Zurück in die Würfelwelt - Karl Olsberg - E-Book

Zurück in die Würfelwelt E-Book

Karl Olsberg

4,8

Beschreibung

"Willst du nicht doch lieber noch ein paar Tage zuhause bleiben?" Meine Mutter sieht mich sorgenvoll an. "Du bist ziemlich blass." "Mir geht es gut!" Mit einem Lächeln versuche ich zu überspielen, dass ich immer noch etwas wackelig auf den Beinen bin. Aber um nichts in der Welt will ich heute zuhause bleiben, jetzt, wo Amelie wieder da ist. Doch als Marko zur Schule geht, muss er feststellen, dass seine Freundin spurlos verschwunden ist. Und auch sonst ist nichts so, wie es sein sollte. Seltsame Halluzinationen aus der Würfelwelt verfolgen ihn. Als er in die Klinik des Psychiaters Dr. Johannsen eingeliefert wird, trifft er auf skurrile Figuren wie den Schriftsteller Karl, der sich für Gott hält, einen angeblichen Geheimagenten und ein selbsternanntes Gespenst. Bald wird klar, dass Markos Erlebnisse noch nicht ausgestanden sind und er in die Würfelwelt zurückkehren muss … Die Fortsetzung des Erfolgsromans Würfelwelt spinnt nicht nur Markos Abenteuer fort, sondern garniert sie mit überraschenden Begegnungen und philosophischen Fragen und regt die Leser zum Nachdenken an. Auch diesmal erhält Marko prominente Unterstützung von dem bekannten Youtuber Concrafter, und sogar der berühmte Philosoph Platon ist mit von der Partie. Empfohlen ab 12 Jahren. Leserstimmen "Ich spiele selber und fand auch schon den ersten Teil absolut super. Dieser zweite Teil ist ebenfalls toll geschrieben. Ich freue mich voll auf Teil 3." "Mein Sohn (11 Jahre) liebt dieses Buch und auch den Vorgänger." "Die perfekte Fortsetzung zum ersten Roman 'Würfelwelt'! Ein absolutes Muss für alle Fans! Ich erwarte den dritten Teil mit Spannung." Über den Autor Karl Olsberg hat mehr als zehn Romane veröffentlicht, die in sechs Sprachen übersetzt wurden. Sein Thriller "Das System" erreichte die SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert. Olsberg hat drei Söhne, mit denen er leidenschaftlich gern Computerspiele spielt.

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Seitenzahl: 230

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Karl Olsberg

Zurück in die

Würfelwelt

EinComputerspiel-Roman

Copyright2014Karl Olsberg

Publishedbybriends GmbH, Bahngärten 7,

22041 Hamburg, Germany

www.facebook.com/Wuerfelwelt

www.karl-olsberg.de

Gronkh ist eine eingetragene Marke der Playmassive GmbH, Köln.

Für Leopold

Was ist „real“? Wie definierst du „real“?

Morpheus

Danke an Concrafter für die Einwilligungzu einem Gast-auftritt in diesem Buch.Danke an Leopold für die gefun-denen Fehlerund viele gute Verbesserungsvorschläge.

1.

„Willst du nicht doch lieber noch ein paar Tage zuhause bleiben?“ Meine Mutter sieht mich sorgenvoll an. „Du bist ziemlich blass.“

„Mir geht es gut!“ Mit einem Lächeln versuche ich zu überspielen, dass ich immer noch etwas wackelig auf den Beinen bin. Wenn man vier Wochen im Koma lag, ist das ganz normal, nehme ich an. Aber um nichts in der Welt will ich heute zuhause bleiben, jetzt, wo Amelie wieder da ist.

Während ich noch im Krankenhaus lag, ist sie mit ihrer Mutter zu ihren Großeltern gefahren, die in irgendeinem kleinen Kaff in den Bergen wohnen. „Sie braucht mich jetzt“, hat sie gesagt, und ich habe genickt, als mache es mir nichts aus, sie zwei Wochen lang nicht zu sehen. Wir haben jeden Tag miteinander gechattet, manchmal mehrere Stunden lang, aber das ist nicht dasselbe.

„Du bist so tapfer! Ich bin stolz auf dich, mein Sohn!“ Mam gibt mir einen Kuss zum Abschied. Das ist auch nicht dasselbe.

Ein kalter Nieselregen wäscht mir die letzte Müdigkeit aus dem Gesicht. Es tut gut, wach zu sein. Meine Schule liegt nur einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Während ich den gewohnten Weg entlang schlendere, wandern meine Gedanken zurück in die seltsame Welt in meinem Kopf, in der ich gefangen war.

Bisher habe ich niemandem von meinen Erlebnissen erzählt, nicht einmal Amelie. Ich will nicht, dass sie mich für verrückt hält. Außerdem hat siedas Computerspielnoch nie gespielt und keine Ahnung, wasKriecherundSchattenmännersind. Doch jetzt wünschte ich, ich könnte meine Eindrücke und Erlebnisse mit jemandem teilen. Es fühlt sich alles immer noch so real an, als wäre ich wirklich dort gewesen – orientierungslos am Würfelstrand, von Skeletten gehetzt in einer dunklen Höhle, ratlos im Raum mit den vielen Hebeln, voller Ehrfurcht vor dem Thron des Todes, in Todesangst in der düsteren Halle desZerberus,verzweifelt auf dem Rücken desDrachens.

Seit ich aus dem Krankenhaus kam, habe ich nicht mehr am Computer gespielt. Ich weiß selbst nicht genau, warum. Vielleicht hatte ich Angst, dass mir mein Lieblingsspiel keinen Spaß mehr machen würde, nachdem ich es so real erlebt habe. Möglicherweise habe ich auch einfach das Bedürfnis gehabt, die ganz normale, langweilige Realität zu genießen – von Aufregung und Abenteuer habe ich jedenfalls erst mal genug.

Als ich mich dem Schulgelände nähere, bekomme ich auf einmal einen Riesenbammel. Was soll ich zu Amelie sagen? Einfach Hallo? Ist das nicht ein bisschen wenig? Soll ich ihr einen Kuss geben?

Wir haben uns geküsst, als ich aus dem Koma aufgewacht bin. Aber was, wenn das bloß Dankbarkeit war, weil ich sie von ihrem bösen Stiefvater befreit habe? Vielleicht hat sie sich während unserer stundenlangen Chats in Wirklichkeit gelangweilt. Mal ehrlich, was könnte ein Mädchen wie sie schon an einem Typen wie mir finden? Vielleicht möchte sie, dass wir einfach nur gute Freunde bleiben.

Mein Herz pocht bis zum Hals und mein Kopf ist wie leergefegt, als ich schließlich das Schulgelände betrete. Als Erster kommt mir Jan grinsend entgegen.

„Marko! Mann, du hast uns allen ‘nen ganz schönen Schrecken eingejagt!“

Am liebsten würde ich ihm erzählen, dass mir auch ein paar ganz schöne Schrecken eingejagt worden sind. Er würde verstehen, wovon ich rede, wenn ichUnterwelt-Festungen undBlasterserwähne – wir haben zusammen viel Zeit auf einemComputerspiel-Server verbracht. Wenn ich ihm erzählte, dass ich auf einem Altar gelegen habe, umringt von singendenZombie-Schweinemenschen-Mönchen … er würde ganz schön große Augen machen!

Während wir zum Hauptgebäude gehen, schweift mein Blick über den Schulhof, der in trübes, gelbes Flutlicht getaucht ist. Amelie ist nirgends zu sehen. Vielleicht ist sie schon im Gebäude. Sie geht in eine Parallelklasse, ich werde also bis zur ersten Pause warten müssen.

In der ersten Stunde haben wir Bio bei Frau Paulsen. Sie ist normalerweise ziemlich streng und wir mögen sie nicht besonders, doch als sie mich sieht, kommt sie auf mich zu und erkundigt sich danach, wie es mir geht. Ich gebe mir Mühe, den Eindruck zu machen, als sei so ein Koma nicht mehr als ein etwas ausgedehnter Mittagsschlaf.

Überhaupt sind alle ungewöhnlich nett zu mir. Ich erfahre, dass die ganze Klasse im Krankenhaus war und gesehen hat, wie ich apathisch da lag. Einige haben geweint, vor allem die Mädchen. Jetzt behandeln sie mich, als sei ich von den Toten auferstanden. Mir wäre es lieber, sie würden Witze darüber machen: „Na, gut geschlafen, Marko?“ oder „Nur noch zweimal schlafen, dann ist Weihnachten.“

In der Pause dränge ich mit den anderen auf den Schulhof. Von Amelie keine Spur. Vielleicht kommt sie aus irgendeinem Grund später zur Schule, oder die ersten beiden Stunden sind für sie ausgefallen. So was kommt ja vor. Doch auch in der zweiten Pause ist von ihr nichts zu sehen. Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich schreibe ihr eine Kurznachricht, doch sie antwortet nicht.

Der Knoten in meinem Magen wird immer fester. Gedanken jagen durch meinen Kopf wie Gespenster: Sie bleibt absichtlich weg. Sie hat Angst davor, mich wiederzutreffen. Sie traut sich nicht, mir zu sagen, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will. Und dann: Ihr ist etwas passiert.

Der Gedanke trifft mich wie ein Stromschlag. Sofort geht meine Fantasie mit mir durch. Ich male mir aus, wie ihr Vater aus der Untersuchungshaft ausgebrochen und in die Berge gefahren ist, um sich an seiner Frau und seiner Stieftochter zu rächen. Ich sehe mich auf dem Schulhof um und entdecke eine Gruppe von Mädchen, die in Amelies Klasse gehen. Auf meine Frage zucken sie nur mit den Schultern.

„Vielleicht ist sie krank“, meint eine von ihnen.

Als wir gestern Mittag zuletzt gechattet haben, hat sie nichts davon gesagt, dass sie sich nicht wohlfühlt–nur, dass sie jetzt mit ihrer Mutter zur Bahn muss und sich auf die Schule freut.

„Was ist eigentlich mit dir los?“, fragt Jan.

Ich habe nicht mal bemerkt, dass er sich genähert hat. Was soll ich ihm sagen? Dass ich verliebt bin und mir Sorgen um meine Freundin mache? Niemand in der Schule weiß bis jetzt, dass wir ein Paar sind (falls wir wirklich eins sind), und wenn es nach mir geht, dann bleibt das auch so. Auf das ganze Getratsche kann ich gut verzichten. Also zucke ich nur mit den Schultern.

„Siehst ‘n bisschen blass aus“, meint Jan. „Solltest vielleicht noch ’n paar Tage zuhause bleiben.“

„Ich bin okay“, sage ich.

„Was wolltest du denn eigentlich von Rebecca?“

„Nicht so wichtig“, ist alles, was mir dazu einfällt.

Jan zieht eine Augenbraue hoch. Bevor er jedoch nachhaken kann, wird er von einem Tumult abgelenkt, der ein paar Schritte entfernt entstanden ist.

„Vorzeigen, habe ich gesagt!“ Das ist die Stimme des Winzlings. Wir nennen ihn so, weil er mit Nachnamen Winsmann heißt und nicht gerade die Statur eines Riesen hat, obwohl er mit seinen fünfzehn Jahren der Älteste in der Klasse ist. Allerdings traut sich niemand, den Spitznamen in seiner Gegenwart zu erwähnen, denn was ihm an Körpergröße fehlt, macht er durch Gemeinheit wieder wett. Außerdem sind da die beiden Typen, die ihm überall hin folgen wie treue Hunde. Der eine wird nicht umsonst „Schrank“ genannt. Der andere macht immer mit, wenn der Winzling wieder mal einen Schüler aus einer der unteren Klassen drangsaliert, aber auf sich allein gestellt ist er ein totales Weichei.

Den Namen des Opfers, das sie sich heute ausgesucht haben, kenne ich nicht. Es ist ein Junge von zwölf oder dreizehn Jahren mit olivfarbener Haut und krausen schwarzen Haaren.

„Das geht dich gar nichts an!“

„Auch noch frech werden, was, Bürschchen? Was mich was angeht, bestimme immer noch ich!“, entscheidet der Winzling. „Los, zeig es jetzt her!“

„Nein!“

„Also gut, wenn du es nicht freiwillig hergibst, muss ich es mir eben holen. Schrank, halt ihn mal fest!“

Der Junge versucht, zu fliehen, doch Schrank ist nicht nur enorm groß und kräftig, sondern auch reaktionsschnell. Das Opfer wehrt sich, hat jedoch keine Chance.

Der Winzling greift nach einem silbernen Amulett, das um den Hals des verzweifelt zappelnden Jungen hängt. Ich sehe mich um. Kein Lehrer weit und breit. Ein paar ältere Schüler schauen neugierig zu, ohne einzugreifen.

Jan scheint meine Gedanken zu erraten. „Halt dich lieber da raus“, raunt er mir zu. „Du weißt doch, was passiert, wenn man sich mit denen anlegt!“

Der Winzling zerrt an dem Amulett. Der Junge zappelt und tritt um sich, kann jedoch den Körperkräften von Schrank nichts entgegensetzen. „Nein! Nicht! Das gehört mir!“

„Was haben wir denn da?“, fragt der Winzling ungerührt und klappt das kleine, ovale Silberamulett auf. „Ach wie süß! Ist das etwa deine Freundin?“ Er kichert hämisch.

Der Junge ist außer sich vor Wut. Seine Augen werden ganz groß, so als wollten sie aus ihren Höhlen springen. „Das … das ist meine Mutter!“, ruft er. „Sie ist gestorben, als ich drei war! Lass das sofort los, du … du stinkende Ratte!“

Der Winzling erstarrt. „Das wirst du bereuen!“, zischt er. „Niemand nennt mich ungestraft eine Ratte! Ich werde dich …“

Plötzlich wird es totenstill auf dem Schulhof. Ich spüre einen seltsamen Druck auf den Ohren. Ein Schwindelgefühl packt mich,und mir wird für eine Sekunde schwarz vor Augen.

Als ich wieder sehen kann, hat sich die Welt verändert. Die Schule ist immer noch da–ein großer, grauer Betonklotz, der jedoch irgendwie gröber und gleichzeitig glatter und regelmäßiger aussieht als sonst. Auch die große Kastanie neben dem Eingang ist immer noch da, doch ihr Stamm ist jetzt rechteckig und ihre Laubkrone besteht aus grün gesprenkelten Würfeln. Der Schulhof ist voll von Kastenmännchen, die grellbunt angezogen sind. Ich selbst trage eine hellblau schimmernde Rüstung und ein Schwert aus demselben Material.

Oh nein, bitte nicht!

Fassungslos starre ich auf den Kastenmann in hellblauem Hemd und dunkelblauer Hose, der gerade von drei Gestalten mit zerfetzter Kleidung und grünlicher Haut bedrängt wird. Die Zombies attackieren den armen Kerl mit ihren ausgestreckten Armen, während sie wütende Unnghs ausstoßen.

Verzweifelt schüttele ich den Kopf und versuche, die Illusion abzuschütteln, doch der Schulhof bleibt verwandelt. Ich weiß nicht, warum und wie, aber ich bin wieder in der Würfelwelt! Hatte Mam recht, und ich hätte noch zuhause bleiben sollen? Bin ich auf dem Schulhof bewusstlos geworden und erneut ins Koma gefallen?

Ohnmächtige Wut steigt in mir auf. Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Nicht gerade heute, wo ich endlich Amelie wiedersehen wollte!

Immer noch prügeln die Zombie-Halluzinationen auf den armen Kastenmann ein. Mein Zorn überträgt sich auf die Monster. Von Zombies habe ich wirklich die Nase voll! Ich verpasse ihnen ein paar Hiebe mit dem Diamantschwert, bis von zwei Angreifern nur nochverfaulte Fleischfetzen übrig sind, während der dritte die Flucht ergriffen hat.

„Marko! Mein Gott, was ist denn mit dir los?“

Übelkeit steigt in mir auf, und erneut wird mir schwarz vor Augen. Als mein Sehvermögen zurückkehrt, sieht der Schulhof wieder so aus wie zuvor. Beinahe jedenfalls.

Der Winzling liegt auf dem Boden und starrt mich mit großen Augen an, als habe er Angst vor mir. Blut quillt aus seiner Nase. Schrank steht gekrümmt da und hält sich den Bauch vor Schmerzen. Das Weichei sehe ich am Rand des Schulhofs aufgeregt mit einem Lehrer reden. Die beiden kommen auf uns zu.

Der Junge mit dem Amulett sieht mich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schrecken an. „Danke“, sagt er. „Aber du hättest nicht gleich so ausrasten müssen!“

Ich drehe mich zu Jan um, der mich erschrocken ansieht. „Das … das war echt nicht gut, Mann“, sagt er. „Das war gar nicht gut!“

2.

Zehn Minuten später befinde ich mich vor dem Schreibtisch des Schuldirektors. Neben mir stehen der Winzling, seine beiden Freunde und der Junge mit dem Amulett, der, wie ich inzwischen weiß, Kasim heißt. Der Lehrer, der Pausenaufsicht hatte und uns hierher gebracht hat, steht neben der Bürotür, als wolle er verhindern, dass einer von uns abhaut.

Der Direktor sieht mich durch seine dicke, schwarze Brille an. „Marko, nicht wahr?“

„Ja, Herr Direktor.“

„Bist du dir bewusst, Marko, dass du eine schwerwiegende Verfehlung begangen hast, die mit Schulverweis geahndet werden kann?“

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Meine Konzentration und Selbstbeherrschung reichen gerade aus, um die Tränen zurückzuhalten.

„Gewalt gegen einen anderen Schüler, egal aus welchem Grund, können wir hier auf keinen Fall dulden!“, sagt der Direktor mit einer Stimme, als verkünde er das Urteil gegen einen Mörder.

„Das stimmt, Herr Direktor“, meldet sich der Winzling. „Er ist einfach so auf mich losgegangen und hat mir brutal ins Gesicht geschlagen!“ Er hält demonstrativ ein blutiges Taschentuch hoch. „Er hätte mir die Nase brechen können!“

Schrank sagt nichts. Er sieht aus, als sei es ihm peinlich, dass ihn ein so schmächtiger Junge wie ich im Kampf außer Gefecht gesetzt hat.

„Was hast du dir denn bloß dabei gedacht?“, fragt der Direktor. „Du bist doch sonst noch nie durch Gewalttätigkeit aufgefallen.“

Was soll ich darauf antworten? Dass ich Schrank für einen Zombie gehalten habe? Dass ich dachte, ich sei wieder ins Koma gefallen? Dann stecken sie mich bestimmt sofort ins Krankenhaus.

„Er wollte mir bloß helfen“, meldet sich Kasim zu Wort. „Die drei haben mich bedrängt und wollten mir mein Amulett wegnehmen. Es ist ein Andenken an meine leibliche Mutter.“

„Gar nicht wahr!“, protestiert der Winzling. „Ich wollte es nur mal ansehen. Ehrenwort, Herr Direktor!“

„Das stimmt“, bestätigt das Weichei wie ein Papagei. „Er wollte es nur mal ansehen. Wirklich, Herr Direktor!“

„Ganz egal, warum du das getan hast, Marko – wir können so etwas hier nicht dulden. Du bist 14 Jahre alt und damit vor dem Gesetz für deine Handlungen selbst verantwortlich. Körperverletzung ist, wie du sicher weißt, eine Straftat. Ich werde mit Frau Winsmann reden und hoffe, dass sie dich nicht anzeigt. Und mit deiner Mutter werde ich natürlich auch sprechen. Ich möchte, dass du jetzt erst Mal nach Hause gehst. Inzwischen überlege ich mir, welche Disziplinarmaßnahmen wir gegen dich verhängen werden.“

Ich nicke und kehre wie betäubt in meine Klasse zurück. Vor den staunenden Augen der anderen Schüler und der Deutschlehrerin packe ich meine Schultasche und gehe ohne ein Wort.

Mir ist gleichgültig, dass ich gleich am ersten Tag nach meinem Koma von der Schule verwiesen werde. Ich fürchte mich nicht vor Strafe. Was mir dagegen große Angst macht, ist das, was da gerade auf dem Schulhof passiert ist.

Wenn ich bloß mit Amelie sprechen könnte! Doch immer noch geht sie nicht an ihr Handy und antwortet nicht auf meine Kurznachrichten.

Meine Mutter weiß bereits, was los ist, als ich nach Hause komme. Sie macht mir keine Vorwürfe. Stattdessen nimmt sie mich in den Arm. „Ich habe ja geahnt, dass es zu früh war, dich wieder zur Schule zu schicken“, sagt sie. „Jetzt erzähl mal, was ist eigentlich passiert?“

Ich habe wirklich keine Ahnung, würde ich am liebsten antworten. Stattdessen erzähle ich ihr, wie der Winzling und seine Kumpanen Kasim bedrängt haben. „Dann habe ich mich eingemischt, es gab eine Rangelei, und da bin ich plötzlich irgendwie ausgerastet“, beende ich die Schilderung. „Ich weiß auch nicht genau. Auf einmal war ich so unendlich wütend. Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich genau getan habe, bis der Kampf vorbei war.“

Sie sieht mich sorgenvoll an. „Der Direktor hat gesagt, du hast einen der Schüler blutig geschlagen. Du sollst äußerst brutal gewesen sein.“ Sie schüttelt den Kopf. Ihre Augen glänzen, als sie sagt: „Ich verstehe das nicht. Du bist doch sonst nicht gewalttätig. Ich hätte nicht mal gedacht, dass du besonders gut kämpfen kannst. Und gleich gegen drei andere Schüler!“

Ich senke den Blick. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich eine Rüstung und ein Schwert aus Diamant hatte – mit dieser Ausrüstung sind drei Zombies kein großes Problem.

Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lächelt schief. „Aber irgendwie bin ich auch stolz auf dich! Du hast dich für einen schwächeren Schüler eingesetzt. Sei nur nächstes Mal etwas vorsichtiger, okay? Du musst sie ja nicht gleich blutig prügeln!“

„Ja, Mam.“ Ich gehe auf mein Zimmer und lege mich auf mein Bett. Eine Weile starre ich auf das Poster meiner Lieblings-Rockband an der Wand, dann auf das Bild einesKriechers daneben. Trotz seiner herabgezogenen Pixel-Mundwinkel wirkt es, als sehe er mich mitleidig an.

Was ist bloß mit mir los? Die Frage tobt in meinem Kopf herum wie ein Schwarm wütender Hornissen. Doch eine Antwort finde ich nicht.

Am Nachmittag ruft der Direktor noch einmal an und teilt Mam mit, dass er mit der Mutter des Winzlings gesprochen habe, die auf eine Anzeige verzichte. Man erteile mir einen offiziellen Tadel, sehe aber angesichts der besonderen Umstände (damit meint er wohl mein Koma) von weiteren Disziplinarmaßnahmen ab. Ich könne daher am nächsten Tag wieder zum Unterricht kommen, wenn sie es für richtig halte.

Mam hält das natürlich nicht für richtig, aber ich beknie sie, bis sie schließlich nachgibt. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich unbedingt wieder in die Schule will. Vielleicht, weil ich immer noch die schwache Hoffnung habe, Amelie dort wiederzusehen, obwohl sie auf all meine Kommunikationsversuche nicht reagiert. Möglicherweise auch, weil ich mir selbst beweisen will, dass die Sache heute Morgenein einmaliger Ausrutscher war, eine seltsame Fehlfunktion des Gehirns als Nachwirkung meines Komas. So was kann ja mal vorkommen. Aber es wird ein Einzelfall bleiben. Schließlich bin ich nicht verrückt. Oder?

Etwas ist anders, als ich am nächsten Tag in die Schule komme. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich habe das Gefühl, die anderen werfen sich Blicke zu, wenn ich nicht hinsehe. Wahrscheinlich halten sie mich für ein Monster, einen brutalen Schläger, mit dem keiner was zu tun haben will. Das denke ich jedenfalls, bis in der ersten Pause Anne auf mich zukommt, begleitet von zwei Freundinnen, die sich dauernd ansehen und kichern.

„Marko, du bist doch gut in Mathe, oder?“, fragt sie.

Verdutzt blicke ich sie an. Anne ist nach übereinstimmender Ansicht aller Jungs das schönste Mädchen der Klasse. Sie hat lange, goldene Haare und Augen, die so blau und klar sind wie der Sommerhimmel. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass diese Beschreibung nicht von mir stammt, sondern von Jan, der ganz schön in sie verschossen ist. Bisher hat Anne allerdings nichts getan, das darauf schließen ließe, dass sie überhaupt von Jans Existenz weiß, geschweige denn von meiner.

„Mathe? Ja, geht so, wieso?“

„Kannst du mir vielleicht mit den Hausaufgaben helfen? Ich hab’s gestern nicht mehr ganz geschafft. Und du weißt ja, wie Braukmann ist.“ Ein leichtes Lächeln umspielt ihre geschminkten Lippen. Ihre beiden Freundinnen kichern.

„Ich fürchte, ich habe die Hausaufgaben auch nicht. Ich war … krank.“

„Ja, ich weiß. Aber kannst du nicht malkurzdraufgucken?“ Sie stellt sich neben mich und hält mir ihr Heft hin, so dass wir beide hineinsehen können. Ein Duft wie von Heu und frischen Blumen geht von ihr aus. Dort, wo die Hausaufgaben für heute stehen sollten, ist nur das gestrige Datum eingetragen.

„Du hast ja noch gar nichts gemacht!“, stelle ich fest.

Das findet sie offensichtlich lustig, denn sie kichert. „Au Backe, du hast recht! Verdammt, was mach ich denn jetzt bloß? Wir haben doch schon in der übernächsten Stunde Mathe!“

Erwartet sie ernsthaft, dass ich ihre Hausaufgaben mache? Während der Kunststunde? Ich sehe sie fragend an, doch sie zeigt mir nur ihr aufreizend-unschuldiges Lächeln.

„Du … du weißt nicht zufällig, was mit Amelie ist, oder?“, frage ich.

Es ist, als zögen dunkle Gewitterwolken vor den blauen Himmel in ihren Augen. „Amelie? Welche Amelie?“, fragt sie in einem Tonfall, als hätte ich ihr eine äußerst unanständige Frage gestellt.

„Amelie aus der Parallelklasse. Sie hat dunkle lockige Haare. Sie war zwei Wochen nicht in der Schule, sollte aber eigentlich seit gestern wieder da sein.“

Annes Freundinnen finden das aus irgendeinem Grund sehr lustig. Anne dagegen offensichtlich nicht. „Kenn ich nicht“, sagt sie, klappt das Matheheft zu und verschwindet, ihre kichernden Begleiterinnen im Schlepptau. Als sie ein paar Schritte gegangen sind, blafft sie ihre Freundinnen an, die daraufhin aufhören, zu kichern.

Kurz darauf kommt Jan zu mir. „Hi Marko. Was wollte denn Anne von dir?“ Er versucht, gleichgültig zu wirken, was ihm gründlich misslingt.

„Sie wollte, dass ich ihr die Mathe-Hausaufgaben mache. Weiß auch nicht, wieso sie damit ausgerechnet zu mir kommt.“

Er wirft einen sehnsüchtigen Blick zu Anne, die am anderen Ende des Schulhofs steht und uns den Rücken zu gedreht hat. „Na, ist doch klar“, sagt er, und seine Stimme klingt traurig. „Seit gestern bist du doch der Held!“

„Der Held? Ich? Wieso denn das?“

„Na, weil du dem Winzling eine verpasst hast. Den mag doch keiner. Selbst Schrank will auf einmal nichts mehr mit ihm zu tun haben. Der kann einem fast leidtun.“ Er grinst.

„Gestern hast du gesagt, dass das gar nicht gut war.“

„Klar, im ersten Moment bin ich ein bisschen erschrocken. So kannte ich dich gar nicht. Aber im Nachhinein … Er hat es auf jeden Fall verdient. Und jetzt bist du eben der tolle Hecht der Klasse!“

Ich verziehe den Mund. Auf diese zweifelhafte Ehre würde ich gern verzichten. „Vielleicht solltest du Anne mal fragen, ob du ihr bei den Mathe-Hausaufgaben helfen kannst.“

Eigentlich habe ich es sarkastisch gemeint, aber Jans Gesicht hellt sich auf. „Meinst du? Ja, vielleicht hast du recht!“ Ehe ich ihn zurückhalten kann, ist er schon unterwegs zum anderen Ende des Schulhofs.

Als ich ihm nachsehe, stellen sich plötzlich meine Nackenhaare auf. Am Zaun, der den Schulhof umgibt, steht ein dunkel gekleideter Mann, der in meine Richtung zu starren scheint. Er trägt einen Hut, der sein Gesicht in tiefe Schatten taucht. Ich glaube, darunter zwei violett leuchtende Punkte wahrzunehmen. Doch ehe ich mir sicher sein kann, wendet er sich ab und verschwindet hinter einer Mauer.

Ich fühle mich, als hätte mir jemand in den Magen geschlagen.

Die Pausenglocke erlöst mich aus meiner Starre. Wir haben Kunst bei Frau Dr. Hennigmeier, einer zierlichen Frau Anfang fünfzig mit kurzen grauen Haaren. Sie erklärt uns anhand einer Gliederpuppe, wie der Körper Gefühle ausdrücken kann.Dann verteilt sie Zeichenblöckeund Farbkästen. Wir sollen einen traurigen Mann malen, jedoch ohne sein Gesicht auszuarbeiten.

„Der sieht aber nicht traurig aus“, sagt sie etwas später zu mir. „Eher … böse.“

Ich schrecke hoch. Die anderen Schüler sind schon dabei, die Pinsel zu reinigen und die Malkästen und Blöcke in das Regal zurück zu räumen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass die Kunststunde schon vorbei ist.

Die Figur, die mir von meinem Zeichenblock entgegenstarrt, hat einen schwarzen, rechteckigen und sehr schlanken Körper mit unnatürlich langen Armen und Beinen. Ihre Augen sind zwei lilafarbene Schlitze. Darum herum habe ich konzentrische Kreise in derselben Farbe gemalt, so dass es aussieht, als gingen hypnotische Strahlen von der Gestalt aus.

„Wow, einSchattenmann!“, sagt Jan, der sich zu uns gesellt hat. „Der sieht aber unheimlich aus!“

Frau Dr. Hennigmeier sieht mich mit einem seltsamen Blick an. „Was ist das?“, fragt sie.

Ich kann nicht antworten. Kalter Schweiß bricht mir aus allen Poren. Das Bild macht mir Angst. Ich will es zerreißen, doch ich bin wie gelähmt.

„Das ist eine Figur aus einem Computerspiel, das wir beide gerne spielen“, erklärt Jan.

„Geht es dir nicht gut?“, fragt die Lehrerin.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Nein, nein, ich bin okay“, bringe ich heraus.

„Du siehst nicht gut aus“, stellt sie fest. „Ich frage mich, ob du nicht lieber noch ein paar Tage zuhause bleiben solltest.“

Ich schüttele energisch den Kopf. „Nein! Ich sagte doch schon, es geht mir gut!“

Sie hebt beruhigend eine Hand. „Schon gut, Marko! Ich weiß, du hattest eine schwere Zeit. Wenn dir der Schulalltag hilft, zur Normalität zurückzufinden, dann ist das sicher gut.“

Sie löst das Bild desSchattenmanns vorsichtig von dem Zeichenblock und hält es hoch. „Das ist außergewöhnlich. Es entspricht nicht der Aufgabe, die ich euch gestellt habe, aber es ist sehr ausdrucksstark. Hast du etwas dagegen, wenn ich es da drüben aufhänge?“ Sie deutet auf eine Wand, an der die besten Bilder ihrer Schüler angepinnt sind. Ich habe kein besonderes Zeichentalent, deshalb hat es noch nie eines meiner Werke dorthin geschafft.

Ich schüttele mit dem Kopf, obwohl ich ihr am liebsten sagen würde, dass sie das Bild verbrennen soll. Auf keinen Fall will ich, dass es mich anstarrt, wenn ich das nächste Mal diesen Raum betrete.

Frau Dr. Hennigmeier mustert mich aufmerksam. Sie legt das Bild beiseite. Als ich mit den anderen Schülern den Raum verlassen will, hält sie mich am Arm zurück. „Einen Moment noch, Marko. Ich würde gern noch etwas mit dir besprechen.“

Als nur noch wir beide im Raum sind, sagt sie: „Diese Figur, die du gemalt hast … sie bedeutet etwas, oder?“

Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht darüber sprechen. Nicht über das, was Amelies Vater ihr und mir angetan hat. Und erst recht nicht darüber, was ich während meines Komas erlebt habe. „Es ist bloß ein Monster aus einem Spiel“, erwidere ich. „Ich hatte einfach Lust, es zu malen. Tut mir leid, wenn das nicht Ihrer Aufgabe entsprach.“

„Marko, wenn es etwas gibt, über das du sprechen möchtest, dann möchte ich dir sagen, dass ich dafür immer zur Verfügung stehe. Die Kunst kann uns manchmal helfen, Dinge auszudrücken, für die uns die Worte fehlen. Vielleicht kann ich dir ja helfen, herauszufinden, warum dich diese Entenmann-Figur so belastet.“

„Schattenmann. Er bedeutet nichts. Absolut gar nichts! Kann ich jetzt gehen? Ich muss zum Matheunterricht. Herr Braukmann hat es nicht gern, wenn wir uns verspäten.“

Sie nickt. „Du weißt, du kannst jederzeit zu mir kommen“, sagt sie noch einmal.

Ich wende mich wortlos ab und versuche zu verbergen, dass meine Hände und Knie zittern.

3.

Irgendetwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was.

Amelie ist nicht zur Schule erschienen und beantwortet meine Nachrichten nicht mehr. Ich habe ein paar Jungs verprügelt, die deutlich stärker sind als ich, weil ich dachte, sie seien Zombies. In der Pause habe ich geglaubt, einen dunklen Mann mit violett leuchtenden Augen am Zaun des Schulgeländes gesehen zu haben. Im Kunstunterricht habe ich dann einenSchattenmanngemalt, ohne überhaupt zu merken, was ich da tue. Was ist bloß mit mir los?

„Was ist bloß mit dir los, Marko?“, fragt Mam, als ich nach der Schule nur ein kurzes Hallo murmele, meine Schultasche in die Ecke fallen lasse und in mein Zimmer gehen will. „Du wirkst, als ob dich etwas belastet. Hast du noch mal Ärger bekommen wegen der Prügelei gestern?“

„Nein“, sage ich wahrheitsgemäß. Mehr bringe ich nicht heraus – ich war noch nie ein guter Lügner.

„Nimm bitte deine Pillen. Und dann räum dein Zimmer auf.“

Immerhin etwas, das wie immer ist. „Muss das jetzt sein?“

„Ja. Du bekommst nachher noch Besuch.“

„Was denn für Besuch?“

„Dr. Johannsen, der Psychiater, der dich im Krankenhaus untersucht hat. Er möchte sich nur kurz mit dir unterhalten und sicherstellen, dass es dir gut geht.“

„Es geht mir gut!“