Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation - Autorenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen« - E-Book

Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation E-Book

Autorenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«

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Beschreibung

Sowohl begleitete als auch unbegleitete Kinder und Jugendliche bis 25 Jahren machen einen Großteil der geflüchteten Menschen in Deutschland aus (63,9% lt. Statistik BAMF 2017). Sie kommen aus Krisen- und Kriegsgebieten. Trotz repressiver Grenzregime und zum Teil unvorstellbarer Erfahrungen auf der Flucht versuchen sie in Deutschland, ihre Träume und Hoffnungen zu verwirklichen. Dabei begegnen ihnen sowohl struktureller Rassismus wie Unverständnis und Paternalismus, aber auch angemessene Unterstützung. In selbstorganisierten Gruppen und Räumen erleben sie Selbstwirksamkeit, Solidarität und Empowerment-Prozesse. Eine solche selbstorganisierte Gruppe ist das Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, Berlin. Hier ergreifen die geflüchteten Jugendlichen selbst das Wort. Sie blicken in diesem Band auf die Jugendhilfe, auf alles, was oft nur scheinbar helfend für die geflüchteten Kinder und Jugendliche zur Verfügung steht. Wie erleben sie, die geflüchteten Jugendlichen, das Aufnahmeland Deutschland und sich selbst in ihm? Wie empfinden sie ihre Situation? Womit sind sie tagtäglich konfrontiert? Was halten sie von Willkommensklassen? Das Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen« gibt Antworten und berichtet über seinen Alltag, der geprägt ist von erschwerten Bedingungen wie Rassismus und struktureller Diskriminierung einerseits und den alltäglichen Anforderungen des Erwachsenwerdens andererseits. Zum Autor*innenkollektiv gehören Viana Tamir, Havere Morina, Alin Ahmad, Amna Ben Yousef, Hawa Souma, Fatima Khalil, Reem Alaswad, Kajin Ahmad, Wahed Khan und Çingiz Sülejmanov. Mohammed Jouni hat das Autor*innenkollektiv koordiniert. Er ist Referent der politischen Bildung, Diversity- und Empowerment-Trainer. Er hat die Selbstorganisation «Jugendliche ohne Grenzen« mitbegründet und arbeitet als Sozialarbeiter im BBZ – Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen, Berlin.

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Geflüchtete Menschen psychosozial

unterstützen und begleiten

Herausgegeben von

Maximiliane Brandmaier

Barbara Bräutigam

Silke Birgitta Gahleitner

Dorothea Zimmermann

Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«

Koordiniert von Mohammed Jouni

Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation

Erfahrungen junger Geflüchteter

Mit 23 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nadine Scherer

Satz und Layout: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6436

ISBN 978-3-647-90130-5

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Einleitung

Wer ist das Autor*innenkollektiv?

»Jugendliche ohne Grenzen« erzählen

Flucht und Ankommen in Deutschland

Erinnerungen

Familie

Rassismuserfahrungen

Wie ist es in der Schule, wie ist es in der Willkommensklasse?

Jugendhilfe und Sozialpädagog*innen

Psycholog*innen

Bedeutung von Selbstorganisierung und Freund*innen in ähnlichen Situationen

Jugendlichsein und Erwachsenwerden

Ressourcen

Träume

Gedanken zum Entstehungsprozess des Buches

Wenn ich das monatlich hätte, bräuchte ich keine Therapie mehr

Auf Wiedersehen ∙ Bxatra wê Mirupafshim Goodbye

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Dieses Buch braucht eigentlich kein Vorwort. Es spricht für sich selbst, es spricht aus sich selbst heraus. Man muss es jedoch sprechen lassen. »Begegnungen« sagt Lothar Böhnisch, kann man »weder institutionalisieren noch inszenieren«, man »muss sie zulassen können«.1 Tatsächlich habe ich beim Lesen des Buches diesbezüglich einen interessanten Prozess vollzogen.

Als ich es in den Händen hielt, konnte ich mich – trotz des Appells der Jugendlichen zu Beginn – nach mehr als zwanzig Jahren wissenschaftlicher Sozialisation von einem gewissen Systematikwunsch zunächst nicht trennen. Von Beginn an hat mich die Authentizität beeindruckt, sogar gefangen, aber ich wollte unbedingt die einzelnen Aussagen besser verstehen können, wollte wissen, von wem sie denn nun im Einzelnen kommen, in welchem Kontext sie jeweils stehen, aus welcher Perspektive sie jeweils getätigt sind, um sie besser entschlüsseln zu können, einer Hermeneutik zuzuführen.

So ging es mir bis ungefähr zur Hälfte des Buches. Ich kann gar keinen Punkt benennen, an dem sich dieses Verhältnis plötzlich umkehrte, aber unbemerkt verschwand dieser Analysewunsch plötzlich hinter einem völlig anderen Gefühl. Ich habe die Zitate einfach aufgenommen und es hat angefangen in mir zu arbeiten. Irgendwie hat sich auf diese Weise eine völlig andere Art von Zugang eröffnet, ein Verstehen entfaltet, nicht auf einer Detail suchenden Ebene, sondern als umfassendes Verstehen, geradezu als Atmosphäre. Aus diesem Prozess sind eine Menge Anregungen und Ideen entstanden, auch für weitere Bücher dieser Reihe.

Vor allem aber hat sich dieses Gefühl, dass die Jugendlichen in voller Authentizität gesprochen haben – angefangen bei ihren ganz alltägliche Wünschen und Bedürfnissen bis zu ihren Belastungen, traumatischen Erfahrungen und Hoffnungen – und dass eben auch nicht alles zu verstehen ist, nicht von uns und nicht mal von ihnen selbst, auf eine zugleich verstörende und beruhigende Art und Weise eingestellt. Ein interessantes Gefühl für mich. Ich freue mich daher, Ihnen als Leser*innen das Buch vorzustellen – es ist ein wunderschönes und besonderes Projekt geworden und ich danke allen, die sich so tatkräftig daran beteiligt haben, allen voran den Jugendlichen selbst!

Silke Birgitta Gahleitner

Dorothea Zimmermann

Maximiliane Brandmaier

Barbara Bräutigam

1L. Böhnisch (2002). Räume, Zeiten, Beziehungen und der Ort der Jugendarbeit. Deutsche Jugend – Zeitschrift für Jugendarbeit, 50 (2), 70–77. S. 75.

Einleitung

Dorothea Zimmermann: Unser Buch hat eine spannende Entstehungsgeschichte, wie hat es angefangen? Es handelt sich um ein Work-in-progress-Projekt. Eine Geschichte, bei der wir anfangs nicht genau wussten, was am Schluss rauskommt.

Mohammed Jouni: Und ob überhaupt was dabei rauskommt.

Dorothea Zimmermann: Der Ausgangspunkt war, dass wir in unserer Reihe »Fluchtaspekte« ein Buch mit dem Fokus auf Kinder und vor allem Jugendliche herausbringen wollten. Dabei war immer ein bisschen die Frage, wie gehen wir da heran und ich habe das mit verschiedenen Personen aus dem Bereich diskutiert. Mit Olga Schell vom »Zentrum Überleben« kam dann die Überlegung nicht über Jugendliche zu schreiben, sondern einen Raum für sie selbst zu eröffnen. Wie ist ihr Blick auf die Jugendhilfe, auf das System, auf alles, was vielleicht oft nur scheinbar helfend für sie zur Verfügung steht?

Da musste ich an dich denken, Mohammed, da wir schon zwei Veranstaltungen zusammen gemacht haben. Du hast bei diesen Veranstaltungen einerseits subjektiv aus deiner Sicht erzählt, aber auch konkrete Forderungen konsequent gestellt: Es geht um Partizipation. Es geht darum, auf die Jugendlichen selber zu hören. Und es geht um Empowerment, sich untereinander und miteinander zu organisieren und diese Blickwinkel auch tatsächlich in die ganze Diskussion miteinzubringen.

Mohammed Jouni: Du hattest mich angerufen, mich ein paar Mal per E-Mail angeschrieben und ich fand das schon ganz interessant. Dann haben wir telefoniert. Du hast mir ein bisschen von dem Vorhaben erzählt, aber die Idee war noch gar nicht so konkret. Trotzdem war mein Interesse geweckt. Oftmals ist es so, dass an uns – also an »Jugendliche ohne Grenzen« (JoG) – eine Anfrage herangetragen wird: »… ich promoviere … ich schreibe meine Masterarbeit … meine Bachelorarbeit … und hätte gern ein Interview mit euch oder ich würde euch gerne beobachten …«. Aber es gab noch nie die Anfrage, ob wir selber etwas schreiben wollen, dass es unterstützend wäre, etwas von uns zu publizieren. Also habe ich diese Idee an die Gruppe herangetragen, ob es für sie überhaupt interessant ist. Es stellte sich schnell große Begeisterung ein: »Ja, dann schreiben wir ein Buch und da kommt das rein und das rein.« Danach erzählte ich dir von der Begeisterung in der Gruppe, und wir überlegten dann, wie wir das umsetzen können.

Dorothea Zimmermann: Die Zielgruppe dieses Buches sind ja alle, die mit jungen Geflüchteten arbeiten. Unabhängig davon, ob das in der in der Schule ist oder in der Jugendhilfe, therapeutisch, ehrenamtlich usw. Wie erleben die Jugendlichen das eigentlich, wie ergeht es ihnen in dem System? An diesem Punkt haben wir aber gedacht, wenn wir jetzt fragen, als Teil des Systems, werden wahrscheinlich andere Antworten kommen als wenn Personen fragen, die eine ähnliche Geschichte durchlaufen haben. Es ist ein ganz anderes Gefühl sagen zu können, nein, das fand ich jetzt zum Beispiel nicht gut oder das fand ich gut. Vielleicht kommen sie auch auf ganz andere Themen, die uns so erst einmal gar nicht einfallen würden.

Mohammed Jouni: Ich glaube auch, dass diese Perspektive ein wesentlicher Erfolgsfaktor von dem Projekt, von diesem Buch war. Ich glaube genau das, was du gerade gesagt hast. Es kommt natürlich darauf an, wer fragt. Handelt es sich dabei um jemanden vom BAMF, von der Polizei, der Ausländerbehörde, sind es Betreuer*innen2 vom Jugendamt, von der Schule. Die Jugendlichen werden oft und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen befragt und sollen erzählen. Irgendwann kennen sie die Intention der Person, die fragt, was diese Person wissen und hören will. Dann bekommen sie auch die Antworten, von denen die Jugendlichen glauben, dass diese Person sie hören will. Das heißt, wenn eine Psychologin kommt, muss ich natürlich etwas Bestimmtes erzählen. Kommt eine Reporterin, erzähle ich ihr natürlich etwas Anderes. Ich erzähle ihr das, was ich denke, was für sie interessant ist. Aber nur diesen bestimmten Bereich aus meinem Leben. Vielleicht ist für eine Reporterin auch irgendwas Positives gar nicht interessant, weil sie für ihren Text das Drama braucht, irgendwas Starkes, Intensives. Das war für mich der ausschlaggebende Faktor oder Grund, weshalb ich bei diesem Projekt mitgemacht habe. Ich wollte mich selber auf eine derartige Reise begeben. Was kriege ich für Antworten von den Jugendlichen, die zu mir Vertrauen haben, die ich aus einem anderen Kontext kenne. Das Ergebnis zeigt auch, dass komplett unterschiedliche Antworten kamen, sowohl das »Drama« als auch das Alltägliche, was sie beschäftigt.

Dorothea Zimmermann: Das fand ich auch sehr beeindruckend. Es wurden Grenzen überschritten. Wenn ich den Band lese oder das Ergebnis anschaue, dann wird deutlich, dass viele Träume, Überlegungen und Konflikte der Jugendlichen mit denen aus der Mehrheitsgesellschaft identisch sind. Die Themen sind völlig normal, aber das ist wichtig zu verstehen. Viele Konflikte oder andere Themen, an denen gearbeitet wird, dürfen nicht nur unter einer Kulturbrille oder unter der Zuschreibung der Flucht betrachtet werden. Ob jetzt zum Beispiel jemand in der Schule erst einmal schlechtere Noten hat, weil er die Sprache noch nicht so gut beherrscht. Aber gleichzeitig besteht der Wunsch, Ärzt*in oder Anwält*in zu werden. Das sind ganz normale Träume, die natürlich andere auch haben. Es ist grundsätzlich wichtig, sie zu unterstützen und damit angemessen umzugehen. Im Prozess des Älterwerdens werden sich dann die Wünsche angleichen an den Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen. Das fand ich spannend zu sehen.

Ein anderer Aspekt, den du schon angesprochen hast, sind die Fragen. Viele der Jugendlichen erzählten, dass ihnen diese Fragerei wahnsinnig auf die Nerven geht. Einerseits antworten sie dann das, was das Gegenüber hören will. Andererseits kann es aber auch ein starkes Mittel der Verweigerung sein, gar nichts mehr zu sagen. Gar nichts mehr sagen zu wollen, weil ich weiß, sie wollen ganz bestimmte Antworten, die zu einem bestimmten Prozess gehören, dem ich mich aber vielleicht auch manchmal verweigern will. Weil ich den Eindruck bekomme, dass ich gar nicht mehr gesehen werde in dem Ganzen.

Deswegen haben wir auch keine Interviewform gewählt, sondern ihr habt zwei Workshops durchgeführt. Die Jugendlichen konnten mit vielen verschiedenen Materialien arbeiten: Matrioschka, Muscheln, Karten, Seile, das wird im Buch besser zu sehen sein. Das war nur möglich, weil Cornelia Bredereck alles, was gesagt worden ist, in unglaublicher Geschwindigkeit transkribiert hat.

Mohammed Jouni: Das World Café.

Dorothea Zimmermann: Genau, so hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, assoziativ zu erzählen, sich zuzuhören und sich miteinander zu entwickeln. Das fand ich spannend.

Mohammed Jouni: Ich glaube auch, dass dieser Prozess des Buchschreibens etwas Besonderes war. Das Ergebnis ist natürlich auch wichtig für die Gruppe. Es ist etwas entstanden mit unseren Namen darauf. Wir stehen da mit unseren Fotos drin. Das Ergebnis ist wichtig, aber auch der Prozess war wichtig. Ich glaube, dass das auch interessant sein kann für Sozialpädagog*innen, für Betreuer*innen, für alle, die mit Geflüchteten arbeiten.