10 Gebote, um Abstürze zu vermeiden - Stefan Glowacz - E-Book

10 Gebote, um Abstürze zu vermeiden E-Book

Stefan Glowacz

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Beschreibung

"Klettern ist eine Schule fürs Leben, in der Fehleinschätzungen der eigenen Fähigkeiten gnadenlos bestraft werden." Sagt Extremkletterer Stefan Glowacz. Er muss es wissen. Denn seit 35 Jahren ist er in den schwierigsten Felswänden dieser Erde unterwegs. Zuerst gern allein, als Free-Solo-Kletterer ohne jegliche Sicherung – bis zum Absturz mit harten Folgen. Heute mit Sicherung – und mit hochkarätigen Teams in den entlegensten Big Walls dieser Erde. "Wie erreicht man seine Ziele?", "Wie baut man ein erstklassiges Team auf?", "Wann muss man flexibel sein und wann seinen Weg weiterverfolgen?" Seine Erfahrungen dazu hat Stefan Glowacz in diesem Buch zusammengefasst. Die Geschichten aus seinem Leben als Extremsportler und Unternehmer lesen sich spannend – denn Fehler am Fels und auf Expeditionen sind oft schmerzhaft und manchmal lebensgefährlich. Dieses Buch zeigt, wie man "Abstürze" durch gute Planung, eindeutige Kommunikation, klare Ziele und ein motiviertes Team vermeiden kann. Und es bringt Erfahrungen auf den Punkt, die jeder aus seinem Lebens- und Arbeitsalltag kennt. Die 10 Gebote im Überblick: 1. Du sollst deinen Überzeugungen folgen 2. Du sollst dich nicht vom Weg abbringen lassen 3. Du darfst stürzen, aber nicht liegen bleiben 4. Du sollst flexibel bleiben 5. Du sollst dein Team überlegt wählen 6. Du sollst professionell planen 7. Du sollst Fairness und Ehrlichkeit leben 8. Du sollst deine Fähigkeiten richtig einschätzen 9. Du sollst offen kommunizieren 10. Du sollst Fehler akzeptieren und Erfolge feiern

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STEFAN GLOWACZMILA HANKE

10 GEBOTEUM ABSTÜRZE ZU VERMEIDEN

ERFOLGSSTRATEGIEN FÜRBERUF UND ALLTAG

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DELIUS KLASING VERLAG

INHALT

VORWORT

GEBOT 1DU SOLLST DEINEN ÜBERZEUGUNGEN FOLGEN

GEBOT 2DU SOLLST DICH NICHT VOM WEG ABBRINGEN LASSEN

GEBOT 3DU DARFST STÜRZEN, ABER NICHT LIEGEN BLEIBEN

GEBOT 4DU SOLLST FLEXIBEL BLEIBEN

GEBOT 5DU SOLLST DEIN TEAM ÜBERLEGT WÄHLEN

GEBOT 6DU SOLLST PROFESSIONELL PLANEN

GEBOT 7DU SOLLST FAIRNESS UND EHRLICHKEIT LEBEN

GEBOT 8DU SOLLST DEINE FÄHIGKEITEN RICHTIG EINSCHÄTZEN

GEBOT 9DU SOLLST OFFEN KOMMUNIZIEREN

GEBOT 10DU SOLLST FEHLER AKZEPTIEREN UND ERFOLGE FEIERN

GLOSSAR

VORWORT

 

WELCHE LEHREN KANN ICH AUS MEINEN ERFAHRUNGEN ZIEHEN? WELCHE FEHLER SOLLTE ICH IN ZUKUNFT UNBEDINGT VERMEIDEN? WELCHE VERHALTENSWEISEN LASSEN MICH MEINE ZIELE AM EHESTEN ERREICHEN? UND WELCHE MENSCHLICHEN EIGENSCHAFTEN SIND FÜR MICH ALS EINZELPERSON, ABER AUCH FÜR EIN ERFOLGREICHES TEAM BESONDERS WICHTIG?

LIEBE LESERINNEN UND LESER,

warum will ein Extremsportler Ihnen Ratschläge für Ihren Job oder Ihr Leben erteilen? Ist das nicht ganz schön überheblich, besserwisserisch oder anmaßend? Was bringt mich zu einem Buch wie diesem? Die Antwort ist simpel: In meinen Vorträgen merke ich immer wieder, dass sich sehr viele Situationen und Erkenntnisse aus dem Extremsport und von meinen Expeditionen auf den Alltag und das Leben allgemein übertragen lassen. Denn im Grunde sind viele Herausforderungen, Hürden und Erkenntnisse sehr ähnlich – nur mit dem Unterschied, dass ich und mein Team tatsächlich in lebensbedrohliche Situationen geraten können, wenn wir einen Fehler machen. Dieser Umstand führt dazu, dass ich mich mit den Konsequenzen meiner Entscheidungen, meines eigenen Verhaltens und dem meiner Teammitglieder umso intensiver beschäftige: Welche Lehren kann ich aus meinen Erfahrungen ziehen? Welche Fehler sollte ich in Zukunft unbedingt vermeiden? Welche Verhaltensweisen lassen mich meine Ziele am ehesten erreichen? Und welche menschlichen Eigenschaften sind für mich als Einzelperson, aber auch für ein erfolgreiches Team besonders wichtig?

Aus all diesen Überlegungen sind die 10 Leitsätze entstanden, die ich in diesem Buch mit Beispielen aus meinem Leben erläutern möchte. Ich habe sie der Einfachheit halber „Gebote“ genannt – nicht weil ich damit dogmatische oder gar religionsähnliche Regeln aufstellen und mich zu einem Lebensweisheiten-Prediger aufschwingen möchte. Sondern weil sich das, was mir wichtig ist, so leichter auf den Punkt bringen lässt.

Ich habe in meiner Kletterkarriere verschiedene Disziplinen praktiziert und versucht, in jeder einzelnen von ihnen die Grenzen zu verschieben: beim alpinen Sportklettern, indem ich immer schwierigere Erstbegehungen gemeistert habe. Im Wettkampfklettern, indem ich als junger Mann die für mich wichtigsten Wettbewerbe gewinnen konnte. Doch nachdem ich meine Wettkampfkarriere 1993 mit der Vizeweltmeisterschaft beendet hatte, stellte sich für mich die Frage: Wie kann ich als Sportler außerhalb dieser Szene meinen eigenen Stil entwickeln und meine Leidenschaft für das Abenteuer und das Entdecken fremder Welten mit meinem Ehrgeiz für sportliche Höchstleistungen verbinden? Gemeinsam mit meinen engsten Freunden und Kletterpartnern, meinen „Brüdern im Geiste“ Kurt Albert und Holger Heuber, entwickelte ich einen Stil für Kletterexpeditionen, den wir „by fair means“ tauften. Abgeleitet vom Höhenbergsteigen, wo diese Definition den Verzicht auf künstlichen Sauerstoff bedeutet, wollten wir bei unseren Expeditionen bewusst weitgehend auf technische Hilfsmittel zur Fortbewegung verzichten. Theoretisch ist ja heute jedes Fleckchen auf dieser Erde mit dem Flugzeug, einem Schiff oder einem Hubschrauber erreichbar. Das Hinkommen ist lediglich eine Frage des Geldes und der Logistik. Aber wir wollen einen anderen Weg beschreiten: Mir ist es wichtig, aus eigener Kraft und auf Basis meiner eigenen Fähigkeiten voranzukommen – und so eben auch zu extrem abgelegenen Felswänden für besondere Erstbegehungen. Alles andere ist für mich uninteressant und unbefriedigend, nur halb so viel wert. Der Weg ist mir ebenso wichtig wie das Ziel – und diesen Weg will ich mit allen Muskelfasern spüren, erleben, mir erkämpfen, mit allen Strapazen.

Ich glaube, dass jemand, der mit der Seilbahn auf die Zugspitze gefahren ist, nicht auf demselben Berg stand wie einer, der mehrere Stunden hinaufgewandert ist, trotz Wind und Wetter. Ebenso suchen ich und meine Expeditionspartner die Herausforderung, vom letzten Zivilisationspunkt aus per Kanu, Ski oder zu Fuß an jene faszinierenden Big Walls zu gelangen, an denen wir eine Erstbegehung klettern wollen – sonst wäre unser Abenteuer kein echtes Abenteuer.

So waren wir 1995 „by fair means“ in Kanada unterwegs und legten rund 1000 Kilometer An- und Abmarsch im Kanu und zu Fuß zurück, um die Wände des Mount Harrison Smith zu erreichen. 1997 in Grönland legten wir den Weg durch Fjorde und über Gletscher bis zum Tupilak nur mithilfe von Seekajaks zurück. Unsere Motivation war und ist, uns bei Expeditionen völlig autark auf die eigene mentale und körperliche Leistungsfähigkeit zu verlassen. Das ist es, was uns voll und ganz fordert. Aber auch voll und ganz erfüllt.

Ich denke, sämtliche Ziele, die ein Mensch anstrebt und unbedingt erreichen will, sind im Grunde nur Orientierungshilfen auf der Suche nach den ganz persönlichen Glücksmomenten. Auch wir Kletterer und Bergsteiger setzen alles daran, einen Gipfel zu erreichen, weil wir annehmen, nur dort oben den ersehnten Seinszustand des Glückes finden zu können. Doch tatsächlich ist dieser spezielle Ort oft gar nicht das Entscheidende. In Wahrheit finden wir viele Glücksmomente bereits auf dem Weg zu diesem Berg, dieser Wand oder dem Ende einer Route. Der Weg ist immer ein wichtiger Teil des Ziels. Und genau deshalb ist auch die Art und Weise, wie wir ihn gehen, so entscheidend.

Sowohl durch das Wettkampfklettern als auch durch meine Expeditionen habe ich Erfahrungen sammeln können, die ich gerne in diesem Buch weitergeben möchte. Es sind unterschiedlichste Erfahrungen: Ich habe gelernt, wie man ein Team richtig zusammenstellt. Ich habe gelernt, wie wichtig eine gründliche und detaillierte Planung ist, die trotzdem Raum für Flexibilität lässt. Ich habe gelernt, wie man mit Rückschlägen, Verletzungen und Misserfolgen umgehen kann. Ich habe erlebt, wie sehr Kommunikation den Erfolg eines Teams beeinflusst. Und ich denke, dass ich nur deshalb meine Ziele erreiche, weil ich fest an bestimmte Überzeugungen und Werte glaube.

Aus all diesen Erfahrungen sind die „10 Gebote“ dieses Buches entstanden. Sie bilden für mich den Rahmen, der meine Erfolge im Sport und auf Expeditionen überhaupt erst möglich gemacht hat. Viele dieser Leitsätze lassen sich auf den Alltag übertragen, auf Prozesse in Unternehmen und auf Jobsituationen, aber auch auf private Beziehungen und zwischenmenschliche Konflikte. Ich habe keinerlei psychologische Hintergrundkenntnisse und möchte mir keineswegs anmaßen, hier als eine Art Lebensratgeber allwissende Ratschläge zu erteilen. Ich möchte einfach nur meine Erfahrungen aus Extremsituationen weitergeben, in die ich mich sicherlich häufiger begebe als die meisten anderen Menschen. In erster Linie soll dieses Buch Sie gut unterhalten und Sie mitnehmen in die Welt eines Extremsportlers und Abenteurers. Was Sie, lieber Leser und liebe Leserin, daraus für Ihr eigenes Leben ableiten können und wollen, bleibt ganz Ihnen überlassen.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

DIE SÜDWAND DES GAURI SHANKAR NACH EINEM WETTERSTURZ. IM HIMALAYA KOMMEN SOLCHE WETTERVERÄNDERUNGEN OFT SEHR PLÖTZLICH.

GEBOT 1

DU SOLLST DEINEN ÜBERZEUGUNGEN FOLGEN

KURZ UNTERHALB DES EINSTIEGES DER GAURI-SHANKAR-SÜDWAND AUF CIRCA 5000 METERN. DER AUFSTIEG IN DER DÜNNEN HÖHENLUFT KOSTET UNS VIEL KRAFT.

Eigentlich hätte ich schon viel früher merken müssen, dass etwas nicht stimmt.

Monatelang hatte ich die Expedition nach Nepal zusammen mit meinen Kletterpartnern David Göttler und dem Fotografen Klaus Fengler geplant. Die Erstbegehung der 1800 Meter hohen Südwand des Gauri Shankar sollte meine erste Tour im Himalaya werden. Der imposante Doppelgipfel, etwa 60 Kilometer vom Mount Everest entfernt, gilt als der heiligste Berg Nepals. Seine 7134 Meter hohe schnee- und eisbedeckte Spitze, das Klettern in extremen Schwierigkeitsgraden bei sauerstoffarmer Höhenluft – für mich war das ein Vorstoß in eine neue Welt.

Das Klettern an den Bergen des Himalaya ist eine Disziplin, mit der ich bisher noch nicht in Berührung gekommen war. Das aufwendige Genehmigungsverfahren, die damit verbundenen Kosten und der vorgeschriebene Expeditionsstil mit Trägern, Köchen und Verbindungsoffizier hatten mich immer davon abgehalten, nach Pakistan, Indien, China oder Nepal aufzubrechen. Aber diese Berge und Wände sind natürlich für einen ehrgeizigen Kletterer wie mich eine riesige Herausforderung. Es war immer mein Ziel, sämtliche Formen des Kletterns auszuprobieren. Und dazu gehört selbstverständlich auch das Klettern im Himalaya. In meinen Augen sollte der perfekte Kletterer nicht nur Wettkämpfe gewinnen, sondern auch die schwierigsten Wände an den höchsten Bergen der Welt meistern können. Das war mein Anspruch. Und den wollte ich am Gauri Shankar verwirklichen.

ES WAR IMMER MEIN ZIEL, SÄMTLICHE FORMEN DES KLETTERNS AUSZUPROBIEREN. UND DAZU GEHÖRT SELBSTVERSTÄNDLICH AUCH DAS KLETTERN IM HIMALAYA. IN MEINEN AUGEN SOLLTE DER PERFEKTE KLETTERER NICHT NUR WETTKÄMPFE GEWINNEN, SONDERN AUCH DIE SCHWIERIGSTEN WÄNDE AN DEN HÖCHSTEN BERGEN DER WELT MEISTERN KÖNNEN. DAS WAR MEIN ANSPRUCH. UND DEN WOLLTE ICH AM GAURI SHANKAR VERWIRKLICHEN.

Doch je näher wir diesem Berg kamen, desto mehr spürte ich, wie sich irgendetwas in mir gegen diese Unternehmung sträubte. Selbst mein Körper schien dagegen zu rebellieren. Schon im Basislager auf 3500 Metern ging es mir nicht gut, und je höher wir kamen, desto unwohler fühlte ich mich. Ich konnte nachts nicht schlafen, wälzte mich stundenlang unruhig in meinem Schlafsack hin und her und fühlte mich total angespannt. Ich musste mich zwingen, zu essen und zu trinken, obwohl ich weder Hunger noch Durst verspürte. Dieser Berg hing wie ein Damoklesschwert über mir, besser gesagt wie eine Drohung, die mich völlig überforderte. Es waren einfach zu viele Unbekannte des Höhenbergsteigens, die für mich zusammenkamen und die ich nicht einzuschätzen vermochte. Und genau das löste in mir diese Angst und Beklommenheit aus. Die Akklimatisation an die Höhenluft mit dem niedrigeren Sauerstoffpartialdruck schien nicht der einzige Grund dafür zu sein. Aber ich verdrängte dieses eindeutige Warnsignal ganz bewusst. Jeden Tag aufs Neue redete ich mir ein: Dieser Gipfel, der ist mein Ziel.

Tatsächlich scheiterten wir schon an den ersten Metern dieser gigantischen Wand. Die Südwand des Gauri Shankar war zum Großteil mit Schnee bedeckt, der Rest mit einer harten Eisschicht überzogen. Klemmkeile oder Klemmgeräte einzusetzen war unmöglich. Wir hätten schon zu Beginn Bohrhaken schlagen müssen – das auf einer Strecke von 1800 Metern fortzusetzen wäre absurd gewesen. Schnelligkeit ist das entscheidende Kriterium in so einer Wand. Aber das Schlagen eines einzigen Bohrhakens dauert in der Regel bei diesem Gestein zehn bis 15 Minuten. Diese Zeit hatten wir einfach nicht. Ganz abgesehen davon, dass wir nicht genügend Bohrhaken dabeihatten, hätte es auch nicht unserem Stil entsprochen. Zudem waren die Wetterbedingungen miserabel. Jeden Tag zog ab mittags ein heftiger Schneesturm auf, der uns zur Untätigkeit verdammte. Wir waren in der Zeit des Vormonsuns unterwegs und mussten davon ausgehen, dass sich in den nächsten Wochen nicht viel an dieser Wetterlage ändern würde. Im Gegenteil: Je näher der Monsun heranrückte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass wir die Wand noch einmal unter optimalen Bedingungen zu Gesicht bekommen würden. Nach zwei Wochen Warten im Basecamp waren wir uns einig: Unter diesen Umständen konnten wir die Wand nicht bezwingen. Es hatte keinen Sinn, länger auszuharren. Wir kehrten um.

Zurück in Deutschland, war ich frustriert wie noch nie nach einer gescheiterten Expedition. Obwohl es absolut nichts Ungewöhnliches ist, dass eine Unternehmung nicht gleich beim ersten Anlauf klappt. Und in diesem Fall konnten wir den Rückzug völlig plausibel mit dem schlechten Wetter begründen. Was also zog mich so extrem nach unten? Ich brauchte Monate, um mir den wahren Grund für meinen Frust einzugestehen: Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich diese Wand wohl auch unter optimalen Wetterbedingungen nicht hochgekommen wäre. Irgendwann hätte ich meinen Kletterpartnern David und Klaus eröffnen müssen, dass ich mich in mir und unserem gemeinsamen Ziel geirrt hatte. Einerseits, weil es mir für Touren in extremen Höhen schlicht an Erfahrung mangelte. Aber vor allem, weil mir von Anfang an die wichtigste Grundvoraussetzung gefehlt hatte: die echte Überzeugung für das Ziel.

UNSER LETZTES LAGER UNTERHALB DES EINSTIEGS IN DIE WAND AUF 4800 METERN.

RÜCKZUG VON DER GAURISHANKAR-SÜDWAND KURZ VOR EINEM HEFTIGEN WETTERSTURZ – WIR SAHEN UNTER DIESEN EXTREMEN WETTERBEDINGUNGEN KEINE CHANCE MEHR, DIE WAND ZU KLETTERN.

IN DIESER HÖHE MÜSSEN WIR BEIM AUFSTIEG ZUM LETZTEN LAGER IMMER WIEDER EINE KURZE RAST EINLEGEN.

WAS ALSO ZOG MICH SO EXTREM NACH UNTEN? ICH BRAUCHTE MONATE, UM MIR DEN WAHREN GRUND FÜR MEINEN FRUST EINZUGESTEHEN: TIEF IN MEINEM INNEREN WUSSTE ICH, DASS ICH DIESE WAND WOHL AUCH UNTER OPTIMALEN WETTERBEDINGUNGEN NICHT HOCHGEKOMMEN WÄRE.

Um beim Höhenbergsteigen den hohen Erwartungen an mich selbst gerecht zu werden, müsste ich erst einmal bei leichteren Bergen oder Wänden die nötige Erfahrung sammeln. Ich müsste mich ausschließlich auf diese Disziplin konzentrieren und mein ganzes Leben und mein Training radikal danach ausrichten. Aber vor allem müsste ich eine Kompromisslosigkeit in Bezug auf die Risiken akzeptieren, zu der ich nicht mehr bereit bin. Denn während das Klettern in Big Walls ohne Eis und Schnee für mich ein durchaus kalkulierbares Risiko darstellt, ist beim Höhenbergsteigen die Gefahr, in lebensbedrohliche Situationen zu geraten, deutlich größer – aufgrund der Höhenluft und der damit verbundenen körperlichen Langsamkeit, der gigantischen Dimensionen, die nicht vergleichbar mit denen der Alpen oder sonstigen Gebirgen sind. Und weil die Bedingungen und die Witterung schwerer einzuschätzen sind. Als ich unter der Südwand des Gauri Shankar stand, wurde mir klar, was ich unbewusst schon die ganze Zeit gefühlt hatte: Für dieses Bollwerk müsste ich bereit sein, mein Leben aufs Spiel zu setzen.

Allein für den Aufstieg hatten wir vier bis fünf Tage kalkuliert, für den Abstieg mindestens noch einmal drei Tage. Für die gesamte Kletterei in dieser Höhe, bei diesen schwierigen Bedingungen, hätten wir uns über eine Woche in einem lebensgefährlichen Umfeld aufhalten müssen. Aber eine genau planbare Taktik gibt es ab einer bestimmten Höhe in so einer Riesenwand nicht mehr. Das hieß: Entweder ich bin bereit, ganz bewusst meine persönliche Sicherheitsleine zu kappen und jedes Risiko einzugehen – oder ich habe an diesen Bergen nichts zu suchen.

Dass ich innerlich nicht bereit war und bin, diese extreme Form des Höhenbergsteigens anzupacken und mit all ihren Gefahren anzunehmen, war für mich erst einmal eine unakzeptable Erkenntnis. Schließlich sollte man als wahrer Abenteurer doch keine Herausforderung scheuen, oder? Ist alles andere nicht ein Zeichen von Schwäche? Erst nach mehreren Wochen wurde sie erträglicher. Inzwischen habe ich mit dieser Einsicht meinen Frieden geschlossen. Aber ich brauchte dafür definitiv meine Zeit.

Im Nachhinein zwang mich die Expedition am Gauri Shankar, meine Ambitionen und Überzeugungen schonungslos zu hinterfragen. Bis dahin war ich bei Entscheidungen und Zielen meist einfach meinen Instinkten gefolgt. Mein Bauchgefühl hatte mich im Großen und Ganzen immer intuitiv richtig geleitet. Trotzdem ist es oft schwierig, warnende Signale im Eifer des Gefechts nicht zu überhören.

Für Extremkletterer ist dieses ehrliche „In-sich-hinein-Horchen“ aber extrem wichtig, weil von bestimmten Entscheidungen unser Leben abhängt. Die Frage, ob ich wirklich von dem Ziel und der Art der Unternehmung überzeugt bin – diese Frage muss ich mir vor Beginn jeder Expedition ganz realistisch beantworten können. Es ist grob fahrlässig dem Team und einer ganzen Unternehmung gegenüber, wenn ich erst mittendrin erkenne oder eingestehen muss, dass ich mir das eigentlich alles ganz anders vorgestellt habe. Genau dies ist mir bei der Gauri-Shankar-Expedition passiert. Und es hätte lebensgefährlich enden können.

Diese Expedition nach Nepal ist für mich ein entscheidendes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, bei einem Projekt seiner wahren Überzeugung zu folgen – und sich keine falsche einzureden. Der Gauri Shankar ist natürlich ein extremes Beispiel für ein falsch gewähltes Ziel. Aber gerade daran ist der Mechanismus gut erkennbar.

Ich werde in diesem Buch immer wieder solche extremen Beispiele aus meinen eigenen Expeditionserlebnissen aufgreifen und versuchen, sie so zu beschreiben, dass jeder sie in sein berufliches oder privates Leben übertragen kann. In Bereiche also, in denen diese Mechanismen und Stolperfallen oft nicht so klar erkennbar sind – aber die gleiche Wirkung haben.

AM EINSTIEG DER GAURI-SHANKAR-SÜDWAND AUF 5300 METERN. DIE WAND MACHT ES UNS NICHT LEICHT – UND ICH BIN UNSICHERER ALS SONST BEIM KLETTERN VON BIG WALLS.

Dass man seinen Überzeugungen folgen soll, dabei aber auch immer wieder überprüfen muss, ob sie echt und tragfähig sind, habe ich auch als Unternehmer erlebt. Auch die Gründung meiner eigenen Firma Red Chili zusammen mit einem meiner langjährigsten und besten Freunde, Uwe Hofstädter, entstand aus dem richtigen Bauchgefühl heraus. Ich wollte als Profikletterer nie in eine Situation geraten, in der ich klettern „muss“, um mich und meine Familie zu ernähren. Die Lösung war, parallel zu meiner Profikarriere ein eigenes Unternehmen aufzubauen, das mir auf der einen Seite genügend Zeit lässt, um meine Expeditionen durchzuführen, und das auf der anderen Seite von meinem Know-how und meinem Bekanntheitsgrad profitieren kann. Dass ich dieses Unternehmen nicht allein stemmen konnte, lag auf der Hand. Gemeinsam mit Uwe, der ebenfalls begeisterter Kletterer, aber auch Kaufmann ist, entstand so die Idee zu Red Chili – mit der Firmenphilosophie: „only climbers know what climbers need“. 1998 starteten wir mit unseren ersten Kletterschuhen und ergänzten das Produktportfolio dann ab 2013 durch Kletterbekleidung.

So habe ich auch als Unternehmer immer wieder genau die Situationen und „Lebenslehren“ erlebt, die ich in diesem Buch als „10 Gebote“ beschreibe. Vor allem dieses 1. Gebot „Du sollst deinen Überzeugungen folgen“ ist der Grund dafür, warum die Unternehmung Red Chili nicht schon bei den ersten Schwierigkeiten scheiterte. Nur weil wir fest an unsere Vision geglaubt haben, konnten wir auch die Tiefschläge auf dem oft steinigen Weg zu unserem Erfolg akzeptieren.

Um seinen Überzeugungen konsequent folgen zu können, braucht man jedoch auch immer wieder neue, klar definierte Ziele. Der berühmte deutsche Bergsteiger und Fotograf Reinhard Karl kreierte einmal den schönen geflügelten Satz „Wirklich oben bist du nie“. Reinhard Karl starb 1982 in einer Eislawine am Cho Oyu. Aber dieser Satz symbolisiert nicht nur den Antrieb von uns Kletterern und Bergsteigern, sondern ist in meinen Augen auch eine wunderbare philosophische Metapher für das Unternehmertum – und für das Leben. Kaum erreichen wir Kletterer nach einer schwierigen Expedition den Gipfel und sind im ersten Augenblick absolut glücklich über den Erfolg, da sehen wir am Horizont bereits den nächsten Berg, den wir besteigen wollen. Nicht nur das Leben eines Kletterers besteht aus einer Aneinanderreihung von Zielen, sondern unser ganzes Leben. Ohne sie würden wir wahrscheinlich gar nicht jeden Morgen aufstehen. Und nur wenn wir von unseren Zielen absolut überzeugt sind, können wir sie auch erreichen.

ES SIND VOR ALLEM DIE AUGENBLICKE UND EREIGNISSE AUF DEM WEG ZU DIESEN ZIELPUNKTEN, DIE UNS PRÄGEN, VERÄNDERN UND AUS DENEN WIR LERNEN. JE HÄRTER WIR FÜR DAFÜR KÄMPFEN MÜSSEN, UMSO ERFÜLLTER SIND WIR IN DEM MOMENT, IN DEM WIR SIE ERREICHEN.

Ich denke, es sind vor allem die Augenblicke und Ereignisse auf dem Weg zu diesen Zielpunkten, die uns prägen, verändern und aus denen wir lernen. Je härter wir dafür kämpfen müssen, umso erfüllter sind wir in dem Moment, in dem wir sie erreichen. Vor allem jedoch bestärkt uns jedes Erfolgserlebnis in unserer Leidenschaft und Überzeugung. Denn nur die lässt uns Ziele erreichen, bei denen wir an unsere persönlichen Grenzen stoßen – oder diese überwinden.

Oft ist es jedoch ein schmaler Grat zwischen einem unrealistischen „Utopie“-Ziel und einem, das schwer zu erreichen ist, aber im Kern das richtige. Um den Unterschied zu erkennen, ist es hilfreich, immer wieder zur Seite zu treten und sich selbst von außen zu beobachten. Hätte ich dies bereits in der Planungsphase der Gauri-Shankar-Expedition getan, hätte ich vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass ich mich einfach in die Vorstellung verliebt hatte, mit der Besteigung der Gauri-Shankar-Südwand nun auch im Höhenbergsteigen Akzente zu setzen.

Bin ich bei der Gauri-Shankar-Expedition meiner echten Überzeugung gefolgt? Nein – der primäre Antrieb für diese Expedition war meine Eitelkeit, gepaart mit der Neugier, ob ich auch in diesem Umfeld bestehen kann. Ich blicke auf eine 35-jährige Kletterkarriere zurück, und die Erkenntnis, dass diese Beweggründe trotz all meiner Expeditions-Erfahrungen die Basis meiner Entscheidung waren, hat mich selbst schockiert. Und genau diese Erkenntnis ließ mich im Nachhinein so lange mit mir und meinem Scheitern hadern.

Aus der Gauri-Shankar-Expedition resultierte für mich eine eindeutige Lehre: Die schonungslose Ehrlichkeit im Hinblick auf die eigene Überzeugung – und zwar von Beginn an, schon in der Planungsphase – ist das entscheidende Kriterium für Erfolg.

LANDKARTEN HELFEN UNS, DEN WEG ZU FINDEN.

GEBOT 2

DU SOLLST DICH NICHT VOM WEG ABBRINGEN LASSEN

CERRO MURALLÓN, OSTWAND. DIE ROUTE „VOM WINDE VERWEHT“ VERLÄUFT AUF DEM HERVORSPRINGENDEN PFEILER IN DER BILDMITTE.

Ich steckte fest. Der weiche, tiefe Pulverschnee reichte mir bis über die Hüfte. Es waren nur noch wenige Hundert Meter bis zum Einstieg, aber er erschien mir in unerreichbarer Ferne. Auf den Tag genau vor einem Jahr war eine riesige Lawine über diese Stelle hinweggefegt. Die Schneemassen lagen immer noch hier – und versperrten uns den Weg.

Zusammen mit Robert Jasper, einem der weltbesten Alpinisten und Eiskletterer, wühlte ich mich im Zeitlupentempo aus der Gefahrenzone. Es war kurz vor Tagesanbruch. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen und das Lawinen- und Eisschlagrisiko unkalkulierbar in die Höhe treiben. Ich kämpfte gegen die aufsteigende Panik und verfluchte in diesem Moment meine Leidenschaft für diese Art von Abenteuer. Für die Naturgewalten lagen wir wie auf einem Präsentierteller, an einem Ort, der nicht für Menschen bestimmt ist …

Und doch waren wir freiwillig hier, schon zum dritten Mal in Folge. Wir waren besessen von der 1000 Meter hohen, abweisenden, schroffen Nordwand eines Berges am Ende der Welt, mitten im patagonischen Inlandeis. Diese Wand war für uns wie ein Juwel, und wir begehrten sie und buhlten um sie wie um eine schöne Frau.

Immer zur gleichen Zeit, in den Monaten November und Dezember der Jahre 2003, 2004 und 2005 hatten wir uns an den Fuß dieser Wand gequält – denn die ersten beiden Male wurden wir harsch abgewiesen. Aber die Diva Murallón hatte uns in ihren Bann gezogen – und wider jegliche Vernunft und gesunden Menschenverstand wären wir bei einem erneuten Scheitern auch ein viertes und fünftes Mal zurückgekehrt. Solange, bis sie unser Begehren erhört hätte.

Es gab und es wird auch in Zukunft in meinem Klettererleben nur wenige Berge und Wände geben, die mich dermaßen faszinieren wie die Nordwand des Cerro Murallón. Für die ich bereit wäre, diesen enormen Einsatz zu leisten. Jeder Kletterer hat seine ganz persönlichen Beweggründe, warum er Berge besteigt und Wände klettern möchte. Der Cerro Murallón symbolisiert für mich das vollkommene Ziel: der mühsame und schwierige Anmarsch, bei dem wir uns mehrere Tage lang über weglose Moränenrücken und den wild zerklüfteten Upsala-Gletscher vorankämpfen, immer dem eisigen Sturm schutzlos ausgesetzt, die Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Berges, die unkalkulierbaren Witterungsbedingungen und unter all diesen Umständen die extremen klettertechnischen Schwierigkeiten der Wand. Der erste Pfeiler bis in die Wandmitte ist schon extrem steil, an vielen Stellen überhängend. Die Gipfelwand ebenso. Allein beim Blick durch das Fernglas erkannten wir keinen leichteren Abschnitt, der schnell von der Hand hätte gehen können. Wir konnten nur anstrengendste Risskletterei vom Fingerriss bis zum Körperriss und überhängende Verschneidungssysteme erkennen. Ich war angetrieben von einer unbändigen Leidenschaft für dieses klare Ziel, von dem ich mich auf keinen Fall abbringen lassen wollte. Weil ich wusste, dass ich es erreichen kann.

ICH WAR ANGETRIEBEN VON EINER UNBÄNDIGEN LEIDENSCHAFT FÜR DIESES KLARE ZIEL, VON DEM ICH MICH AUF KEINEN FALL ABBRINGEN LASSEN WOLLTE. WEIL ICH WUSSTE, DASS ICH ES ERREICHEN KANN.

RÜCKBLICK

Ich saß mit Robert in seiner Küche in Faulensee in der Schweiz, und wir starrten auf ein historisches Bild einer chilenischen Forschungsexpedition aus den 1960er-Jahren. Aber nicht von den Forschern waren wir so begeistert, sondern von dem riesigen Felsbollwerk, das unscharf im Hintergrund erkennbar war: die Nordwand des Cerro Murallón, mitten auf dem patagonischen Inlandeis gelegen. Ein riesiger, vorspringender Pfeiler ragt weit überhängend mindestens 500 Meter im zentralen Wandteil auf. Nach einem messerscharfen Gratstück folgt nochmals ein 500 Meter hoher Aufschwung. So etwas hatten wir in unserem bisherigen Klettererleben noch nie gesehen. Die Gipfelwand erhebt sich wie eine zu Stein erstarrte, riesige brechende Welle. Ein natürliches Kunstwerk, das an Ästhetik nicht zu überbieten ist. Ich weiß nicht mehr, was uns mehr faszinierte, dieses alte Foto oder das Zitat des großen italienischen Patagonienkletterers Casimiro Ferrari, der über den Cerro Murallón schrieb: „Wenn der Cerro Torre der Berg ist, der mich am meisten gezeichnet hat, und wenn der Fitz Roy der technisch am schwierigsten zu bezwingende Berg war, dann war der Murallón der, der meine physischen und psychischen Kräfte am meisten auf die Probe gestellt hat.“ Was für ein Berg musste das sein, vor dem der große Casimiro Ferrari einen derartigen Kniefall machte? Vier Expeditionen zwischen 1979 und 1984 benötigte er, um zuerst einen Zugang an den Murallón zu erkunden und anschließend den kolossalen Nordostpfeiler zu durchsteigen. Anfangs mit vielen Helfern aus seinem Heimatort Lecco unterwegs, stand er letztendlich im Februar 1984 nur mit seinen Kletterpartnern Paolo Vitali und Carlo Alde auf dem Gipfel.

Vor Casimiro Ferrari war nur eine einzige Expedition an diesem Berg erfolgreich verlaufen. Kein Geringerer als der unermüdliche Brite Eric Shipton erreichte mit seinem Partner Jack Ewer sowie den beiden Chilenen Eduardo García und Cedomir Marangunic im Januar des Jahres 1961 vom Südwesten her das Gipfelplateau, über den wahrscheinlich leichtesten Anstieg. An diesem Nachmittag in Roberts Küche war ihm und mir sofort klar: Rund 40 Jahre später wollten wir unser Glück an diesem Berg versuchen. Aber über unsere ganz eigene Traumlinie.

2003 – DER ERSTE VERSUCH

Über drei Wochen quälten wir uns und unser Gepäck zu Fuß durch orkanartige Schneestürme und über den mit gefährlichen Spalten durchzogenen Gletscher zum Basislager des Cerro Murallón. Wir genossen dabei kurze Momente der Euphorie, wenn das tägliche Leiden unter unseren Rucksacklasten abends endlich ein Ende hatte. Aber vor allem durchlitten wir lange Phasen der Resignation, wenn wir tagelang im Schneesturm in unseren kleinen Zweimannzelten gefangen waren, bevor wir wieder weitermarschieren konnten. Endlich mit der ersten Gepäckladung am Wandfuß angekommen, stellten wir fest, dass eine Expedition in Patagonien tatsächlich die kontinuierliche Steigerung der Unannehmlichkeiten bedeutet.

Im Basislager gab es keinen Felsblock, hinter dem wir mit unserem Zelt hätten in Deckung gehen können. Aus der Wand donnerten die Lawinen herunter, und wenn wir uns ausnahmsweise einmal nicht bewegten, kühlte uns der Sturm in wenigen Minuten völlig aus. Der einzige Schutz an diesem gottverdammten Ort war eine Schnee- und Eishöhle, die wir mühsam in die Schneeflanke graben mussten. Die ersten Meter konnten wir noch mit einer Lawinenschaufel arbeiten, dann, etwas tiefer, als wir auf solides Eis stießen, mussten wir die Kammer in der Dimension einer Sardinenbüchse Millimeter für Millimeter mit den Eisgeräten herauspickeln. Dicht gedrängt lagen wir vier mit den Schlafsäcken auf unseren dünnen Isomatten. Die Kälte kroch vom Boden und die Nässe von oben in die Schlafsäcke hinein. Aber es war zumindest windstill in der Höhle. Draußen tobte tagelang der Sturm und trieb fast unmerklich puderzuckerfeinen Schnee in unsere Höhle, der alles mit einer feinen Schneeschicht überzog. Diese schmolz durch unsere Körperwärme, sodass die Schlafsäcke hervorragende Dienste als Schwämme leisteten. Jede Stunde musste einer von uns aufstehen, sich komplett anziehen und den Eingang der Höhle von den Schneemassen befreien.

ROBERT JASPER UND ICH KÄMPFEN UNS WÄHREND DER ERSTEN MURALLÓN-EXPEDITION IM JAHR 2003 AUF DEM WEG ZUM CERRO MURALLÓN ÜBER DEN UPSALA-GLETSCHER.

Ansonsten wären wir Gefahr gelaufen, in der Minihöhle zu ersticken. Wir lagen eine Woche tatenlos in diesem Kühlschrank, während draußen der Himmel über uns zusammenbrach.

40 Kilometer Luftlinie sind es von der südlich gelegenen Estancia Cristina, dem nächstgelegenen Zivilisationspunkt, bis ins Basislager. Drei Mal mussten wir die gesamte Strecke hin- und herlaufen, um unser gesamtes, über 400 Kilo schweres Gepäck – Trockennahrung, Energieriegel, Seile, Klemmkeile, Haken, Benzin, Zelte und Kocher – endlich völlig erschöpft im Basislager abwerfen zu können. Fotograf Klaus Fengler, Kameramann Sebastian Tischler, Robert Jasper und ich stolperten tagelang mit Lasten bis zu 40 Kilo auf unserem Rücken über Eisblöcke, versanken im knöcheltiefen Sand der Gletschermoränen und kämpften uns durch das Spaltengewirr des wild zerklüfteten Upsala-Gletschers. Spätestens nach dieser Schinderei wussten wir, was Ferrari mit seiner Aussage gemeint hatte, der Murallón sei der Berg, der seine physischen und psychischen Kräfte am meisten auf die Probe gestellt hatte. Viel zu lange waren wir zu diesem Zeitpunkt schon unterwegs. Unsere Verpflegung hätte nie für die realistische Dauer eines Erstbegehungsversuches an unserem Pfeiler gereicht, selbst wenn wir sie drastisch rationiert hätten. Die Kletterei hätte mit Wartezeiten wegen der Stürme mindestens noch zwei Wochen in Anspruch genommen. Unser Proviant reichte allerdings höchstens noch für wenige Tage.

Als wir unter dem Pfeiler standen, mussten wir auch einsehen, dass wir bei Weitem nicht genügend Kletterausrüstung für diese „Megawand“ dabeihatten. Doch für Robert und mich stand trotz aller Strapazen und Unwägbarkeiten schon in diesem Moment fest: Wir würden wiederkommen, sobald wie möglich. Wir deponierten einen Teil der Ausrüstung, die wir nicht für den Rückmarsch benötigten, unter einem halbwegs geschützten Felsblock, speicherten die GPS-Koordinaten – und kehrten zurück in die Zivilisation.

2004 – DER ZWEITE VERSUCH

Endlich lag ich im Zelt, im Schlafsack und auf meiner Isomatte. Meine Füße waren von Blasen übersät und pochten schmerzvoll. Vom Passo Marconi aus, also dieses Mal von Norden her kommend, hatten wir nach knapp einer Woche das Basislager am Murallón erreicht. Der neue Anmarsch war das Ergebnis der Erkenntnisse, die wir aus den Fehlern bei der ersten Expedition gewonnen hatten: Es hätte zu viel Zeit und Energie gekostet, erneut mit noch einmal 300 Kilo zusätzlicher Ausrüstung und Verpflegung wieder von der Estancia Cristina aus zu starten. Wir entschlossen uns nach akribischem Kartenstudium deshalb dieses Mal für den Anmarsch vom Norden. Auf dieser ersten Etappe halfen uns drei Freunde beim Transport der Ausrüstung mit Schlitten und Skiern. Mit ihrer Hilfe und mit der korrigierten Route konnten wir in einem Zug, ohne die Strecke mehrmals hin- und herlaufen zu müssen, das Basislager erreichen. Danach trennten sich wie geplant unsere Wege. Die Helfer folgten unseren GPS-Koordinaten von der ersten Expedition nach Süden zur Estancia Cristina und kehrten zurück in die Zivilisation.

Fotograf Klaus Fengler, Robert Jasper und ich waren nun wieder auf uns allein gestellt. Wir würden in den folgenden fünf Wochen keinen anderen Menschen, kein Lebewesen, keine Sträucher, Blumen oder Bäume sehen – aber wir wollten die Erstbegehung nun endlich durchziehen.

DER UPSALA-GLETSCHER IST VON TIEFEN GLETSCHERSPALTEN DURCHZOGEN – DER MÜHSAME ANMARSCH ZUM FUSS DES CERRO MURALLÓN BEI DER ERSTEN EXPEDITION IM JAHR 2003 KOSTET UNS VIEL KRAFT UND ZEIT.

ROBERT JASPER (LINKS) UND ICH KOMMEN BEI DER ÜBERQUERUNG DES UPSALA-GLETSCHERS WÄHREND DER ERSTEN MURALLÓN-EXPEDITION AUF DEM WEG ZUM CERRO MURALLÓN MANCHMAL AN UNSERE GRENZEN.

WÄHREND DER ERSTEN EXPEDITION ZUM CERRO MURALLÓN KONNTEN WIR UNS ZUM SCHUTZ VOR DEN HEFTIGEN STÜRMEN EINE EIS- UND SCHNEEHÖHLE ALS BASISLAGER BAUEN.

EINEN TAG VOR ERREICHEN DES BASISLAGERS ÜBERRASCHT UNS DER STURM WÄHREND DER ZWEITEN MURALLÓN-EXPEDITION 2004.

Doch als wir spät am Abend den Fuß der Wand erreichten, mussten wir voller Entsetzen feststellen, dass es nicht möglich war – wie noch im Jahr zuvor – eine sichere Schnee- oder Eishöhle als Basislager zu graben. Es lag zu wenig Schnee, und wir hatten kein geeignetes Werkzeug, um eine Höhle in das massive Eis zu schneiden – dafür hätten wir Kettensägen gebraucht. Am nächsten Tag zogen wir aus dem wenigen vorhandenen Schnee kleine Mauern um unsere Zelte, um den unglaublich starken Stürmen, die in Patagonien regelmäßig über das Land fegen, nicht völlig schutzlos ausgesetzt zu sein. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich spürte, dass dieses Basislager nicht sicher war, und auch Robert war nicht wohl in seiner Haut. In den letzten Stunden hatte der Wind stetig zugenommen. Mittlerweile trieben scharfe Eiskristalle waagerecht durch die Luft – wie zornige Geschosse der Natur.