111 Gründe, Spanien zu lieben - Andreas Drouve - E-Book

111 Gründe, Spanien zu lieben E-Book

Andreas Drouve

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Beschreibung

Spanien bietet Material für mehrere Enzyklopädien. Der Autor Andreas Drouve hat sich in seiner Liebeserklärung auf 111 Episoden beschränkt, die er amüsant, kurzweilig, tiefgründig wiedergibt. In den vielen Jahren, die er nun schon in seiner Wahlheimat lebt, hat er Land und Leute wie kaum ein Zweiter kennen- und lieben gelernt und weiß, weshalb España seine Besucher mit Lebensart, Landschaften, Sitten und Unsitten so sehr fasziniert. In 111 Gründe, Spanien zu lieben geht es um Gewohn- und Eigenheiten, Alltag, Sprache, Kneipen- und Museumskultur, Legenden, Bräuche, Feiern, Kulinarisches, Entdeckungen in der Natur, die großen Stadtkonkurrenten Madrid und Barcelona und vieles mehr. Fast nebenbei verrät Andreas Drouve diesen oder jenen Insidertipp für die eigene Reise, die eigene Annäherung an Spanien. Und er zeigt auch, wie das Land sich beständig wandelt und in welcher Form das gute alte Spanien trotzdem fortlebt.

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ANDREAS DROUVE

111 GRÜNDE, SPANIEN ZU LIEBEN

Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt

WILLKOMMEN!

Buenos días, guten Tag!

Wie ich nach Spanien kam, wollen Sie wissen? Nun, es war im Grunde kein lange gehegter Lebenstraum, es ergab sich so, wie das Schicksal es wollte. Vorbestimmung? Vielleicht. Etwa ein halbes Jahr vor dem Absprung begann das Vorhaben konkreter zu reifen, setzten die Planspiele ein, wie das wäre, auf Dauer in Südwesteuropa in der Heimat meiner spanischen Frau zu leben. Über Reisen und Kultur zu schreiben und dort mein Basislager als freiberuflicher Autor, Journalist und Korrespondent aufzuschlagen, ja, das konnte ich mir vorstellen. Vorausschauend zog ich ein paar mäßige Buchaufträge an Land, um in der Ferne zu starten, und verdrängte die Gedanken an die weitere Zukunft. In Deutschland schlug ich das Angebot einer attraktiven Redakteursstelle bei der Tageszeitung Hessische/Niedersächsische Allgemeine aus. Es erreichte mich zu spät, der Aufbruch stand kurz bevor.

Ende 1995 packten Cristina, meine Frau, und ich in Kassel den jungen Hausstand zusammen. Das Inventar verschwand in 40 Umzugskartons, die wir gemeinsam mit bleischweren Elektrogeräten und den Kiefernmöbeln eines schwedischen Einrichtungshauses an einem Novembermorgen in einen Mietlaster luden. Und den fuhr ich selbst: über Süddeutschland und quer durch Frankreich. Hinter Bordeaux rochen wir das Meer, in Hendaye passierten wir die Grenze und fuhren unter stahlblauem Himmel ins Vorpyrenäenland nach Pamplona, unserem Ziel. Dort deponierten wir die Fracht mit Hilfe spanischer Freunde zunächst im Haus der Schwiegereltern und bei einer Tante. Eigentlich nur 1.400 Kilometer von meiner deutschen Altheimat Düren/NRW weg, doch Welten von ihr entfernt. Wir hatten keine eigene Wohnung, wenig Geld, aber Energie und Ideen und sprühten vor Optimismus.

So begann mein dauerhaftes Leben in España, einem Land, das ich zuvor zwei Auslandssemester lang kennen- und lieben gelernt hatte. Lebensart und Fiestas hatten mich bereits als Student fasziniert, Sitten und Unsitten, der lockere Umgang miteinander, die Musik, das Klima, die Reberzeugnisse, die Ausgehkultur.

Es gibt sicher Hunderte Argumente, Spanien zu lieben. Damals wie heute. 111 triftige Gründe dafür habe ich ausgewählt, elf mal zehn plus einen. Es sind Mosaiksteinchen, die Ihnen helfen sollen, einen Blick hinter die Kulissen des Landes werfen, die Menschen buchstäblich besser zu verstehen, der Mentalität auf den Grund zu gehen. Die Episoden über meine Wahlheimat habe ich in Elementen aus Reportage, Essay, Erzählung und Satire zu einer Liebeserklärung verdichtet. Rein subjektiv, versteht sich. Da geht es um Gewohn- und Eigenheiten, Alltag, Sprache, Kneipen- und Museumskultur, Bräuche, Feiern, Kulinarisches, Entdeckungen in der Natur, die Stadtkonkurrenten Madrid und Barcelona und vieles mehr. Aus einigen Geschichten tropft der Wein, aus Legenden das Blut. Tapas,Oliven, Käsebrüste und verschmutzte Kneipenfußböden lassen auf den Geschmack kommen – Sie werden es sehen. Nebenbei verrate ich diesen oder jenen Insidertipp für Ihre Reisen, Ihre eigenen Annäherungen an Spanien.

Bienvenidos, willkommen!

Andreas Drouve

PS: Mein Dank gilt den Produkten spanischer Winzer, die den Schaffensprozess der 111 Gründe, Spanien zu lieben begleitet haben. Zu noch größerem Dank bin ich meiner Familie und meiner Schreibhand verpflichtet.

KAPITEL 1

De aperitivo … Stimmen Sie sich ein!

1. GRUND

Weil dieses Land am Südwestrand Europas keine Randerscheinung ist

Viva España! Es lebe Spanien! Sehnsuchtsziel unter südlicher Sonne. Traditionelle Heimat von Flamenco, Sangría, Paella. Tummelplatz von Reingeschmeckten, die, wie ich, aus freien Stücken und ohne Groll, Deutschland adiós gesagt haben. Alljährlich Reisetraum von über 50 Millionen Gästen aus dem Ausland. Einfluss auf Statistiken und Zugkraft haben nicht zuletzt die Inselgruppen der Kanaren und Balearen. Manche sehen Mallorca als 17. und Gran Canaria als 18. deutsches Bundesland an. Persönlich hätte ich lieber Formentera, aber das ist sehr klein und im Sommer voller Italiener …

Hätten die Verhältnisse aus der Kolonialzeit noch Bestand, wäre Spanien weitaus größer als jetzt mit seinen rund 505.000 Quadratkilometern. Mexiko würde dazugehören, Ecuador, Peru, Argentinien, Chile, die Philippinen, viele weitere reizvolle Territorien in Übersee. Ob es wohl günstige Inlandsflüge gäbe? »In meinem Reich geht die Sonne niemals unter«, soll König Karl V. (1500–1558) ausgerufen haben, doch belegt ist der Ausspruch nicht. Allzubald verdunkelten Wolken das Firmament. Und leider – aus spanischer Sicht – setzte der Anfang vom Ende als Welt- und Seemacht bereits 1588 mit dem Untergang der Armada Invencible ein, der »Unbesiegbaren Armada«, die gegen England ausrückte und volle Kraft voraus ins Verderben steuerte. Später pflegte man die Staatsgelder nach Belieben in weiteren Kriegen zu verpulvern und im eigenen Prunk zu verschleudern. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erhoben sich die Kolonien und setzten die finalen Schnitte der Unabhängigkeit, was bedeutete: Spanien schrumpfte erheblich. Heute ist das Land jedoch keineswegs eine Randerscheinung am Südwestrand Europas, zumal Österreich von der Fläche her sechsmal geschluckt würde. España wird von Atlantik und Mittelmeer umspült, von Flüssen wie Ebro und Guadalquivir durchzogen, von Deltas und Meeresarmen durchsetzt. Majestätisch erheben sich die Pyrenäen, die Picos de Europa, die Sierra Nevada in Andalusien als höchstes Gebirge der Iberischen Halbinsel.

Wer bei Wer wird Millionär? die Frage »An wie viele Länder grenzt Spanien?« gestellt bekäme, müsste wohl erst den Publikums-, dann den Telefon- und den 50/50-Joker ziehen – und letztlich passen. Wer käme auf fünf und bekäme sie zusammen? Portugal und Frankreich, klar, aber Andorra, Marokko, Großbritannien? Diese Anhängsel sind in ihrer Gesamtheit weniger präsent. Andorra als Steuerparadies. Marokko wegen der beiden Exklaven Ceuta und Melilla, die sich Spanien einverleibte. Großbritannien wegen Gibraltar, das 1704 ans Empire fiel. Unter unablässigem Säbelrasseln fordern die Spanier Gibraltar von den Briten zurück, ohne im Entferntesten daran zu denken, die Besitzungen in Nordafrika aufzugeben.

Die Zukunft wird zeigen, ob die Gebietsgrenze Spaniens verändert und die Antwort auf die Frage »An wie viele Länder grenzt Spanien?« neu gegeben werden muss. Im Baskenland und in Katalonien fordern die radikalsten Vertreter die Unabhängigkeit. Sicher gäbe es jeweils 111 Gründe, das Baskenland und Katalonien zu lieben, doch um Politik soll es in diesem Buch nach Möglichkeit nicht gehen, sondern um eines der beliebtesten (Reise-)Länder weltweit.

2. GRUND

Weil die Küsten keine Wünsche offen lassen

Exotik, Wildheit, bestes Wetter, Puderzuckerstrände wie Sand am Meer. Derlei Zutaten verheißen die im Zuge des Fremdenverkehrs erfundenen Namensbeiwerke von Spaniens südlichen Küsten. Costa del Sol, die »Sonnenküste«. Costa Blanca, die »Weiße Küste«. Costa Tropical, die »Tropische Küste«. Wer kann dazu schon Nein sagen …? Etwas anders verhält es sich im äußersten Nordwesten mit der Costa da Morte, der »Küste des Todes« in Galicien, die eher nach einer Einladung in die ewigen Jagdgründe klingt. Nicht, dass Sie glauben, ein Tourismusmanager hätte bei der Wortschöpfung einen schlechten Tag gehabt. Der Name ist historisch und geht auf die Vielzahl an Schiffen zurück, die seit Menschengedenken an den Klippen zerschellt sind. Davon abgesehen ist die Todesküste um Kap Fisterra kein Ziel der Strandmassen.

Darf ich Sie zur Einstimmung kurz auf eine Komplettreise an den Festlandsküsten entlang entführen? Dann treten Sie sich bitte im Nordosten an der französisch-spanischen Grenze in Portbou die Flipflops ab und folgen mir im Uhrzeigersinn. Den Auftakt am Mittelmeer macht die Costa Brava, die »Wilde Küste« Kataloniens, die bis Blanes ein kontrastreiches Wechselspiel treibt: Klippen, lange Sandbänder, kleine Buchten. Zeigt Ihnen jemand Ferienbilder mit dem blautürkisfarbigen Schimmer des Wassers, verdächtigen Sie ihn nicht der Bearbeitung mit Photoshop! An Wasser und Licht berauschten sich bereits Künstler wie Marc Chagall, der Tossa de Mar sein »blaues Paradies« nannte, und Salvador Dalí, der lange in Port Lligat lebte. Dort schätzte Dalí die »erhabene Schönheit des Mittelmeers« und genoss es, »jeden Morgen der erste Spanier« zu sein, den die Sonne berührte – die geografische Lage und seine herrlich abstrusen Selbsteinschätzungen im Tagebuch eines Genies machten es möglich.

Über die »Sumpfland-Küste«, Costa del Maresme, erreichen wir im Süden Kataloniens die »Goldene Küste«, Costa Dorada, auf Katalanisch Costa Daurada, eine touristische Goldgrube. Das Strandpotenzial sieht sich trefflich durch das Römererbe von Tarragona ergänzt. Unbekannter ist die zur Provinz Castellón de la Plana gehörige »Orangenblütenküste«, Costa del Azahar, wo ich vor allem das Städtchen Peñíscola und den Naturpark Serra d’Irta schätze, während die »Weiße Küste«, Costa Blanca, das ABC ihrer Klassiker lehrt: Alicante, Benidorm, Calpe. In der Region Murcia erwartet uns die »Heiße Küste«, Costa Cálida, wo die Gegend um Águilas mein Favorit ist, bevor wir uns in Andalusien dem Atem Afrikas nähern. Die »Küste von Almería«, Costa de Almería, klingt einfallslos, ist aber rund um das Cabo de Gata ein Traumziel für Naturfans. Die Provinz Granada schmückt sich mit der »Tropischen Küste«, Costa Tropical, ein recht kleiner Abschnitt um Almuñécar, wo ich einige Monate gelebt habe. Internationaler Kracher der Ferienszene ist die »Sonnenküste«, Costa del Sol, die um Torremolinos und Marbella glüht. Haben wir die Straße von Gibraltar gestreift, wo sich auf der Gegenseite deutlich der Schwarze Kontinent abzeichnet, folgt am Atlantik die »Küste des Lichts«, Costa de la Luz, mit ihren raueren Stränden.

Würden wir uns per Zeitmaschine zurück in die Jahre 1580 bis 1640 katapultieren, könnte ich Ihnen die Küsten Portugals als jene Spaniens präsentieren. Damals hatte España den kleineren Nachbarn als Beute gemacht, so aber klammern wir ihn aus. Nördlich von Portugal landen wir in den Meeresarmen Galiciens, den Rías. Als Gott die Welt erschuf und sich ausruhte, stützte er sich mit den Händen ab und drückte seine Finger in die Landmasse. So und nicht anders entstanden die Rías, behaupten die Galicier. Wer wagt es, dieser Geschichte zu widersprechen? Den Aufakt machen die Unteren Meeresarme, Rías Bajas, auf Galicisch Rias Baixas, gefolgt von den Rías der eingangs erwähnten Todesküste und den Oberen Meeresarmen, Rías Altas, die bis an die Regionalgrenze zu Asturien reichen. Dort beginnt die »Grüne Küste«, Costa Verde, deren Pflanzenkleider sich dank ausgiebiger Bewässerung von oben frisch halten. Das Grün und das launische Klima setzen sich an der »Küste von Kantabrien«, Costa de Cantabria, und der »Baskischen Küste«, Costa Vasca, fort.

So, geschafft, einige tausend Reisekilometer liegen hinter uns. Bedenken Sie, dass Ihnen im Norden am Atlantik zu keiner Jahreszeit eine Schönwettergarantie zusteht. Und dass Sie zur Hochsaison am Mittelmeer keinen Anspruch auf ein ungestörtes Strandplätzchen haben, so früh Sie Ihr Handtuch auch hinlegen mögen. Für eines aber verbürge ich mich: Spaniens Küsten lassen keine Wünsche offen!

3. GRUND

Weil Bürokratie auch erheitern kann

»Spanien ist anders«, España es diferente, lautete zu Diktator Francos Zeiten ein Slogan, um Besucher ins Land der Strände und Sonne zu locken. Ja, Spanien ist durchaus anders, aber irgendwie altvertraut, wenn es um Erfahrungen mit Bürokratie und Behörden geht. Was manchmal erheiternde Seiten haben kann …

In den Anfängen meiner Sesshaftigkeit in Spanien galt es, sich als Freiberufler anzumelden, was über verschiedene Amtsstellen lief. »Journalist gibt es nicht«, teilte mir die zuständige Sachbearbeiterin allen Ernstes mit, nachdem sie eine Liste mit möglichen Berufsfeldern und deren Kennnummern gecheckt hatte, und setzte hinzu: »Aber ich hatte mal einen ähnlichen Fall, den haben wir als Töpfer eingetragen. Ist ja egal, ist alles derselbe Monatsbeitrag für die Sozialversicherung und so.« Ich ließ mir die Liste zur Durchsicht geben. So sehr ich suchte: Journalist tauchte als Selbstständiger in der Tat nicht auf. Ebensowenig Autor, Korrespondent oder Schriftsteller. Töpfer schon. So wurde ich Töpfer. Bis ich irgendwann Kenntnis einer überarbeiteten Liste bekam und gewissermaßen umschulte …

Dieser Groteske erinnerte ich mich, als ich die Amtspost von heute durchlas. Absender: das Rathaus. Obgleich seit vielen Jahren ordnungsgemäß mit Hauptwohnsitz gemeldet, verlangt das Einwohnermeldeamt von mir nun eine Rückbestätigung meiner Meldung, die bis zum Soundsovielten des Monats mit einer Kopie des Ausweisdokuments persönlich einzureichen sei. Ansonsten werde man, so entnehme ich dem Behördenspanisch, ab der genannten Frist automatisch den Vorgang der Abmeldung in die Wege leiten. Das drohende Ende in Spanien! Ich finde zwecks Kontrolle die Angaben zu meiner Person beigefügt, so wie sie im Amtscomputer stehen. Geschlecht: männlich. Korrekt. Adresse: korrekt, sonst hätte mich die Post nicht erreicht. Geburtsdatum: korrekt. Unter »Berufsausbildung« hingegen stutze ich und sehe einzig vermerkt: »Grundschule nicht beendet.« Da muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen: Das stimmt so nicht. Ich war zwar nie Einserschüler, kann aber lesen, schreiben und manchmal sogar etwas rechnen. Nach meiner Versetzung war ich auf dem Gymnasium, habe Abitur, studiert, eine Magisterarbeit und meine Dissertation – im Gegensatz zu manch deutschem Politiker – selbst und mit eindeutigen Angaben der Quellen verfasst. All dies werde ich dem örtlichen Rathaus gegenüber selbstverständlich verschweigen, denn: Sämtliche Dokumente von mir liegen einzig auf Deutsch vor. Will ich den Beweis antreten, die Grundschule nicht geschmissen, sondern mich nach dem zehnten Lebensjahr weitergebildet zu haben, befürchte ich, bis zum Soundsovielten des Monats beglaubigte Kopien meiner Zeugnisse und Nachweise vorlegen zu müssen. Samt autorisierter Übersetzungen, versteht sich. Unter diesen Vorzeichen bleibe ich lieber: Kinderkrippenabsolvent.

4. GRUND

Weil der Wohlklang der Sprache schon beim Namen beginnt

Plötzlich war es um mich geschehen, als ich im Hochschulsekretariat von Granada verfolgte, wie sie ihre Unterschrift mit feierlicher Hingabe und Feingliedrigkeit zelebrierte: María Encarnación González Álvarez. Mit jedem Vokal, jedem Konsonanten schien sie ihren Namenszug auszukosten, was bei dieser Länge deutlich mehr Zeit in Anspruch nahm als bei einem handelsüblichen Tim Schmitz in meiner deutschen Urheimat. Öfter noch ließ ich mir danach ihren Namen auf der Zunge zergehen, da steckten ein weicher Fluss und Rhythmus drin, verbunden mit einem Hauch Exotik. María Encarnación González Álvarez. Um Spekulationen vorzubeugen. Nein, da war sonst nichts zwischen uns. Nach fünf Minuten verlor ich sie aus den Augen. Und sie wird nicht einmal wissen, wie sehr mir an ihrem Beispiel aufging, dass der Wohlklang der spanischen Sprache schon beim Namen beginnt (einer Weltsprache im Übrigen, die rund um den Globus etwa 500 Millionen Sprecher hat).

Während eine Geschlechtsumwandlung zwangsläufig die Änderung des Vornamens mit sich bringt – schnipp, aus Juan mach Juanita –, behalten Spanier und Spanierinnen selbst nach zehnfacher Heirat ihren allerersten Nachnamen auf ewig. Dieser ist immer ein doppelter: ein Teil vom Vater, der andere von der Mutter. In welcher Reihenfolge, steht nach heutiger Gesetzeslage frei. Im alten Macholand Spanien hat Papa kein automatisches Vorrecht mehr. Geblieben ist jedoch, dass beim Vornamen gerne etwas Heiliges mitschwingen darf. Und dass er auf Spanisch gut auszusprechen ist. Kein Justin, kein Dustin, keine Chantal. Stattdessen María Encarnación oder Salvador, was bei der Übertragung ins Deutsche seinen Reiz verliert, wie ich finde. María Encarnación, Maria Fleischwerdung. Salvador, der Erlöser. Stellen Sie sich vor, Sie rufen Ihre Kinder so an den Tisch: »Maria Fleischwerdung, Erlöser, Essen ist fertig!« Auch andere Vornamen, die auf Spanisch melodisch dahinfließen, landen auf dem Boden der Ernüchterung, wenn ich sie übersetze:

•Dolores – Schmerzen

•Consuelo – Trost

•Esperanza – Hoffnung

•Paloma – Taube (der Vogel, nicht die Gehörlose)

•Mercedes – Gnaden (keine Automarke)

•Soledad – Einsamkeit

•Trinidad – Dreifaltigkeit

•Adoración – Anbetung

•Candelaria – Lichtmess

•Asunción – Himmelfahrt

Überhaupt nicht gefallen mir dagegen África (in der Tat: Afrika!) und Jesús, das klingt viel zu schroff und nach Löchern in den Händen.

Kommen wir zurück zu poetischeren Varianten, allesamt für Mädchen. Sie klingen auch übersetzt gut, obgleich ich die Namensgebungen auf Deutsch nicht uneingeschränkt empfehlen kann:

•Estrella – Stern

•Rocío – Morgentau

•Alba – Morgendämmerung

•Flor – Blume

•Luna – Mond

•Paz – Friede

•Conchita – kleine Muschel

•Milagros – Wunder

•Blanca – die Weiße

•María del Mar – Maria vom Meer

•María de los Angeles – Maria von den Engeln

5. GRUND

Weil das Klima des Südens ein Pluspunkt ist

Während Spaniens Wetterfrösche bei Voraussagen für den wechselhaften, atlantisch geprägten Nordsaum oft falsch tippen und zur Strafe ihre Wetterfroschschenkel für wohltätige Zwecke zur Verfügung stellen sollten, haben sie es im Süden der Iberischen Halbinsel einfach. Da in manchen Gegenden über 320 Sonnentage pro Jahr zu Buche schlagen, liegen sie mit dem Sonnensymbol meistens richtig. Das darf nicht zum Fehlschluss verleiten, dass sich in Häusern und Wohnungen Südspaniens die Heizung erübrigt! Und das Mittelmeer hat nicht jahresdurchgängig Badewassertemperatur!

Lassen wir die frühlingshaft-sonnigen Kanaren außen vor, denen eine inseleigene Publikation zu Gran Canaria einmal »das beste Klima der Welt« attestierte, sticht auf dem Festland Andalusien als Paraderegion der milden Winter hervor. Aus Sicht der zwischen Herbst und Frühjahr durchfröstelten Mittel- und Nordeuropäer ist das mediterrane Klima Neid erweckend. Katalogversprechen von 3.000 Sonnenstunden pro Jahr sind nicht aus der Luft gegriffen, im Jahresdurchschnitt liegt die Temperatur in Andalusien bei 17 Grad im Plus. Die angenehm temperierten Wintermonate bringen internationale Rentnerarmadas wochen- und monatsweise ins Land. Bevorzugte Ziele sind Küstenabschnitte wie die »Sonnenküste« Costa del Sol, doch weiter aufwärts am Mittelmeer entlang bringt es selbst die »Orangenblütenküste« Costa del Azahar noch auf 300 Sonnen-, 35 Wolken- und lediglich 30 Regentage pro Jahr. Sonnenbaden, wandern, die Mandelblüte zu Jahresbeginn erleben, auf der Terrasse mit Meerblick frühstücken, pure Gesundheit einatmen – das nenne ich beste Alternativen zu Schneeschippen, Frostbeulenpflege und Inhalation von Heizungsluft.

Shorts und Shirts taugen allerdings nicht überall in Andalusien, wo es Ihnen theoretisch gelingen könnte, am selben Tag zu verglühen, zu erfrieren und zu ertrinken. Während die Steppen- und Halbwüstenzonen der Provinz Almería mit ihrem Jahresniederschlag von weniger als 200 Millimetern zu den knochentrockensten Gebieten Europas zählen und ein semiarides Klima aufweisen, ist zur Winterzeit in den Berggebieten der Sierra Nevada und Alpujarra mit Minusgraden zu rechnen. Und die Sierra de Grazalema ist eine der regenreichsten Gegenden Spaniens! Über die Berge ergießen sich Jahresmittel von über 2.200 Litern pro Quadratmeter, offiziell fällt das Klima unter kontinental-feucht. Derlei Mengen halte ich eher für: sehr feucht.

Überhaupt fließt in Andalusien ein Extrem ins nächste. Im winterlichen Granada können die Temperaturen zwischen Gefrierpunktnähe nachts und lauschigen 20 Grad mittags pendeln. Sevilla im Frühjahr, Herbst und Winter ist durchaus angenehm, doch im Hochsommer liegt Gluthitze über der Stadt. Kein Lüftchen regt sich, in den Straßen stauen sich 40 Grad, jeder Schritt beschert Saunaeffekt. »Wann immer ich an der Ampel stand, spürte ich, wie meine Beine verbrannten«, sagt meine Frau, als sie selbige noch nicht war, über jene Zeit, als sie dort einen Sommer verbrachte. Die Erinnerungen treiben ihr noch heute die Schweißperlen auf die Waden. Im Gegensatz dazu peitschen an der nahen Costa de la Luz, der »Küste des Lichts«, wilde Winde über den Atlantik. Und die Hitze ist wie weggeblasen.

6. GRUND

Weil eine gewisse Zeitverschiebung greift …

Die Logik ist schlüssig. Tage, die später beginnen, enden auch später. Das kam mir von Beginn an nicht spanisch vor, sondern sehr entgegen. Obgleich Spanien in derselben Zeitzone liegt wie Mitteleuropa, gehen die Uhren anders. Das betrifft Essenszeiten, Öffnungszeiten, Schulzeiten. Es greift eine gewisse Zeitverschiebung. Als unsere älteste Tochter jüngst vor der Abfahrt zu ihrem ersten Schüleraustausch nach Deutschland erfuhr, dass dort die erste Stunde um 7.30 Uhr anfängt, zu einer Zeit also, zu der sie sonst aufsteht, hätte sie ihr junges Leben vor Schreck fast ausgehaucht. Sie war an halb neun oder neun gewöhnt. Nun, dass man in Alemania zwischen zwölf und eins zu Mittag und um 18 Uhr zu Abend isst, kannte sie zumindest von Ferienaufenthalten. Im Gegenzug stehen Mitteleuropäer in Spanien unter Schock, sofern sie nicht gerade in Lloret de Mar oder Benidorm in ebendiesem Wortlaut den Schildern »Durchgehend warme Küche« folgen …

»Ach, dieses späte Abendessen bei euch, da kann man ja gar keine Kalorien mehr verbrennen«, sagen mir Besucher und schütteln verzweifelt den Kopf. Dabei nehmen sie schon um halb neun an der Tafel Platz, nach spanischem Ermessen höllisch früh. Wer um diese Zeit ein Restaurant betritt, outet sich als Ausländer. Im spanischen Freundeskreis verabredet man sich freitags oder samstags gerne um zehn oder elf zum Dinner. Und meine Schwiegermutter isst tagtäglich gegen halb elf zu Abend – was man ihr vom Hüftgold her leider ansieht. Sie möge den Hinweis verzeihen.

Den Schnitt in den spanischen Tag setzt die Schließens- und Ruhezeit am Mittag. Spaniens Einzelhändler machen um halb zwei, spätestens um zwei, mehrheitlich die Schotten dicht. Bis mindestens halb fünf. Da sieht man freudig dem Essen entgegen, der Siesta hinterher, dem Nickerchen, einem Powernapping. Erfunden wurde die Siesta, um die (Freiluft-)Arbeit während der heißesten Tageszeit zu vermeiden. Heute droht der Tradition von vielerlei Seiten Gefahr. Großsupermärkte, Ladenketten, Souvenirshops, Ramschläden, manche Museen und Monumente haben durchgehende Öffnungszeiten. Vor allem in den Metropolen. Und wer als Spanier bei einem multinationalen Unternehmen angestellt ist, wird sich über Mittag schwer für ein paar Stündchen verabschieden können, weil man das Ritual der Eltern und Großeltern aufrechtzuerhalten gedenkt. Dabei steht außer Zweifel, dass eine Siesta fit macht für des Tages weiteren Verlauf. Zum Beispiel für »Abendveranstaltungen«, die reine Definitionssache sind. So manches Konzert beginnt erst um elf. Und Fußballspiele der spanischen Liga, zu deren TV-Übertragung man sich in Kneipen einfindet, enden zuweilen kurz vor Mitternacht. Letzten Monat hatte ich mir den Termin für eine Lesung von Ildefonso Falcones (Die Kathedrale des Meeres) vorgemerkt. Beginn im Kulturzentrum: ein Freitag, 23.30 Uhr. Zielpublikum: ein ganz normales. Dass ich die Veranstaltung im besten Wortsinn verschlief, sei hiermit kleinlaut hinzugesetzt. Das kommt davon, wenn man keine Siesta hält.

7. GRUND

… und weil der Umgang mit Zeit überhaupt flexibel gehandhabt werden kann

»Ich gestehe, dass es keine Angelegenheit gibt, die ich heute erledigen kann und nicht auf morgen verschiebe«, legte der Romantiker Mariano José de Larra (1809–1837) seinem Ich-Erzähler in der wunderbaren Farce Kommen Sie morgen wieder in den Mund (der ich übrigens eine eigene Episode, den 47. Grund, widme). Larras literarisches Spiel mit dem Phlegma, das er beiläufig an den »Einfluss des Klimas und anderer Ursachen« koppelte, ist bald 200 Jahre alt, aber Spiegel eines unausrottbaren Teils der spanischen Mentalität geblieben. Es ist, wie es ist und wie es war: Da Lebenskunst auch eine Kunst ist, kann der Umgang mit Zeit flexibel gehandhabt werden.

Morgen ist ja erst morgen und auch noch ein Tag, von der Pünktlichkeit ganz zu schweigen. Die erinnert bei Verabredungen in Spanien an Russisch Roulette. Wie kann man nur so denken, von A nach B verschieben, um Längen später (dafür strahlend und mit der passenden Ausrede!) zum Date kommen, den Zeiger der Uhr für reinen Dekor des Gehäuses halten? »Das gibt es nicht«, habe ich, der zugestoßene Mitteleuropäer, oft geurteilt und schenke bis heute niemandem Glauben, der verspricht, »später« anzurufen oder – wie vorletzte Woche im Fall von Immobilienmakler Luis – bei uns vorbeizuschauen, um einen Schlüssel abzuholen. »Morgen komme ich vorbei«, sagte er. Vergangene Woche erinnerte ich ihn telefonisch daran. »Mensch, was habe ich für einen Kopf«, entgegnete er und versprach hoch und heilig: »Ich fahre gleich los.« Es dürften zwei Kilometer gewesen sein. Angekommen war Luis bis zum Redaktionsschluss dieses Buch nicht.

Spanier leben im Hier und Jetzt – und damit irgendwie gesünder! Morgen, mañana,scheint allzu sehr in die Zukunft gedacht. Es kommt ohnehin nicht immer so, wie man denkt und vorplant. Selbst »gleich«, luego, kann zu weit in der Ferne liegen, wie das Beispiel von Luis zeigt. Diese Haltung ist für mich seit jeher gewöhnungsbedürftig gewesen, doch erfährt im Grunde meine Hochachtung. Man beugt damit automatisch Herzattacken und Magengeschwüren vor, mindert die Gefahr von übermäßigem Stress, Burnout-Syndromen. Wie man als Mentalitätsfremdling damit umgeht? Tragen Sie es mit Gelassenheit, Fassung, Humor. Werten Sie es nicht als Affront. Am besten ist, Sie erwarten nichts, während Sie warten. Umso angenehmer können Sie überrascht werden.

Der Fairness halber setzte ich hinzu, dass natürlich nicht alle Spanier so denken und handeln. Wenn ich das familiäre Umfeld samt Anhang kurz ausleuchte, würde ich sagen: Hälfte, Hälfte. Und wenn Schlagzeilen zu den großen Fußballclubs aus Madrid und Barcelona kursieren, die neunjährige Jungs aus Japan verpflichten, damit aus einem Supertalent vielleicht in einem Jahrzehnt ein Weltstar wird, muss ich sagen: Wenn das nicht vorausschauend ist!

8. GRUND

Weil die verlängerten Wohnzimmer außer Haus liegen

Treten Sie ein ins verlängerte Wohnzimmer! Nein, es ist nicht der häusliche Balkon, nicht die Terrasse. Rätseln Sie nicht weiter. Der Südländer ist zwar grundsätzlich ein Herdentier, aber das eigene Reich ist für Fremde im Wesentlichen tabu. Arbeitsersparnis, Scham vor einem vielleicht allzu einfachen Interieur, das sind Faktoren, die mitschwingen. »Kommt uns doch mal besuchen«, werden Sie selbst als Floskel in Spanien nicht hören, es sei denn, Sie befinden sich in einer Kolonie der Zugewanderten. Es mag sich seltsam anhören, doch bei manchen langjährigen Freunden waren wir nie daheim und sie nicht bei uns. Die verlängerten Wohnzimmer finden sich außer Haus in einem Koordinatensystem, das drei Punkte kennt, allesamt segensreiche Erfindungen: den Platz, die Promenade, die Kneipe. Dort verbringen Spanier gewisse prozentuale Anteile ihres Lebens.

Hot Spot ist zuallererst der Platz, die plaza, ein Schaufenster des Lebens, der Klassiker unter den Open-air-Treffs, die Vorzeigeadresse einer Stadt, eines Viertels, eines Ortes – entsprechend gepflegt und idealerweise für den Durchgangsverkehr gesperrt. Ein Platz ist eine Oase, ein eigener Kosmos, in sich geschlossen und zugleich für jedermann offen. Ein bunter Querschnitt durch alle Schichten findet sich hier zu allen Jahreszeiten ein. Verabredet oder zufällig. Turtelnd, Händchen haltend, zeitungslesend, palavernd. Alte, Junge, Familien, Einzelgänger, Männer in Grüppchen, Frauen in Grüppchen. Außenstehende mögen von Gesprächsfetzen, Lautstärke und fahrigen Gesten auf grobschlächtige Charaktere schließen. Falsch. Hinter der – zugegebenermaßen – oftmals harten spanischen Schale verbirgt sich ein weicher Kern mit großem Herzen, vor allem für Kinder. Die nämlich dürfen auf dem Platz umhertoben, so laut sie wollen, Fangen spielen, Radfahren üben, Tauben hinterherjagen.

Spaniens Plätze strahlen Persönlichkeit aus, spiegeln die Stimmungslage der Bewohner wider, geben selbst einem gesichtsloseren Umfeld ein Gesicht und Großstädten einen Hauch dörflicher Aura. Wie ich es in Madrid und Salamanca liebe, inmitten der Stadtstrudel auf die jeweilige Plaza Mayor geschwemmt zu werden! Oder in Barcelona auf die Plaça Reial und vor meiner Haustür in Pamplona, kaum fünf Gehminuten entfernt, auf die Plaza del Castillo mit ihren schmuckvollen Laternen, den Arkaden, Platanen, Holzbänken, Blumenbeeten, dem Musikpavillon in der Mitte.

Plätze sind Kontaktforen und Kommunikationszentralen mit Immer-was-los-Garantie. Hier steigen Konzerte, Märkte, Demonstrationen. Hier drosselt man sein Lebenstempo, setzt sich ins Café, sucht sich ein Plätzchen auf der Bank, schöpft neue Kräfte, fühlt sich als Teil einer großen Solidargemeinschaft. Da es auch um das Sehen-und-gesehen-Werden geht, trifft niemand der Einheimischen in abgerissener Kluft ein, sondern wahrt, nicht zuletzt um sich nicht zum Geschwätz zu machen, Stil und Eleganz. Gleiches gilt für Spaziergänge über die Promenade, den paseo,den nächsten Typus Großtreff, wie man ihn besonders schön an den Küsten findet, wenn ich an die Explanada de España in der Mittelmeerstadt Alicante oder den Paseo de la Concha an der Atlantikbucht von San Sebastián denke.

Kommen Sie einfach selbst vorbei und überzeugen Sie sich! Plätze und Promenaden bieten kostenlosen Anschauungsunterricht zur Einstimmung auf Spanien und die Spanier.

9. GRUND

Weil historische Reiseskizzen treffend einstimmen

»Land meiner Träume«, urteilte der Deutsche Reinhold Baumstark in seinem Buch Mein Ausflug nach Spanien im Frühjahr 1867. »Schön und majestätisch ist hier der Anblick des in südlichem Glanze leuchtenden Meeres«, schwärmte er von der Mittelmeerstadt Alicante und sah deren Kastell Santa Bárbara »großartig über das ganze Landschaftsbild« emporragen. Bei Valencia zog ihn die »Fruchtbarkeit dieser paradiesischen Gegend« in den Bann: »Herrliche Dattelpalmen, riesige Feigenbäume, Orangen, Zitronen, Oliven, Aloen oder Agaven von gewaltiger Größe, dazwischen Feld- und Gartengewächse jeder Art und, beinahe verdeckt von dieser üppigen Vegetation, weiße Häuser und Strohdächer, die kleinen Dörfer der Huerta. Alles zusammen gibt ein glänzendes Bild einer glücklichen, von menschlichem Fleiß mit reichstem Erfolge gepflegten Natur.«

Historische Reiseskizzen stimmen treffend ein, wecken die Neugier auf España, spornen zu eigenen Unternehmungen an. »Plötzlich fand ich mich in einem der schönsten Kreuzgänge wieder, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe«, notierte der Franzose Victor Hugo (1802–1885) in Alpes et Pyrénées über seinen Besuch der Kathedrale von Pamplona. »Alles ist schön an diesem Kreuzgang, die Ausdehnung und die Proportion, die Form und die Farbe, das Ganze und das Detail, der Schatten und das Licht. Sogleich lässt ein altes Fresko die Mauer lebendig wirken, sogleich ein Marmorgrab, angenagt von den Jahren, sogleich eine Eichentür.« Einige Jahrzehnte vor Hugo, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hatte der deutsche Gelehrte Wilhelm von Humboldt (1767–1835) ausgiebig das Baskenland erkundet. Mal überraschte ihn »die ungeheure Meeresaussicht«, mal das Miteinander aus Atlantik, Fischerhäfen, Bergen und tiefen Tälern, die »mächtigen, von der Zeit ausgegrabenen Furchen« glichen und von »Ackerland, Wiesen und reizenden Gebüschen« bedeckt waren. In Die Vasken fasste Humboldt in der Sprache seiner Zeit treffend zusammen: »Wenn man die Wildheit und die furchtbare Größe einer Gebirgsgegend bis zur anmutig überraschenden Abwechslung von Bergen und Tälern, die Strenge eines nördlichen Klimas bis zu erquickender Kühle und stärkender Frische mildert; wenn man der trägeren Vegetation des Nordens einen schnelleren und kräftigeren Wuchs leiht, den kalten, manchmal finstren Ernst seiner Bewohner mit einem Teil der Lebhaftigkeit und der Heiterkeit des Südländers versetzt, so hat man ein treues Bild von Biscaya und vorzüglich von den bevölkertsten und fruchtbarsten Teilen Guipuzcoas.« Und weiter zu Klima und rauer Faszination: »Man fühlt, dass man sich im Norden befindet, die Luft im Frühjahr und Herbst ist nicht eigentlich milde zu nennen, die Produkte unsres Vaterlandes und des nördlichen Frankreichs finden sich auch hier, die zarteren des Südens, Orangen, Palmen, Mandeln, selbst Olivenbäume fehlen. Aber dieser Norden ist der Norden Spaniens, und die Vegetation findet in der reichlichen Bewässerung des Landes einen mehr als hinlänglichen Ersatz für die anhaltend rauere Witterung. Täler und Berge sind hier lieblicher aneinandergereiht und ineinander verschränkt als leicht in irgendeinem anderen Lande.«

Hans Christian Andersen (1805–1875), ansonsten weithin als Märchenverfasser bekannt, reiste 1862 kreuz und quer durchs Land. »Mittelalterlich, malerisch und voller Poesie«, urteilte er in dem Werk In Spanien über Toledo, während er Sevilla dank des Kulturerbes aus Dom, Alcázar und den Bildern von Meister Murillo in der Reihe der »interessantesten Städte Europas« stehen sah. In ihrer Gesamtheit sei Sevilla »in Musik gesetzt, in Tönen gemalt«, befand er. Und in Madrid wollte er am liebsten »über Jahr und Tag« im Prado-Museum bleiben, um sich »in alle diese Herrlichkeiten hineinzuleben«.

Wer Spaniens Kultur- und Naturschätze für sich heben und Menschen begegnen will, die Reinhold Baumstark als »liebenswürdig« und »im höchsten Grade lebendig, lärmend, gesprächig« beschrieb, wird heute bequemer reisen als die Verfasser der historischen Skizzen. Diese nämlich wurden auf Pferderücken, in Kutschen und Zugabteilen so richtig durchgerüttelt.

10. GRUND

Weil das gute alte Spanien trotz allem fortlebt

Der Rauch beißt in den Augen, Aschepartikel wirbeln durch die Luft. Es ist heiß, es gart und blubbert in den Metallkesseln über den offenen Feuern. Männer in Schürzen legen immer wieder Holzscheite nach. Seit sechs Uhr in der Früh sind sie in und um das Kochhaus auf den Beinen. Während des übrigen Jahres liegt das kleine Gebäude, das einst zur Königlichen Tuchfabrik gehörte und nunmehr an den Parkplatz hinter dem Rathaus stößt, funktionslos da. Einzig heute, stets am ersten Samstag nach Frühlingsbeginn, füllt es sich mit Leben, wenn die Tradition des »Reparto de habas« ansteht. Habas sind Ackerbohnen, die nach ausgiebiger Wässerung über sechs Stunden lang kochen, bevor der reparto einsetzt, die »Verteilung« ans Volk. Ich schaue auf die Uhr: fehlen zwei Stunden. Der Schauplatz: Ezcaray, ein Ort in der Rioja, auf der touristischen Landkarte ein Fliegenschiss.

Als Bohnenkocher treten die 14 Mitglieder der »Cofradía de San Benito« in Aktion, der Bruderschaft von Sankt-Benedikt. Ein Miniaturbildnis des Heiligen steht auf einem Sockel neben der Tür. »Wir führen die Bräuche der von hier verschwundenen Benediktiner fort, die früher immer Bohnenportionen vorrätig hatten, um sie an Arme zu verteilen. Das war schon vor Jahrhunderten deftig und sättigend«, sprudelt Chefkoch Carmelo hervor. Dann greift er zu einem Holzstab von Kleinkindslänge und beginnt, das Innere eines der Kessel beherzt durchzurühren. Der Boss lässt nichts anbrennen. Sage und schreibe 21 Behältnisse, deren Volumen eher Vorratsfässern denn bekannten Haushaltsgrößen entsprechen, stehen akkurat aufgereiht auf Stützen über den Feuern. »Die Mengen, die wir kochen und verteilen, haben sich kontinuierlich gesteigert«, sagt Lockenkopf Juanma, wie Carmelo seit Jahren eine Säule der Bruderschaft. Als Rohmaterial des Mega-Eintopfes dienen 400 Kilogramm Bohnen, die allerdings nicht mehr wie früher von den Äckern der Rioja stammen, sondern heute aus der Mittelmeerregion Valencia geliefert werden. Juanma und Kollege Antonio zählen weitere Zutaten auf. Knoblauch. Eine Hundertschaft getrockneter, zerkleinerter Pfefferschoten. Paprikapulver. Über zwei Zentner Zwiebeln. Und ebenso viel Speck und Schinkenknochen, die gerade abseits in einem Eck ausgekocht werden. Es riecht tierisch und würzig zugleich. Bei den habas, erfahre ich, ist die erste Stunde für das Gelingen entscheidend, vor allem, »wenn wir zu Beginn kaltes Wasser in die erhitzten Kessel geben und die Bohnen abschrecken«, erklärt Carmelo. Hand aufs Herz, jetzt, in fortgeschrittenem Kochstadium, sind die Kessel nicht gerade ein Paradeanblick für Ästheten. Es gibt keinen, aus dem nichts über den Rand getreten und die metallenen Außenwände verklebt und verkrustet hätte. Und drinnen blubbert die braungelbe Masse.

Die Verteilung der gekochten Hülsenfrüchte erfolgt kostenlos, getragen von Spenden an die Bruderschaft und Verkäufen der Weihnachtslotterie. Kurz nach elf finden sich die ersten Dörfler am Absperrband auf dem Parkplatz ein. Das Prinzip ist einfach: Wer ein Gefäß mitbringt, bekommt ab halb eins Eintopf. Um die Zeit kulinarisch zu verkürzen, schaut Juanma bei den Wartenden mit Wein vorbei und Tabletts voller chorizo, Spaniens typischer Paprika-Knoblauch-Wurst. Aus einem Lautsprecher krächzt Musik über den Platz.

Im Innern des ziegelgedeckten Kochhauses, aus dem der Rauch an der Rückseite abzieht, verfolge ich die Arbeitsschritte der Männer, fühle mich warmherzig aufgenommen. Einer versorgt mich mit chorizo,ein anderer mit einem Plastikbecher Rotwein. »Koste, koste«, animieren sie mich. Als es auf das Ende des Kochvorgangs zugeht und die Flammen allmählich erlöschen, ist Carmelo nicht ganz zufrieden. Er sieht noch Baustellen bei Konsistenz, Farbe, Geschmack. Rasch geben seine Mitstreiter einige Zusatzliter ausgelassenes Fett in den Eintopf und rühren Paprikapulver in Regimentsrationen hinein. Kurz darauf strahlt der Meister und reicht mir seinen Suppenlöffel, mit dem er gerade selbst abgeschmeckt hat. Ich verdränge die Gedanken an Speichelreste und potenzielle Krankheitserreger, tunke ihn erneut in den Kessel, teste, befinde wahrheitsgemäß »Köstlich« und gelange zu dem Schluss: Hier lebt ungebrochen ein Stück des guten alten Spanien fort! Trotz allem. Trotz jüngster Hygieneverordnungen. Trotz immerneuer Auflagen aus dem weltfernen behördlichen Wasserkopf der EU. Einzig getragen von Begeisterung und Idealismus der Brüder von Sankt-Benedikt aus Ezcaray.

In der Schlange, die sich draußen in der Sonne mittlerweile weit aus dem Parkplatzgelände hinauswindet, dürften die wenigsten den Bedürftigen zuzurechnen sein. Doch Tradition ist Tradition, die hier jeder kennt. Vor Beginn der Ausgabe gilt es, sich so lange zu gedulden, bis Ortspfarrer José Luis das Küchenhaus betreten und den gekochten Bohnen Kessel für Kessel den Segen erteilt hat. Erst danach tragen die Brüder die Kübel hinaus auf den Platz und stellen sie auf Paletten. Bei der Ausgabe werden Stieltöpfe zu Schöpfgefäßen umfunktioniert. Juanma, im wahren Leben Bankangestellter, fühlt sich beim reparto erneut in seinem Element und schwitzt unter der Kochmütze so stark wie drinnen. Der Bohneneintopf ist nicht für den Verzehr vor Ort bestimmt, sondern zur Mitnahme, für daheim. Verteilt wird, bis nichts mehr da ist. Die Leute nähern sich mit Kochtöpfen, Tupperware, Behältnissen jedweder Urbefüllung. Auf ein paar Plastikeimerchen lese ich »Mayonnaise« und »Oliven«. Und auf einem andern: »Acryl-Wandfarbe für den Innenanstrich«. Wie gut, dass hier und heute keinbehördlicher Erbsenzähler aus der Abteilung »Kontrollvorgaben für die Abgabe und Entgegennahme von zum menschlichen Verzehr bestimmten Bohneneintöpfen« Mittagsschicht hat und den Spielverderber gibt.

KAPITEL 2