111 Gründe, das Böse zu lieben - Kurt-J. Heering - E-Book

111 Gründe, das Böse zu lieben E-Book

Kurt-J. Heering

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Beschreibung

In 111 Gründe, das Böse zu lieben erzählen die Autoren Kurt-J. Heering und Jo Müller die Geschichten der faszinierendsten Schurken und Scheusale der Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte, angefangen von biblischen Zeiten und der griechischen Mythologie bis zur Gegenwart. Der Leser darf sich freuen auf eine (Wieder-)Begegnung mit Teufelsbündlern wie Faust oder Dorian Gray, mit dämonischen Verführerinnen wie Salome oder der Zauberin Loreley, mit Ikonen des Kinogrusels wie Darth Vader oder Hannibal Lecter, mit Monstern, Aliens und Zombies. Sie und viele andere haben uns seit jeher Schauer über die Rücken gejagt und tun dies noch heute, auch wenn am Ende stets die Erleichterung darüber steht, dass es sich ja 'nur' um schaurig-schönen Schein handelte, der uns zittern ließ. Kenntnisreich und unterhaltsam widmet sich diese Hommage der Faszination des Bösen in Literatur, Film, Kunst und Kultur. Die Zeitreise der anderen Art bietet zudem viele Fakten über die jeweiligen Werke und überrascht dabei immer wieder mit neuen Perspektiven.

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Seitenzahl: 450

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Kurt-J. Heering | Jo Müller

111 GRÜNDE, DAS BÖSE ZU LIEBEN

Von Schurken, Scheusalen und Dämonen

In Gedenken an Kurt-Jürgen Heering

Dies ist eines der letzten Bücher, an denen unser Vater als Autor gearbeitet hat. Leider wird er diese Veröffentlichung nicht mehr miterleben. Er starb am 19. November 2013, viel zu früh, mit gerade einmal 60 Jahren. Unser Vater mag von uns gegangen sein, aber in unseren Gedanken und in seinen Büchern lebt er weiter.

Jonas Heering & Jakob Heering

VORWORT

WEIL ES INKARNATIONEN DES BÖSEN GIBT, ZU DENEN NICHT NUR KARL KRAUS NICHTS EINFALLEN WOLLTE

»Ich bin der Geist, der stets verneint!

Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,

Ist wert, dass es zugrunde geht;

Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.

So ist denn alles, was ihr Sünde,

Zerstörung, kurz, das Böse nennt,

Mein eigentliches Element.«

GOETHE, »FAUST«

Würden wir uns noch an Faust erinnern, wäre nicht Mephisto in sein Leben getreten? Wen interessierte Clarice Starling, wäre sie nicht ein bizarres Bündnis mit Hannibal Lecter eingegangen? Weshalb fasziniert uns der Räuber Karl Moor so viel weniger als sein – wenngleich noch hinterhältigerer – Bruder Franz? Warum lieben Generationen von Kinogängern den »Psycho« Norman Bates oder lassen sich faszinieren von seinem literarischen Verwandten Patrick Bateman – trotz dessen teuflischer Taten? Und weshalb lassen sich Leser so gnadenlos gern verführen von den vielen dämonischen Frauen, den Loreleys, Salomes oder Carmens, die den ihnen hörigen Männern Unglück bringen?

Die gleich beginnende Zeitreise durch Jahrhunderte der Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte zeugt von der Faszination des »Bösen«, dem Dichter und Künstler in ihren Werken gehuldigt haben – auch wenn die Widersacher der »Guten« am Ende nur selten den Sieg davontrugen. Verantwortlich hierfür waren meist gesellschaftlich-moralische Konventionen, die es nicht zuließen, den Intriganten zum Ziel kommen oder – im Fall des Kriminalromans – den Täter davonkommen zu lassen. Noch im Jahr 2012 erregte ein Kieler Tatort Aufsehen, weil der Mörder am Ende fliehen konnte; das zeigt, wie nachhaltig die unausgesprochene Regel ist, der »Böse« solle zwar die Fantasie des Lesers oder Zuschauers reizen, dürfe aber um keinen Preis zuletzt triumphieren.

Den Autoren ist bewusst, dass es eine Vielzahl von wissenschaftlichen, philosophischen und medizinischen Abhandlungen gibt, die das Phänomen des Bösen zu definieren und/oder zu ergründen versuchen. Gerade in den letzten Jahrhunderten, seit der Zeit der Aufklärung, haben sich die Maßstäbe in wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verschoben. Vor allem die Fortschritte in der Medizin und Psychologie machten es den – oft selbst ernannten – Richtern und Moralisten sehr viel schwerer, ein Urteil über jemanden so schnell und sicher zu fällen, wie es in der Vergangenheit üblich gewesen war. Die Taten eines Serienmörders wie Fritz Haarmann, um nur ein Beispiel zu nennen, verlieren nichts von ihrem Schrecken durch die posthume Entdeckung, dass der Täter an einer schweren Hirnhautentzündung erkrankt war – aber sie erscheinen doch in einem anderen Licht. Zumindest muss die Frage gestellt werden, ob sie auch ohne diese Erkrankung geschehen wären.

Erörterungen dieser Art werden im Folgenden nur punktuell vorgenommen, da über viele der fraglichen Fälle gleich mehrere Bücher geschrieben werden könnten und bereits geschrieben worden sind. 111 Gründe, das Böse zu lieben ist ein Buch, das den Leser unterhalten und neugierig machen soll. Im Idealfall kann es ihn dazu anregen, sich mit dem einen oder anderen der literarischen und filmischen Werke, die hier thematisiert werden, ein wenig ausführlicher zu beschäftigen. Denn natürlich kann man auf drei bis vier Seiten dicke Wälzer wie Dostojewskis Schuld und Sühne oder tausendfach interpretierte antike Epen wie die Odyssee nicht erschöpfend nacherzählen. Uns würde es jedoch freuen, wenn unsere Begeisterung für die vorgestellten Geschichten auf die Leser übergriffe.

Eine Bemerkung noch, bevor es losgeht: Nicht wenige Gründe sind historisch realen Personen gewidmet, deren Biografien Künstler zu ihren Werken inspiriert haben. Die realen Vorbilder, die Neros und Dschingis Khans ebenso wie die Messalinas oder Mata Haris, begingen Taten, vor denen man zurückschreckt. In manchen Fällen wurde ihr Leben durch die Kunst verklärt, sodass sie weniger schlimm erscheinen, als sie in Wahrheit waren; in anderen hingegen wurden ihnen Dinge angedichtet, die vermutlich auf Gerüchten und Verleumdungen basierten. Was wir über sie wissen oder zu wissen glauben, geht überwiegend auf die Legenden zurück, die sich um diese Personen gebildet haben. Wer der historischen Wahrheit näherkommen möchte, dem sei geraten, Biografien oder Abhandlungen über die Betreffenden zu lesen. Vielleicht bekommen ja einige Leser durch unsere Appetithäppchen auch darauf Lust.

Schließen wollen wir diese Vorbemerkungen mit einem Zitat des österreichischen Publizisten und Satirikers Karl Kraus, der seine Streitschrift Dritte Walpurgisnacht mit dem viel zitierten Satz »Mir fällt zu Hitler nichts ein« begann. In Wahrheit fiel ihm sehr viel ein, und so stellte er auf den folgenden Seiten seine Fassungslosigkeit darüber dar, dass die Nachbarn im Norden dem Wahnsinn der Nazipropaganda verfallen waren. Das war 1933, drei Jahre vor Kraus’ Tod. Die Ausmaße des Terrors und des Grauens, die noch folgen sollten, bekam er so nicht mehr mit. Über sie ist viel geschrieben worden, das zu lesen jedem dringend geraten sei. Ein Buch, das von der Faszination des Bösen handelt, die Künstler und ihre Rezipienten seit Jahrtausenden bezeugen, ist für dieses Thema jedoch nicht geeignet.

Kurt-J. Heering und Jo Müller

KAPITEL 1

DIE IKONEN DES BÖSEN

1. GRUND

Weil Faust ein langweiliger deutscher Wahrheitssucher geblieben wäre, hätte er nicht Mephisto getroffen

»Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. / Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als wie zuvor …«

Generationen von Schülern mussten diese und andere Verse aus Goethes Tragödie auswendig lernen, und noch heute geraten sie ins Schwitzen und Stöhnen, wenn ihnen in Klassenarbeiten oder Klausuren eine der zahllosen Sentenzen, die längst zu geflügelten Worten avanciert sind, zur Interpretation vorgelegt wird. Der Faust ist das wohl berühmteste Theaterstück in deutscher Sprache und eines der weltweit am häufigsten gespielten. Nicht wenige Schauspieler wurden durch eine Rolle in ihm zur Legende, jedoch nicht unbedingt durch die Darstellung der Titelfigur, sondern durch die ihres Widersachers, des bösen, hinkenden Teufels Mephisto. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Gustaf Gründgens oder, Jahrzehnte später im Kino, an Klaus Maria Brandauer, der auf unnachahmliche Weise zeigte oder zu zeigen versuchte, dass Gründgens den Mephisto nicht nur gespielt hatte, sondern in dieser Rolle aufgegangen war.

Ist es ein Zufall, dass der zynische Verderber Mephisto oft von Künstlern interpretiert wurde, die ihren Gegenpart, den »eigentlichen« Helden, an die Wand spielten? Eine Ironie des Schicksals, dass Johann Wolfgang von Goethe wider seine eigenen Absichten dem »Bösen« die bühnenwirksameren Auftritte verschaffte? Oder liegt es gar in der Natur der Sache, dass das Negative, das Verderben Bringende den Betrachter stärker fasziniert als das Gute – wenn auch meist unter der Voraussetzung, dass Letzteres am Ende doch noch triumphiert? Lassen sich Leser und Zuschauer von Schurken und Scheusalen gern die subversive Seite demonstrieren, die auch in ihnen selbst schlummert? Und dient das Scheitern dieser Antihelden ihnen zur Begründung und Bestätigung dafür, dass sie diese dunkle Seite nicht ausleben? Treiben die Bösewichte in Kunst und Literatur ihr Unwesen stellvertretend für alle, die diese Werke sehen oder lesen?

Welche Geschichte erzählt Goethes Tragödie – jenseits aller tiefgründigen philosophischen und moralischen Deutungen, die das Stück zum Liebling der Deutschlehrer machten? Der hochgelehrte und angesehene Doktor Faust gerät in eine Lage, die man heute als Sinnkrise bezeichnen würde. Die tiefgründigsten Studien der unterschiedlichsten Disziplinen münden für ihn in der niederschmetternden Einsicht, »dass wir nichts wissen können«: »Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen, / Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen; / Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, / Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel – / Dafür ist mir auch alle Freud entrissen, / Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen, / Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, / Die Menschen zu bessern und zu bekehren.«

In seiner Enttäuschung, ja Verzweiflung spielt er gar mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen; einzig das Glockengeläut zum Ostersonntag hält ihn davon ab. Am Tag darauf bekommt er Besuch vom Teufel höchstpersönlich, der dem Gelehrten in einer seiner putzigsten Verkleidungen begegnet: als schwarzer Pudel. Nach der Rückverwandlung in seine wahre Gestalt beginnt Mephisto mit seinem Teufelswerk, dem Versuch, eine Wette zu gewinnen, die er mit Gott geschlossen hat. Der Herr selbst hat ihm freie Hand gegeben, seinen »Knecht« Faust vom rechten Weg abzubringen – ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass dies seiner Ansicht nach misslingen wird.

Tatsächlich überredet der mit allen rhetorischen Wassern gewaschene Verführer das Versuchskaninchen zum Schluss eines Teufelspakts: Sollte es Mephisto gelingen, Faust einen Augenblick des Glücks zu bescheren, einen, in dem er sagt: »Verweile doch! du bist so schön!«, würde der Gelehrte ihm seine Seele überlassen.

Das Lockmittel ist, wie sollte es anders sein, eine schöne Frau. Selbstverständlich spielt der Teufel mit gezinkten Karten: Er gibt Faust einen Zaubertrank, der ihn nicht nur in einen um viele Jahre jüngeren, attraktiven Mann verwandelt, sondern zudem bewirkt, dass er weiblicher Schönheit in jeder nur denkbaren Ausprägung verfällt. »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe«, sagt der Teufel leise triumphierend zu sich selbst, nachdem Faust von dem Verderben bringenden Elixier getrunken hat.

Das von Mephisto ausersehene Opfer ist Gretchen, ein junges Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, das anfangs so gar nicht verstehen kann, weshalb der gut aussehende Faust, der seinem Auftreten nach ein Edelmann ist, ausgerechnet sie umgarnt. Verführt von seinen schönen Worten und kostbaren Geschenken, die ihm natürlich Mephisto beschafft hat, gibt Gretchen dem Werben Fausts schließlich nach. Das unstatthafte Verhältnis bleibt nicht verborgen. Gretchens Bruder, ein Soldat, stellt den Verführer nachts zur Rede und wird von ihm erstochen. Faust und Mephisto müssen daraufhin aus der Stadt fliehen. Bei einem Ausflug mit Mephisto in der Walpurgisnacht hat Faust auf dem Brocken Visionen, die ihm seine Geliebte in höchster Gefahr zeigen. Tatsächlich hat Gretchen ihr »in Schande« geborenes Kind getötet und wartet nun in einer kargen Zelle auf ihre Hinrichtung. Obwohl er als gesuchter Mörder Gefahr läuft, verhaftet und ebenfalls gerichtet zu werden, will Faust die dem Tode Geweihte retten. Gretchen jedoch, obwohl noch immer in Faust verliebt, übergibt ihr Schicksal in Gottes Hände. »Sie ist gerichtet!«, erklärt Mephisto und drängt Faust zur Flucht. Doch eine Stimme von oben widerspricht ihm: »Ist gerettet!« Den Kampf um diese Seele hat Mephisto verloren, wie es mit Faust enden wird, bleibt in »der Tragödie erstem Teil« offen.

Ohne jeden Zweifel lässt sich Goethes Werk nicht auf dessen bloße Handlung reduzieren. Doch unabhängig von all den tiefsinnigen Deutungen, die dieser Klassiker erfahren und heraufbeschworen hat, erscheint eine Frage nicht völlig aus der Luft gegriffen: Ist der Faust tatsächlich das Drama des Gelehrten, der einen Teufelspakt schließt, weil es ihm nicht gelingen will zu erkennen, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«? Zumindest im ersten Teil der Tragödie bleibt er bis zuletzt ein Spielball des Verführers Mephisto, der ihn mit immer neuen Tricks und Mittelchen von einer Missetat zur nächsten treibt. Zwar zeigt Faust hin und wieder Skrupel angesichts seines Handelns, doch fällt es Mephisto nicht sonderlich schwer, seinen aufkeimenden Widerstand zu brechen. Bis zuletzt behält er das Heft in der Hand, denn Faust ergreift mit ihm die Flucht, statt bei dem zum Tode verurteilten Gretchen zu bleiben. Allein über sie kann Mephisto keine Macht gewinnen, aber ihr Seelenheil ist auch nicht Gegenstand der Wette, die er mit Gott geschlossen hat.

Der Sachverhalt, dass die Darsteller des Mephisto oft größeren Ruhm erlangten als diejenigen der Titelfigur, lässt sich nicht allein durch den Hinweis auf die herausragenden Talente der jeweiligen Schauspieler erklären, sondern liegt in der Anlage der Antagonisten begründet: Mephisto nämlich setzt die eigentliche Tragödie in Gang und sorgt dafür, dass sie nicht zum Stillstand kommt. Ohne ihn und seine boshaft-zynischen Versuchungen wäre Faust nichts als ein zweifelnder, grüblerischer und irgendwie auch langweiliger Wahrheitssucher geblieben, der irgendwann vielleicht doch noch den Gifttrunk zu sich genommen hätte. Dass der Teufel letztlich sein Ziel (noch?) nicht erreicht hat, tut der Faszination, die dieser »Schurke« ausübt, keinen Abbruch. Aber bleibt nicht ohnehin von Beginn an fraglich, welches Ziel Mephisto in Wahrheit verfolgt? Stellt er sich doch selbst Faust vor als: »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«

2. GRUND

Weil Hannibal Lecter so faszinierend ist, obwohl kaum jemand eine Essenseinladung von ihm annehmen würde

Dr. Hannibal Lecter hat exzellente Manieren. Er ist gebildet, weltoffen und kultiviert – ein hochintelligenter Mann, in seinem Beruf eine Koryphäe und im Privatleben ein echter Gourmet. Weil sein Lieblingsgericht jedoch aus Menschenfleisch besteht, trägt er den Spitznamen »Hannibal the Cannibal«. Aber natürlich bereitet er seine Opfer nach allen Regeln der Kochkunst zu und serviert sie mit Stil. Am liebsten verspeist er Leber oder Nieren, manchmal auch das Gehirn. Ein diebisches Vergnügen bereitet es ihm, diese Leckereien bei einem gesellschaftlichen Dinner seinen High-Society-Gästen vorzusetzen, die natürlich nicht ahnen, was sie da gerade zu sich nehmen.

Der kannibalistische Serienkiller Dr. Lecter tötet, ohne dass sich sein Pulsschlag erhöht. Er mordet in bestimmten Fällen sogar, ohne direkt Hand an seine Opfer zu legen. Vielmehr bringt er sie dazu, das selbst zu tun, indem er in ihren Gehirnen so lange »herumwühlt«, bis er ihren wunden Punkt findet. Dann schlägt er gnadenlos zu. Einen seiner Patienten bringt er dazu, sich unter Drogeneinfluss sein eigenes Gesicht abzuschneiden und es an Hunde zu verfüttern.

Selbst als Hannibal Lecter schließlich überführt, festgenommen und verurteilt wird, verliert er nichts von seiner Gefährlichkeit. Obwohl er im Hochsicherheitstrakt sitzt und manchmal sogar eine Ledermaske übergestülpt bekommt, damit er nicht beißen kann, schafft er es doch immer wieder, Menschen in den Tod zu treiben oder seine Bewacher auszutricksen. Deshalb gelingt ihm schließlich auch die Flucht. Er entfernt einem getöteten Polizisten das Gesicht und setzt es sich auf, weshalb ihn niemand erkennt.

Ja, dieser Dr. Lecter ist ein echtes Monster. Aber eines, in dessen Kopf nicht nur Mordlust zu finden ist, sondern auch ein brillanter Geist. So wird er auch des Öfteren von der Polizei zurate gezogen, wenn es darum geht, andere Psychopathen dingfest zu machen.

Geistiger Vater dieses ebenso monströsen wie faszinierenden Killers ist der US-Schriftsteller Thomas Harris. Da sein literarisches Kind dermaßen erfolgreich die Nerven von Millionen Lesern zu kitzeln vermochte, machte er Dr. Lecter zum schaurigen Mittelpunkt einer ganzen Romanreihe.

Seinen ersten Auftritt hatte der »Feinschmecker« 1981 in Roter Drache. Darin wird geschildert, wie der hochintelligente Kannibale von dem FBI-Agenten Will Graham enttarnt wird. Dr. Lecter unterstützte den Ermittler zuvor bei der Jagd nach einem kannibalischen Mörder – der, wie sich schließlich herausstellt, niemand anderer war als er selbst.

Im späteren Verlauf seiner Geschichte hilft »Hannibal the Cannibal« dann sowohl Agent Graham bei der Jagd nach einem Serienkiller namens »Zahnfee«, der schlafende Familien heimsucht, als auch der FBI-Novizin Clarice Starling bei der Suche nach dem Psychokiller »Buffalo Bill«, der seinen Opfern die Haut abzieht und sich darin kleidet. Während ihrer gemeinsamen Arbeit kommen sich die FBI-Agentin und der Psychopath näher: Dr. Lecter findet Gefallen an ihr und scheint sich tatsächlich ein wenig in sie zu verlieben – ohne kannibalische Hintergedanken!

Am Ende von Das Schweigen der Lämmer (1988), seinem bekanntesten Auftritt, kann Dr. Lecter fliehen. In Hannibal von 1999 kehrt er unter dem Namen Dr. Fell als Museumskurator zurück. Ein korrupter Polizist kommt ihm auf die Spur und gibt die Information seiner wahren Identität gegen eine Belohnung an den schwerreichen Mason Verger weiter – jenen ehemaligen Patienten Lecters, der sein eigenes Gesicht verstümmelte. Verger will Dr. Lecter den Wildschweinen zum Fraß vorwerfen, doch die Agentin Starling rettet ihm das Leben. Sie wird bei diesem Einsatz allerdings schwer verletzt. Lecter pflegt sie gesund und am Ende des Buches sind die beiden ein Paar – in Ridley Scotts Verfilmung von 2001 wurde dieser Schluss jedoch geändert!

In dem 2006 folgenden Roman Hannibal Rising erzählt Thomas Harris die Vorgeschichte von Hannibal Lecter und nennt auch Gründe dafür, weshalb dieser zum kannibalischen Serienkiller wurde: Hannibal wächst während des Zweiten Weltkriegs als Spross einer angesehenen aristokratischen Familie in einer Burg in Litauen auf. Als die Nazis kommen, muss die Familie in ein Jagdhaus im Wald fliehen. Weil die Eltern bei einem Bombenangriff ums Leben kommen, bleibt der Junge allein mit seiner über alles geliebten kleinen Schwester Mischa. Doch eines Tages tauchen litauische Kollaborateure und Plünderer auf, bringen die Kinder in ihre Gewalt, töten Hannibals Schwester und essen sie. Das führt zu dem Kindheitstrauma, das den intelligenten Jungen in eine mörderische Bestie verwandelt.

Das Grundproblem bei dieser Durchleuchtung von Hannibals Vergangenheit ist allerdings, dass damit auch etwas zerstört wird. Ein Mythos wie Hannibal Lecter braucht das Geheimnis – ihn psychologisch zu erklären, wie es Harris versucht, muss letztlich scheitern. »Hannibal the Cannibal« verliert ohne sein Mysterium viel von seiner mörderischen Anziehungskraft.

Zweifelsohne war der Killer mit dem Superhirn schon als Romanfigur bekannt, aber erst die Verfilmungen machten ihn zur Gruselikone der populären Kultur. Während Michael Manns Blutmond mit Brian Cox als Dr. Lecter noch wenig erfolgreich war, wurde Jonathan Demmes Kinoadaption Das Schweigen der Lämmer von 1991 zum gigantischen Kassenschlager. Der immense Erfolg sorgte auch dafür, dass danach sämtliche Lecter-Bücher verfilmt wurden – immer mit demselben Hauptdarsteller: Anthony Hopkins. Nicht nur Demmes großartiger Inszenierungskunst ist es zu verdanken, dass der Serienkiller schließlich zum multimedialen Kultobjekt wurde, sondern auch der mit einem Oscar gekrönten Leistung von Hopkins. Dieser Star gab dem Bösen ein Gesicht und ist seither eng mit der Rolle verbunden. Für ihn ist Dr. Lecter jemand, der auf Messers Schneide lebt.

»Er ist selbstbewusst, gebildet, humorvoll«, meinte Hopkins in einem Interview. »Natürlich bin ich nicht einverstanden mit dem, was er macht, aber er ist einfach eine mystische Figur, vergleichbar zum Beispiel mit Shiva, dem Gott der Zerstörung und Wiedererschaffung.«

Zweifelsohne besitzt Hannibal Lecter für uns als Leser oder Zuschauer trotz seiner scheußlichen Taten eine gewisse Faszination.

»Niemand sollte irritiert sein«, so Hopkins weiter, »wenn er Hannibal trotz seiner Taten sympathisch findet. Wer das tut, ist einfach nur ehrlich. Wir haben alle Angst vor unserer Schattenseite. Und Hannibal verkörpert diese Schattenseite. Er steht für die verdrängte Dunkelheit in unserer Seele. Er ist da oben auf der Leinwand und wir sind fasziniert von ihm, weil wir uns in ihm wiedererkennen. Okay, natürlich bis auf die Sache mit dem Töten.«

3. GRUND

Weil uns immer wieder ein Schauer über den Rücken läuft, wenn Darth Vader zu Luke Skywalker sagt: »Ich bin dein Vater.«

Im Weltraum ist die Hölle los. Die Rebellen an der Seite von Prinzessin Leia liefern sich einen aussichtslosen Kampf mit der Stormtrooper-Übermacht des Imperiums. Ein wahres Lasergewitter zuckt durch die engen Gänge des Raumschiffs. Zwei Roboter, die goldene Quasselstrippe C-3PO und der piepsende Blechkasten R2-D2, bringen sich in einer Rettungskapsel in Sicherheit. Durch die vielen Explosionen an Bord erfüllen Rauch und Nebel die Luft.

Dann, mit einem Paukenschlag, betritt er den Schauplatz des Geschehens. Ehrfürchtig weichen die Sturmtruppenkrieger in weißer Schutzkleidung zur Seite und machen einem Wesen in Schwarz Platz. Ein unheimliches durchdringendes Schnaufen dringt aus seinem Innern, so als litte es unter kosmischem Asthma. Und wir spüren, dass mit diesem Kerl nicht gut Kirschen essen ist: skelettartiger Totenhelm, weiter schwarzer Mantel, auf seiner Brust eine Art maschineller Panzer, schwarze Handschuhe – dieser Mann findet das alles gar nicht lustig. Erst lässt er Prinzessin Leia gefangen nehmen, dann erstickt er beinahe – mit der puren Kraft seines bösen Geistes – einen Offizier aus den eigenen Reihen, weil der es wagte, das Wort gegen ihn zu erheben.

Darth Vader ist und bleibt zweifelsohne einer der faszinierendsten Bösewichte, die die Galaxis je gesehen hat. In George Lucas’ revolutionärem Science-Fiction-Meilenstein Krieg der Sterne von 1977 erblickte er das Licht der Leinwand: Ein neuer Megaschurke war geboren, einer mit mystischem Touch. Vielleicht war Lord Vader damals für die Star Wars-Fans der ersten Stunde sogar noch faszinierender als die Guten. Okay, der mufflige Meckersack Han Solo war schon ganz cool, auch Rauschebart Obi-Wan Kenobi hatte was und Prinzessin Leia mit ihrer Schneckennudelfrisur wirkte durchaus sexy auf adoleszente Gemüter. Aber gegen den dunklen, stets schlecht gelaunten Weltraumritter Lord Vader hatte keiner eine Chance. Seiner bösen Aura konnte niemand entkommen, selbst sein Jedi-Ziehvater Obi-Wan Kenobi nicht, den er im unvergesslichen Laserschwertduell besiegte. Wobei er allerdings nur einen Teilsieg erringen konnte, denn Obi-Wan lebte danach als Geist weiter und konnte so seinem Zögling Luke weiterhin die Kunst der Macht beibringen.

Darth Vader ist eine Art gefallener Engel: Zuerst stand der Jedi-Ritter auf der Seite des Guten und setzte seine metaphysischen Kräfte ein, um zu schützen und zu helfen. Dann jedoch ließ er sich von der dunklen Seite der Macht verführen und wurde zum Vasallen des Bösen. Auch wenn Vader, wie im ersten Film, wie ein Inbegriff des Bösen wirkt: Im Laufe der ersten Trilogie – Eine neue Hoffnung, Das Imperium schlägt zurück und Die Rückkehr der Jedi-Ritter – enthüllt Star Wars-Schöpfer George Lucas immer mehr von der tragischen Seite seiner Persönlichkeit.

Niemand, der damals, 1980, den zweiten Teil sah, wird jemals die legendäre Szene gegen Ende des Films vergessen, in der Vader unseren geliebten jungen Helden Luke Skywalker mit der schrecklichen Wahrheit seiner Abstammung konfrontiert: Die beiden kämpfen mit ihren Laserschwertern gegeneinander. Vader ist dabei, Luke zu besiegen; mit einem Streich schlägt er ihm die rechte Hand ab. Luke, der über einen Abgrund balanciert, versucht, sich an einem Pfeiler festzuhalten, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Dabei wird er mit der ganzen Wucht von Vaders böser Verführungskraft konfrontiert. Dieser bietet ihm an, mit ihm zusammen der Galaxis Frieden zu schenken. Als Luke sich vehement weigert, fragt ihn der abtrünnige Jedi-Ritter, ob Obi-Wan ihm jemals erzählt habe, was wirklich mit seinem Vater passiert sei. »Er hat mir gesagt, dass Sie ihn umgebracht haben«, schreit Luke voller Verzweiflung und Vader erwidert: »Nein, ich bin dein Vater.« Was für ein Gänsehautsatz! Vader war nie stärker als in diesem Moment.

Weil Lucas in seiner Weltraumsaga mit den Versatzstücken unzähliger Mythen und Religionen spielt, kann in Vader klar eine Art kosmischer Luzifer-Version gesehen werden. Was ihn so faszinierend macht: So, wie sein Handeln ein Geheimnis bleibt, bleibt auch sein Aussehen ein Rätsel, denn stets tritt er verhüllt und maskiert auf. Welche Gestalt sich unter der schwarzen Rüstung befindet, kann der Zuschauer nur erahnen. Und wenn im dritten Teil der ersten Trilogie kurz sein malträtiertes Gesicht zu sehen ist, dann wirkt das fast störend, weil entmystifizierend. Das Böse muss sein Geheimnis bewahren. Dieses zu lüften, ist vielleicht auch der grundlegende Fehler der neueren Trilogie. Darin wird ausführlich, bis ins Detail erzählt, wie aus dem liebenswerten Anakin Skywalker der fiese Darth Vader wurde. Aber wollten wir das wirklich so genau wissen? Wäre der galaktische Schurke nicht doch besser verhüllt, rätselhaft und ohne genaue Biografie geblieben? Und musste es unbedingt der blässliche Hayden Christensen sein, der den teuflischen Weltraumschurken in seiner Jugend verkörpert?

Immerhin, das sei Lucas zugestanden, hat seine zweite Trilogie durchaus tricktechnischen und erzählerischen Reiz. Das große Finale, Die Rache der Sith, besticht durch seine opernhafte Opulenz und seine wagnersche Dramatik. Dennoch hätten viele der älteren Fans sicher gern auf die Lösung des Rätsels um Anakin-Luzifers Fall verzichtet, um für immer das Bild des geheimnisvoll-bösen Darth Vader im Gedächtnis zu behalten.

4. GRUND

Weil Generationen in ihrer Kindheit mitträllerten, wenn jemand »Warte, warte nur ein Weilchen …« anstimmte

Generationen von Schülern trällerten diese Verse auf dem Pausenhof mit: »Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt Haarmann auch zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen / macht er Hackefleisch (manchmal hieß es auch Leberwurst) aus dir …« Gesungen wurde das Lied zu einer Melodie aus Walter Kollos Operette Marietta, die 1923 ihre Uraufführung erlebte – ein Jahr bevor Fritz Haarmann, der wohl bis heute berühmteste deutsche Serienmörder, in Hannover an der Leine verhaftet wurde.

Nach einem aufsehenerregenden Prozess, in dem man ihm über zwanzig Morde an jungen Männern, viele von ihnen aus dem homosexuellen Strichermilieu, nachweisen konnte, verhängte ein Schwurgericht in der niedersächsischen Stadt im Dezember 1924 das Todesurteil gegen Haarmann, das im April des folgenden Jahres vollstreckt wurde – auch weil der renommierte Göttinger Psychiater Ernst Schultze den Angeklagten in einem Gutachten für voll zurechnungsfähig erklärt hatte. Zweifel an der Schuldfähigkeit des Serienmörders bestanden allerdings schon damals und wurden nach seinem Tod erhärtet, als erneute Untersuchungen seines Schädels Hinweise auf eine Hirnhautentzündung ergaben, die sehr wahrscheinlich zu einer krankhaften psychischen Störung geführt hatte.

Zu den denkwürdigen Begleitumständen des Prozesses, die erheblich dazu beitrugen, das »Monster« Haarmann so überaus bekannt zu machen, gehörte auch die Offenlegung des Sachverhalts, dass der Angeklagte über Jahre hinweg als Polizeispitzel gearbeitet hatte. Natürlich war es da wenig verwunderlich, dass neutrale Beobachter Zweifel an der Nachhaltigkeit der Ermittlungen äußerten.

Für die Legendenbildung um Haarmann war jedoch ein anderer Punkt noch viel bedeutsamer: Der gelernte Kaufmann hatte unter anderem auch mit Fleischkonserven gehandelt, und da die Leichen seiner zahlreichen Opfer nie vollständig aufgefunden wurden und Haarmann etliche von ihnen ohne Zweifel zerstückelt hatte, kam rasch die Vermutung auf, er habe sie tatsächlich zu Wurst verarbeitet und an Fleischereien sowie Restaurants veräußert. Haarmann selbst gab das nie zu, doch die fantasiereichen anonymen Beobachter des Geschehens konnten auf ein solches Geständnis leicht verzichten. Und so dichtete der Volksmund Walter Kollos Verse vom Glück, auf das man nur ein Weilchen warten müsse, bis es mit Sicherheit zu einem komme, um und erweiterte sie wie folgt: »Aus den Augen macht er Sülze, / aus dem Hintern macht er Speck, / aus den Därmen macht er Würste / und den Rest, den schmeißt er weg.«

Die real nachweisbare Verbindung zwischen sexuell motivierten Lustmorden und Kannibalismus war hierzulande vor etwa zehn Jahren ein heißes Medienthema, als der Fall des sogenannten »Kannibalen von Rotenburg« verhandelt wurde: Der Täter wurde zunächst nur wegen Totschlags verurteilt, weil das Opfer seiner Tötung nach geplanten sexuellen Handlungen zuvor zugestimmt haben sollte. Später jedoch wurde der Schuldspruch korrigiert, weil psychologische Gutachten die Zurechnungsfähigkeit des Opfers infrage stellten, nicht aber die des Täters. Doch wie stark auch immer das öffentliche Interesse an diesem Fall gewesen sein mag: Kann man sich vorstellen, dass Armin Meiwes so bekannt werden könnte, wie es Fritz Haarmann ohne Zweifel ist? Eigentlich nicht.

Worin die besondere Popularität dieses Mehrfachmörders begründet ist, lässt sich im Endeffekt nur erahnen. Denn er war beileibe nicht der erste Serienkiller des letzten Jahrhunderts, auch nicht in Deutschland: Bereits 1920 war in Berlin Friedrich Schumann, der »Massenmörder vom Falkenhagener See«, wegen sechs nachgewiesener Morde zum Tode verurteilt worden; die Dunkelziffer seiner tatsächlich verübten Gewaltverbrechen ist bis heute ungeklärt.

Was die Zahl der Opfer betrifft, war Haarmann vermutlich nur »Zweiter«: Im Jahr 1922 hatte sich der Mörder mit den womöglich bis heute meisten Opfern – zumindest in Deutschland – kurz vor dem Urteilsspruch das Leben genommen. Carl Großmann aus Berlin stand zudem ebenfalls unter Verdacht, die von ihm Getöteten zu Wurst verarbeitet, selbst verspeist oder seinen Kunden an einem Wurststand am Schlesischen Bahnhof verkauft zu haben. Anders als der heute berühmtere Haarmann hatte Großmann jedoch vorwiegend im Rahmen des »normalen« Lustrauschs getötet – seine Opfer waren überwiegend Frauen, darunter eine große Zahl von Prostituierten.

Wirklich nachvollziehbar erklären lässt sich aber vermutlich nie, weshalb ausgerechnet Fritz Haarmann zum populärsten aller deutschen Serienmörder wurde. Vielleicht führte letztlich nur der Dumme-Jungen-Streich eines Pennälers dazu, der Walter Kollos Operettensong aus einer Laune heraus umtextete? Ausschließen lassen sich selbst solche Zufälle nicht.

Davon unabhängig bleibt indes eine andere Frage: Kann man Killer wie Fritz Haarmann und die anderen Genannten wirklich »lieben«? Jede andere Antwort als ein eindeutiges »Nein!« wäre fatal. Natürlich kann man Mörder und andere Scheusale nicht lieben, vor allem nicht, wenn sie nicht nur, wie so viele der Monster, Schurken und Scheusale, von denen in diesem Buch die Rede ist, von der Fantasie eines Künstlers geschaffen wurden, sondern wirklich existierten, wirklich ihr Unwesen trieben. Weshalb vermögen sie uns dennoch zu faszinieren?

Im Jahr 1931, ungefähr zehn Jahre nach der Verurteilung des ersten Serienkillers in Deutschland und zwei Jahre vor dem Beginn eines Grauens im Lande, gegen das Morde wie die, von denen bislang die Rede war, relativ unbedeutend anmuten, kam Fritz Langs M – eine Stadt sucht einen Mörder in die Kinos. Darin spielt der großartige Peter Lorre einen getriebenen Kindermörder, der schließlich von den Profigangstern der Weltstadt Berlin zur Strecke gebracht wird, weil sie durch den allgegenwärtigen Polizeieinsatz in ihren Geschäften beeinträchtigt werden. Am Ende steht er da, ein Häuflein Elend, das den professionellen Killern, Einbrechern und Betrügern nur entgegenzuhalten vermag, dass er nicht anders kann – im Gegensatz zu ihnen allen. Natürlich hilft ihm das nichts; erst durch die Kriminalpolizei wird er in letzter Sekunde vor der Lynchjustiz gerettet, um anschließend vor ordentlichen Gerichten sein Todesurteil anhören zu dürfen.

Fritz Langs Kinoklassiker basiert zu großen Teilen auf der Geschichte des Peter Kürten, der als »Vampir von Düsseldorf« bekannt wurde. Kürten ist heute nahezu vergessen, obwohl er in einem Song des US-Künstlers Randy Newman auftaucht und selbst Horrorstar Stephen King ihn in seinem Roman Brennen muss Salem erwähnt. An Fritz Haarmann dagegen erinnert man sich – zumindest im Volksmund, der noch heute skandieren kann: »Bald kommt Haarmann auch zur dir …«

Lieben? Na ja, höchstens verstehen können wir all diese Serienkiller aus Zeiten der Weimarer Republik, und das auch nur wegen Peter Lorre und seiner Interpretation des Hans Beckert – des böse-unschuldigen Mörders …

5. GRUND

Weil James Bond nie der beste aller Superagenten geworden wäre ohne Dr. No, Goldfinger und die anderen Bösewichte

Das Zimmermädchen fällt Bond in ihrer Unscheinbarkeit gar nicht auf, als sie den Raum betritt. Aber dann greift sie urplötzlich an. Es ist die bösartige russische Spionin Rosa Klebb. Sie lässt die versteckten Messer aus ihren Schuhen fahren und versucht, den Agenten Ihrer Majestät mit deren giftigen Spitzen zu treffen und vom Leben zum Tode zu befördern. Für 007 scheint wieder einmal das letzte Stündlein geschlagen zu haben. Doch im letzten Augenblick erschießt Klebbs Untergebene und Bonds Geliebte – die schöne Tatjana Romanova – das hinterhältige Miststück.

Wie in Liebesgrüße aus Moskau, wo 007 gerade noch einmal davonkommt, ist es auch in seinen anderen Kinoabenteuern, in denen die Bösewichte mehr sind als nur das Salz in der Suppe. Im Grunde gilt die Formel: je stärker Bonds teuflische Gegner, desto besser der Film.

Dabei durfte sich der schnieke britische Agent in seiner bislang fünfzigjährigen Leinwandkarriere mit allen Facetten des Bösen beschäftigen und gegen Schurken aller Couleur antreten. Diese sind zum Teil Handlanger großer Verbrecherorganisationen wie Rosa Klebb, die vor ihrem unrühmlichen Abgang in den Diensten von SPECTRE stand. Die Kernkompetenzen dieser Vereinigung: Terror, Spionage, Erpressung und Mord. Unvergesslich sind auch der fiese Beißer mit dem Stahlgebiss aus Der Spion, der mich liebte und Moonraker, Oddjob, der Mann mit dem tödlichen Stahlhut, aus Goldfinger oder der fiese Giftzwerg Schnick Schnack aus Der Mann mit dem goldenen Colt.

Sie alle sind aber nur so etwas wie Fußvolk, die gemeinen Soldaten, die von einem verbrecherischen Mastermind beauftragt werden. Sie müssen die Drecksarbeit machen, für die sich die Herren im Hintergrund zu fein sind. Die haben blendende Manieren, einen guten Geschmack (bis auf die Kleidung, die oft ziemlich furchtbar ausfällt!) und umgeben sich gern mit schönen Dingen. Ähnlich wie Bond frönen sie einer snobistischen Kultiviertheit und bevorzugen wohlgeformte junge Frauen an ihrer Seite. Viele dieser Gespielinnen verlieben sich freilich im Laufe der Handlung in den smarten britischen Spion, weshalb sie das Ende des Films meist nicht mehr miterleben dürfen.

Einige der Schurken wirken wie bösartige Zerrbilder von 007, wie dessen Mr.-Hyde-Versionen. Bond hat es mit durchgeknallten Milliardären, wahnsinnigen Wirtschaftsbossen, bösartigen Drogenbaronen oder »ganz normalen« Psychopathen zu tun. In seinem von Sam Mendes brillant inszenierten jüngsten Abenteuer Skyfall kämpft er gegen Raoul Silva, einen ehemaligen Kollegen, wie sich herausstellt. Silva war einst ebenfalls Mitarbeiter des MI6. Er will sich nun an Bonds Chefin M rächen, die ihn bei einem Auftrag im Stich ließ. Der von Javier Bardem mit flippiger Bösartigkeit gespielte Schurke wirkt wie eine Art spanische Version von Hannibal Lecter; er kennt weder Beißhemmung noch Gnade. Natürlich bezahlt er – wie alle seine Vorgänger – am Ende mit seinem Leben, nicht aber, ohne die von Bond verehrte M mit in den Tod zu reißen. Das ist sicher einer der tragischsten Momente der modernen Bond-Geschichte.

Einer der großartigsten Mistkerle, gegen die 007 antreten muss, ist der von dem deutschen Starmimen Gert Fröbe verkörperte Auric Goldfinger. Der hat zwar keine Welteroberungspläne, aber einen gehörigen Goldtick. Er beabsichtigt, die Goldreserven von Fort Knox atomar zu verseuchen, woran Bond ihn aber hindern kann. Was der ansonsten zuverlässige Agent indes nicht zu verhindern vermag, ist der grauenvolle Tod der zauberhaften Jill Masterson. Die steht eigentlich in Goldfingers Diensten, lässt sich aber von dem smarten Aufreißer mit der Lizenz zum Töten verführen. Ihr Boss lässt sie daraufhin mit Gold überziehen und sie stirbt einen qualvollen Erstickungstod. Zur Strafe findet der Schurke seinerseits ein äußerst stilvolles Ende: Goldfinger hat Bond in eine Falle gelockt und steht ihm in einem Kleinflugzeug mit einer Pistole gegenüber. Im folgenden Kampf löst sich ein Schuss. Ein Fenster zersplittert und der Widersacher von 007 wird durch die Kraft der ausströmenden Luft aus der Öffnung geschleudert.

Aber egal ob Dr. No oder Le Chiffre, Dr. Kananga oder Karl Stromberg – keiner von ihnen ist so dauerhaft böse zu 007 wie Ernst Stavro Blofeld, einer der wenigen Teufel in Menschengestalt, die den Agenten über mehrere Filme hinweg verfolgen. Seinen ersten Auftritt hat er bereits im zweiten Bond-Film, Liebesgrüße aus Moskau. Da sind aber nur seine Hände zu sehen, wie sie das Fell einer weißen Perserkatze streicheln, was später zu seinem Markenzeichen wird – ebenso wie der Ring seiner Organisation SPECTRE mit dem Oktopussymbol.

Blofeld hängt sich wie eine böse Zecke an Bonds schicke Anzüge und ist einfach nicht abzuschütteln. Er sorgt auch im Film Im Geheimdienst Ihrer Majestät für den tragischsten Augenblick der 007-Historie: Bond hat gerade seine geliebte Tracy geheiratet und ist mit ihr unterwegs in die Flitterwochen. Glücklich fahren die beiden in ihrer Hochzeitskarosse über Serpentinen. Der frisch Getraute stoppt das Fahrzeug, um es von dem üppigen Blumenschmuck zu befreien. Da nähert sich von hinten ein anderes Auto. Schüsse peitschen durch die Luft. Bond rappelt sich unverletzt auf, aber seine Frau ist tot. Blofeld hat sich dafür gerächt, dass 007 ihm wieder einmal die Tour vermasselt hatte.

Der glatzköpfige Kojak-Darsteller Telly Savalas verlieh dieser Figur eine geradezu diabolische Dimension. Kein Blofeld-Mime vor oder nach ihm konnte ihm das Wasser reichen. Der Schurke selbst fand im Übrigen einige Jahre später doch noch sein gerechtes Ende: In dem Streifen In tödlicher Mission wird der im Rollstuhl Sitzende von Bond-Darsteller Roger Moore auf die Kufen eines Helikopters genommen und in einen Schornstein geschmissen.

6. GRUND

Weil der »unverwundbare« Siegfried ohne den Verräter Hagen von Tronje nie zum Mythos der Deutschen geworden wäre

Auf den ersten Blick scheint die Rollenverteilung im Nibelungenlied, dem berühmtesten Heldenepos der Deutschen, eindeutig zu sein: Den Part des Bösen übernimmt der feige Mörder Hagen von Tronje. Nur durch dessen hinterhältigen Verrat kann der Recke Siegfried, der heldenhafte Drachentöter, bezwungen werden. Zuvor entlockte Hagen Kriemhild, der Gemahlin des Helden, auf arglistige Weise das Geheimnis von dessen Verwundbarkeit: die Stelle auf dessen Schulter, die von einem herabgefallenen Lindenblatt bedeckt worden war, als Siegfried im Blut des von ihm bezwungenen Drachen gebadet und sich so eine undurchdringliche Hornhaut zulegt hatte. Einzig an dieser Stelle ist er verwundbar, und dieses Wissen nutzt Hagen aus.

Waren es jedoch nur niedere Beweggründe, die Hagen zu seiner Tat trieben? Der Neid auf den strahlenden Helden? Oder gar Habsucht, die Gier nach den sagenumwobenen Reichtümern, die der blonde Recke im Verlauf seiner früheren Abenteuer erworben hatte? So wurden die Ereignisse in dem Epos oft gedeutet, aber es hat seit jeher auch Stimmen gegeben, die den »Verräter« als einen getreuen Gefolgsmann seines Königs bezeichneten, der in dessen und dem Interesse seines Reiches handelte.

Ein kurzer Blick auf die wichtigsten Handlungsstränge in dieser vielschichtigen Heldendichtung kann hier vielleicht ein wenig Licht ins Dunkel bringen: Siegfried, der Sohn des Königs von Xanten, kommt an den Hof des mächtigen Königreichs der Burgunder, um die schöne, aber unnahbare Kriemhild zu freien, die Schwester des Königs Gunther. Hagen von Tronje, Onkel und engster Vertrauter des Herrschers, ist der Einzige, der den Besucher erkennt, obwohl dieser seinen Namen nicht verrät. Auch weiß er von dessen Unverwundbarkeit und unvorstellbaren Reichtümern, einschließlich des sagenhaften Schatzes der Nibelungen, den Siegfried dem Zwerg Alberich ebenso abgerungen hat wie die Tarnkappe, die ihren Träger unsichtbar macht. Hagen rät, den Recken freundlich aufzunehmen und ihm Gastfreundschaft zu gewähren.

Über ein Jahr verweilt Siegfried am Hof, ehe er Kriemhild erstmals zu Gesicht bekommt. Die hat ihn bei Ritterspielen beobachtet und sich in den stets Siegreichen verliebt. Eine Vermählung der beiden soll aber erst dann vollzogen werden, wenn auch König Gunther eine Braut gefunden hat. Seine Wahl fällt auf Brünhild, die Herrscherin von Island, die bislang allerdings alle Männer getötet hat, die um sie warben. Solange sich Brünhild ihre Jungfräulichkeit bewahrt, verfügt sie über magische Kräfte, denen niemand gewachsen ist. Ihre Bedingung für eine Vermählung besteht darin, dass der Künftige sie in drei Wettkämpfen bezwingt – dann würde sie sich ergeben, anderenfalls jedoch habe der Freier sein Leben verspielt.

Mithilfe seiner Tarnkappe gelingt es Siegfried, der vorgeblich ein Gefolgsmann des Königs der Burgunden ist, Brünhild zu bezwingen und dabei den Anschein zu erwecken, dies sei Gunthers Verdienst. Anschließend wird in Worms eine Doppelhochzeit gefeiert, bei der Brünhild allerdings Verdacht schöpft: Weshalb gibt Gunther seine Schwester einem Vasallen zur Frau? In der Hochzeitsnacht verweigert sie den Beischlaf und kann erst in der folgenden Nacht von Gunther entjungfert werden – mithilfe des abermals unsichtbaren Siegfried. Der entwendet ihr Ring und Gürtel und gibt beide Beweisstücke seiner Frau, um zu belegen, was er in der Nacht zuvor für ihren Bruder getan hat.

Jahre später werden Siegfried und Kriemhild wieder nach Worms eingeladen. Die immer noch zweifelnde Brünhild fordert ihre Schwägerin heraus: Bei der bevorstehenden Messe sei es der ranghöheren der beiden Frauen vorbehalten, als Erste das Münster zu betreten. Kriemhild lässt sich nicht einschüchtern und brüskiert ihre Konkurrentin, indem sie das strittige Vorrecht für sich in Anspruch nimmt. Am Tag darauf verrät sie Brünhild das Geheimnis jener zweiten Nacht nach der Hochzeit und legt zum Beweis ihrer Aussagen die von Siegfried entwendeten Schmuckstücke vor.

Hagen von Tronje fasst daraufhin den Entschluss, die Demütigung seiner Herrin zu rächen. Unter allerlei Vorwänden wird Siegfried in die Falle gelockt. Ausgerechnet Kriemhild verrät dem Vertrauten ihres Bruders, an welcher Stelle seines Körpers der Held verwundbar ist – Hagen überredete sie dazu, indem er vorgab, Siegfried so im Falle einer Gefahr besser schützen zu können.

Während einer Jagd schreitet der Verräter zur Tat: Um seinen Durst zu löschen, trinkt Siegfried aus einer Quelle – nicht, ohne Gunther den Vortritt gelassen zu haben – und wird dabei hinterrücks von Hagen ermordet. Kriemhild ahnt zwar, dass ihr Mann nicht von Räubern getötet wurde, kann dies aber nicht beweisen. Sie lässt sich sogar dazu überreden, den Schatz der Nibelungen nach Worms bringen zu lassen. Hagen erkennt jedoch bald, dass sie die Reichtümer nutzt, um Vasallen an sich zu binden. Da er Kriemhilds Rache fürchtet, lässt er den angeblich mit einem Fluch belegten Schatz im Rhein versenken.

Tatsächlich ist die Frage nach dem oder den Schuldigen in dieser Geschichte nicht so einfach zu beantworten. Auslöser des mörderischen Endes war letztlich die Streitsucht der Königinnen. Siegfried selbst war zumindest mitverantwortlich für das Geschehen, da er seiner Frau Beweise für den zweiten Betrug an Brünhild lieferte. Gunther wiederum deckte die Taten seines Gefolgsmannes und machte sich so des wiederholten Betrugs und Verrats schuldig. Das alles ändert jedoch nichts daran, dass Hagen von Tronje für die Hörer und Leser des Nibelungenliedes zum Inbegriff des von Missgunst und Neid getriebenen hinterhältigen Verräters und Mörders wurde. Der legendäre Ruhm seines Opfers hingegen vergrößerte sich durch die feige Tat noch: Im Gedächtnis des Volkes wurde der Drachentöter zur Ikone des reinen, unschuldigen Superhelden, der nur durch Heimtücke zu Fall gebracht werden konnte.

Hagen, Gunther, dessen Brüder und Vasallen blieben übrigens nicht ungestraft. Davon erzählt der zweite Teil des Epos. Kriemhild ist inzwischen mit König Etzel, auch als mythischer Hunnenherrscher Attila bekannt, vermählt. Sie lockt ihre Verwandtschaft an dessen Hof und lässt sie nach und nach niedermetzeln. Am Ende bleibt nur noch Hagen übrig und wird von der Witwe Siegfrieds eigenhändig enthauptet. Damit ist auch ihr Schicksal besiegelt, denn als Frau ist es Kriemhild nicht gestattet, einen Kämpfer zu richten – zumindest nicht im germanischen Heldenepos.

7. GRUND

Weil Salome zwar für den Tod des Täufers verantwortlich war, ihr aber dennoch jeder gern beim »Tanz der sieben Schleier« zusehen würde

»Ach! Ich habe deinen Mund geküsst, Jochanaan, ich habe deinen Mund geküsst. Es war ein bitterer Geschmack auf deinen Lippen. War es der Geschmack von Blut? … Aber vielleicht schmeckt so die Liebe. Es heißt, die Liebe habe einen bitteren Geschmack …«

Die Szene gehört zu den schaurigsten der Theatergeschichte: Im Liebesrausch küsst die Titelfigur von Oscar Wildes Drama Salome die Lippen eines Mannes, dessen abgeschlagener Kopf ihr auf einem silbernen Schild überbracht wurde. Sterben musste er, weil er ihre Liebe verschmäht hatte. Ohne Erbarmen bestand sie auf dieser Belohnung für den atemberaubenden »Tanz der sieben Schleier«, mit dem sie ihren Stiefvater in Verzückung versetzt hatte. Jeden Wunsch hatte der ihr zu erfüllen versprochen, »und sei es die Hälfte meines Königreichs«.

Das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Stück geht zurück auf die biblische Erzählung vom Tode Johannes des Täufers. Der hatte sich den Zorn des judäischen Herrschers Herodes zugezogen, weil er dessen Eheschließung mit Herodias, der Frau seines eigenen Bruders, öffentlich geißelte. Wie das Markusevangelium erzählt, ereignete sich das grausige Geschehen auf einer Geburtstagsfeier des Tetrarchen, auf der die Tochter der Herodias für ihn und seine Gäste tanzte. Den Wunsch, den sie dafür frei hatte, soll ihr die Mutter eingeflüstert haben – in unbändigem Hass auf den Prediger und seine öffentlichen Schmähungen ihrer Heirat. Der Name Salome wurde erst Jahrhunderte später mit dieser Tat verknüpft; von einem Racheakt aus verschmähter Liebe war bis zu Oscar Wildes Version nirgendwo zu lesen.

Geschichtlich ist schon die biblische Erzählung fragwürdig oder zumindest unvollständig. Historiker gehen eher davon aus, dass Herodes den Täufer hinrichten ließ, weil er einen Aufstand von dessen Anhängern unterbinden wollte, während er gleichzeitig einen Krieg gegen Aretas IV., den König der Nabatäer, führen musste. Aretas war der Vater der ersten Ehefrau von Herodes, die dieser zugunsten Herodias’ verstoßen hatte.

Im 19. Jahrhundert zählte die Geschichte zu den beliebtesten biblischen Motiven in Kunst und Literatur. Vor Oscar Wilde hatten neben anderen bereits Gustave Flaubert und Stéphane Mallarmé den Stoff literarisch bearbeitet und Künstler wie Gustave Moreau Gemälde zu diesem Thema geschaffen. Aubrey Beardsley steuerte dann die berühmten Illustrationen zu Wildes Drama bei.

Besonderes Augenmerk legten die Künstler und Dichter des Symbolismus und Fin de Siècle auf den erotischen Aspekt von Salomes Tanz. Bei Oscar Wilde gibt es nur die lakonische Regieanweisung: »Salome tanzt den Tanz der sieben Schleier« – ein Satz, der in den Köpfen der damaligen Leser mit Gewissheit äußerst sinnlich-laszive Bilder auslöste. Denn natürlich gehörte es zum Wesen des Schleiertanzes, dass die Tänzerin sich der Stoffe, die ihren Körper verhüllten, nach und nach entledigte.

So wurde Salome spätestens durch Oscar Wilde in zweifacher Hinsicht zum Sinnbild der Gefahren, die von verführerischer weiblicher Schönheit ausgehen: Herodes’ Begehren, seine Stieftochter derart tanzen zu sehen, verleitete ihn zu einem Versprechen, dessen Einlösung ihm Horrorvisionen bereitete. Und Johannes beziehungsweise Jochanaan musste sterben, weil er nicht wissen konnte oder wollte, wie leicht sich der Liebesrausch einer Frau in einen Blutrausch verwandeln kann. Dass in solchen Deutungen des biblischen Stoffs typische zeitgenössische Männerängste zum Ausdruck kamen, dürfte mehr als wahrscheinlich sein. Der Faszination, die von Wildes Salome ausgeht, tut das jedoch keinen Abbruch.

Am Ende des Dramas lässt Herodes die vom Liebeswahn Befallene durch seine Schergen töten. Das weitere Schicksal der biblischen Salome ist nicht bekannt – aber wie schon erwähnt: Die Tochter der Herodias bleibt im Evangelium namenlos.

8. GRUND

Weil die ewige Wiederkehr des Teufels Literatur, Kunst und Film unendlich bereichert hat

Was haben Jack Nicholson, Robert De Niro, Roberto Benigni, Al Pacino, Elizabeth Hurley und Tom Waits – um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen – gemeinsam, abgesehen davon, dass sie zu den berühmtesten Stars der letzten Jahrzehnte zählen? Nun, sie alle haben im Laufe ihrer Karrieren mindestens einmal den Teufel dargestellt, das Böse schlechthin. Damit stehen sie in einer langen Liste von prominenten Mimen, die auf der Leinwand ihre diabolische Seite ausleben konnten, denken wir nur an die Mephisto-Darsteller Emil Jannings, Gustaf Gründgens und Klaus Maria Brandauer.

Bisweilen muss der Teufel nicht einmal in persona auftreten und befördert dennoch Karrieren, wie etwa die von Sissy Spacek, die als Carrie – Des Satans jüngste Tochter (1976) bekannt wurde, oder die von Mia Farrow, die auf der Leinwand selten so glänzte wie 1968, als sie in Rosemaries Baby ein Kind vom Teufel erwartete (siehe 107. Grund). Die damals 14-jährige Linda Blair schließlich wurde als von teuflischen Dämonen besessenes Mädchen 1973 in Der Exorzist gleich mit ihrer ersten Rolle zum Weltstar; dass es dabei im Großen und Ganzen blieb, steht auf einem anderen Blatt.

Wahrscheinlich wäre es ein Leichtes, 111 Gründe, den Teufel zu lieben, aufzulisten – und man müsste selbst dann noch den Anspruch auf Vollständigkeit aufgeben. Literatur- und Kunstgeschichte wurden über die Jahrtausende hinweg ebenso durch ihn bereichert wie das Kino in seiner ungefähr 120-jährigen Geschichte. Lang ist die Liste der Namen, unter denen er die Menschheit – wirklich oder angeblich – gequält und versucht hat, schier unüberschaubar diejenige der Gestalten, in die er sich zu verwandeln vermag. Käme er immer als Gehörnter mit dämonisch verzerrter, hässlicher Fratze daher, wäre seine Verführungskraft sicher nicht annähernd so stark, wie sie es stets von Neuem ist.

Der bereits erwähnte Mephisto (1. Grund) leidet unter dem Makel eines Hinkebeins, ist aber allemal charmant genug, um die Kupplerin Marthe zu verführen. Wie wir noch mehrfach sehen werden, bedient er sich mit Vorliebe weiblicher Reize, um grundsätzlich lüsterne – heute würden wir direkter sagen: geile – Männer auf seine Seite zu ziehen. Dabei macht der Böse auch vor frommen Mönchen wie Ambrosio und Medardus (siehe 18. Grund) nicht halt – und gerade sie zeigen sich besonders schnell bereit, ihre Zelle mit einer Schönen zu teilen.

Die geläufigsten Bezeichnungen für den Teufel sind »Satan«, »Luzifer« oder allgemein »der Widersacher«, doch weiß auch bei »Mephisto« oder »Beelzebub« jeder sofort, von wem die Rede ist. Das Alte Testament benannte keinen von ihnen eindeutig als Teufel; das geschah erst später, im Neuen Testament und mehr noch in den Deutungen der Kirchenväter und anderer Exegeten. Vor allem der Name Luzifer ist zunächst positiv besetzt, er steht für »Lichtbringer«. Luzifer war ursprünglich ein Engel, der sich jedoch gegen Gott erhob und erst durch diese Abkehr zur Inkarnation des Bösen wurde. Also war er einst mit dem Göttlichen beziehungsweise dem Guten verbunden, war das eine ohne das andere nicht vorstellbar. Radikal dualistische Unterscheidungen zwischen Gut und Böse sind jedoch charakteristisch für die Weltreligionen, die aus einem gemeinsamen mythologischen Erbe hervorgingen.

Psychologisch oder gar psychoanalytisch geprägte Leser der Gegenwart haben aus verständlichen Gründen weniger Probleme anzuerkennen, dass Gut und Böse oder Göttlich und Teuflisch letztlich nur zwei Seiten einer Medaille sind und das eine so gut zur menschlichen Natur gehört wie das andere. Für Menschen des Mittelalters sah das jedoch ganz anders aus. Selbst noch zu Goethes Zeiten war es meist den Künstlern vorbehalten, den ewigen Zwiespalt, in dem sich der Mensch befindet, zu erkennen und zu akzeptieren: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, sagt Faust, wohl wissend, dass sein Leben am Galgen enden könnte, würde er der zweiten Seele gehorchen.

Aus guten Gründen hat sich bis heute nichts daran geändert, dass Morde bestraft werden, nur dass in den meisten aufgeklärten westlichen Gesellschaften der Galgen durch die Sicherheitsverwahrung ersetzt wurde. Zuvor gab es nur Entweder-oder, Himmel oder Hölle. Goethe selbst bewegte sich an der Grenze: Im Faust zeigte er die »Kindsmörderin« Margarete als Opfer einer teuflischen Verführung, doch als Minister am Weimarer Hof stimmte er dem Todesurteil für eine reale Täterin zu – zähneknirschend zwar, aber er sagte nicht Nein.

9. GRUND

Weil Mary Shelley eine Ikone des Bösen schuf, die zugleich eine Warnung vor menschlicher Hybris darstellt

Was wären Literatur und Kino ohne künstlich geschaffene Menschen? Oft genug in den letzten Jahrzehnten mochte man glauben, dieses Motiv sei endlich ausgereizt, es gebe darüber nichts Neues mehr zu erzählen. Doch weit gefehlt: Immer wieder versuchen sich Autoren und Regisseure an dem beliebten Sujet und finden mal originelle, mal auch abgedroschene Ansatzpunkte für ihre Aufbereitungen des Themas. Die rasante Entwicklung der Gentechnik in den letzten Jahrzehnten lässt mit Blick auf die mögliche künstliche Zeugung von Lebewesen so manches als vorstellbar erscheinen, was vor nicht allzu langer Zeit noch als Fantasterei angesehen werden musste – ob jedoch die Bezugnahme auf modernste wissenschaftliche Erkenntnisse künstlerische Werke von ähnlicher Kraft wie die der Vergangenheit hervorbringt, bleibt abzuwarten.

Obwohl es Geschichten von Homunkuli, dem Golem, Alraunen und anderen künstlich geschaffenen Wesen seit jeher gab (siehe Kapitel 8), ist das bekannteste von ihnen ein Kind der Schwarzen Romantik, genauer gesagt der Gothic Novel des 19. Jahrhunderts: 1818 erschien der Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus von Mary Shelley, dessen Titelfigur geradezu zum Synonym des Typus Monster wurde. Fälschlicherweise, denn Frankenstein heißt nicht das Monster, sondern dessen Schöpfer Viktor Frankenstein, ein junger Mann, der sich schon in früher Jugend für alchemistische Schriften interessiert.

Frankenstein geht an die renommierte Universität von Ingolstadt, wo er sich noch intensiver mit den Werken seiner Vorbilder beschäftigt. Schon bald ist er davon überzeugt, einen »neuen Menschen« erschaffen zu können, und beginnt fieberhaft mit den Vorbereitungen. Durch einige Unachtsamkeiten bei der Zusammensetzung der Materialien missrät ihm sein Werk – als er den Riesen von ausgeprägter Hässlichkeit sieht, läuft er erschrocken davon.

Das zum Leben erweckte Geschöpf ahnt indes nichts von seinem schrecklichen Aussehen und reagiert deshalb erstaunt auf die Furcht, die es jedem einflößt, dem es begegnet. Da es nirgendwo Zuneigung erfährt, wird es zum Mörder von Viktors Bruder. Sein Schöpfer ahnt dies sofort, obwohl jemand anderes als vermeintlicher Täter hingerichtet wird.

Bei verzweifelten Ausflügen in die Einsamkeit trifft Frankenstein schließlich auf seine Kreatur, die bei einer Bauernfamilie sprechen gelernt hat. Obwohl das riesenhafte Wesen diesen Menschen bei der Arbeit half, flohen sie entsetzt vor ihm, nachdem es sich offenbart hatte. Um endlich einmal Liebe und Zuneigung zu erfahren, bittet das »Monster« seinen Schöpfer, ihm eine Gefährtin zu schenken, mit der es zusammenleben könne.

Tatsächlich gibt Frankenstein diesem Begehren nach und erschafft einen weiteren künstlichen Menschen. Kurz vor dessen Fertigstellung überkommen ihn allerdings Skrupel. Er zerstört das zweite Wesen und flieht.

Nachdem er sich von den schrecklichen Ereignissen erholt hat, will Frankenstein ins bürgerliche Leben zurückkehren und seine Verlobte heiraten. Sein vereinsamtes Geschöpf erfährt jedoch davon und rächt sich, indem es die Braut in der Hochzeitsnacht tötet und danach flieht. Viktor Frankenstein nimmt die Verfolgung auf, wild entschlossen, sein Werk ein für alle Mal zu zerstören, ehe es weiteres Unheil anrichten kann. Die Spur führt in die Arktis, wo der völlig erschöpfte Wissenschaftler schließlich zusammenbricht und von der Besatzung eines Schiffes aufgenommen wird, dessen Kapitän Robert Walton eine Passage zum Nordpol sucht. Ihm erzählt Frankenstein seine Geschichte, bevor er stirbt. Wie Walton notiert, hatte das »Monster« seinerseits die Spur seines Schöpfers aufgenommen, den es nun tot sah. Daraufhin habe sich das endgültig vereinsamte Wesen im ewigen Eis selbst das Leben genommen.

Bereits 1931 entdeckte Hollywood die Romanvorlage für sich; Boris Karloff wurde durch die Rolle des »Monsters« zur Legende. In den Jahrzehnten darauf gab es immer wieder neue Versionen, die sich allerdings weiter und weiter von der Originalgeschichte entfernten und den Akzent mehr und mehr auf die Horrorelemente legten. Erst der Film von Kenneth Branagh aus dem Jahr 1994 mit Robert de Niro als Frankensteins Geschöpf hielt sich wieder an Shelleys Erzählung und versuchte, deren eigentlicher Absicht gerecht zu werden: die teuflischen Versuche Viktor Frankensteins als Ausdruck einer verwerflichen Hybris des Menschen zu entlarven, der glaubt, in die göttliche Schöpfung eingreifen zu können. Zudem widerfährt auch dem »Monster« Gerechtigkeit – denn böse ist es nicht von Beginn an, sondern wird es erst infolge andauernder Zurückweisung durch seinen Schöpfer und dessen Artgenossen.

Jenseits aller moralischen Wertungen jedoch war und ist Mary Shelleys Werk ein spannender Roman, der auch heutige Leser noch zu fesseln vermag.

10. GRUND

Weil die Geschichte von Al Capone belegt, dass selbst Finanzbehörden das Böse bezwingen können

Fragt man nach Inkarnationen des Bösen im zurückliegenden 20. Jahrhundert – und wir meinen hier aus den eingangs erwähnten Gründen nicht Hitler oder Stalin, Pol Pot oder Osama bin Laden –, dann stößt man fast zwangsläufig auf einen Namen, der mittlerweile zum Synonym des modernen Verbrechers schlechthin geworden ist: Al Capone!

Der im Januar 1899 als Sohn italienischer Einwanderer in Brooklyn geborene Gangster erreichte eine Popularität wie kein zweiter Gesetzloser des letzten Jahrhunderts. Dabei währte seine »Karriere« gerade einmal zwölf, im engeren Sinne sogar nur fünf Jahre. Doch die hatten es in sich – und Al Capone war in vielerlei Hinsicht ein Vorreiter dessen, was heute als »organisierte Bandenkriminalität« bekannt ist.

Begonnen hatte er seine Laufbahn wie so viele seiner »Kollegen« als Nachwuchsgangster in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in New York – als Handlanger eines der vielen Gangleader, die sich damals mit Schutzgelderpressung, Prostitution und Ähnlichem ein Vermögen schufen. Bei einer Auseinandersetzung mit dem Gangster Frank Galluccio zog sich Capone 1917 die legendären Narben im Gesicht zu, die ihm den Spitznamen »Scarface« eintrugen. Diese Bezeichnung sollte später der Titel gleich mehrerer Filme werden, die Capone auf der Leinwand verewigten. Nach eigener Aussage handelte es sich bei den Narben um eine Kriegsverletzung – dummerweise hatte Al Capone aber nie Dienst in der U. S. Army geleistet.

Nach seinem ersten Mord und dem Konflikt mit einem irischen Mobster wurde der Nachwuchsgangster von seinem Boss nach Chicago geschickt. Dort begann nun endgültig sein Aufstieg zur Legende – im Zeitalter der Prohibition, des Alkoholverbots, das in den USA von 1919 bis 1933 währte. In diesen Jahren wurde geschmuggelt, schwarzgebrannt und gepanscht, wann und wo immer es nur ging. Und die Händler und Panscher, die sich nicht erwischen ließen, häuften ungeheure Reichtümer an.