Zwölf Wochen in Riad - Susanne Koelbl - E-Book

Zwölf Wochen in Riad E-Book

Susanne Koelbl

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Beschreibung

Exklusive Einblicke in eines der verschlossensten Länder der Welt

SPIEGEL-Reporterin Susanne Koelbl ist gelungen, was kaum einem Journalisten gestattet wird: Sie durfte durch Saudi-Arabien reisen, ohne Beschränkungen und staatliche Aufsicht. Für mehrere Monate hat sie sich durch ein Land treiben lassen, das gerade den tiefgreifendsten Wandel seiner Geschichte erlebt. Kronprinz Mohammed bin Salman öffnet das Land, zeigt aber zugleich eine dunkle, aggressive Seite. Susanne Koelbl hält diesen historischen Aufbruch aus nächster Nähe fest. Ihr Buch gewährt Einblicke in die Welt der Machthaber und Ultrakonservativen genauso wie in das verborgene Leben der Frauen.

Aktualisierte Ausgabe mit einem neuen Nachwort und zahlreichen Farbabbildungen.

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Seitenzahl: 440

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Susanne Koelbl ist Auslands-Reporterin des SPIEGEL und berichtet seit 1991 vom Balkan, aus Zentralasien und aus dem Nahen Osten. Zusammen mit Olaf Ihlau hat sie das vielbeachtete Buch Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan veröffentlicht (2007). Für Zwölf Wochen in Riad erhielt sie den ITB BuchAward.

Zwölf Wochen in Riad in der Presse:

»Der SPIEGEL-Journalistin ist ein sehr lesenswertes und kurzweiliges Länderporträt gelungen, kritisch, aber offen im Blick, charmant im Ton, mit seltenen Einblicken in ein für den Westen meist verschlossenes Land.«

Deutschlandfunk

»Ein großartiges Buch über die jüngsten Entwicklungen in Saudi-Arabien, ein Buch voll von Analysen, Anekdoten und Spannungen, die durch den Wandel der Geopolitik am Arabischen Golf entstehen.«

Ahmed Rashid, Journalist und Autor

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

SUSANNEKOELBL

ZWÖLFWOCHENINRIAD

Saudi-Arabien zwischen Diktatur und Aufbruch

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Für Eman, Fahd, Nura, Tarek und Abdullah

Inhalt

Prolog

Willkommen bei den Salafiten:

Wie mein Vermieter versucht, mich vor dem Satan zu bewahren

Kronprinz Mohammed bin Salman: Zeit des Bulldozers

Hinter den schwarzen Schleiern: Leben unter der Abaja

Komplexe Familienverhältnisse

Königreich der Außenseiter

Die Männerlaufgruppe oder wie Herr Siad seine Leichtigkeit verlor

Kleine Fluchten: Die Malls

Tod eines Kritikers: Wir kriegen dich

Im Norden: Bei den Schammar

Im Osten: Bei den Schiiten

Wie die Prozente in die Flasche kommen

Schwarze Kronjuwelen: Das Öl, die Macht und das Geld

Bandars Welt: Der schwarze Prinz aus dem Morgenland

Datteln mit Feuerwasser

Die Royals: Eine schrecklich nette Familie

Der faustische Pakt von Diriya

Der Duft von Holz und Schweiß

Katar: Mein Bruder, mein Feind

Die Magie von Batha

Wie der kleine Karim versuchte, die Jemen-Krise zu lösen

Richard von Arabien: Ein deutscher Landschaftsgärtner lässt die Wüste erblühen

Blaues Gold

Allein unter Wahhabiten

Mutige Frauen

Der Bombenausbilder von Osama bin Laden

Geburtstag mit bösen Geistern

Die Ehe: Ein enges Korsett

Hütten und Paläste

Schaf im Wolfspelz

Befreite Kunst

Die Schönheit von al-Ahsa durch die Augen von Abdullah

Die gottgefällige Dschamila

Was seither geschah

Epilog

Dank

Zeittafel Saudi-Arabien

Glossar

Auswahlbibliografie

Register

Bildteil

PrologZwölf Wochen in Riad

Saudi-Arabien war jahrzehntelang das Land, in dem Frauen nicht Auto fahren durften. Nun ist es ihnen erlaubt. Es ist nicht das Einzige, was hier vor Kurzem noch undenkbar schien. Die Veränderungen im Königreich vollziehen sich in Höchstgeschwindigkeit, als würde bei einem Wagen in voller Fahrt die Karosserie gewechselt.

Der junge Kronprinz Mohammed bin Salman hat versprochen, radikale Kräfte zurückzudrängen und das Land zu öffnen. Der im Juni 2017 von seinem Vater zum Thronfolger ernannte Prinz macht vielen Hoffnung. Er macht aber auch Angst. Der 33-Jährige duldet selbst keinerlei Widerspruch und erweist sich in der Wahl seiner Mittel oft als aggressiv und rücksichtslos.

MBS, wie der Kronprinz oft genannt wird, gilt als impulsiv, und vermutlich lag er nicht falsch damit, als er sich selbst einmal als »Bulldozer« bezeichnete. Widersetzen sich die Untertanen, werden sie verhaftet und müssen mit schweren Strafen rechnen, bis hin zum Tod.

Durch den Ölexport stieg Saudi-Arabien in wenigen Jahrzehnten von einem unbedeutenden Wüstenreich zu einer global einflussreichen Macht auf. Mit seinen Petrodollars kauft sich Riad wichtige Loyalitäten. Das Königreich beherbergt aber auch die zwei heiligsten Stätten des Islam, Mekka und Medina, und exportiert seine extreme Auslegung der islamischen Religion in alle Welt. Immer wieder hat Riad militante Fundamentalisten unterstützt.

Warum verfolgt das Königreich diese Politik, die so gefährlich wie folgenreich ist für die internationale Gemeinschaft, aber auch für Saudi-Arabien selbst? Warum ist die Religion so radikal, und wieso werden Frauen dort systematisch unterdrückt?

Für eine Journalistin gibt es wenig Reizvolleres, als in diese verschlossene Welt der Scheichs, religiösen Puritaner und Machtzirkel vorzudringen. Das verborgene Leben der Frauen ist ein eigener Kosmos, oft frustrierend, aber auch überraschend und amüsant. Hinter den Schleiern verbergen sich viele kluge Köpfe mit einem überraschenden Blick auf die eigene Gesellschaft und auf uns, die Menschen im Westen.

Seit 2011 reise ich regelmäßig nach Saudi-Arabien und berichte über das Land. Zwölf Wochen lang bin ich 2018 für den SPIEGEL in Riad. Ich will die Menschen dort kennenlernen und den Wandel miterleben. Diesmal miete ich ein kleines Apartment und habe als Westfrau unter Saudis plötzlich Zugang zu Dingen, die mir zuvor nie begegnet waren.

Ich wurde von Nachbarn eingeladen und weiterempfohlen an Freunde, Kollegen und Insider des Königshofs. Nach und nach öffneten sich die Türen in fast jeden Raum dieser überaus diskreten Gesellschaft.

Ich frühstückte mit königlichen Hoheiten und ließ mir von Osama bin Ladens Spezial-Ausbilder für Explosivstoffe und Bombenbau erzählen, wie er im Rückblick seine Zeit als Terrorist betrachtet. Junge Saudi-Araberinnen nahmen mich mit auf Hochzeiten und Wüstentrips und zeigten mir, wie sie jetzt, in den Zeiten des Aufbruchs, ihre Chancen suchen.

Über die salafitische Gesellschaft lernte ich von meinem Vermieter, einem dreifachen Ehemann, der glaubt, dass der Untergang der Menschheit unmittelbar bevorsteht. Er ließ nichts unversucht, meine Seele für den Islam zu gewinnen, um mich vor dem Satan zu retten.

Ich gelangte zu so geheimnisumwobenen Akteuren wie dem langjährigen saudischen Botschafter in Washington und ehemaligen Geheimdienstchef Prinz Bandar bin Sultan, von dem es heißt, es habe in den vergangenen dreißig Jahren fast keine Weltkrise gegeben, an der er nicht aktiv beteiligt war. Ich erlebte aber auch, dass Freunde von mir durch den Geheimdienst des Königshauses ins Gefängnis geworfen oder ermordet wurden, wie die Menschenrechtsaktivistin Eman Alnafjan oder der Journalist Jamal Khashoggi, den ich wie viele Kollegen lange kannte.

Die Mächtigen der Welt können und wollen nicht auf die Kooperation mit diesem bedeutenden Land verzichten. Saudi-Arabien ist die globale Tankstelle und Amerikas wichtigster Verbündeter im Golf.

Doch das Königreich steckt auch in der tiefsten Krise seit seiner Staatsgründung 1932. Das Öl verliert an Bedeutung. Um das Land herum versinken die Nationen in Chaos und Krieg: der Irak, Syrien, Libyen, Jemen. Die Saudi-Araber selbst sind verunsichert angesichts dessen, was gerade in ihrem Land passiert, das so ultrakonservativ ist wie kein anderes auf der Arabischen Halbinsel. Gleichzeitig strebt das Königreich mit aller Macht in eine neue, prosperierende Zukunft – mit noch ungewissem Ausgang.

Es ist ein Glücksfall, diesen historischen Aufbruch aus nächster Nähe erleben zu dürfen. Jede Begegnung im Königreich ist wie ein kleines Abenteuer, und alle zusammen geben sie Aufschluss darüber, warum das, was in Saudi-Arabien passiert, so erheblichen Einfluss auch auf unser Leben hat.

Um Einzelne zu schützen, habe ich die Namen der meisten, die ich als Privatpersonen getroffen habe und von denen ich in diesem Buch erzähle, geändert. Beim Arabischen wurde die phonetisch dem Deutschen nächste Schreibweise gewählt. Als Ausnahme von der Regel wird bei wenigen international eingeführten Namen die englische Schreibweise verwendet.

Willkommen bei den Salafiten: Wie mein Vermieter versucht, mich vor dem Satan zu bewahren

Wenn konservative Saudi-Araber es besonders gut mit einem meinen, versuchen sie, ihre andersgläubigen Gäste vom Übertritt zum Islam zu überzeugen.

Es ist nicht so, dass Frauen nirgendwohin gehen könnten in Saudi-Arabien. Man kann überallhin gehen, man kommt nur nirgendwo an.

Ich streife durch die Straßen der Hauptstadt. Vor dem Restaurant Bazi Baba mit seinen köstlichen Speisen und frischen Säften sind die Tische gut besetzt, allerdings ausschließlich mit Männern. Frauen, die etwas essen oder trinken wollen, stehen vor einer kleinen Fensterklappe, bestellen und warten dann draußen, bis die Ware herausgereicht wird. Auf der Tahlia-Straße, dem lebendigsten Boulevard der Hauptstadt, gibt es neuerdings Coffee Shops. Auch hier sind nur Männer zu finden. Dass sie draußen sitzen können, ist bereits ein Riesenfortschritt.

Die ersten Tage in Riad wohne ich noch im Hotel, ein roter Bau mit geschwungenen Fassadenornamenten. In der Lobby stehen Samtmöbel in Blau mit Brokatborten, vergoldete Lüster hängen von der Decke. Bei meiner Ankunft zeigt der Rezeptionist stolz das Schwimmbad und das Fitnessstudio. Wie die Öffnungszeiten sind? Leider – for men only. Auch Massagen werden angeboten, aber, sorry, men only.

Ich gehe nach oben, in mein abgedunkeltes Zimmer, während draußen die Sonne brennt. Ich werde mich nicht daran gewöhnen können, dass die Vorhänge hier immer zugezogen sind, blickdicht, damit man nicht hineinschauen kann.

Ich rufe Masen an. Seine Nummer habe ich im Internet gefunden. Masen ist Makler. Er sagt, er finde schon ein Apartment, das auch Fenster hat.

Darf eine Frau in Saudi-Arabien überhaupt eine Wohnung mieten? Ja, seit Kurzem darf sie – zumindest theoretisch. Denn in privaten Angelegenheiten ist hier noch immer die Familie das alles bestimmende Gesetz, und die wenigsten würden einer erwachsenen Frau erlauben, ohne männlichen Schutz zu leben. Ohne Zustimmung eines Vormunds würde ein Wohnungsbesitzer gar nicht erst an eine Frau vermieten. Umgekehrt wird wiederum auch nicht an alleinstehende Männer vermietet, wenn bereits Frauen im Haus wohnen. Als westliche Frau falle ich jedoch nicht unter die lokalen Gepflogenheiten und Familiengesetze.

Ein Apartment aus Masens Angebot entspricht dem, was ich suche. Es liegt im Stadtteil Olaya. Hell, Balkon, Blick auf den Faisaliya-Wolkenkratzer, das zweithöchste Gebäude der Stadt, und das Kingdom-Centre, mit seinen über 300 Metern das höchste. Das ist, als würde man in Berlin auf den Fernsehturm und das Brandenburger Tor zugleich blicken.

Der Vermieter ist Oberst Hassan, ein ehemaliger Militärpilot. Er wohnt direkt am Ende der Straße auf einem weitläufigen Anwesen mit einer großen Zahl von Kindern. Oberst Hassan ist ein gewiefter Geschäftsmann, weltgewandt und tiefgläubig.

Abends sitze ich bei ihm auf der Terrasse, die ist so etwas wie sein offenes Empfangszimmer hinter dem Eingangstor. Eine Köchin bringt Suppe, Reis mit Lamm, Spinat, Kaffee. Oberst Hassan berichtet von der Ausbildung zum Kampfpiloten in den USA. Er zeigt mir sein Haus, stellt mir eine der vielen Töchter vor, 19 Jahre alt, die sich gerade an der Universität als Übersetzerin für Französisch und Englisch ausbilden lässt.

Jesus war ein guter Prophet, sagt Herr Hassan, aber Mohammed sei aktueller

Der Familienvater sagt, Frauen seien die »Diamanten« der Menschheit und deshalb vor gierigen Blicken zu schützen. Am sichersten seien sie im Haus aufgehoben. Wir diskutieren über die Frage, wie zwingend es ist, dass Frauen Auto fahren dürfen. »Wieso müssen Frauen Auto fahren, Susanne, muss das wirklich sein?«, fragt Oberst Hassan. »Wenn die Frauen das Haus verlassen, zerfällt die Gesellschaft.«

Mittels Zeichnungen auf einer Tafel erklärt mir Oberst Hassan jetzt die Entstehung der Erde, wie Gott erst Adam und dann aus dessen Rippe Eva schuf. Jetzt steuere die Welt aber rasant auf ihr Ende zu, sagt er. Es sei so weit, wenn die Häuser in den Himmel wüchsen, das Metall sprechen könne und aus Wochen Tage und aus Tagen Stunden würden, so stehe es in den islamischen Schriften. Diese Prophezeiungen seien bereits eingetreten, sagt Herr Hassan, die Hochhäuser könne ich von meinem Balkon aus sehen, das sprechende Metall seien die Handys. Er zeigt auf unsere iPhones, die auf dem Tisch liegen, und dann auf seine Zeichnung, an deren Ende Menschen im Höllenfeuer schmoren, das bedrohlich in Gelb und Rot leuchtet, Menschen, die vom Pfad des Glaubens abgekommen sind.

»Denk nach, Susanne! Das ist nur logisch«, sagt Herr Hassan eindringlich und will mich zu meinem eigenen Schutz zum Übertritt zum Islam bewegen. Er erklärt, natürlich sei auch Jesus ein guter Prophet gewesen, aber Mohammed sei nun mal der aktuellere. Das verhalte sich wie mit dem früheren deutschen Kanzler Gerhard Schröder – auch er hatte Talent, aber nun sei eben Angela Merkel dran und habe das Sagen.

Oberst Hassan glaubt wohl, dass so eine Entscheidung noch reifen muss, er ist hartnäckig, aber geduldig. Schenkt Kaffee nach, ermuntert mich, Essen nachzunehmen. Bis heute schickt er mir über WhatsApp ermutigende Videos, um meine Seele vor dem Satan zu retten.

Meine neue Bleibe in der Ibn-Ammar-Straße erweist sich als absoluter Glücksfall. Sie bietet zwei große Fenster über Eck, die auf eine kleine Terrasse münden, eine amerikanische Pantryküche und ein Schlafzimmer. Der Ausblick geht über Palmenkronen auf die glitzernde Skyline der Stadt mit ihren herrschaftlichen Villen, den verschachtelten Wohnvierteln dahinter und achtspurigen Stadtautobahnen, die hier in 90-Grad-Winkeln die Wüste durchschneiden, in der sich vor hundert Jahren neben den Beduinen nur ein paar Schafhirten aufhielten. Heute ist das Herz des Königreichs zu einem pulsierenden Moloch angeschwollen, mit fast sieben Millionen Einwohnern, und hier oben, im zweiten Stock, wird mein Rückzugsort sein.

Kronprinz Mohammed bin Salman: Zeit des Bulldozers

Ein junger Thronfolger ist die große Hoffnung des Königreichs. Er soll das Land modernisieren und so vor dem drohenden Staatsbankrott bewahren. Doch neben seinen Talenten zeigt der Prinz inzwischen auch eine ganz andere, dunkle Seite.

Der junge Prinz Mohammed ist zwölf Jahre alt, als er erstmals an den Besprechungen seines Vaters teilnimmt, der damals Gouverneur von Riad ist. Der Vater ist ein fähiger, knochenharter Manager. In wenigen Jahrzehnten hat er aus dem Wüstenflecken Riad gemacht, was es heute ist: eine pulsierende, moderne Hauptstadt. Schon lange heißt es über Gouverneur Salman, er besitze ein geheimes Dossier über jede wichtige Person im Staat – und damit halte er das ganze Königreich in Schach.

Prinz Salman hat eine besondere Schwäche für diesen erstgeborenen Sohn seiner dritten Ehefrau. Mohammed ist ein Junge mit fleischigen, vollen Lippen und gewinnendem Lachen, langgezogene Brauen ziehen sich über die kastanienbraunen Augen, die besonders dicke, schwarze Wimpern haben. Er ist selbstbewusst und vorlaut. Der kleine Prinz albert gerne mit der Palastwache herum. Den Privatlehrer für Englisch zieht er so auf, dass dieser sich außerstande sieht, den Unterricht in der Klasse fortzusetzen, die ausschließlich aus Mohammeds Geschwistern besteht. Doch der Vater lässt diesem Sohn mehr durchgehen als jedem anderen seiner 13 Kinder.

Mit 19 Jahren ist Prinz Mohammed der ständige Begleiter seines Vaters. Er macht Notizen, wie ein Adjutant. Er flüstert dem Vater Ideen zu. In Gesprächen mit anderen bittet Mohammed, seine Gedanken anmerken zu dürfen. Ganz selbstverständlich lernt er so den Maschinenraum des Königreichs von innen kennen, den Umgang mit ausländischen Politikern, Prinzen, internationalen Geschäftsleuten. Was er nicht lernt, ist Kompromissfähigkeit und jene Diplomatie und Geschmeidigkeit, die Prinzen üblicherweise antrainiert wird, wenn sie Eliteschulen in England besuchen oder die prestigeträchtigen Universitäten der »Ivy League« im Nordosten der USA. Er hat nie in einem anderen Land als dem Königreich gelebt.

Prinz Mohammed hat eine rasche Auffassungsgabe. Es heißt aber auch, der Königssohn sei sehr emotional und neige zum Jähzorn.

MBS zieht es vor, beim Studium in der Nähe des Vaters zu bleiben. Kronprinz Salman soll nach König Abdullah den Thron besteigen. Den Bachelor in Rechtswissenschaft absolviert der Sohn deshalb an der King Saud University in Riad.

Im Januar 2015 übernimmt der Vater, Salman bin Abd al-Asis bin Saud, dann die Macht in Riad, im Alter von 79 Jahren. Seinen Lieblingssohn ernennt er sofort zum Verteidigungsminister, mit gerade mal 29 Jahren. Damit ist Prinz Mohammed der weltweit Jüngste in diesem Amt.

MBS gewährt Freiheiten, duldet aber keinen Widerspruch

Es heißt, die Gesundheit von König Salman sei angeschlagen, von beginnender Demenz ist die Rede. Der königliche Hof dementiert das. Jedenfalls übergibt der König dem Sohn die Verantwortung für die Tagesgeschäfte der neuen Regierung.

Die Fäden der Macht im Königreich laufen jetzt bei Prinz Mohammed zusammen.

Prinz Mohammed ist auch verantwortlich für das Transformationsprogramm »Vision 2030«, das er und sein Vater erarbeitet haben. Es ist das Herzstück einer Reform, die Saudi-Arabiens Wirtschaft weg vom Öl führen soll. Sie befördert druckvoll den Aufbau des privaten Sektors. Die »Vision 2030« stellt das Königreich, wie man es bisher kannte, auf den Kopf.

Manche sprechen bereits vom vierten saudischen Königreich, das unter der Hand von Prinz Mohammed entstehen wird. Gemeint ist, dass, nachdem zwei frühere Königreiche der Sauds untergingen, im 18. und 19. Jahrhundert, sich dieses dritte jetzt in ein viertes, ein ganz anderes Land verwandeln wird. Sie nennen Mohammed deshalb hier »Mr. Everything«, halb spöttisch, halb ehrfürchtig. Denn es gibt kaum einen Bereich in Saudi-Arabien, den der Prinz nicht wenigstens am Rande selbst mitmanagt.

Eines Tages, im Jahr 2016, zieht der Prinz die einflussreichsten Medienmacher und Fernsehchefs des Landes zusammen, sie treffen sich in Riad. Er weiht sie ein in seine Pläne, in die »Vision 2030«. Der junge Herrscher will, um die Wirtschaft anzukurbeln, andere gesellschaftliche Verhältnisse schaffen. Die religiöse Doktrin der Wahhabiya, eine puristische, ultrakonservative Auslegung des Islam, soll im Alltag zurückdrängt werden und Frauen sollen künftig eine sichtbare Rolle spielen. Den Journalisten droht der Prinz: »Ich bin ein Bulldozer, und ich werde jeden aus dem Weg räumen, der hier nicht mitmacht.« So berichtet es einer, der dabei war.

Unruhe in der Herrscherfamilie

Nur, wo genau will der neue starke Mann hin, der die alte Ordnung im Königreich gerade aus den Angeln hebt? Der neue Freiheiten gewährt, aber selbst keinen Widerspruch duldet? Und warum geschieht dieses Erdbeben ausgerechnet jetzt?

Auf einer Reise, die Prinz Mohammed bin Salman kurz nach seinem Eintritt in die Regierung durch die ganze Welt führt, nach China, Russland, in die USA, trägt er dem staunenden Publikum weithin schonungslos die Lage seines Landes vor. Im Fairmont Hotel in San Francisco erklärt er vor einflussreichen Investoren: »In zwanzig Jahren wird die Bedeutung des Öls gleich Null sein, dann übernehmen die erneuerbaren Energien. Ich habe zwanzig Jahre, um in meinem Land das Ruder herumzureißen und es in die Zukunft zu führen.« Die Zuhörer sind erst baff, dann begeistert von diesem jungen Saudi, der sein Land trotzdem als einmalige Gelegenheit zu verkaufen versteht. MBS, wie viele den Prinzen auch nennen, verspricht jenen Milliardengewinne, die jetzt in den Umbau des Königreichs investieren: in eine Zukunftsstadt, die er am Roten Meer für 500 Milliarden Dollar plant, in Solarparks, Infrastruktur, Bildungsinstitute, Freizeitlandschaften, eine Unterhaltungsbranche und exklusive Ferienressorts.

Im Klartext heißt dies, Saudi-Arabien hat den richtigen Zeitpunkt zwar eigentlich verpasst, sich für die kommenden Herausforderungen aufzustellen. Aber jetzt wird das Königreich in einer einmaligen Anstrengung von oben revolutioniert. Der Prinz will neue Industrien entwickeln, Jobs schaffen. Und das so rasch wie möglich.

Drei Monate nach König Salmans Amtsantritt geschieht etwas Ungewöhnliches. Der Herrscher wechselt im April 2015 den designierten Kronprinzen aus – das ist derjenige, der ihm im Falle seines Todes auf den Thron folgen soll. Danach würde nun sein Neffe, der sehr erfolgreiche Innenminister Mohammed bin Naif, König. An die Position von dessen Stellvertreter setzt er allerdings seinen Sohn Mohammed. Damit macht König Salman erstmals deutlich, dass er dem eigenem Spross den Weg zum Thron ebnen will.

In der Herrscherfamilie löst dieser Schachzug Unruhe aus. Bei aller internen Konkurrenz gibt es bisher ein Konsensprinzip. Danach ist darauf zu achten, dass die verschiedenen Zweige der Familie einigermaßen ausgewogen in den einflussreichen Positionen repräsentiert sind. Nun scheint es, als solle die Macht erstmals auf einen Familienzweig konzentriert und die übrigen Linien marginalisiert, wenn nicht abgeschnitten werden.

Tatsächlich dauert es nur gut zwei Jahre, bis der König auch den neuen Kronprinzen Mohammed bin Naif in einer überaus trickreichen Rochade aus dem Spiel nimmt, über Nacht, im Juni 2017. Er hievt jetzt seinen Sohn Mohammed auf den Platz des Thronfolgers. Intime Kenner des Hofes sagen, Prinz Mohammed und der König hätten monatelang an dem Plan gefeilt.

In kürzester Zeit häuft der neue designierte Thronfolger eine Machtfülle an, die viele beängstigend finden. Mohammed ist jetzt Kronprinz, Verteidigungsminister, stellvertretender Premierminister, führt den königlichen Hof – die eigentliche Zentrale des Landes, die auch den Zugang zum König regelt – , er überwacht das Wirtschaftsprogramm »Vision 2030«, den Staatsfonds des Königreichs und die staatliche Ölfirma Aramco.

Mutiger Modernisierer

Für viele ist Prinz Mohammed bin Salman schon jetzt ein Held. Die meisten Saudis sind jung, fast die Hälfte ist unter 25 Jahre alt. Sie sagen, das Land sei jahrzehntelang von greisen Herrschern regiert worden, endlich habe einer das Sagen, der ihre Generation vertrete. »Bis zum Ende«, schwört ein junger Musiker in Riad MBS die Treue. Dabei legt er selig die Hand aufs Herz. Der 23-Jährige ist glücklich, endlich offen seiner Leidenschaft nachgehen zu dürfen, dem Trompetespielen, vor Publikum. Den religiösen Fundamentalisten im Königreich gilt Musik als Teufelszeug. Aber jetzt tritt der Musiker mit seiner Band auf einem Jazzfest auf. Es ist Teil des neuen Kulturprogramms im Königreich, ein Geschäftsfeld, das Prinz Mohammed erst kürzlich eröffnet hat.

Die religiöse Doktrin des Landes droht bei der Verwirklichung der »Vision 2030« eines der größten Hindernisse zu sein. König Salman entreißt der Religionspolizei deshalb gleich zu Anfang seiner Amtszeit die Macht, und Mohammed bin Salman verblüfft viele, als er in einem Interview überraschend sagt: »Wir werden zu dem zurückzukehren, was wir waren – zu einem gemäßigten Islam, der für alle Religionen und für die Welt offen ist.«

Ein anderes Mal hebt MBS plötzlich die gesetzliche Pflicht zur Ganzkörperverschleierung für Frauen auf, die all die Jahre gegolten hat. Wie nebenbei. Frauen müssten lediglich anständig und angemessen gekleidet sein, erklärt der Königssohn, keineswegs aber die schwarze, bodenlange Abaja tragen.

MBS genehmigt Marathonläufe für Frauen, Kinos, öffentliche Monster-Truck-Shows, Street-Festivals. Die Frauen fahren Auto, und in manchen Städten gehen Mädchen sogar mit ihren männlichen Freunden ins Café – alles unvorstellbar bisher, haram, verboten. Warum also begehren nicht wenigstens die ultrakonservativen Wahhabiten auf gegen die Neuerungen?

Das religiöse Establishment weiß nur zu gut, dass es nicht lebensfähig ist ohne den alten Pakt mit der Herrscherfamilie und ohne deren staatliche Ordnung. Scheitert der Umbau des Landes zu einer Wirtschaft, die sich vom Öl unabhängig macht, ist auch ihr Projekt zu Ende.

Ein westlicher Beobachter, der seit über zehn Jahren in Riad lebt, ist sicher: Käme es tatsächlich zum Staatsbankrott – der in zehn bis fünfzehn Jahren unweigerlich eintritt, wenn die Regierung nicht gegensteuert – , würden die Royals hier schnell die Koffer packen und sich auf ihre ausländischen Besitzungen zurückziehen, in die Schweiz, nach Frankreich, in die USA, wo die politischen Verhältnisse stabil sind und das Klima angenehm ist. Umgekehrt würden die Wahhabiten, die Männer mit den langen Bärten und den Hosen mit kurzen Säumen, im Fall wirtschaftlicher Depression im politischen Chaos zurückbleiben.

Wunschdenken im Westen

Noch läuft es gut für den Kronprinzen. Bei einer Reise in die USA im Frühjahr 2018 wird MBS von der liberalen Elite hofiert. In der angesehenen Harvard-Universität wird er herumgereicht. Er isst zu Abend mit Rupert Murdoch.

Mohammed bin Salman trägt Jeans, legeres Hemd und offenes Jackett. Er spricht Englisch. Er lacht viel. Milliardär Richard Branson trifft ihn in der Wüste Kaliforniens und diskutiert mögliche Geschäftsideen wie den Weltraumtourismus, Bill Gates empfängt ihn und der reichste Mann der Welt, Jeff Bezos. Er sieht Präsident Donald Trump, sie sprechen über Waffenverkäufe. Er trifft sich sogar mit Talkshow-Queen Oprah Winfrey.

Wer MBS so erlebt, kann gar nicht anders, als zu denken, der junge Royal meine es ganz offensichtlich ernst mit dem Ende des Exports des radikalen Islams in alle Welt. Den Beweis dafür tritt der Prinz zum Beispiel mit der Neubesetzung der Leitung der umstrittenen Muslim World League an, einer weltweit operierenden islamistischen Nichtregierungsorganisation. Jahrzehntelang exportiert die Organisation mit Sitz in Mekka die ultrakonservative Lehre der Wahhabiya systematisch in alle Welt. Sie finanziert Projekte des Moscheebaus, verteilt Korane und Broschüren, organisiert islamische Kurse und Konferenzen, errichtet Netzwerke zwischen der muslimischen Bevölkerung und dem Königreich. Salafitische Bewegungen, die mit dem saudischen Regime sympathisieren, durften stets mit großzügiger Unterstützung rechnen. Der neue Generalsekretär, der Religionsgelehrte Muhammad bin Abdul Karim Issa, ruft nun plötzlich zum Frieden zwischen den drei Buchreligionen Abrahams auf. Er ermutigt Imame, Jerusalem zu besuchen, um Feindseligkeiten abzubauen. Halleluja!

Der zweiwöchige Trip des Prinzen kreuz und quer durch die USA erinnert viele an eine ähnliche Reise des damaligen Königssohns und späteren Regenten Faisal bin Abd al-Asis vor 76 Jahren. Faisal entwickelte eine starke Beziehung zwischen den USA und dem 1932 gegründeten Wüstenstaat. Der Königssohn Prinz Mohammed bin Salman will diese Verbindung erneuern, genauer gesagt, er möchte diese Allianz zuschneiden auf seine Person.

Am Ende ist die Reise des Kronprinzen ein einziger Erfolg. Die USA und auch die übrigen Länder des Westens sind mehr als froh darüber, in Riad endlich einen modernen Partner mit moderat-religiösen Vorstellungen gefunden zu haben.

Bruch mit den ungeschriebenen Gesetzen

Der Westen ignoriert zu diesem Zeitpunkt noch, dass sich das Königreich bereits seit über zwei Jahren in einem zerstörerischen Krieg in Jemen befindet. Dort kämpft eine saudisch geführte Militärallianz gegen eine Rebellengruppe, die Huthis. Die Huthis haben politische Unruhen im Land genutzt, um die Macht im Staat an sich zu reißen.

Prinz Mohammed ist keine drei Monate als Verteidigungsminister im Amt, als er den Befehl zum Angriff erteilt. Den Untertanen verspricht er einen kurzen Einsatz und den schnellen Sieg. Die abgesetzte, international anerkannte Regierung hatte die Hilfe der Sauds und ihrer Verbündeten erbeten. Das internationale Recht ist auf Seiten der Saudis. Doch die militärische Durchführung ist brutal. Die arabische Militärkoalition bombardiert das Land. Die USA und Großbritannien liefern Aufklärung und leisten logistische Hilfe. Jemen entwickelt sich zur größten humanitären Katastrophe der Gegenwart, mit inzwischen über 10 000 getöteten Zivilisten und Soldaten und bis zu 85 000 verhungerten Kindern, schätzen NGOs vor Ort.

Prinz Mohammed ist getrieben von der Vorstellung, die Huthis in die Schranken zu weisen. Die Saudis betrachten die schiitischen Rebellen als eine Art fünfte Kolonne Irans. Auf keinen Fall wollen sie deren Herrschaft an ihrer Grenze dulden.

Doch der Einsatz im Jemen läuft nicht gut. Er dauert viel zu lange, und ein Sieg ist nicht in Sicht. Der junge Thronfolger findet einfach nicht wieder heraus aus der Verstrickung in diesen Krieg, bis heute nicht.

Das Wegschauen des Westens liegt auch daran, dass es den Saudis gelingt, das Land für Berichterstatter weithin abzuschotten. Viele wollen zudem nicht sehen, dass dieser mitreißende Königssohn eben noch eine andere Seite hat – eine dunkle, kaltblütige.

Zunächst sind es Zahlen: In den ersten acht Monaten von Mohammed bin Salmans Zeit als Kronprinz werden im Königreich 133 Menschen hingerichtet, durch das Schwert oder durch Steinigung. Das sind doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum vor seiner Amtszeit. Zahllose Aktivisten verschwinden. Sicherheitsdienste bringen Kritiker zum Schweigen oder verhaften sie gleich. Abholkommandos kommen in schwarzen Kampfanzügen.

Am 4. November 2017 brechen der König und sein Sohn Mohammed dann mit allen ungeschriebenen Gesetzen der arabischen Gesellschaft. Unter Führung des Kronprinzen werden in einer von langer Hand vorbereiteten Operation fast über 300 einflussreiche Persönlichkeiten des Landes verhaftet. Unter den Gefangenen, die im Fünf-Sterne-Hotel Ritz in Riad einquartiert werden, sind milliardenschwere Baulöwen, aber auch ein Dutzend Cousins und Onkel von Prinz Mohammed, sogar ein Ministerpräsident ist dabei. Saad Hariri aus dem Libanon wird allerdings an einem anderen Ort festgehalten. Hariri ist auch saudischer Staatsbürger, und er war Generaldirektor einer der größten Baufirmen im Königreich, Saudi Oger.

Konkurrenten werden ausgeschaltet

Um wieder freizukommen, müssen die Beschuldigten Teile ihres Vermögens überschreiben. Die Gründe dafür stecken in Geheimdossiers, die ihnen präsentiert werden – vermutlich jene, die König Salman bereits in seinen Jahren als Gouverneur von Riad erstellte. Überraschend werden Zeugen eingeflogen, die peinliche Dinge zu erzählen haben, und es gibt Verhörspezialisten, die darauf geschult sind, druckvoll eine Einigung herbeizuführen. Der königliche Hof nennt den Vorgang »Anti-Korruptionsrazzia«, und in vielen Fällen ist dies sicher zutreffend. Die Korruption ist eine epidemische Krankheit, die das Land seit Jahrzehnten auszehrt.

Doch während die Wochen vergehen und die Welt noch über diesen Vorfall rätselt, der einmalig ist in der über 300 Jahre langen Geschichte der Familie, wird eines immer deutlicher: Diese Verhaftungswelle geht weit darüber hinaus, Geld einzutreiben. Alte Rechnungen werden hier beglichen, Konkurrenten ausgeschaltet.

Am Ende hat der Kronprinz seinen Kontrollbereich noch einmal deutlich erweitert. Er herrscht jetzt über alle vier Säulen, aus denen sich die Macht im Königreich zusammensetzt: das Militär, die Geheimdienste, die Wirtschaft und die Medien. So zählt zu den unfreiwilligen Gästen im Ritz zum Beispiel auch der Chef der Nationalgarde, ein Sohn des früheren Königs Abdullah, der hiermit abgelöst wird. Die Nationalgarde ist jene 100 000 Mann starke Armee, die für den Schutz der Königsfamilie verantwortlich ist.

Hinter den Toren der Paläste brodelt es

Kronprinz Mohammed bin Salman regiert mit Hilfe eines informellen Machtzentrums. Es ist eine kleine Gruppe, fünf, sechs ambitionierte Männer zwischen dreißig und fünfzig, die wissen, dass sie sich in einem einmaligen Moment der Geschichte befinden. Ihr unkomplizierter Zugang zum Kronprinzen macht sie selbst unverhältnismäßig mächtig. Ein Name fällt immer wieder, der des Leiters des Zentrums für Studien und Medienangelegenheiten, Saud al-Qahtani.

Qahtani ist ein ehrgeiziger, begabter Jurist und ehemaliger Luftwaffenoffizier, er ist sieben Jahre älter als der Kronprinz. Seit über zehn Jahren dient er am königlichen Hof. Um seine Loyalität zu beweisen, baut Qahtani ein Netzwerk zur Überwachung und Manipulation der sozialen Medien auf. Es soll den Ruhm des Kronprinzen mehren und dessen Feinde unterdrücken. Experten schätzen, dass die Hälfte der saudischen Twitter-Profile sogenannte Bots sind, viele Millionen Schein-Accounts, die zur Täuschung und trickreichen Beeinflussung der öffentlichen Meinung eingesetzt werden. Die elektronische Armee verunglimpft Kritiker und Oppositionelle, sie verleumdet, vernichtet das Ansehen unliebsamer Personen. Qahtani kauft dafür Überwachungstechnologie aus Italien und Israel, wie Geheimdienste sie üblicherweise einsetzen.

Qahtani gilt bald als die rechte Hand des Thronfolgers. Er weiß viel. Zum Beispiel gehört er zu denjenigen, die von Anfang an eingeweiht sind in die Pläne der Ritz-Razzia.

Die Anti-Korruptionsrazzia verstehen viele als Anschlag auf das alte Ordnungssystem des Königreichs. Nach außen schließt die Herrscherfamilie die Reihen, wie sie es immer schon getan hat in Krisenzeiten, trotz tiefer Wunden, die in diesen Tagen geschlagen werden. Es geht darum, Schaden zu begrenzen und den Machterhalt des Hauses der Saud zu sichern. Die Familie ist größer als jeder Einzelne, heißt es.

Doch hinter den Toren der Paläste von Riad und Dschidda brodelt es. Viele Honoratioren dürfen das Land nicht mehr verlassen. Ihre Kommunikation wird überwacht.

Der Kronprinz hat jetzt viele neue Feinde im Königreich.Manche, die ihn lange kennen, sagen, seine größte Stärke sei es, aus einem Erfolg einen noch größeren zu machen. Nur lerne er umgekehrt nicht aus seinen Fehlern. Das sei seine Schwäche. Diesen Eindruck mag man bestätigt finden, als Mohammed bin Salman wenige Wochen, bevor die ersten Saudi-Araberinnen im Juni 2018 tatsächlich ihren Führerschein erhalten und sich hinters Steuer setzen, genau jene Frauen verhaften lässt, die seit Jahrzehnten unter großem persönlichen Risiko für das Recht gekämpft haben, Auto fahren zu dürfen. Sie gelten weltweit als Heldinnen. Die Sympathien fliegen ihnen zu, in der Avantgarde im Königreich, vor allem aber im Westen.

Der Thronfolger droht Präsident Macron

Doch MBS gönnt ihnen nicht, aus dieser Schlacht als Sieger hervorzugehen. Er will den Ruhm dieses historischen Moments für sich. Er kriminalisiert die Aktivistinnen, lässt sie als Verräterinnen diffamieren. Die Frauen werden im Gefängnis schwer gefoltert und sexuell bedrängt. Einer der engsten Vertrauten des Kronprinzen ist während der Misshandlungen anwesend: Saud al-Qahtani.

Die Verhaftung der Aktivistinnen ist gänzlich unnötig. Die Frauen stellen politisch keinerlei Gefahr dar. Zum ersten Mal sind die Medien im Westen einhellig empört über den Thronfolger, der gerade noch in einem so freundlichen Licht erschien. Die Entscheidung, die Frauenrechtlerinnen einzusperren, markiert den Anfang vom Ende dieses bisher glänzenden Aufstiegs.

Plötzlich fällt auf, dass der Thronfolger generell zu erratischen Entschlüssen neigt und gerne über das Ziel hinausschießt. Schon im Juni 2017, als Riad abrupt die Beziehungen mit seinem kleinen Golf-Nachbarn Katar beendet – aus Verärgerung über eine, wie sich kurz darauf herausstellt, mutmaßlich vom russischen Geheimdienst gefälschte Rede des Emirs –, halten Beobachter die Reaktion vielfach für überzogen. Im November 2017 droht der Kronprinz in Riad dann dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, er werde den gesamten Handel mit Frankreich abbrechen, falls Paris nicht umgekehrt den Handel mit Iran einstelle. Macron reagiert damals sehr souverän. Er sagt, ein Land wie Frankreich könne Handel treiben, mit wem es wolle. Es gelingt ihm, die Eskalation abzuwenden.

Weniger glücklich verläuft eine ähnliche Situation mit dem damaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) etwa zur gleichen Zeit. Als der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri in Riad festgehalten wird, warnt Gabriel vor »Abenteurertum« im Golf. Als Retourkutsche stoppt der Prinz alle Neuaufträge für den deutsch-saudischen Handel und ruft seinen Botschafter aus Berlin zurück.

Im Sommer 2018 straft Mohammed bin Salman die kanadische Regierung ab – wegen eines Tweets der Außenministerin Chrystia Freeland. Die Politikerin hatte die Festnahme einer Menschenrechtlerin kritisiert. Der saudische Botschafter wird aus Ottawa zurückgerufen. Tausende saudische Studierende müssen ihr Studium in Kanada abbrechen und zurück in die Heimat. Saudische Flüge nach Kanada sind seitdem gestoppt.

Unberechenbar, grausam, ruchlos

Das nächste Erdbeben lässt nicht lange auf sich warten. Am 2. Oktober wird der oppositionelle Journalist Jamal Khashoggi ermordet. Es ist ein Verbrechen, dessen Abscheulichkeit man sich nicht schrecklich genug ausmalen kann: Die Hinrichtung und professionelle Zerlegung und Entsorgung der menschlichen Überreste des MBS-Kritikers im saudischen Konsulat in Istanbul verändert alles.

Obgleich die Tat offenbar in höchstem Auftrag ausgeführt wurde, dauert es über zwei Wochen, bis der Hof in Riad überhaupt zugibt, Kenntnis von dem Vorfall zu haben. Der amerikanische Geheimdienst hegt keinen Zweifel daran, dass der Kronprinz selbst den Auftrag zur Hinrichtung seines Kritikers gegeben hat. Wieder ist es der Medienmann am Königshof, Saud al-Qahtani, die rechte Hand des Thronfolgers, der nach Geheimdienstangaben laufend persönlich Kontakt mit den Vollstreckern in Istanbul gehalten hat.

Als Khashoggi getötet ist, sein Leib zerteilt und dann in Säure aufgelöst oder aus der Botschaft geschafft, meldet der Anführer des Hinrichtungsteams, Maher Mutreb, über Skype den Vollzug an den Königlichen Hof in Riad, konkret an Qahtani: »Sag das deinem Boss.« Ermittler beziehen diese Worte auf den Kronprinzen. Der junge Königssohn, der gerade noch mit Bill Gates über die Verbesserung der Welt diskutierte und durch die heiligen Hallen von Harvard wandelte, erscheint plötzlich wie ein Monster. Unberechenbar, grausam, ruchlos.

In Riad spielen sich jetzt gespenstische Szenen ab, die sorgfältig inszeniert werden, um Schaden abzuwenden. Tatsächlich machen sie alles nur noch bizarrer. Der Kronprinz betritt zum Beispiel die Bühne einer internationalen Investoren-Konferenz. Verschiedene westliche Wirtschaftsführer sind dem Treffen aus Protest ferngeblieben. Der Milliardär Richard Branson hat bereits alle gemeinsamen Planungen mit Saudi-Arabien abgesagt. Vor den Kameras der Welt bezeichnet der Kronprinz die Tötung Khashoggis nun als »verabscheuungswürdiges Verbrechen«, für das »alle Beteiligten zur Verantwortung gezogen« würden. Dafür garantiere er.

Rauchende Knochensäge

In den Abendnachrichten des saudischen Fernsehens wird gezeigt, wie der König und der Kronprinz dem ältesten Sohn des Ermordeten, Salah Khashoggi, im Palast in der Hauptstadt kondolieren. Der Händedruck des Kronprinzen mit dem 35-Jährigen, einem Banker, wird in Großaufnahme gezeigt, und der Blick der beiden – der eine traurig und erschöpft, der andere fest und entschlossen. Das Bild ist am nächsten Tag das Foto auf Seite eins aller Tageszeitungen.

Tatsächlich hatte Salah Khashoggi bis zu diesem Moment Ausreiseverbot. Er war deshalb schon monatelang in Saudi-Arabien festgesessen. Das Regime wollte verhindern, dass er seinen Vater besucht, der in den USA im Exil lebte. Erst nachdem Salah Khashoggi den Kondolenztermin im Palast wahrnimmt, darf er mit seiner Familie das Land verlassen.

Der republikanische US-Senator Lindsey Graham sagt, es gebe im Fall Khashoggi keine »smoking gun«, das Corpus Delicti, mit dem eine Tat verübt wurde, den Beweis, der auf den Täter zeigt. Dafür gebe es aber eine »smoking saw«, eine rauchende Säge. Tatsächlich gehörte zu dem Hinrichtungsteam aus Riad ein Gerichtsmediziner, der eine Knochensäge im Gepäck führte, mit der er Khashoggi wohl zerstückelte. Manche Kritiker übersetzen die Initialen des Thronfolgers, MBS, deshalb inzwischen mit »Mister Bone Saw«.

Viele Saudi-Araber sind jetzt traurig, erschüttert, aufgebracht. Sie alle haben so große Hoffnungen in diesen jungen Führer gesetzt. Allerdings sind die meisten Menschen nicht unbedingt wütend, weil MBS wahrscheinlich getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Ein Mord an einem politischen Gegner ist in dieser Region nicht so ungewöhnlich. Was die Menschen verbittert, ist, dass ihr junger Führer mit dieser blutrünstigen Aktion das Ansehen des Landes beschädigt hat und damit auch ihre ganz persönliche Zukunft gefährdet. Wenn der Westen sich nun abwendet von Saudi-Arabien und das Land politisch isoliert wird, hat dies für alle hier fatale Folgen.

Im April 2019, als dieses Buch in Druck geht, sind in Riad inzwischen elf Beschuldigte wegen des Mordes an Jamal Khashoggi angeklagt. Für fünf der angeblichen Täter wird die Todesstrafe gefordert. Um welche Personen es sich handelt, ist völlig unklar. Das Gericht gibt keine Namen preis. Sicher ist nur: Der Vertraute des Kronprinzen, Qahtani, ist nicht darunter. Ganz offensichtlich denkt der Kronprinz nicht daran, den Freund zu opfern.

Mit Unbeherrschtheit und Hybris an den Abgrund

Qahtani ist offiziell von seiner Position am Königshof suspendiert. Trotzdem ist er weiter im Netz aktiv, wo er mit aggressiven Medienkampagnen Kritiker der Regierung bekämpft, schreibt der Kolumnist David Ignatius von der Washington Post. Gegenüber Vertrauten lasse der Kronprinz außerdem verlauten, Qahtani berate ihn auch weiterhin.

Wenn der Kolumnist Ignatius recht hat, wurde Khashoggi umgebracht, weil die Herrscher fürchteten, der prominente Journalist habe möglicherweise ausreichend Einfluss, um im Königreich sogenannte Hashtag-Proteste auszulösen, also über die sozialen Netzwerke Aufstände gegen die Monarchie zu provozieren.

Ignatius berichtet von einem amerikanischen Insider, der den Thronfolger in diesen unruhigen Tagen besucht hat: Er habe Prinz Mohammed bin Salman die Zukunftsoptionen erklärt; danach wägten die Geheimdienste gerade ihre Bewertung ab, ob der saudische Kronprinz nun den Diktatoren zuzuordnen sei und damit als unzuverlässig gelten müsse, etwa wie damals Iraks Saddam Hussein, oder als Modernisierer und fester Verbündeter der Vereinigten Staaten qualifiziert würde. »Solange Sie Qahtani behalten, werden die Leute sagen, dass Sie mehr wie Saddam sind«, warnte der Gast aus den USA.

In diesen Worten steckt eigentlich das ganze Dilemma, in dem sich Saudi-Arabien aktuell befindet. Das Königreich braucht diesen Aufbruch. Es muss den Extremismus zurückdrängen, die Gesellschaft öffnen und die Privatwirtschaft stärken. All das hat Mohammed bin Salman angestoßen. Das war mutig. Es ist bewundernswert. Aber der gleiche Mut hat das Land in Verbindung mit des Prinzen Unbeherrschtheit und Hybris auch fast schon wieder an den Abgrund gebracht.

In der Außenpolitik handelt sich MBS durch seine Impulsivität unnötige Kriege und Feindschaften ein, und im Inneren führt seine Paranoia vor Kontrollverlust zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Entscheidungen wie dem Mord an dem Journalisten Khashoggi.

Der Westen hat großes Interesse daran, dass Saudi-Arabien die Transformation in die Moderne gelingt. Viele Diplomaten und Geheimdienstleute sind jedoch der Meinung, dass das nur mit einem anderen Kronprinzen möglich ist. König Salman allerdings zeigt keinerlei Intentionen, die Thronfolge zu ändern. Er hält unverrückbar an seinem Lieblingssohn als Kronprinzen fest.

Prinz Mohammed bin Salman selbst hat seine Pläne vor einiger Zeit in einem Interview mit dem US-Sender CBS in der Sendung »60 Minutes« mit großer Entschlossenheit dargestellt. Gefragt, ob es irgendetwas gäbe, das ihn davon abhalten könnte, das Königreich die nächsten fünfzig Jahre zu regieren, sagte er: »Nur der Tod.«

Hinter den schwarzen Schleiern: Leben unter der Abaja

Was passiert, wenn die Hälfte der Menschen eines Landes unter einem unförmigen, schwarzen Stück Stoff verschwindet? Einer davon bin ich selbst.

Fünfzehn Minuten vor der Landung auf dem King-Khalid-Flughafen in Riad verwandelt sich die junge Frau mit den langen Locken auf Sitz 43 A in ein Wesen ohne Gesicht und ohne Körper. Sie streift ein schwarzes, konturloses Gewand, die Abaja, über Jeans und Bluse, schlingt ein dunkles Tuch um Hals und Haar. Ein zweites Tuch, den sogenannten Nikab, knotet sie am Hinterkopf so fest, dass es ihr Gesicht bedeckt, nur ein Sehschlitz für die Augen bleibt noch frei.

Hätten wir nicht gerade noch angeregt miteinander gesprochen, ich könnte nicht sagen, dass das Anud ist, 23, Marketing-Expertin eines Schokoladenherstellers aus Riad. Sie kommt gerade von einem Verwandtenbesuch in Istanbul zurück. Drei Reihen vor uns sitzt ihr Bruder, Alaa. Er ist erst 17 Jahre alt, aber ohne männlichen Vormund, ohne einen Wali, hätte der Vater ihr die Reise nicht erlaubt, erzählt Anud, als die Maschine aufsetzt. Deshalb sei Alaa mit dabei.

Ich frage nach, ob richtig sei, was ich gelesen habe: dass die Männer im Königreich die Kontrolle über die Bewegungsfreiheit der Frauen haben. Anud nickt. Sie sagt, so sei das Gesetz. Die Männer bestimmten, wie weit sich ihre Töchter und Ehefrauen entfernen dürften, aber auch, welchen Grad an Verhüllung sie zu tragen hätten.

In einem vielbeachteten Fernsehinterview in den USA hatte der junge Kronprinz Mohammed bin Salman 2018 gesagt, Frauen und Männern seien absolut gleich in Saudi-Arabien. Die Frauen könnten frei wählen, ob sie die Abaja und den Gesichtsschleier trügen, ihre Kleidung müsse nur anständig und respektvoll sein. Die Begegnung mit Anud im Flugzeug deutet allerdings schon an, was sich bald bestätigen wird: Die Wirklichkeit in Saudi-Arabien ist von dem, was der Kronprinz behauptet, weit entfernt.

Ich wohne schon einige Wochen in Riad, als ich eines Morgens auf die Straße laufe, um den Müllbeutel in die Tonne zu werfen. Es ist Freitag, der wichtigste Tag der Woche hier. Ich trage Jeans und T-Shirt, langärmelig, und habe schlicht vergessen, die Abaja überzuwerfen. Ein Nachbar steigt gerade ins Auto, erstarrt für einen Moment und ruft: »Cover up!« Zu Deutsch: Verhülle dich! Alarm liegt in seiner Stimme, als sei Feuer ausgebrochen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass etwas nicht stimmt mit mir. Für den Bruchteil einer Sekunde ist mir, als liefe ich versehentlich nackt durch die Straßen. Dann gebe ich dem Mann zu verstehen, er möge sich doch bitte beruhigen, und gehe langsam ins Haus zurück.

Was als anständig und was als unmoralisch gilt, variiert nicht nur stark zwischen den Kulturen in Saudi-Arabien und in Deutschland, wo ich aufgewachsen bin. Es ist auch schwer, dem Druck standzuhalten, wenn eine Mehrheit plötzlich behauptet, dass etwas ganz Anderes normal sei.

Vor meiner ersten Reise nach Riad suchte ich in Berlin ein Fachgeschäft für islamische Mode auf. Es war eine Neuköllner Adresse, ich fuhr mit der U8. In Berlin wird die U8 von manchen als »Orient-Express« bezeichnet, wohl, weil ziemlich viele Muslime in Neukölln wohnen und die Zahl der langen Röcke und Hidschabs von Station zu Station zunimmt.

Als ich zwischen den Kleiderstangen mit den schwarzen Roben hindurchstreife, rede ich mir ein, dass die Abaja, die ich hier erwerben würde, eine Art Dienstbekleidung sei, so wie man in einem Chemielabor eine Schutzbrille braucht. Neben vielen unscheinbaren Modellen finden sich bunte, mit Pailletten bestickte und vornehme Ausgeh-Abajas mit Fledermausärmeln. Am Ende bleibt, dass ich in all diesen Gewändern verschwinde, Fledermausärmel hin oder her, und es irritiert mich, dass es Frauen sind, die andere Frauen beraten, wie sich deren Silhouetten ihrer Meinung nach am vorteilhaftesten in den weiten Hüllen verstecken lassen. Ich entscheide mich für die günstigste Variante, eine schlichte Abaja, schwarz, für 49 Euro.

Damals fragte ich mich, wie es mich verändern wird, wenn der größte Teil von mir verhüllt ist. Ob im Café oder im Supermarkt, bei einem Dinner oder am Strand, ich würde eine schwarze Kutte unter anderen schwarzen Kutten sein. Seit ich nun in Riad lebe, versuche ich herausfinden, was es mit Frauen macht, wenn nicht nur ihr Körper unsichtbar ist, sondern auch ihr Gesicht.Ich werde mein Gesicht hier nicht verhüllen. Kein geschriebenes Gesetz verlangt es, und als Ausländerin bestimmt kein Wali über meine Kleiderordnung. Aber die Abaja wird auch für mich in den kommenden Monaten zur Uniform.

Nura weiß ihre neuen Freiräume zu nutzen

Es sind interessante Zeiten. Es riecht nach Aufbruch im Königreich, und die alte gesellschaftliche Ordnung wird gerade infrage gestellt. Als 2009 die erste Frau ins Kabinett kam, als stellvertretende Ministerin für Bildung und Erziehung, war das eine Sensation. Jetzt gibt es auch eine stellvertretende Ministerin für Soziales. Das ist noch nicht überragend, aber immerhin ein Anfang. Es wurde ein Gesetz gegen sexuelle Belästigung erlassen. Personalchefs vieler Unternehmen machen es inzwischen zur Bedingung, dass Männer und Frauen sich bereit erklären, in gemeinsamen Büros zu arbeiten. Für viele Saudi-Araber ist das noch immer unvorstellbar.

Seit 2017 können Frauen eine eigene Wohnung anmieten, ohne die Unterschrift ihres Vormunds vorzuweisen, und seit Juni 2018 fahren Frauen Auto, ein Recht, um das Aktivistinnen seit den 1970er Jahren gekämpft haben. Dabei ging es immer um mehr als nur darum, selbst hinter dem Steuer sitzen zu dürfen. Die Frauen wollen sich frei bewegen. Es geht um Selbstbestimmung.

Bis dahin ist der Weg aber noch ziemlich weit. Obwohl es Zeichen der Veränderung gibt.

Frauen arbeiten jetzt auch sichtbar in der Öffentlichkeit. Man sieht sie im Supermarkt an der Kasse, in Banken, Fachgeschäften. Das könnte bedeuten, dass sie künftig sogar wählen werden, wie sie leben möchten. Theoretisch zumindest.

Nura hat einen Halbtagsjob in einem internationalen Wirtschaftsbüro, sie ist 33 und Mutter von zwei Kindern. Das Mädchen ist sechs Jahre, der Junge elf. Nura ist gewiss keine Rebellin, aber sie weiß ihre neuen Freiräume zu nutzen.

Nura sagt, in den 1980er Jahren hätte man ihre Großmutter und ihre Mutter genötigt, sich zu verhüllen und den neuen religiösen Regeln zu folgen. So sei es nun seit vier Generationen, rechne man sie und ihre Tochter Sara mit ein. »Ich will nicht kämpfen«, sagt Nura, »ich will nicht streiten, ich will ein gutes Leben führen.« Dinge änderten sich ja vielleicht.

»Trägst du jetzt Vorhang?«

Nura ist, was man hier »aufgeschlossen« nennt. Das heißt, ich kann mit ihr über alles sprechen, ohne befürchten zu müssen, etwas Unangemessenes zu sagen. Wir haben uns angefreundet.

Kleine Rebellionen sind hier oft an Details abzulesen. Ich sehe Nura heute zum ersten Mal in einen offenen Mantel aus hellem Stoff gehüllt, mit safranfarbenen seidenen Schlitzen an den Ärmeln. Sie hat ihn bei »Happy Hijab« gekauft, in der Royal Mall an der King Fahd Road. Der Laden gilt als Geheimtipp für ausgefallene Abaja-Moden. Bis dahin kannte ich Nura nur in schwarzen Abajas, hochgeschlossen.

Erst vor zwei Jahren hatte ein prominenter saudischer Kleriker die »Schwestern« seines Landes zu mehr Bescheidenheit bei der Bekleidung aufgerufen. Frauen sollten vermeiden, Abajas mit Dekoration zu tragen, keine Verzierung, keine Schlitze. Konservative Religionsführer und Bürger sind besorgt, dass die religiösen Kleidervorschriften vernachlässigt werden, seit die Religionspolizei ihre Macht auf den Straßen verloren hat. Den Trägerinnen farbiger Abajas unterstellen sie Eitelkeit und, noch verwerflicher, dass sie möglicherweise männliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.

Nura ist eine zarte Frau, nicht besonders groß, ovales Gesicht, braune Augen. Sie trägt einen losen Schleier, der locker ihr Haar umhüllt. Ihre Schwiegermutter ist Ägypterin. Nuras Mann Salih wuchs mit etwas weniger radikalen religiösen Prägungen auf als die meisten Saudi-Araber. Salihs Mutter trug nie Nikab. Deshalb wünscht sich Salih explizit, dass auch Nura ihr Gesicht nicht verhüllt.

»Trägst du jetzt Vorhang?«, fragte Nuras Mutter pikiert, als Nura ihr kürzlich stolz den letzten Schrei aus der Royal Mall vorführte, eine Abaja mit Fransen an den Ärmeln und roter Spitze an Kragen und Taschen.

Wir lachen.

Die Furcht vor der Religionspolizei ist verflogen

Nura und ich schlendern über ein Food-Festival im Zentrum von Riad. Hier werden Burger und Hot Dogs verkauft. Auf Kunstrasen sind Palettensofas aufgebaut, wie sie auch in Europa gerade schick sind. Es ist ein Event der sogenannten General Entertainment Authority. Die neue Unterhaltungsindustrie wird vom Staat organisiert, sie soll den langweiligen Alltag der jungen Saudis bunter machen. Männer und Frauen begegnen sich hier ohne die üblichen Vorhänge oder Wände, die den einen Bereich vom anderen trennen. Die Religionspolizei schickt manchmal noch ihre Tugendwächter. Doch die Furcht vor ihnen ist ebenso verflogen wie ihr Einfluss.

Das ist fühlbarer Fortschritt. Bis vor zwei Jahren hat es noch keine öffentlichen Orte gegeben, an denen sich Männer und Frauen überhaupt treffen konnten.

Neben dem Food-Festival liegt der Eingang zur neuen Mall Riyadh Park: ein futuristischer Komplex mit einem Rundbau, der aussieht wie eine übergroße Turbine. Dort hat vor ein paar Wochen das erste Kino des Landes eröffnet. Bis dahin hatte es in Saudi-Arabien vierzig Jahre lang keine Filmtheater gegeben.

Das Kino ist groß wie ein Palast, es eröffnete mit dem Blockbuster Black Panther. Eine Science-Fiction-Fantasy-Saga, in der ein schwarzer Superheld einen weißen Schurken jagt. Die Frauen haben Macht, sie sind stark. Die Leibwache des Königs besteht nur aus Frauen.

»Sind wir jetzt endlich normal?«, fragt mich Nura. Sie ist stolz auf die Neuerungen in ihrem Land. Sie leidet darunter, dass ihre Heimat in den westlichen Medien fast schon stereotyp als Hort des Extremismus und der Rückständigkeit wahrgenommen wird.

Schwierige Frage, denke ich, denn was ist schon normal? Wir sind anders, weil unsere Geschichte eine andere ist als die der Menschen hier. Hier glaubte sich die Monarchie vor vierzig Jahren bedroht durch die Revolutionen in der Nachbarschaft, in Iran und zuvor in Ägypten, und beschloss, sich durch eine extreme Religiosität zu immunisieren. Die Ideologie der Wahhabiya sollte das Land nach innen einen und nach außen abschotten. Das funktionierte auch, und ein Schlüssel dafür war, den Männern die Herrschaft über die Frauen zu überlassen.

Diese Entscheidung wird gerade vorsichtig korrigiert.

Was ist normal?

Die Vorstellungen, die sich über die Jahrzehnte verfestigt haben, sind so leicht nicht wieder loszuwerden. Ein Ergebnis dieser Geschichte ist, dass es heute für Saudi-Araber noch immer normal ist, wenn Mädchen mit zehn, elf Jahren von ihren männlichen Verwandten und der offenen Gesellschaft getrennt werden. Familienhäuser haben meist zwei verschiedene Eingänge, einen für Männer und einen für Frauen, die Frauen leben in einem eigenen Frauentrakt, die Männer in einem ihnen vorbehaltenen Teil des Hauses. Mädchen besuchen andere Schulen und Universitäten als die Jungs, mit 20 oder 21 Jahren wählen die Eltern für sie einen Ehemann aus, oft schon früher. Außer diesem einen Mann wird kaum ein anderer ihr Gesicht je zu sehen bekommen.

Wenn die Rede von Normen ist in einer Gesellschaft, geht es üblicherweise um kulturelle Vereinbarungen. Sie müssen gemeinsam erstritten werden. Dabei geht es um die Verteilung von Chancen und darum, wer seine Fähigkeiten entwickeln darf und wer nicht. Am Ende geht es um Gerechtigkeit. Ein solcher Prozess existiert hier nicht.

Nuras Frage, ob Saudi-Arabien nun ein normales Land sei, steht immer noch im Raum. Ich erzähle ihr, wie die Frauen in Deutschland in meiner Kindheit dafür gekämpft haben, Straßenbahnen zu führen, Oberbürgermeisterinnen und Professorinnen zu werden. Dass Ehemänner auch bei uns erst 1976 das Recht verloren, den Arbeitsvertrag ihrer Frauen zu kündigen, gegen deren Willen. Dass die erste deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, eine Sensation war und allen bewiesen hat, dass Frauen alles können, egal was, manchmal sogar besser.

Deutschland habe auch ein weibliches Gesicht. Das sei normal für mich. Wenn sie jetzt von mir wissen wolle, ob ich die Saudi-Araber endlich für normal hielte, würde ich antworten: »Ich glaube nicht.«

Das erste Popkonzert

Nahe der Küstenstadt Dschidda gibt es seit Kurzem öffentliche Konzerte, und neuerdings dürfen auch Frauen diese Veranstaltungen besuchen. Auch das muss hier als Sensation betrachtet werden. Wie Film war ebenso Musik in Saudi-Arabien seit den 1980ern verboten. Die saudischen Religionsgelehrten sagen, dass alles, was den Menschen von Gott entfremde, vom Satan geschickt werde. Musik gilt den Ultrareligiösen als eines dieser verführerischen Laster.

Dschidda liegt am Roten Meer, in der Hidschas-Provinz. Hier war die Gesellschaft immer schon etwas freier, offener, internationaler als in Riad. Die Menschen sagen »Dschidda ghair« – Dschidda ist anders.

Und in der Tat: Das Königreich erlebt hier eine Premiere. Erstmals tritt der Popstar Tamer Hosny in Saudi-Arabien auf, und erstmals werden Männer und Frauen das Open-Air-Konzert gemeinsam besuchen. Auch wenn sie noch getrennt voneinander auf unterschiedlichen Tribünen sitzen – der Himmel über ihnen ist derselbe.

Tamer Hosny ist in der arabischen Welt so bekannt wie Billy Joel in den USA oder Herbert Grönemeyer in Deutschland. Ein drahtiger Ägypter in Anzug und Fliege, kurz getrimmter Bart. Seine großen Hits wie »180 Grad« handeln von Treue und Verrat, Verlassensein. Die 6000 Tickets für die Veranstaltung sind in weniger als zwei Stunden ausverkauft.

Hosnys Auftritt in Dschidda ist mehr als nur ein Popkonzert. Er ist wie ein Versprechen auf die Zukunft.

Die ersten Fans sind schon Stunden vorher da. Die Mädchen und Frauen tragen das lange, dunkle Haar offen. Viele sind aufwendig geschminkt. Aus den unauffälligen Abajas der Frauen sind weite Ausgehmäntel geworden aus grüner Wildseide, in leuchtendem Türkisblau, aus Leinen und Chiffon, manche sind geschnitten wie Kimonos, verziert mit farbigen Stickereien. Auf dem großen Platz vor der Konzertbühne stehen Männer und Frauen nebeneinander, ausgelassen, sie lachen, trinken alkoholfreies Bier und frische Säfte.

Als Tamer Hosny endlich erscheint, kurz nach 22 Uhr, geht ein Aufschrei durch die Reihen. Die Besucher kennen jede Zeile seiner Lieder auswendig und singen mit, vor allem die Frauen. »Tanzen verboten«, steht auf den Tickets. Als sich einige junge Frauen dennoch hinreißen lassen und begeistert aufspringen, mahnen die Konzertbetreuer zur Zurückhaltung. So ist dieser Wandel – es gibt noch jede Menge Tabus. Tanzen scheint dazuzugehören.

Widschan will malen und tanzen – jetzt sucht die Mutter einen Ehemann

Auf der Tribüne sitzen die Schwestern Malak, 23, und Widschan, 21. Auf ihren Nasen tragen sie riesige Spaßbrillen aus phosphoreszierendem Material. Die Brillen leuchten in der Nacht, und wer genau hinsieht, hat den Eindruck, die jungen Frauen leuchteten vor Freude gleich mit. Tatsächlich erleben die Schwestern einen ganz besonderen Abend.

Abgesehen von ihren übergroßen Leuchtbrillen sind die beiden sehr schlicht gekleidet, ganz anders als die meisten im Publikum. Malak trägt eine weite, dunkelgraue Abaja, Widschan einen weiten Mantel in Taupe, die Art von Farben, die Menschen mit ihrem Hintergrund verschmelzen lassen. Die Haare der Schwestern liegen streng hinter ihren Hidschab verborgen. Kein Make-up.

Widschan singt gut. Sie liebt es zu tanzen und würde gerne zeichnen lernen, Kunst studieren. Die Welt sehen. Aber Widschan ist unverheiratet. Sie lebt zuhause. Wenn sie das Haus verlassen will, muss sie den Vater um Erlaubnis bitten.