111 Gründe, den 1. FC Union Berlin zu lieben - Frank Nussbücker - E-Book

111 Gründe, den 1. FC Union Berlin zu lieben E-Book

Frank Nussbücker

4,8
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Andere Vereine haben ihre Fans, bei Union Berlin haben die Fans einen Verein. Mehrfach retteten sie durch spektakuläre Aktionen dessen Existenz. Ein Union-Fan konzipierte den Neubau des Stadions, Fans bauten es mit ihrer Hände Arbeit auf, finanzierten die neue Haupttribüne mit. Ein Union-Fan sitzt auf dem Präsidentensessel, andere arbeiten in der Geschäftsstelle, wieder andere drehen Filme, schreiben Songs, Storys oder ein Theaterstück über ihren Verein. Mittlerweile gehört auch Unions Seele, das legendäre Stadion An der Alten Försterei, niemand anderem als den Fans. Einen Fanblock gibt es hier nicht, es sei denn, man betrachtet das gesamte Stadion als solchen. Unon-Fans stehen, und sie singen - lautstark, fantasievoll und erst recht, wenn ihre Mannschaft hinten liegt. Mit 'Eisern Union' besitzen sie einen Schlachtruf, der weltweit seinesgleichen sucht. Er erscholl auch in jenen Zeiten lautstark von den Rängen, als ringsumher einem kleingewachsenen Verbrecher aus Österreich mit 'Heil!' gehuldigt wurde. Unioner waren nie die Lieblinge der Obrigkeit, weder bei den Nazis, noch in der DDR oder der BRD unserer Tage. Gestern wie heute stehen sie eisern auf den Rängen, singen - und leben ihre eigene Kultur, welche - obgleich sie sich Fußball pur nennt - weit über jenen Ballsport hinausgeht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 323

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frank Nussbücker

111 GRÜNDE, DEN 1. FC UNION BERLIN ZU LIEBEN

Eine Liebeserklärung an den großartigsten Fußballverein der Welt

EIN WORT ZUVOR ODER: DER 1. GRUND

WEIL UNION FÜR MICH SCHON IMMER DA WAR

Als ich am 23. März 1967 das Licht dieser Welt erblickte, firmierte unser Verein bereits seit 427 Tagen unter seinem bis heute gültigen Namen: 1. FC Union Berlin. In mein Bewusstsein trat Union zu dem Zeitpunkt, da ich genug Buchstaben beherrschte, um behaupten zu können: Ich kann lesen. Wo auch immer ich diese zu Wörtern oder gar Sätzen aneinandergereiht fand – in meiner Fibel, auf den Preistafeln im Fischgeschäft der freundlichen Frau Suckow oder der Tischplatte meiner Schulbank –, las ich los.

Eisern Union entzifferte ich so manchen Krakel, kunstvoll in den Pressspan des Schulmöbels geritzt. Auch die Zahlen- und Buchstabenkombination 1.FCU oder ausgeschrieben 1. FC Union entdeckte ich daselbst, das Ganze zumeist mit einem verlängerten oberen Balken des Buchstaben F, welcher sich bis hinter das U und in der Langfassung zumeist bis zum i erstreckte. Genau denselben Kunstgriff entdeckte ich bei den Aufnähern auf den echten Jeansjacken der langhaarigen Rabauken aus den oberen Klassen.

Unser Schuldirektor, ein Hüne mit voluminöser Kommandostimme und einer tiefen Liebe zu militärischem Kadavergehorsam, mochte weder lange Haare bei Jungen noch echte Jeansjacken oder Union-Aufnäher. Da ich brüllende Männerstimmen und obendrein alles hasste, was mich in irgendeiner Weise daran erinnerte, dass ich mit 18 dorthin musste, wo Kadavergehorsam als höchste Tugend galt, entwickelte ich bereits sehr früh eine instinktive Vorliebe, mir die Haare lang wachsen zu lassen, echte Jeans zu tragen und den 1. FC Union Berlin toll zu finden. Zu jenem Zeitpunkt hätte es sich bei Letzterem auch um eine Band, einen speziellen Teddybären oder eine Saurierart handeln können.

Ab der vierten Klasse interessierte ich mich für Fußball. Da ich meine Kindheit in einer kleinen Stadt nördlich von Berlin verlebte, standen mir zwei Vereine zur Auswahl. Der eine unterstand einer speziellen Gruppe der »bewaffneten Organe«, wie das bei uns so unschön hieß, der andere, jener 1. FC Union, war zivil. Allein aus spezieller »Zuneigung« zu meinem Schuldirektor und Armeeuniformen entschied ich mich für letzteren.

Meinem ersten Besuch von Unions Heimspielstätte, dem Stadion An der Alten Försterei, verdanke ich meine Teilhabe an einer mir gänzlich neuen Liedgut-Sparte. Der Ruf »Die Mauer muss weg!«, welcher vornehmlich bei Freistößen für die Heimmannschaft erklang, gefiel mir vor allem deshalb, weil ich mir sicher war: Mein Schuldirektor würde selbigen auf keinen Fall gutheißen. Liebte er doch auch jenes »antifaschistischer Schutzwall« genannte Berliner Betonbauwerk. Das immer wieder über den Platz schallende »Eisern Union!« war das kürzeste und zugleich echteste Arbeiter-Kampflied, welches ich je vernommen. Die Pubertät lenkte meine Aufmerksamkeit weg vom Fußball hin zu Mädchen mit langen Haaren. Später kehrte die Jagd nach dem runden Kunststoff als angenehme Form geselliger Fernsehunterhaltung in mein Leben zurück.

Seit 1988 lebe ich in Berlin-Prenzlauer Berg, seit 2002 zusammen mit meiner Liebe. Beim gemeinsamen Spaziergang durch unser Viertel lief mir, fast genau 30 Jahre nach meinem letzten leibhaftigen Stadionbesuch, meine alte Fußball-Liebe dort wieder über den Weg. Der 1. FC Union renovierte gerade mit Hilfe seiner Fans das Stadion An der Alten Försterei. Als Ausweichspielstätte diente den Eisernen ein vis-à-vis unserer Straße gelegenes Stadion. Ein paar Wochenenden gelang es mir noch, die dorthin pilgernden rot-weißen Horden zu ignorieren. Dann konnte ich nicht mehr anders, als mir anlässlich meines nahenden Geburtstags eine Eintrittskarte für das nächste Union-Spiel zum Geschenk zu machen.

Spätestens in dem Augenblick, als Tausende Eiserne sangen: FC Union, unsre Liebe, unsre Mannschaft, unser Stolz, unser Verein: Union Berlin! Union Berlin!, wusste ich, dass meine Union-Abstinenz vorbei war. In der nächsten Saison zog ich mit An die Alte Försterei, wurde Fan, Vereinsmitglied, Stadionbesitzer.

Rot-weiß war die Schnullerkette unserer kleinen Tochter, rot-weiß ist ihr Lieblingskleid. So manches in diesen Farben gehaltene Textil begleitet mich auf all meinen Wegen, und viele meiner Gespräche mit Freunden drehen sich immer wieder um dieses eine Thema. Und führt mich der Weg mal wieder in mein Stadion, gehe ich nicht einfach zum Fußball, sondern zu Union.

Und jetzt, liebe Leserin, lieber Leser, erzähle ich dir, was für mich und viele andere so besonders ist an diesem Verein.

1. KAPITEL

UNION UND ICKE

2. GRUND

Weil Nina Hagen mit meiner Schwiegermutter in eine Klasse ging

Meine Schwiegermutter lebt im Erzgebirge. In der Kreisstadt Annaberg-Buchholz legte sie ihr Abitur ab. Während der zehnten Klasse bekam sie eine neue Mitschülerin. Die war äußerst selbstbewusst, stammte aus Berlin und hieß Nina (eigentlich ja Catharina) Hagen. Um das Jahr 1970 muss das gewesen sein. Ninas Mama, die Schauspielerin Eva-Maria Hagen, gastierte am »Kreistheater Annaberg/Erzgebirge«. Seit sie mit Wolf Biermann zusammen war, bekam sie Schwierigkeiten mit der DDR-Justiz. Schließlich »verbannte« man sie aus Berlin, wo sie zuvor in Theater und Film einen Erfolg nach dem anderen gefeiert hatte. Auch beim Annaberg-Buchholzer Publikum kam sie sehr gut an. Zunächst spielte sie in My Fair Lady, später in Can-Can, wo sie zusammen mit ihrer Tochter auf der Bühne stand.

Weil die gute Nina noch schulpflichtig war, brachte man sie in der zehnten Klasse der hiesigen EOS unter, in der Klasse meiner Schwiegermutter. »Nina wollte ja gar kein Abitur ablegen, aber wahrscheinlich dachten sie bei uns: Die kommt aus Berlin, die können wir nicht in eine normale Schule stecken«, vermutet Schwiegermama. »Weil die Wohnung ihrer Mutter so klein war, wohnte Nina im Internat der EOS. Da brauchte sie nur drei Treppen runterzugehen, schon war sie in der Schule. Allerdings hatte sie meistens keine Lust auf Unterricht. Sie machte nur das, was unbedingt nötig war, mogelte sich irgendwie durch und feierte gern mal krank. Einmal besorgte sie sich aus einem medizinischen Lehrbuch die genauen Symptome einer akuten Gastritis, ging zu unserem alten Doc und spielte ihm das Ganze vor. Der Doc schrieb sie sofort krank.

Das Einzige, was sie wollte, war singen, schauspielern und wieder singen. Unserem Musiklehrer bescherte sie graue Haare. Die einfachen Lieder aus dem Lehrplan waren nicht ihr Ding. Lieber schmetterte sie ihm ganze Opernarien, perfekt vorgetragen, um die Ohren. Manchmal auch Lieder, die eindeutig nicht jugendfrei waren, der arme Mann hatte es schon schwer mit ihr. Am Wochenende zog es sie nach Berlin, da wollte sie einfach heim. Mit einer Mark in der Tasche trampte sie los und war längst nicht jeden Montag pünktlich zu Schulbeginn wieder da …« Was Nina Hagen in Berlin so trieb, darüber weiß mir meine Schwiegermutter nichts zu erzählen. Auch ich war nicht dabei, so bleibt mir an dieser Stelle nichts weiter übrig, als eins und zwei zusammenzuzählen:

Berlin, das bedeutete mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in den Siebzigern vor allem drei Dinge: Abenteuer, Abenteuer und Abenteuer. In Berlin wohnte außerdem Ninas heiß geliebter Papa Hans, seines Zeichens Drehbuchautor und glühender Anhänger eines Berliner Fußballvereins, der die Farben Rot und Weiß in seiner Fahne führt. Na klar, Hans Hagen war Unioner, laut seiner Tochter ein Fan der ersten Stunde. An seiner Seite hatte die kleine Nina dereinst im Stadion An der Alten Försterei am eigenen Leib erfahren, warum ihr Papa immer wieder hierherkam, warum er hier manchmal so sehr litt und dann wieder so derart glücklich war. Aus Liebe zu ihm sei sie schließlich selbst mit Union verwachsen, bekennt sie später.

Das ist sie bis heute, auch auf ihrem Fachgebiet. Im Jahre 1998 sang sie unsere Vereinshymne ein. Dies ist auch mein Schicksalsjahr, lernte ich doch an seinem Ende niemand Geringeren als meine Schwiegermutter kennen. Zu Union allerdings brachte mich eine andere Respektsperson, wie im nächsten Grund zu lesen sein wird.

3. GRUND

Weil mein Staatsbürgerkundelehrer die Unaussprechlichen verehrte

Adolf Gustav war ein im Pulverdampf des Kalten Krieges ergrauter Aktivist der ersten Stunde. Klein von Wuchs, aber ein Beißer, dazu drahtig vom Scheitel bis unter die abgetretenen Sohlen seiner Schuhe. Was den Unterhaltungswert seiner Shows anging, war er die unangefochtene Nummer eins unter unseren Lehrern. Leider drehte sich sein Fachgebiet nicht um Unterhaltung, sondern um das Allerheiligste. Adolf Gustav war im Auftrag des Herrn unterwegs. Der hatte ihn gesandt, auf dass er uns die reine, wahre, einzige Lehre predigte: den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, vorangetrieben von der revolutionären Arbeiterklasse unter der Führung ihrer revolutionären Vorhut, der marxistisch-leninistischen Kampfpartei. Adolf Gustav war unser Staatsbürgerkundelehrer.

Das Rad der Geschichte – ich sah es leibhaftig vor mir in nahezu jeder seiner Unterrichtsstunden. Sein Scheitel wirbelte durch die Luft, ebenso das Ende seines viel zu langen Schlipses, den er sich aus diesem Grund immer wieder unter den Hosenbund klemmte. Mit weit ausholenden Armbewegungen drehte Gustav das unsichtbare, gewaltige Geschichtsrad noch ein Stück weiter Richtung weltweitem Übergang. Die Kapitalisten dieser Welt hatten keine Chance, es sei denn, wir faulen Säcke machten sie stark, indem wir nicht feste genug lernten, nicht unser Bestes gaben, nicht mindestens drei Jahre zur Armee gingen.

Adolf Gustav hatte das Land, in welches wir hineingeboren worden waren, mit seinen eigenen Händen aufgebaut. Der Geruch der Arbeit war ihm bestens vertraut, und er kannte die Sprache der Arbeiter, weil es seine eigene war. »Drüben wäre ich wie mein Vater dazu verurteilt gewesen, für den Profit der Kriegsgewinnler meine Knochen hinzuhalten!«, predigte er uns immer wieder. »Nur hier, im Staat der Arbeiter und Bauern, konnte einer wie ich studieren! Und ihr könnt das auch – egal, was eure Eltern auf dem Konto haben. Das Einzige, was ihr dafür bringen müsst, ist eure Leistung im Unterricht! Wie sagte Lenin? Arbeiten, arbeiten, arbeiten, leisten, leisten, leisten!«

Eben damit haperte es bei den meisten von uns, den allermeisten. Und der Eiserne Gustav, wie wir unseren Staatsbürgerkundelehrer alsbald zu nennen pflegten, wurde nicht müde, uns das um die Ohren zu hauen. Ich achtete diesen Mann. Er war keiner jener weichgespülten Phrasendrescher der zweiten oder dritten Stunde wie etliche meiner Mitschülerinnen, die ebenfalls darauf drängten, dass wir Jungs zur Sicherung von Frieden und Sozialismus drei Jahre unseres Lebens der NVA schenkten. »Geht doch selbst zur Armee!«, konnte ich denen entgegenhalten, aber dem Eisernen? Der hatte nicht nur drei Jahre seines irdischen Daseins »der Sache« gewidmet, sondern sein gesamtes Leben! Folglich beschlich mich, wann immer er in seinem kreidestaubgesättigten, ehemals wohl braunen Jackett seinen Tanz aufs steinerne Parkett des Klassenraumes legte, ein schlechtes Gewissen. Denn natürlich hängte ich mich im Unterricht längst nicht so rein, wie es der Eiserne Gustav predigte. Meine Hausaufgaben erledigte ich innerhalb von zehn Minuten, den Rest schrieb ich in aller Eile morgens von einem Mitschüler ab.

Der Eiserne Gustav brachte seine Leistung, im Klassenraum und auf dem Fußballplatz. Beim jährlichen Abschiedsspiel der Zehntklässler gegen die Lehrerauswahl gehörte er zu den beiden Leistungsträgern seiner Mannschaft. Der andere war der freundliche Herr Pechmann, unser Werken-Lehrer. Der habe früher mal bei Hertha gespielt, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Ein Gerücht, welches Herrn Pechmann für uns zum Idol machte.

Auf dem Platz verstanden sich die beiden hervorragend, wenngleich der Eiserne Gustav für die Westberliner Hertha nur ein verächtliches Lächeln übrig hatte. Für welche Fußballmannschaft sein Herz schlug, daraus machte der Eiserne keinen Hehl. Hier nun zeigte es sich, dass wir mit seinem Spitznamen absolut danebenlagen. Denn der Eiserne verehrte nicht etwa den 1. FC Union, dessen Anhänger sich mit dem Gruß »Eisern!« Guten Tag sagten. Adolf Gustav liebte dessen Widerpart, den »Meister unserer Herzen«, welcher alsbald zehn Jahre lang die Abschlusstabellen der DDR-Oberliga anführen sollte.

Und Gustav machte kein Geheimnis daraus, warum sein Herz ebendiese Wahl getroffen hatte. Unterstand jener Verein doch dem Ministerium für Staatssicherheit, den Tschekisten, wie Gustav die Genossen jenes Ministeriums nach den Kämpfern der ersten sowjetischen Geheimpolizei nannte. »Das sind die Arbeiter an der unsichtbaren Front«, erklärte er uns, »Schild und Schwert der Partei, die all unseren Feinden erbarmungslos die Maske vom Gesicht reißen.« Seine Lieblingsmannschaft war, wenn er es uns gegenüber auch nie wortwörtlich so aussprach, die stollentragende Elitegarde des Weltproletariats auf deutschem Boden.

Sein Gesicht präsentierte die Miene des endgültigen Siegers der Weltgeschichte, als uns Adolf Gustav eines Morgens verkündete: »Gestern hat unser Meister, die Mannschaft unserer Herzen, im englischen Nottingham einen historischen Sieg errungen!« Er meinte den 1:0-Auswärtserfolg der Weinroten aus Hohenschönhausen gegen Nottingham Forest im Viertelfinale des Europapokals der Landesmeister. Schlimm genug, dass der alte Kämpe in Sachen weltweiter Übergang immer recht hatte, weil er ja die reine Lehre predigte. Schlimm genug, dass ich niemals ein so bedingungslos arbeitender und leistender Kämpfer wie Adolf Gustav sein würde. Nun aber hatte er auch noch in Sachen Fußball immer recht! Das war eindeutig zu viel. Spätestens hier konnte ich nicht mehr anders, als mich auf die andere Seite zu stellen. Seit jenem Tag verehrte ich den Berliner Erzrivalen des großen sozialistischen Vorzeigeclubs.

Zwei Wochen nach dem vom Eisernen Gustav als historisch erklärten Sieg der Hohenschönhausener Kämpfer über die stollentragenden Handlanger des englischen Monopolkapitals schossen die Kicker aus Nottinghams Wald »unsere« weinrot-weißen »Diplomaten im Trainingsanzug« im Ostberliner Jahn-Sportpark mit 1:3 aus dem Wettbewerb. Der vom Eisernen gepredigte weltweite Übergang erfolgte 1990 in umgekehrter Richtung, und so manche seinem Mund entströmte Phrase gerann längst zu hässlicher realkapitalistischer Wahrheit. Die beherrscht nun, nach dem realen weltweiten Übergang, auch mein Leben. Meinen Frieden mit Herrn Gustav hab ich längst gefunden. Die Eisernen, ein Arbeiterverein im wahrsten Sinne des Wortes, verehre ich bis heute.

4. GRUND

Weil Union Berlin eine Erinnerung an meine Kindheit ist

Ich war ein elfjähriger Steppke. Erstmalig fuhr ich, zusammen mit meinem Schulfreund Berge, zum Fußball nach Berlin. Was für ein feierlicher Augenblick, als ich mir an jenem regnerischen Novembersamstag den weit über zwei Meter langen rot-weißen Fanschal umband. Den hatte meine Tante Renate auf der Strickmaschine für mich gefertigt.

Leider wurde ich sogleich enttäuscht, denn Berge empfing mich am Bahnhof mit einem energischen Kopfschütteln. »Wolle weg, Alter, ick will lebend inne Försterei ankomm!« Mit diesen Worten lüftete er für einen Augenblick seinen Parka, dass ich sah: Er hatte sich seinen Schal mehrfach um den Bauch gebunden. Niemand sollte ihn sehen.

»Wieso das denn?«, wollte ich fragen, doch Berge kam mir zuvor: »Wir fahr’n nach Berlin, Alter! Da herrschen andere Jesetze. Die aus Riesa – druff jeschissen! Aber’t sind jenuch Weinrote unterwegs, um versprengte Unioner uffzuklatschen.«

Bald tauchten Berges Kumpels Scholle und Ekym aus der Parallelklasse auf, und wir bestiegen – selbstverständlich schwarz – die S-Bahn nach Ostberlin. Auch Scholle und Ekym trugen ihre Fanschals »innen«. Nachdem Berge sie in meinen klamottentechnischen Fauxpas eingeweiht hatte, wurden sie die gesamte Bahnfahrt über nicht müde, mir von ihren Erfahrungen mit den Weinrot-Weißen zu erzählen.

»Eenmal sind wa aus Versehen inn falschen Zuch einjestiegen!«, legte Scholle los. »Zu spät sehe ick, der janze Waggon voller Beffzen! So schnell konnt ick jar nich kieken, wie die uns die Schals jeruppt ham. Kurz druff durften wa zukieken, wie die Dinger brenn’ tun. Um een Haar hättense uns ausde fahrende Bahn jeschmissen.«

»Wer ick nie vajessen, wie die uns die Friedrichstraße langjescheucht ham!«, legte Ekym nach. »Wie ick so renne, hör icks uff eenmal so komisch durchde Luft pfeifen. Eenen Oogenblick späta hat der neben mirn Loch im Kopp. Ne Bierpulle voll uffn Scheitel, hat jeblutet wie Sau!« Mir wurde allein vom Zuhören mulmig in der Magengegend. Anderthalb Stunden später erschien es mir wie ein Wunder, dass wir lebendigen Leibes den S-Bahnhof Köpenick erreicht hatten. Ab Ostkreuz leuchtete die gesamte S-Bahn rot-weiß, und auch ein jeder von uns trug seinen Schal nun, wie es sich gehörte, um den Hals.

Am Bahnhof jede Menge blaue Trapos, auf dem Weg zum Stadion viel Bereitschaftspolizei, Armisten in grüner Uniform. Etliche blickten gelangweilt, andere ängstlich unter ihren Käppis hervor. Ein Stiefelhosenträger mit steil aufragendem Knick in seiner Schirmmütze musterte uns, als seien wir Rekruten. Breitbeinig wie ein Wildwest-Revolverheld stand er vorm Bahnwall, ich war heilfroh, als wir ihn passiert hatten.

Ein Stück durch den Wald, dann sah ich es, zum allerersten Mal, das legendäre Stadion An der Alten Försterei: ein schmuckloser Wall, Betonstufen führten hinunter zum eingezäunten Spielfeld. Unter freiem Himmel warteten über 13.000 Menschen auf den Anpfiff. In unserem Block angekommen, unterwiesen mich Berges Kumpels in den wichtigsten Eckdaten der Hausordnung. »Der da drüben, olle Urin, iss hier anne Mittellinie der Chef«, raunte mir Ekym zu, dabei mit aller ihm möglichen Zurückhaltung auf einen langmähnigen Hünen im verwaschenen Shell-Parka deutend.

»Wennde hier Scheiße baust, brauchste nich denken, der kommt an und haut dir eene uffs Maul!«, übernahm Scholle. »Bei Urin haste höchstpersönlich anzutreten, um dir deine Kloppe abzuholn.«

Ich nickte verständig und sah zu, dass ich innerhalb unserer Gruppe möglichst weit weg von dem Genannten stand. Der aber hatte offensichtlich anderes zu tun, als seine Aufmerksamkeit uns Grünschnäbeln zu schenken. Aus tiefen, dunklen Höhlen heraus inspizierten seine Adleraugen Platz und Ränge. Rau und korngeschwängert stach sein »Eisern Union!« aus der Masse der Sänger hervor. Stimmgewaltig war der Mann, daran gab es keinen Zweifel. Zusammen mit Berge, Scholle und Ekym fielen wir ein in die Gesänge der gut 10.000 Unioner, die ihre Mannschaft bis zur letzten Spielsekunde bedingungslos nach vorn brüllten. Trotz Nieselregens der beeindruckendste Massenchor der Welt – und ich hatte in ihm mitgesungen, garantiert nicht zum letzten Mal!

5. GRUND

Weil meine Liebe, obwohl sie Fußball hasst, einen rot-weißen Sonnenschirm kaufte

Mit meiner Liebe verbinden mich viele gemeinsame Leidenschaften. Eine unserer größten ist das Schreiben. Auf einem Seminar für Prosa-Autoren lernten wir uns kennen. Es waren die Texte des anderen, die uns aufeinander aufmerksam werden ließen. Den Rest besorgte die Sommernacht. Heute arbeiten wir seit über fünf Jahren zusammen an einer Kurzgeschichtenzeitschrift, lesen die Texte des anderen, als wäre es das erste Mal, und verfolgen unseren Traum: Seit Langem sammeln wir Material für einen Roman über die lichte Zukunft des Erdballs nach dem Untergang der Menschheit, den wir gemeinsam schreiben wollen. Aber zurück zu jener Sommernacht. In ihr vertrauten wir uns eine Menge voneinander an. Nur eine meiner Leidenschaften verschwieg ich meiner Liebe. Ahnte ich doch, dass sie diese nicht nur nicht teilte. Ich bin sicher: Hätte sie in jener Nacht gewusst, wie es in dieser Hinsicht um mich steht, hätten wir uns nie näher kennengelernt.

Ich rede von meiner Leidenschaft für den Fußball, genau genommen meiner Fußballsucht. Die übernahm ich wohl von meinem Großvater. Er war Dorfschullehrer, hatte ein verkürztes Bein und konnte kaum laufen, zumindest wenn Gartenarbeit oder Weltkrieg anstanden. Spielten dagegen die Dorfjungs Fußball und brauchten einen Schiedsrichter, war er sofort zur Stelle. Ebenso fit zeigte er sich, wenn er am Wochenende die gut zwölf Kilometer bis in die Stadt wanderte, weil dort sein geliebter SC in der mitteldeutschen Kampfbahn spielte. In seinem schwarzen Sonntagsanzug stand Opa im Steigerwaldstadion. Alles in ihm erwartete den Augenblick, da die beiden Mannschaften aus ihren Kabinen kamen, um direkt vor seinen Augen das große Spiel zu zelebrieren. Das zog ihn an wie einst Odysseus der Sirenengesang. Nur, dass sich Opa nicht an einem Mast festbinden ließ, sondern rechtzeitig loslief, um pünktlich vor Anpfiff an der Traverse zu stehen.

Ähnlich erging es mir, als ich zum ersten Mal ein Fußballstadion betrat. Das Grün des Spielfelds wirkte auf mich so wohltuend wie für manch anderen der Blick aufs Meer. Mein Atem ging ruhiger, leichter – Zug um Zug fühlte ich mich eins werden mit dem Geschehen auf jenem Rasen der Leidenschaften. So geht es mir bis heute – egal, ob es um Weltmeisterschaft, Champions League oder Europa League, Bundesliga, Berlinliga, Kreisklasse C oder ein Match zwischen Freizeitkickern geht. Schon der Anblick des noch menschenleeren Platzes beschert mir eine Ruhe, die ich wohl im abgelegensten aller tibetischen Gebirgsklöster nicht finden würde. Betreten die beiden Mannschaften das Geläuf, entgleitet mir auch der letzte Gedanke, der nichts mit dem gleich beginnenden Spiel zu tun hat. Jedwede Sorge, dreht sie sich um einen Fleck auf meiner Hose, meinen eventuellen finanziellen Bankrott als Freiberufler oder gar einen Streit mit meiner Liebe – all das verweht wie eine Schäfchenwolke im Oktoberwind. Finde ich je einen kostbaren Moment der Ruhe, dann vor und während eines Fußballspiels. Für all das hat meine Liebe, sonst die Meisterin eines feinsinnigen wie sinnlichen Sprachgebrauchs, nur ein Wort übrig: »Scheißfußball!«

Anders liegt der Fall für uns beide, handelt es sich bei einem der auflaufenden Teams um den 1. FC Union Berlin. Ein Union-Spiel zu verfolgen hat für mich nichts, aber auch gar nichts mit Entspannung zu tun. Ob in Stadion, Sportsbar oder Wohnstube, spätestens nach zehn Minuten stehe ich wild gestikulierend im Banne des Ereignisses, als sei ich mindestens Trainer der Eisernen.

Was meine Liebe angeht, gebrauchte sie oben genannten Fäkalausdruck noch nie im Zusammenhang mit meiner eisernen Leidenschaft. Als sie für unseren Balkon einen Sonnenschirm kaufte, wählte sie wie selbstverständlich einen rot-weißen. Den runden Küchentisch ziert seit Beginn der Arbeit an diesem Buch eine rot-weiße Tischdecke. In meinem Arbeitszimmer steht eine große, farblich ebenso gehaltene Truhe. Die fertigte meine Liebe passgenau, auf dass ich darin meine Union-Programme sammeln kann. Kurzum: Meine Liebe unterscheidet genau, ob es bloß um Fußball geht – oder um den 1. Fußballclub Union Berlin.

6. GRUND

Weil meine Liebe ihre weiße Jeans zerschnitt, um mir eine Union-Jacke zu schenken

Meine Liebe zeigte sich beeindruckt. Als sie mich vor ein paar Jahren zum Kartenvorverkauf für Unions nächstes Auswärts-Heimspiel im Jahnstadion begleitete, staunte sie über die originelle Bekleidung vieler Fans. Etliche Fußball-Schals stammten eindeutig aus jenen Zeiten, da hierzulande Handarbeit und Strickmaschinen Hochkonjunktur gehabt hatten. Besonders eine ältere Dame im selbst gestrickten rot-weiß geringelten Pullover inklusive sauber gearbeitetem Union-Logo hatte es ihr angetan.

Zum nächsten Weihnachtsfest waren wir beide, wie sehr oft in unserem Leben, finanziell mal wieder nicht richtig flüssig. Eine Bio-Ente musste auf den Tisch, aber für Teures unterm Weihnachtsbaum wurde es knapp. Wir wollten dennoch nicht darauf verzichten, uns mit einzigartigen Gaben zu beschenken.

Meine Liebe ging zu diesem Zwecke erst einmal in ihren Lieblings-Secondhandladen, sie erstand eine leuchtend rote Kapuzenjacke. Wieder daheim, erkundigte sie sich bei meinem Freund Clemens, wie und wo sie den Aufnäher mit dem Union-Logo zu platzieren hätte. Clemens ist Fußball-, aber kein Union-Anhänger. So riet er ihr völlig korrekt, das Logo links auf der Jacke, also überm Herzen, anzunähen. Allerdings plädierte er dafür, es schräg anzusetzen, statt wie bei Union seit 1966 üblich: nahezu gerade.

Alsdann opferte meine Liebe ihre erste weiße Westjeans, um aus deren Hosenbeinen je einen Streifen für die Jackenärmel zu fertigen. Anschließend besetzte sie den Rücken des ehemaligen Von-der-Stange-Textils mit weißen Jeans-Buchstaben, welche fortan – von links nach rechts gelesen – meinen Spitznamen ergaben. Darüber prangt die Zahl 23, denn ich habe am 23. März Geburtstag. Aus fussballtechnischen Gründen blieb für den Monat kein Platz mehr. Tränen der Rührung standen mir in den Augen, als ich unterm Weihnachtsbaum mein Geschenk auswickelte. Die nächsten Wochen mochte ich trotz spielfreier Winterpause keinen Tag ohne meine einzigartige Union-Berlin-Kapuzenjacke herumlaufen. Alsbald fransten Ärmelstreifen, Rückennummer und mein Spitzname an den Rändern ein wenig aus und verliehen der Jacke den Hauch echter Altehrwürdigkeit.

»Das muss Liebe sein!«, kommentierte meine beste Union-Freundin, als sie mich zum ersten Mal derart gekleidet An der Alten Försterei erblickte. Bis heute trage ich meine Kapuzenjacke, außer bei übermäßiger Sommerhitze, zu jedem Union-Spiel.

Letzten Dezember lief ich nach unserem 2:0 gegen Kaiserslautern bei meinem Bratwurst-Test im VIP-Zelt unserem Präsidenten über den Weg. Dirk Zingler sah mich kurz an, dann schüttelte er mir spontan die Hand. Während ich mich noch fragte, wie ich wohl zu dieser Ehre käme, löste er das Rätsel mit den Worten: »Coole Jacke!«

7. GRUND

Weil wir Unioner eine Familie sind

Meiner Liebe und mir stand die Geburt unserer Tochter bevor. Das Krankenhaus Havelhöhe liegt tief im Hertha-Land. Dennoch erwählten wir es zu jenem Ort, an dem die Kleine zur Welt kommen sollte. Bei der Besichtigung von Kreißsaal und Mutter-Kind-Station sah ich den gesamten Flur mit Dankeskarten verziert, die glückliche Eltern an die Krankenhausbesatzung geschrieben hatten. Unter diesen fiel mir besonders eine auf: Jene Eltern hatten ihrem Spross in Erinnerung an einen einstigen Hertha-Star die Vornamen Arne und Friedrich verpasst. Auf ihrem Dankesfoto lag der kleine Mann in einem blau-weißen Strampler auf dem Trikot des genannten Hertha-Verteidigers. Das kann so nicht bleiben, sagte ich mir, hier müssen auch wir zu sehen sein!

Meine erste Idee: Wir nennen unsere Tochter nach Unions aktuellem Mannschaftskapitän. Seit der vierten Liga gehörte er dem Verein an und war bis in die Zweite Bundesliga mitgewachsen: Mattuschka! Zur Geburt begleitete ich meine Liebe im Eisern-Union-Dress. Es sollte mir den Mut geben, den ich brauchte, um sie bei ihrem großen Kampf bestmöglich zu unterstützen.

Als wir dann – völlig erledigt und glücklich – zu dritt die Mutter-Kind-Station erreichten, begrüßte uns die diensthabende Nachtschwester mit den Worten: »Ist ja toll, dass hier ooch mal’n Unioner herkommt, ick bin hier nämlich die Einzige. Alle anderen, die sich für Fußball interessieren, sind für Hertha.«

Jene Schwester sollte uns in den kommenden Nächten eine enge Vertraute werden. Sie zeigte uns mit Engelsgeduld das Wickeln mit reinen Baumwollwindeln und gab uns viele Tipps mit auf den Weg. Natürlich versorgte sie auch alle anderen jungen Mütter und Familien aufs Vortrefflichste, aber zwischen uns und ihr entwickelte sich eine besondere Herzlichkeit.

Nicht nur, dass wir uns duzten, denn Unioner sagen nicht »Sie« zueinander. Ich lieh ihr meine Dauerkarte, auf dass sie zum letzten Spiel der Saison ihren Schwiegervater mit ins Stadion nehmen konnte. Seit ich selbst wieder zu Union gehen kann, treffe ich sie regelmäßig zu unseren Punktspielen An der Alten Försterei.

Wir nannten unsere Tochter natürlich nicht Mattuschka. Drei Wochen nach der Geburt der Kleinen mailte mir unsere Lieblings-Krankenschwester: Vielen Dank für eure Karte! Das Foto eurer Kleenen hängt direkt neben dem Hertha-Spross.

Ich hatte unsere Tochter für besagten Schnappschuss auf meine Union-Jacke gelegt und ihr meinen handgestrickten Fanschal als Requisit beigegeben. Die Kleine streckte sich ihm entgegen in der Manier eines gestandenen Torwarts, der sich anschickt, ein auf sein Gehäuse geschossenes rot-weißes Etwas sicher zu fangen. Nun also waren auch unsere Farben hier in Havelhöhe zu sehen. Von einem anderen Unioner bekamen wir reichlich Babywäsche vererbt. Das rot-weiß gestreifte Kleidchen liebt unser Töchterchen so sehr, dass sie selbst beim Telefonieren mit der Großmutter darauf zeigt und davon erzählt. Bald ist es ihr zu klein, aber wir ahnen schon, wer es bald tragen wird. Die Verlobte von Steini Junior, meinem Vordermann An der Alten Försterei, erwartet im Frühjahr ein Kind, genau wie unsere Lieblingskrankenschwester aus Havelhöhe. Ich bin mir sicher: Eines der Babys wird ein Mädchen sein.

8. GRUND

Weil ich es, wo immer ich bin, körperlich spüre, wenn Union spielt

Wie jeder Süchtige unternehme auch ich hin und wieder den Versuch, meiner Abhängigkeit zu entkommen. Mehr als einmal pro Saison sage ich mir: Heute tust du dir das nicht an, heute gehst du weder ins Stadion noch in die Sportsbar, und du setzt dich auch nicht vor den Rechner und verfolgst das Spiel via Radio oder Live-Ticker! Diese Rechnung geht regelmäßig nicht auf. Es sei denn, meine Tochter, meine Liebe, ich oder wir alle liegen derart krank darnieder, dass überhaupt nichts geht oder ich mich mit Haut und Haar im Krankenpfleger-Modus befinde. Weitere Möglichkeiten des Spielverpassens sind: Wir sind verschollen, befinden uns auf Urlaubsreise in einer funktechnisch unerschlossenen Gegend oder ich habe einen beruflichen Termin, dessen Wahrnehmung angesichts der Lebenshaltungskosten unserer kleinen Familie oberste Pflicht ist.

Doch auch in allen hier aufgeführten Fällen komme ich nicht vorbei an Unions Spielen. Der Grund dafür ist simpel: Selbst wenn ich mit aller Kraft versuche, dies nicht wahrzunehmen, weiß ich um sämtliche Punktspielansetzungen meines Vereins. Sobald das Spiel begonnen hat, drehen sich sowohl meine Gedanken als auch meine Körperempfindungen um nicht viel anderes als jenes Match.

Um mir hier keine falschen Federn anzukleben: Ich verfüge nicht einmal ansatzweise über telepathische Fähigkeiten jedweder Art. Will sagen: Ich spüre nicht, ob wir mal wieder zurückliegen, ob wir hinten sicher stehen, das Mittelfeld beherrschen oder unsere Kicker gar einen jener Tage erwischt haben, an denen sie alles, was auch nur im Entferntesten an eine Chance erinnert, umgehend in Tore ummünzen. Das Einzige, was mir mein plötzlich schneller anmutender Herzschlag, das ebenso abrupt einsetzende Kribbeln auf meiner Haut, das Pochen hinter meinen Schläfen und die mich schlagartig überfallende rot-weiße Gedankenwelt unmissverständlich klarmachen: Unser Spiel läuft.

Und noch etwas weiß ich dann: Sollte sich mir in den nächsten 105 Minuten plus Nachspielzeit irgendeine Chance darbieten, den aktuellen Spielstand zu erfahren, so werde ich diese gnadenlos nutzen, auch wenn es längst nicht immer erfreulich ist, was ich dann erfahre. Nach einem jubilierenden »Eisern!« oder dem trotzig-kämpferischen Ballen meiner hochgestreckten Faust gehe ich zur Tagesordnung über und fiebere dem nächsten Union-Spiel entgegen.

9. GRUND

Weil du mit Union nicht unbehelligt durch die Stadt kommst

1. FC Union Berlin!, sangen ein paar Jungs von vielleicht acht, neun Jahren in meine Richtung, als sie mich auf den Spielplatz kommen sahen. Ein paar Stunden vor meiner Reise nach Köpenick wollte ich noch ein bisschen mit meiner Tochter schaukeln. Sofort stimmte ich mit ein in den Gesang der Jungs, und meine Kleene ballte freudigen Gesichts ihre kleinen Hände zu Fäusten.

Wann immer ich mich mit rot-weißem Schal, Union-Mütze, -Trikot oder -Jacke durch die Stadt bewege, komme ich in zumeist angenehmen Kontakt mit meinen Mitmenschen. Eine ältere Dame in der Straßenbahn erzählte mir spontan, dass sie vor dem Mauerbau ab und zu in der Plumpe gewesen sei, dem berühmten Hertha-Platz am Gesundbrunnen. »Damals, als die noch hier jespielt ham!« Eine Frau etwa in meinem Alter ließ mich wissen, dass sie als »junget Ding« alle zwei Wochen An der Alten Försterei war. »Wo stehen wir jetzt eigentlich in der Tabelle?«, wollte sie wissen, bevor sie ausstieg.

So mancher brummt mir im Vorbeigehen ein »Eisern« zu, oft mit zum Gruß erhobener Faust. Für mich eine schöne Sache, doch nicht jeder freut sich darüber, dass das so ist – zum Beispiel mein Kumpel Jockel. Jockel ist für mich das, was ich einen links-alternativen Punk nenne. Einer von der undogmatischen Sorte. Nur in einer Sache ist er äußerst entschieden, um hier nicht das Wort »dogmatisch« zu gebrauchen: Jockel hasst aufrichtig und aus tiefstem Herzen alles, was in irgendeiner Weise mit Fußball zu tun hat.

Einer seiner vier Jobs ist der eines Fahrrad-Rikscha-Fahrers. Auf dem derartig ausgestatteten Elektrorad kutschiert er Touristen durch die Stadt. Während der Fahrt erzählt er ihnen so manches über die Sehenswürdigkeiten, was in keinem Stadtführer dieser Welt steht. Das liegt daran, dass Jockel es sich im Moment des Erzählens ausdenkt. Er hat Spaß daran, und nahezu alle seine Gäste offerieren ihm für seine Storys ein anständiges Trinkgeld.

Eines schönen Frühlingsvormittags kam Jockel später auf dem Rikscha-Hof an als gewohnt. Es war nur noch ein einziges Gefährt frei, ein nigelnagelneues leuchtend rotes. Jockel war kaum vom Hof, als ihm vom Straßenrand her ein vierschrötiger Kerl ein knackiges »Eisern!« entbot. Entgeistert schüttelte Jockel den Kopf, doch es sollte nicht der letzte Gruß dieser Art bleiben. Immer wieder hieß es in seine Richtung: »Eisern!«, »Eisern Union!« oder »Und niemals vergessen!«, wobei ihn die Grüßenden stets mit einem Blick bedachten, der blanke Verwunderung darüber verriet, dass von Jockel keinerlei Antwort kam.

Als ihn ein Fahrgast – sein Lächeln drückte pure Anerkennung aus – wissen ließ: »Sie kennen aber viele Leute! Man kommt ganz schön rum als Rikscha-Fahrer, was?«, verzichtete Jockel darauf, dem Mann die Geschichte vom Beinahe-Einsturz des Berliner Fernsehturms zu offerieren. Verbissen schweigend kutschierte er den Mann zu seinem Ziel und machte sich, schleunigst und ohne das Trinkgeld anzunehmen, aus dem Staub.

Als er kurz darauf seinen Standplatz erreichte, raunzte er seinen frühstückenden Kollegen an: »Was für’n bekloppter Tag heute! Alle paar Meter quatscht mich einer mit ›Eisern Union‹ an. Soll’n das? Was hab ich mit diesem Scheißfußballzeug zu tun?«

»Im Moment ’ne ganze Menge«, erwiderte sein Kollege kauend, »schließlich sitzt du mittendrin in ’ner 1.-FC-Union-Berlin-Werbung!« Da erst bemerkte Jockel das große, jenes knallrote Gefährt auf beiden Seiten zierende Logo. Stimmt, kramte sein Hirn die bis eben erfolgreich verdrängte Tatsache hervor, der Chef war ja Anhänger dieses bekloppten Fußballvereins! Wenig später fuhr Jockel, völlig am Ende mit seinen mentalen Kräften, auf den Hof zurück. Nie wieder Union, schwor er sich eisern.

Immerhin erzählte er mir irgendwann diese Geschichte und mittlerweile guckt er auch gar nicht mehr böse, wenn ich mir an besonders schönen Sonnentagen erlaube, ihn mit »Und niemals vergessen!« zu begrüßen.

10. GRUND

Weil »Eisern Union« des Vaters Rettung war

Mit satten 44 Lenzen erfuhr mein Leben einen tiefen Knick. Ich war am Ende mit meinem Latein, jede Sekunde stellte eine übermenschliche Anstrengung für mich dar. Im sprichwörtlichen Sinne musste ich das Laufen neu erlernen.

Ich war Vater geworden – fernab der heilen Welt unserer Urahnen! Bei ihnen hatte hier die wichtigste Herausforderung für einen Mann darin bestanden, dass er nach dem großen Baby-muss-pullern-können-Saufen in der Kneipe noch stehen konnte. Alsdann wäre es meine Aufgabe gewesen, im Wirtshaus den stolzen Erzeuger zu mimen. Einen Mann, der nicht müde wird, die Vorzüge und ganz besonderen Fähigkeiten des von ihm gezeugten Stammhalters formvollendet zu preisen, und der dabei hin und wieder ein mit der eigenen Kamera aufgenommenes Fotodokument des selbigen herumreicht.

Ich aber war ein »moderner« Vater, der bei der Geburt live mitfieberte, hernach einen Großteil seiner Nächte Bauch an Bauch mit Baby schlief und dem dieser ganz spezielle, sich beim Windelwechseln entfaltende Geruch nicht mehr aus der Nase ging. Kurzum: Ich war kein Mann mehr, sondern ein alter junger Vater. Obendrein der einer Tochter.

Meine einzige Verbindung zur Außenwelt bestand in meinen allnachmittäglichen Spaziergängen mit Baby im Tragetuch sowie meinen Besuchen An der Alten Försterei. Meine Tochter war so lieb, an jedem Heimspieltag gut gelaunt zu sein, dass ich ohne schlechtes Gewissen zu Union fahren konnte.

Dann aber kam jener Freitag im Herbst. Meine Liebe weilte bei einem Rückbildungsgymnastik-Termin. Ich war allein mit der Kleinen, die seit einer gefühlten Stunde gnadenlos vor sich hin schrie. Satt war sie, ihre Windel war frisch, und das Fieberthermometer hatte sie rigoros verweigert – wie immer, wenn sie kein Fieber hatte. … Und nur noch wenige Minuten bis 16 Uhr, meiner Losgehzeit.

Zum allerersten Mal spürte ich Wut auf die Kleine in mir aufsteigen. Mann, Baby, ich will zu Union, und das kann ich nicht, wenn du hier so rumschreist, hätte ich sie am liebsten angebrüllt. Zugleich wusste ich natürlich, dass das grober Unfug war. Also weiter die Kleine herumtragen, sie im Arm wiegen, auf ihre Matratze zu den Kuscheltieren legen. Was ich auch anstellte, nichts half. Blutenden Herzens sagte ich Union für diesen Tag ade und fühlte mich plötzlich wie der kleine Junge von damals, dem die Oma beim lockendsten Sonnenschein untersagt hatte, spielen zu gehen.

In meiner Verzweiflung griff ich meinen sorgsam zurechtgelegten Schal, schwenkte ihn direkt vor der Kleinen mit wilden Gesten durch die Luft und schrie ihr, wie dereinst die »Schlosserjungs« in einem ihrer scheinbar aussichtslosen Kämpfe, aus Leibeskräften zu: »Eisern Union, Eisern Union, Eisern Union!«

Schon beim zweiten »Eisern« hörte sie zu weinen auf. Stattdessen sah sie mich aus großen, staunenden Augen an, um schon bald ihre Fäustchen zu erheben und sie im Takte meines Gesangs auf und ab zu schwenken. Als meine Liebe von ihrem Kurs zurückkehrte, fand sie ein quietschvergnügtes Baby und einen ebensolchen Vater vor. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass unser Schlachtruf die Laune meiner Tochter – und damit auch die ihrer Eltern – schlagartig aufhellte. Mittlerweile begleitet sie seit Monaten meinen Gesang mit einem deutlich vernehmbaren »Eisan Uijon, Eisan Uijon!«, während sie ihre Fäustchen trotzig wie lustvoll durch die Luft wirbelt.

Ich liebe diesen Anblick so sehr, dass ich im Stadion aufpassen muss, dass ich an der entscheidenden Stelle nicht plötzlich selbst wie ein kleiner Troll in die Luft boxe.

11. GRUND

Weil Rot und Weiß die schönste aller Farbkompositionen ist

Neulich saß ich zusammen mit meiner Liebe in der U-Bahn. Kinderlos fuhren wir zur frühen Nachmittagsvorstellung ins Kino. Ein absoluter Luxus, von dem der Vater uns gegenüber nur träumen konnte. Seine Tochter, vielleicht 27 Monate alt, also ein halbes Jahr älter als unsere, tat durch mehrere Wellen extrovertierten Quengelns, jeweils gefolgt von hemmungslosem Weinen, kund, dass ihr das Fahren in der U-Bahn aber so was von missfiel.

Ängstlich und entnervt wanderten die Augen ihres Vaters von seiner Tochter zu den Umsitzenden und wieder zurück zu der bockigen Kleinen. Verzweifelt wie vergeblich versuchte er, ihr zu erklären, dass diese Reise leider unbedingt nötig und zudem bald zu Ende sei. Ihr die Tränen abzuwischen klappte ebenso wenig wie der Versuch, sie in aller Strenge zu ermahnen. Und wie lange würden die geplagten Großstadtmenschen um sie herum noch versteinerte Miene zum heillosen Spiel machen? Besagte Situation war uns bestens bekannt, und meine Liebe hat – im Gegensatz zu mir – ein ausgesprochenes Faible für herzliche Pragmatik zum richtigen Zeitpunkt. Also langte sie in ihre Umhängetasche, zauberte daraus eine zu genau diesem Zweck mitgeführte Wäscheklammer hervor und überreichte sie der Kleinen. Die hatte ihr bereits beim In-die-Tasche-Fassen zugesehen und dabei umgehend aufgehört zu weinen. Nun spielte sie fröhlich mit der Klammer, ließ sie auf- und zuschnappen, steckte sie sich an den Finger, verwandelte sie in ein Auto, welches ihre Hosenbeine auf und ab fuhr, und dergleichen mehr.

»Klaama iss doll!«, vertraute sie ihrem Papa an, der sofort bestätigend nickte.

»Rot!«, fügte die Kleine hinzu, denn die Farbe jenes Wunderspielzeugs schien ihr äußerst wichtig zu sein.

Wieder nickte der inzwischen ebenfalls merklich entspannte Vater: »Ja, die Roten sind die Besten.«

Das konnten sowohl meine Liebe als auch ich nur bestätigen. Rot ist eine wunderbare, warme Farbe. Nicht ohne Grund wird sie seit vielen Generationen die Farbe der Liebe genannt.

Zu Rot passt am besten eine tiefdunkle oder strahlend helle Signalfarbe. Ersteres wirkt schwer und traurig, Letzteres fröhlich und aufmunternd – also hell! Gelb fällt aus, erinnert mich diese Kombination doch unangenehm an das Sportzeug bei der NVA, schnell weg damit!

Bleibt also Weiß. Weiß und Rot wie Mantel und Mütze des Weihnachtsmanns, der nahezu alle Kleinen und Großen jedes Jahr beschenkt. Weiß und Rot wie meine Heimatstadt. Artikel 5 ihrer Verfassung besteht aus dem Satz: »Berlin führt Flagge, Wappen und Siegel mit dem Bären, die Flagge mit den Farben Weiß-Rot.« Grund genug also, dass – zumindest für mich als bekennenden Berliner – jene Kombination die allerschönste ist.

Die Kleine aus der U-Bahn sieht das ebenso. Die Freude des Mädchens wuchs ins schier Unermessliche, als ihr meine Liebe, bevor wir ausstiegen, zur roten auch noch eine weiße Klammer schenkte. Vater und Tochter winkten uns fröhlich nach, die Kleine reckte dabei mit jeder Hand eine Wäscheklammer in die Luft, die eine weiß, die andere rot.

2. KAPITEL

EISERNES LIEDGUT VON DEN RÄNGEN

12. GRUND

Weil in unserem Stadion ALLE singen

20. Juni 2009: Meinen Schulfreund Berge zog es nach der Wende wegen der Liebe in den Pott. Heute hat er mich zur »Krönung auf Schalke« eingeladen. Boxweltmeister Wladimir Klitschko verteidigt seine Titel in der berühmten Gelsenkirchener Arena gegen Ruslan Chagaev. Berge hat uns VIP-Karten spendiert, das heißt, wir sitzen auf der Empore eines sogenannten Hospitality-Clubs: Wunderbare Sicht auf den Ring, dazu eine erstklassige Rundumversorgung mit Speis und Bier.