metern Entfernung den völlig bekleideten Körper einer vielleicht vierzigjährigen Frau, die halb verdeckt im Unterwuchs lag. Das helle Grün frisch ausgetriebener Ahornblätter nahm dem Anblick etwas von seiner Grausamkeit.

Er bemerkte eine Schleifspur, die im Waldboden bis zu den Schuhen der Toten führte. »Schaut mal dort vorne auf dem Weg, ob sich ein Reifenprofil findet«, wies er die Mitarbeiter der Spurensicherung an und zeigte in die entsprechende Richtung.

»Da mache ich mir keine großen Hoffnungen, Herr Lindt«, antwortete einer der Beamten im weißen Schutz-overall. »Vor dem Regen heute Morgen hatten wir fast eine Woche keinen Niederschlag. Der Boden war ganz trocken und hart, da werden wir kaum Abdrücke sehen.«

»Sucht trotzdem den ganzen Weg ab, vielleicht stoßt ihr doch auf eine Stelle, die was hergibt.«

»Der Waldweg ist ja ziemlich schmal«, mischte sich Paul Wellmann ein, »kaum zwei Meter breit, eigentlich nur für Spaziergänger – da wird sicher nicht viel gefahren.«

Lindt nickte und zeigte auf die Leiche: »Sieh mal dort am Hals, Paul.« Deutlich waren blaurote Stellen zu sehen.

»Sieht ganz nach Würgemalen aus«, bestätigte Wellmann die Einschätzung seines Chefs. »Mal sehen, was die Frau Doktor dazu meint, ach, da kommt sie ja schon.«

Gerade traf die Ärztin der Gerichtsmedizin ein und begann, den leblosen Körper in Augenschein zu nehmen.

»Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Tat nicht hier geschehen«, teilte sie nach einigen Minuten eine erste Einschätzung mit.

»Todeszeitpunkt und Ursache? Können Sie schon was sagen?«, wollte Lindt wissen.

»Hier vor Ort sehe ich nur die Hämatome am Hals, die Blutergüsse, die Ihnen ja auch schon aufgefallen sind. Sie haben wahrscheinlich Recht, alles deutet darauf hin, dass die Frau erwürgt worden ist.«

Sie legte die Stirn in Falten. »Ja und wann die Tat geschehen ist … allen Anzeichen nach irgendwann gestern Abend, aber Näheres erfahren Sie nach der Obduktion.«

Der Kommissar bedankte sich: »Also morgen im Lauf des Vormittags?«

»Das werde ich wohl schaffen – außer Sie beide helfen mit, dann sind wir vielleicht etwas schneller.«

Die Ärztin lachte, als sie das energische Kopfschütteln von Paul Wellmann bemerkte. »Muss nicht unbedingt sein – uns reicht dann Ihr Bericht.«

Oskar Lindt war weniger heikel, was die Atmosphäre in einem Sektionssaal anbelangte. Ab und zu schaute er den Gerichtsmedizinern bei einer Obduktion über die Schultern, doch jetzt wandte er sich wieder an die Spurensicherung: »Kümmern wir uns lieber um die Identität. Hat die Frau Papiere bei sich?«

»Nein, nichts zu finden bisher – alle Taschen durchsucht. Wir machen noch ein paar Fotos, vielleicht erkennt jemand das Gesicht im Fernsehen.«

»Gut, wenn die Bilder fertig sind, geben wir sie zusammen mit einer Pressemeldung gleich raus.«

Er stopfte erst einmal seine Pfeife und nahm sich dann noch eine Viertelstunde Zeit, um die Örtlichkeit und die Tote intensiv zu betrachten. Ein kleines Detail vielleicht, irgendeine Besonderheit oder etwas, was nicht ganz zum Fundort passte – er wusste in solchen Situationen nie genau, wonach er suchte, ging aber immer sehr konzentriert vor.

In Gedanken versunken musterte er die Kleidung der Frau. Jeans, Turnschuhe, ein hellblaues T-Shirt und darüber eine leichte roséfarbene Sweatshirt-Jacke mit Kapuze, wie es zurzeit Mode war. Die pflegeleichte Kurzhaarfrisur war mit blonden Strähnen durchsetzt. Schmuck konnte Lindt nicht entdecken. Weder Halskette, Ohrringe, ein Armband oder Fingerringe.

Die Hände, ja, die fielen ihm auf. Wie die gesamte Erscheinung zwar durchaus gepflegt, aber dennoch kräftig, deuteten sie nicht unbedingt auf reine Büroarbeit hin. Er rätselte, welchen Beruf die Tote wohl ausgeübt hatte.

›Verheiratet, Familie?‹, überlegte er. Der Gedanke, dass irgendwo Kinder vergeblich auf ihre Mutter warten könnten machte ihm zu schaffen. Allerdings passte keine aktuelle Vermisstenmeldung. Paul Wellmann hatte das schon abgefragt.

»Rotlichtmilieu?«, fragte sich Lindt, aber der äußere Eindruck deutet nicht darauf hin. ›Nein‹, dachte er, ›weder osteuropäisch noch asiatisch. Auch keine auffällige Kosmetik im Gesicht – ganz normal halt.‹

Er sinnierte über den Ausdruck. ›Normal, was ist das eigentlich? Wer ist normal? Blöder Begriff, aber dennoch irgendwie passend.‹

Er bahnte sich einen Weg durch die dichte Vegetation mit ihren frischgrünen Blättern und umschlug den Fundort, um alles nochmals aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Von seinem Standort, einige Meter hinter dem Kopf der Toten, konnte er die Schleifspur bis zum Waldweg einsehen. Wer immer die Frau hier abgelegt hatte, wahrscheinlich war derjenige rückwärts gegangen und hatte das Opfer dabei unter den Armen gefasst. Die Spur im Bodenlaub müsste dann durch die Fersen verursacht worden sein. Der Kommissar konnte auch aus einiger Entfernung Schmutz an den Schuhabsätzen der Toten erkennen.

Der morgendliche Landregen hatte alles gründlich durchfeuchtet und langsam begann ein unangenehmer Duft, sich zu verbreiten.

Ein Motorengeräusch schreckte ihn auf. Er schaute hoch und sah auf dem schmalen Weg einen Leichenwagen langsam rückwärts heranfahren. Die Zweige der Büsche streiften links und rechts an der Karosserie. Zwei Bestatter öffneten die Heckklappe und zogen einen Metallsarg heraus. Lindt ging auf die beiden zu: »Den können Sie im Moment noch im Wagen lassen, bis die Spurensicherung fertig ist.«

»Wir haben es bald«, rief einer der Techniker herüber. Er hatte ein dreibeiniges Fotostativ aufgestellt und machte mit einer Spiegelreflexkamera Blitzlicht-Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven. »Ein paar Bilder noch, dann sind wir hier so weit. Aber falls wir die weitere Umgebung absuchen müssen, brauchen wir Unterstützung.«

Lindt überlegte kurz, ob er Hundeführer und Suchtrupps anfordern sollte, entschied sich dann aber dafür, nur den Weg noch genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Ich glaube, eine großräumige Suche können wir uns sparen. So wie die Schleifspuren verlaufen und wie die Tote liegt, hatte unsere Ärztin wahrscheinlich Recht. Die Frau war bestimmt schon tot, als sie hierher transportiert wurde. Dort auf dem Weg hat man sie aus einem Wagen geladen und dann die paar Meter ins Unterholz geschleppt. Wenn ihr den weiteren Wegverlauf noch absucht, reicht mir das. Falls alles nicht schon vor, sondern während des Regens von heute Morgen passiert ist, könnte es ja doch Reifenspuren geben.«

»Auf der Strecke, die der Leichenwagen jetzt gefahren ist, habe ich bereits gesucht«, informierte ein anderer Polizeitechniker den Kommissar. »Da war nichts zu finden.«

Lindt drehte sich zu ihm um und musterte die Wegstrecke: »Warum ist der Weg hier denn so dunkel? Ist Sand eigentlich nicht heller gefärbt? Gelblich oder hellgrau?«

Auf der ganzen Länge, die einsehbar war, war der Sand auf der Wegoberfläche leicht mit schwärzlichem Material durchmischt.

Der Mitarbeiter der Spurensicherung nickte: »Wir nehmen eine Probe und geben sie mit ins Labor. Bin gespannt, was die dazu sagen.« Er kratzte mit einem Kunststoffspatel etwas Material in eine Tüte und begann dann, den weiteren Verlauf des Waldweges zu untersuchen.

Lindt schaute sich suchend um, konnte aber Paul Wellmann nirgends entdecken. »Wo ist denn mein Kollege hin?«, fragte er einen Streifenpolizisten, der als Posten an der Absperrung stand. »Der Paul? Der ist vorhin auf dem asphaltierten Weg dort weitergefahren«, bekam er als Antwort, doch da tauchte der markante dunkelrote Citroën XM in der Ferne schon wieder auf. Die in gerader Linie sternförmig vom Karlsruher Schloss ausgehenden Alleen waren weit hinaus einsehbar.

»Ich habe mir die Umgebung mal genauer angesehen«, berichtete Wellmann, als Lindt wieder zu ihm ins Auto stieg. »Die Waldwege führen alle bis zum Adenauerring. Dort an der vierspurigen Schnellstraße gibt es überall geschlossene Schranken oder Sperrpfosten. Wenn die Frau tatsächlich mit einem PKW hierher transportiert worden ist, dann müsste der den gleichen Weg genommen haben wie wir. Hier an der Schlossgartenmauer entlang ist die einzige Zufahrt. Die Straße ist öffentlich bis zur Majolika, dann geht die Allee als gesperrter Waldweg weiter.«

Zwischen den Bäumen konnte man die Gebäude der bekannten Porzellan-Manufaktur gerade noch erahnen.

»Dann muss er zurück auch diese Strecke genommen haben?«, fragte Lindt.

»Wenn er nicht auf der Fußgängerbrücke bei der Linkenheimer Allee den Ring überquert hat, kann er nur hier wieder rausgefahren sein. Auch der Fußweg, an dem die Leiche liegt, mündet nach ein paar Biegungen wieder in diesen Weg, wo wir jetzt stehen. Habe ich alles schon abgefahren. Da auf dem Plan kannst du es sehen.«

Wellmann griff nach hinten und holte eine Landkarte vom Rücksitz. Es war die Kopie des Stadtplanes mit den fünf rätselhaften Punkten, deren Lage sie ja ursprünglich anschauen wollten. Er zeigte auf den Verlauf des Waldwegenetzes. »Überall ist abgesperrt, der Wagen kann nur hier gefahren sein oder über die Fußgängerbrücke. Die Breite reicht dort gerade für einen PKW.«

»Wäre aber schon auffällig«, gab Lindt zu bedenken, »mit dem Auto über eine schmale Brücke. Hier sind doch immer Leute im Wald unterwegs, von denen müsste ein Fahrzeug in diesem Bereich bestimmt bemerkt worden sein, erst recht auf einem engen Fußweg. Die genaue Ortsbeschreibung geben wir auf jeden Fall mit in die Pressemeldung.«

Lindt griff nach seinem Handy und wählte die Nummer der Pressestelle im Polizeipräsidium. Er gab die Personenbeschreibung, die Örtlichkeit und alle anderen nötigen Einzelheiten durch.

»Bitte machen Sie einen Text daraus, mit Zeugenaufruf und wenn die Technik die Bilder fertig hat, dann gleich veröffentlichen«, wies er die Sachbearbeiterin an. »So, dass es für die Landesnachrichten im Fernsehen noch reicht. An die Radiosender kann es ja schon mal rausgehen, bevor die Fotos soweit sind.«

Er schaute zu Wellmann: »Die Obduktionsergebnisse und den Bericht der Spurensicherung bekommen wir zwar erst morgen Früh, aber falls sich jemand meldet, der die Tote kennt, müssen wir vielleicht auch heute Abend noch was unternehmen. Lass uns erst mal heimfahren. Ich ruf dich an, wenn sich was ergibt. Möglicherweise bekommen wir eine lange Nacht.«

Häufig erzählte Lindt seiner Frau von den aktuellen Fällen. Das war zwar hinsichtlich der Wahrung von Dienstgeheimnissen nicht so ganz in Ordnung, aber er hatte oft Probleme, abends abzuschalten.

»Lass uns mal den Fernseher einschalten«, meinte Oskar, »vielleicht kommt schon jetzt um sechs was in den Landesnachrichten.« Carla unterbrach das Salatwaschen, trocknete ihre Hände an der Küchenschürze ab und stellte das Landesprogramm ein. Ihr Mann war gerade dabei, die Hähnchenbrust, die er geschnetzelt hatte, anzubraten und mit Knoblauch und reichlich Curry zu würzen, als die Meldung kam.

›Sieht nicht mal allzu grausam aus, das Bild‹, dachte er, ›eigentlich, wie wenn die Frau schlafen würde.‹ Der Hals war aus gutem Grund verdeckt. Mit blauroten, blutunterlaufenen Würgemalen die Öffentlichkeit zu schockieren, hatte Lindt der Kriminaltechnik und der Pressestelle ausdrücklich untersagt.

»Etwa vierzigjährige unbekannte Frau … von zwei Studentinnen beim Joggen entdeckt … Karlsruher Kriminalpolizei geht von einem Gewaltverbrechen aus …«

Die Sprecherin verlas jetzt eine genaue Ortsbeschreibung: »Schmaler Waldweg zwischen Adenauerring und Schlossgartenmauer … in der Nähe der Majolika-Manufaktur …« und anschließend einen Appell, dass sich Zeugen beim Karlsruher Präsidium oder jeder anderen Polizeidienstelle melden sollten.

»Wenn sich wichtige Hinweise ergeben, muss ich vielleicht heute Abend noch mal weg.«

Carla Lindt nickte. Sie war es gewöhnt, dass sich die Arbeitszeiten ihres Mannes nach den Erfordernissen seiner Ermittlungen richteten.

Beim Essen hörten sie die aktuellen Meldungen im Radio und schalteten um Viertel vor acht nochmals die Landesnachrichten im Fernsehen ein. Bild und Text wurden wieder in der gleichen Aufmachung ausgestrahlt.

Lindts Telefon blieb vorerst stumm. Er hatte auch den Kollegen vom Kriminaldauerdienst, die Bereitschaft hatten, eingeschärft, ihn auf jeden Fall sofort zu informieren – »und wenn es mitten in der Nacht um halb drei Uhr ist. Aktionen nur nach Rücksprache mit mir.«

Es war ihm wichtig, die Ermittlungen persönlich zu führen. Nicht, weil er den fachlichen Fähigkeiten anderer misstraut hätte, aber er nahm die Verantwortung für die Aufklärung ›seiner‹ Fälle sehr ernst und wollte die Fäden jederzeit in der Hand halten. Außerdem stießen Lindts oft unkonventionelle Methoden, zum Ziel zu kommen, nicht bei allen seiner Kollegen und Vorgesetzten auf Zustimmung.

Auch nach der Sendung um zehn klingelte sein Handy nicht. »Jetzt müssen wir eben mal warten, ob sich morgen Früh jemand meldet, wenn das Bild in den Zeitungen erscheint.«

»Scheint auch nirgends vermisst zu werden, die Frau«, meinte er anschließend zu Carla. Sie nickte: »Vielleicht allein stehend, oder sie stammt von anderswo und wohnt in einem Hochhaus, wo keiner den anderen kennt. Da fällt es lange nicht auf, wenn einer fehlt. Aber am Arbeitsplatz, da müsste man es doch merken. Morgen – bestimmt!«

3

Lindt war schon kurz nach sieben im Büro, doch es hatte sich nichts Neues ergeben. Seine beiden Mitarbeiter Paul Wellmann und Jan Sternberg trafen kurz nacheinander ein und ließen sich über den aktuellen Stand der Ermittlungen informieren. Sternberg, der am Tag zuvor Überstunden abgebaut hatte, war direkt etwas enttäuscht: »Ausgerechnet, wenn ich mal frei habe, passiert was.«

Lindt winkte ab: »So ein toller Anblick ist eine Leiche nun auch wieder nicht, aber wenn du die Tote unbedingt sehen willst, können wir ja gleich zusammen in die Pathologie fahren und den Obduktionsbericht abholen.«

Sternberg überlegte kurz, ob seine Magennerven den Anblick aushalten würden, aber die Neugier siegte schließlich doch.

»Gut, ich halte hier solange die Stellung«, meinte Paul Wellmann, »mir reicht es eigentlich noch von gestern. Fahrt schon mal los, ich rufe im Klinikum an, dass ihr gleich kommt.«

Üblicherweise wurden die Opfer von Gewaltverbrechen direkt im forensischen Institut der Universität Heidelberg obduziert. Wann immer es ging, versuchte Lindt aber die Gerichtsmediziner zu überreden, ihre Arbeit im Karlsruher Städtischen Klinikum durchzuführen.

Lindt und Sternberg kannten von früheren Fällen den Weg in den ›kalten OP‹, wie die Räume der Pathologie auch genannt wurden.

Die Ärztin, die am Tag zuvor am Fundort gewesen war, hatte gerade die letzten Untersuchungen abgeschlossen und war beim Diktieren des Berichts.

»Es hat sich alles bestätigt, was ich Ihnen gestern im Wald schon gesagt habe. Todeseintritt etwa fünfzehn Stunden vor dem Auffinden, also zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht. Todesursache ist eindeutig Erwürgen und zwar mit bloßen Händen.«

Sie schlug die weiße Decke zurück, die über den Körper der Ermordeten ausgebreitet war und zeigte auf die Blutergüsse im Halsbereich.

»Hier … und hier … und das da … stammt alles ganz klar von zwei Händen, die den Hals umfasst und so lange zugedrückt haben, bis sich nichts mehr regte. Wäre ein Hilfsmittel benutzt worden, ein Seil zum Beispiel, oder vielleicht ein Draht, dann würden wir hier ganz anders geformte Spuren finden – ringförmig umlaufend und der Abdruck hätte die Form des benutzten Werkzeugs.«

»Haben Sie auch den typischen Schaum gefunden?«, interessierte sich Jan Sternberg.

Erstaunt blickte ihn die Ärztin an: »Da hat einer im pathologischen Unterricht aber gut aufgepasst. Ja, wir haben leicht rosafarbenen Schaum in der Luftröhre und in der Mundhöhle gefunden. Aber wissen Sie auch, wieso es zu einer solchen Ausscheidung kommt?«

Der Versuch, mit dieser Frage Sternberg aufs Glatteis zu führen misslang, denn er hatte zur Vorbereitung auf den demnächst anstehenden Kommissar-Lehrgang schon intensives Literaturstudium betrieben und sich dabei auch eingehend mit der forensischen Medizin befasst.

Lindt nickte ganz zufrieden, als sein Mitarbeiter souverän antwortete: »Vermehrte Bronchialsekretion, quasi als Gegenreaktion zum Verschluss der Stimmritze im Kehlkopf. Der Körper wehrt sich halt gegen den Tod.«

»Alle Achtung«, meinte die Ärztin anerkennend. »Da konnten Sie aber einen kompetenten Mitarbeiter an Land ziehen.«

»Ist doch klar, eigene Zucht natürlich«, witzelte der Kommissar. »Jan war schon während seiner Ausbildung längere Zeit bei uns. Da scheint doch was hängen geblieben zu sein.«

»Konnten Sie denn noch andere Spuren sichern?«, wollte Lindt anschließend wissen.

»Unter den Fingernägeln der Frau haben wir Proben genommen und lassen die auf fremde DNA oder irgendwelche Fasern untersuchen. Allerdings war mit bloßem Auge nichts sichtbar, keine Hautfetzen oder Gewebe. Wenn die KTU da was findet, dann höchstens Mikrospuren.«

»Wie steht es mit Fingerabdrücken?«

»Die Fingerabdrücke des Opfers, die haben wir natürlich abgenommen. Vielleicht helfen sie Ihnen bei der Identifizierung, aber fremde Abdrücke gab es keine.«

»Handschuhe«, fiel Jan Sternberg schnell ein, »also muss der Mörder Handschuhe getragen haben.«

»Genau richtig«, lobte die Gerichtsmedizinerin. »Wir können sogar auch sagen, welche Art von Handschuhen.« Sie bemerkte die staunenden Blicke der Beamten.

»Nicht gerade die Marke, aber immerhin wissen wir, dass es Einmalhandschuhe waren. Wahrscheinlich aus Latexmaterial, denn die meisten Sorten sind leicht gepudert, damit sie nicht so zusammenkleben. Reste dieses Puders konnten wir am Jackenkragen der Frau feststellen.«

»Das sind doch medizinische Artikel, solche Handschuhe?«

»Ja, Herr Lindt, eigentlich schon.« Die Pathologin ahnte, in welche Richtung der Kommissar dachte. »Aber Sie können diese Artikel ja kartonweise in jeder Apotheke kaufen. Der Mörder muss also nicht unbedingt der Arzt auf Hausbesuch gewesen sein. Viele Leute benutzen solche Handschuhe für feine Arbeiten, bei denen die Hände nicht schmutzig werden sollen.«

»Na ja«, brummte der Kommissar, »vielleicht aber doch ein Täter aus dem medizinischen Umfeld, ein wichtiges Detail ist es jedenfalls …«

Er lachte: »Oder es war jemand von der Polizei …« Er griff in seine Jackentasche: »Ich habe immer welche dabei, um Beweisstücke anzufassen. Meistens benutze ich sie auch …«

Dabei dachte er an den Rüffel von Ludwig Willms und den Stadtplan, den er unvorsichtigerweise ohne Handschuhe angefasst hatte.

»So wird der Kreis der Verdächtigen ganz schön groß«, fuhr die Ärztin schmunzelnd fort, »und wir können ihn auch nicht mehr wesentlich eingrenzen.«

Sie nannte noch ein paar Details: Es lag kein Sexualverbrechen vor, das hatte sie ebenfalls untersucht. Einige Druckstellen an den Armen und Beinen könnten durch den Transport des leblosen Körpers verursacht worden sein.

»Kofferraum«, warf Jan Sternberg ein.

»Durchaus möglich«, gab ihm die Ärztin Recht. »Aber es muss schon ein geräumiger Wagen gewesen sein. Allzu viel Druck wurde nicht ausgeübt.«

»Vielleicht ein Kombi?«, überlegte Lindt.

»Könnte sein, allerdings sind diese Druckstellen erst einige Stunden nach dem Eintritt des Todes entstanden. Die sehen ganz anders aus, als die Blutergüsse am Hals.«

»Also wurde die Leiche erst nach längerer Zeit abtransportiert«, konstatierte der Kommissar und fragte gleich weiter: »Gab es denn noch weitere Anhaltspunkte, die uns bei der Identifizierung helfen könnten, Zahnsanierungen oder Operationsnarben?«

»Da muss ich Sie leider auch enttäuschen. Nichts Besonderes, was ich gefunden habe. Die Narbe einer Blinddarm-OP und drei plombierte Zähne, aber im Mund keine Brücken oder Kronen. Insgesamt war die Ermordete gesundheitlich in sehr guter Verfassung. Kein Übergewicht, gut bemuskelt an Armen und Beinen, wahrscheinlich hat sie öfter Sport getrieben.«

Lindt hob bei den Stichworten Sport und Übergewicht leicht die Augenbrauen, was sein Gegenüber gleich bemerkte.

»Ja, ja, Herr Lindt, das kann man alles feststellen. Die Frau hat gut auf sich aufgepasst. Erstaunlich eigentlich, denn mit zirka vierzig hat man doch meist schon einiges durchgemacht. Ach ja, Kinder …, das habe ich auch noch festgestellt, Kinder hat unsere Unbekannte keine zur Welt gebracht.«

»Hat ihr auch nichts genutzt, die ganze Fitness«, knurrte Lindt halblaut, denn von zu viel körperlicher Aktivität und vor allem von übertriebenem Leistungssport hielt er nicht viel. »Verzeihung, das war natürlich eine blöde Bemerkung«, entschuldigte er sich gleich umgehend, als sich überraschend das Handy von Jan Sternberg bemerkbar machte.

»Hier Chef, für Sie. Der Paul ist dran. Ihr Gerät ist wohl gerade ausgeschaltet.« Er reichte das Telefon an den Kommissar weiter.

»Wie, die Eltern … ach so, die haben sich gemeldet … aus der Zeitung … kommen aus Darmstadt … sind schon hierher unterwegs … gut, wegen der Identifizierung … Tochter wohnt und arbeitet aber hier in der Stadt … hast du die Adresse? … Ja, wir fahren gleich hin. Schick auch die Spurensicherung.«

Lindt nickte seinem Mitarbeiter zu: »Komm, Jan, wir müssen weg. Vermutlich wissen wir jetzt, wer die Frau ist. Ihre Eltern haben das Bild in der Zeitung gesehen und sich gleich gemeldet. Wir fahren direkt dahin, wo sie gewohnt hat.«

Sie bedankten sich bei der Gerichtsmedizinerin und eilten zum Wagen, um die Wohnung des Opfers in Augenschein zu nehmen.

Gar nicht weit vom Klinikum entfernt hatten sie schnell die genannte Adresse in der Nordweststadt gefunden. In der Nähe des alten Flugplatzes war in den Sechzigerjahren viel gebaut worden. Ein Wohnblock mit sieben Stockwerken trug die richtige Hausnummer.

»Dort müsste der Eingang sein«, zeigte Sternberg auf ein überdachtes Türelement. An den Klingelknöpfen fanden sie nach kurzer Suche tatsächlich den Namen. ›Andrea Helmholz‹ war mit Filzstift auf ein Pappkärtchen geschrieben.

Lindt zeigte auf einen Knopf in der untersten Reihe, wo neben dem Namen noch groß ›Hausmeister‹ zu lesen war. »Lass uns mal dort klingeln.«

»Wollen Sie zu mir?« Ein hagerer älterer Mann im grauen Arbeitsmantel kam um die Ecke. Er trug eine Schirmmütze aus Cord und hielt eine brennende Zigarette zwischen seinen vergilbten Fingern.

»Wenn Sie der Hausmeister sind …«, antwortete Lindt und zeigte seinen Dienstausweis. »Wir müssten in die Wohnung von Frau Helmholz. Sie haben doch bestimmt einen Generalschlüssel, oder …?«

»Was wollen Sie denn von der? Ich kann doch nicht einfach jemanden in eine Wohnung lassen.«

»Haben Sie denn einen Schlüssel?«

»Für Notfälle, Rohrbruch, Feuer oder so, da gibt es einen Generalschlüssel. Der hängt in einem Glaskasten in meiner Wohnung. Wenn ich ihn mal brauche, muss ich die Scheibe einschlagen und nachher alles ganz genau schriftlich begründen.«

»Also los, holen Sie ihn bitte. Es ist wirklich dringend. Vermutlich lebt Frau Helmholz gar nicht mehr. Haben Sie denn nicht unsere Mitteilungen im Fernsehen oder in der Zeitung gesehen?«

»Zeitung …«, stotterte der Hausmeister, »Zeitung kann ich mir schon lange nicht mehr leisten und mein alter Fernseher hat vor zwei Wochen den Geist aufgegeben. Aber im Radio, da habe ich von einer ermordeten Frau gehört. Dort hinter dem Schlosspark im Wald ist sie gefunden worden. Meinen Sie, dass es Frau Helmholz …, hier aus unserem Haus … das wäre ja …«

Schnell schloss er die Haustür auf und ging den beiden Kriminalbeamten voraus, um aus seiner Wohnung den Notfallschlüssel zu holen.

Sie benutzten den Aufzug, um in den ersten Stock zu kommen, obwohl es über die Treppe vermutlich schneller gegangen wäre. Lindt zog sich Handschuhe an und nahm den Schlüssel. »Bitte warten Sie hier«, bat er den Hausmeister.

Sternberg entsicherte seine Pistole.

Vorsichtig öffneten sie die Tür und traten ein.

Schnell war die kleine Wohnung kontrolliert. »Keiner da«, rief Sternberg, aber sehen Sie mal, Chef …«

»Oh ja, die Spurensicherung wird sich freuen«, nickte Lindt. »Da hat einer ganze Arbeit geleistet.«

»Ach du liebe Zeit, wie sieht’s denn hier aus!« Der Hausmeister war entgegen der Anweisung doch nachgekommen und betrachtete das Chaos in den beiden Zimmern. Der Inhalt sämtlicher Schränke und Schubladen war auf dem Boden verstreut. Kleidungsstücke und Schuhe lagen mit Zeitungen und Büchern vermischt umher. Genauso Wäsche und Handtücher, dazwischen Kontoauszüge und Versicherungsunterlagen. Im Bad waren Waschmittelkartons ausgekippt und Klopapierrollen umher geworfen worden.

»Bloß nichts anfassen«, rief Lindt dem Hausmeister zu, »Sie sollten doch draußen warten.« Er warf einen Blick aus dem Fenster: »Könnten Sie bitte unsere Kollegen von der Technik hereinlassen, die sind unten gerade vorgefahren.« Vorsichtig rückwärts gehend verließ der Hausmeister die Wohnung wieder.

»Wer auch immer das hier verursacht hat«, meinte Sternberg, »wenn das, was er gesucht hat, in der Wohnung war, dann hat er es mit Sicherheit gefunden.«

»Glaube ich auch, Jan«, antwortete ihm Oskar Lindt. »Aber Krach hat er wohl weitgehend vermieden. Sieh mal, Geschirr und Töpfe sind fein säuberlich auf den Tisch gestellt worden.«

»Also kein Vandalismus, sondern es war jemand, der gezielt gesucht hat. Meinen Sie, Chef, die Frau ist hier ermordet worden?«

»Durchaus möglich, fragt sich nur, wie sie dann unbemerkt weggeschafft worden ist …« Lindt schaute sich weiter um, erkannte aber gleich, dass er in diesem Fall der Spurensicherung den Vortritt lassen musste.

Mit wenigen Worten wies er die beiden Kollegen ein. »Ihr wisst ja, den Bericht so schnell es geht.«

»Ja, ja, möglichst gestern. Wie immer wird Unmögliches sofort erledigt und auf Wunsch kann gehext werden.«

Lindt schmunzelte. Er kannte die erfahrenen Beamten schon von vielen Einsätzen und verzieh ihnen diese kleine Schnoddrigkeit gern.

»Komm Jan, wir fahren. Hier sind wir doch nur im Weg.«

»Endlich hat er’s kapiert«, grinsten die beiden Techniker in ihren weißen Overalls.

Im Aufzug wollte Sternberg wieder auf E wie Erdgeschoss drücken, um zur Haustüre zu kommen. Er stutzte. Es gab E 1 und E 2.

Sein Vorgesetzter bemerkte das Zögern und drückte kurz entschlossen E 2.

Nach kurzer Abwärtsfahrt stoppte der Lift. Die hintere Aufzugstür öffnete sich und sie befanden sich ein halbes Stockwerk unterhalb des eigentlichen Hauseingangs. Ein dunkler Flur führte zur Rückseite des Mietshauses. Durch eine schwere Stahltüre traten sie nach draußen auf einen Hinterhof, wo Fahrräder und Autos abgestellt waren.

»Unauffälliger kann es ja kaum gehen. Rein in den Aufzug, runter und dann nur ein paar Meter bis zum Kofferraum. Damit wäre die Frage des Leichentransports auch schon geklärt«, stellte Sternberg lapidar fest.

»Also, bitte Jan!« Lindt gefiel die Ausdrucksweise seines Mitarbeiters nicht. »Immerhin handelt es sich um einen Menschen und nicht gerade um einen Teppich, den sich jemand über die Schulter wirft.«

»Vielleicht ist die Frau aber trotzdem auf diese Art weggeschafft worden … falls da oben der Tatort war.«

»Ja, kann sein … vielleicht … aber es kann auch woanders passiert sein. Am Schloss der Wohnungstüre zum Beispiel habe ich keine Aufbruchsspuren bemerkt, also hatte der Täter wahrscheinlich einen Schlüssel. Den könnte er ja seinem toten Opfer abgenommen haben, um erst nach dem Mord die Wohnung zu durchsuchen.«

»Ach, so ein Schloss, Chef, das mache ich Ihnen doch in zwei Minuten auf. Dafür gibt es mittlerweile genügend Geräte auf dem Markt und wenn die Tür nicht verriegelt war, reicht sogar eine einfache Scheckkarte.«

»Okay, technisch gebe ich mich geschlagen, aber jetzt erst mal zurück zum Präsidium. Wir müssen überlegen, wie wir am schnellsten vorwärts kommen.«

»Sie meinen Anwohner befragen … ›Wer hat was gehört oder gesehen?‹ … ›Ist Ihnen etwas Außergewöhnliches aufgefallen?‹ … ›Kannten Sie die Tote?‹ und so weiter.«