13zehn - Daniel Juhr - E-Book

13zehn E-Book

Daniel Juhr

3,0

Beschreibung

Zwei Autoren. Vier Geschichten. Ein böses Ende. Ein Pfarrer und seine dunkle Vergangenheit. Ein Vater und seine verschwundene Tochter. Eine Mutter und ihr folgenschwerer Unfall. Eine junge Frau und ihre abgründige Familie. Vier Geschichten. Lies sie einzeln. Nacheinander. Durcheinander. Aber nur, wenn du sie alle liest, kommst du dem düsteren Rätsel auf die Spur. Triffst Menschen und entdeckst Orte, die immer wiederkehren. Denn keine Geschichte steht für sich allein in diesem einzigartigen Mysterythriller. Alles hängt zusammen, wie von einer alten Brücke gehalten. Und dann kommt das Ende, das alles in Frage stellt, woran du bei 13zehn geglaubt hast. Bist du bereit für die Wahrheit?

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Seitenzahl: 451

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Bist du bereit

für die

Wahrheit?

Wer es gemacht hat

(Impressum)

© 2019 by Daniel Kohlhaas

(Wie es beginnt, Rosebud, Wie es weitergeht, Rattenkinder)

© 2019 by Daniel Juhr

(Regenbogenkind, Roukan, Wie es endet)

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

JUHRmade – Daniel Juhr – Waldweg 34a – 51688 Wipperfürth

www.juhrmade.de – www.13zehn.de

Lektorat: Volker Maria Neumann

Satz: JUHRmade

Korrektorat:

Susanne Stierhofer, Nadja Biermeyer, Jessica Reif, Harry Cremer und Daniel Juhr

Cover-Artwork: Stefan Heilemann, www.heilemania.de

E-Book-Herstellung Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Originalausgabe, 1. Auflage 2019. Das Werk ist vollumfänglich geschützt.

Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch den Verlag.

Alle Hauptfiguren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

ISBN: 978-3-942625-52-4

Was dich erwartet

Cover

Titel

Impressum

Wie es beginnt

Daniel Kohlhaas: Rosebud

Daniel Juhr: Regenbogenkind

Wie es weitergeht

Daniel Kohlhaas: Rattenkinder

Daniel Juhr: Roukan

Wie es endet

Wie es beginnt

Ich bin in der Hölle.

Er liegt da, auf dem Rücken. Keucht, zittert. Der Himmel ist ein Spiegelbild der Welt. Unaufhaltsam prallen Wolkentürme aufeinander, fressen sich gegenseitig auf. Der Himmel weint. Abgeplatzte Rinde, tiefe Krater im feuchten Waldboden, umgestürzte Bäume, von Einschusslöchern übersät. Überall riecht man den Tod. Gott wendet sich ab.

Ich bin in der Hölle.

Er dreht sich auf den Bauch, würgt das brackige Bodengemisch herunter. Rechter Arm vor, Bein nachziehen, Stiefel in die Erde rammen. Tiefste Gangart. Vor ihm liegt ein Hügel, den er schwerfällig nach oben robbt, den Kopf geduckt. Rechts und links zischen Geschosse vorbei. Sie treffen ihn nicht, aber er kann sie spüren.

Deckung. Sie lauern überall. In den Baumkronen. In Gräben. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Alles auf Anfang. Der reine Instinkt. Überleben.

Er legt an. Sie sind überall. Minen. Scharfschützen. Baumkrepierer. Seine klammen Finger umschließen das Gewehr, der Zeigefinger am Abzug. Bevor er abdrückt, muss er sichergehen, dass er durch den Schuss nicht seinen Standort verrät.

Ich bin in der Hölle. Seit sieben Tagen schon. Und ich werde in diesem verschissenen Wald sterben.

Er hat Utah Beach überlebt, den Durchbruch bei Saint-Lô, die Schließung des Kessels von Falaise. Aber seit sieben Tagen weiß er, dass die Hölle ein Wald in Deutschland ist. Seine Kameraden haben ihn den „Hurt-genwald“ getauft. Unaufhörlich fällt Regen, tränkt mit dem Blut der 9. US-Infanteriedivision das Erdreich. Ihm ist schwindelig, die Konturen verwischen. Der Feind sei müde, hat man gesagt. Die letzte Offensive. Befehle. Schreie. Detonationen. Er ist der einsamste Mensch der Welt inmitten verfeindeter Armeen. Sein ausgezehrter Körper krampft sich zusammen.

Ich bin in der Hölle. Seit sieben Tagen schon. Und ich werde in diesem verschissenen Wald sterben. Aber nicht heute.

Man sei technisch überlegen, wurde gesagt. Doch hier gilt das nicht. Für Artillerie und Luftwaffe ist es unmöglich geworden, in diesem unwegsamen Gelände Ziele auszumachen. Die Fahrzeuge bleiben stecken. Der Wald ruft. Mann gegen Mann. Hinter den Bäumen lauern sie. In den Kronen kauern sie. Man sieht die Deutschen vor lauter Bäumen nicht.

Sein gesamter Körper fühlt sich wie eine große Wunde an. Die Muskeln brennen. Die Glieder sind bleischwer. Seine Augen müde. Für einen kurzen Augenblick ruht die Welt. Atmet aus. Um ihn dann mit voller Wucht in die furchtbare Realität zurückzuschleudern. Es tut weh. Auf einmal. Er rollt sich zur Seite, in den Schatten einer Wurzel. Es klingt wie ein Knarzen, wenn er ein- oder ausatmet. Pfeifend. Rasselnd. Er streift das Gewehr ab, knöpft die Jacke auf. Der Stoff seines T-Shirts saugt gierig das nasse Rot auf. Erst jetzt explodiert der Schmerz.

Dieser Wald ist die Hölle. Seit sieben Tagen bin ich schon hier. Und heute werde ich sterben.

Ein Ruck durchfährt seinen Körper, er spürt den harten Griff um die Knöchel. Sein Hinterkopf schlägt auf die Erde. Jemand schleift ihn über das kalte Nass. Der heiße Schmerz verbrüht jedes Gefühl. Er will reden. Um Hilfe schreien. Angst und Panik ziehen in die Schlacht. Doch in ihrer Mitte dehnt sich eine tiefe Ruhe aus. Seine Augenlider flackern. Sanitäter. Eine willkommene Ohnmacht breitet ihre Arme aus.

Über das Geschrei, das Donnern, die Schläge legt sich ein sattes Brummen. Es schwillt an. Helle Lichtflecke mischen sich in das dichte Schwarz. Leuchtsterne. Er fällt. Tiefer. Immer tiefer.

Plötzlich ist da ein Licht. Grell. Blendend. Daraus treten Schatten hervor. Der eine Umriss wölbt sich, er vernimmt einen rasenden Herzschlag. Einer der dunklen Flecke liegt neben ihm auf dem Boden. Er scheint krank zu sein. Brabbelt unverständliches Zeug. Und da, da ist sie. Er weiß, dass es eine Sie ist. Er kennt sie. Liebt sie. Dass sie hier bei den anderen Schatten ist, bricht ihm fast das Herz. Sie beugt sich zu ihm herab. Fast berühren ihre dunklen Strähnen sein Gesicht. Ein letzter Schatten ist zu sehen. Er redet zu ihm, ein tiefes Timbre. Nein, er spricht nicht. Er singt. Vom Vermissen, vom Wiedersehen, von einem Regenbogen. Sie alle bilden einen Kreis, fassen sich an den Händen, verschmelzen. Tränen steigen in seine Augen. Das Brummen verändert sich zu einem rhythmischen Rattern. Die Gestalten lösen sich auf. Zerfließen.

Ich bin in der Hölle. Seit sieben Tagen schon. Und ich werde in diesem verschissenen Wald sterben. Aber nicht heute. Denn heute ist mein Geburtstag.

Rosebud

I would tell you about the things they put me through,

the pain I’ve been subjected to,

but the lord himself would blush

Depeche Mode, Walking in my shoes

We are the nobodies,

wanna be somebodies,

when we’re dead, they’ll know just who we are

Marilyn Manson, The Nobodies

1

9,81. Kein Stoßgebet, kein Bibelvers, nicht einmal ein Fluch kommt ihm in den Sinn, sondern bloß dieser Wert. 9,81 m/s2, der Wert der Beschleunigung eines Menschen im freien Fall.

Zuerst erscheint es, als schwanke er. Aber es wirkt unnatürlich. Der Impuls, diesem Menschen etwas zuzurufen, ihn zu warnen, keimt in ihm auf. Scheiße, er wird mich nicht hören.

Stephan steht am Fuße der fast fünfzig Meter hohen Staumauer aus Gussbeton. Zu seiner Rechten schlängelt sich das Wasser der Agger in den Wald hinein, das abgeworfene, feuchte Laub häuft sich zu den Füßen. Der Herbst hat das Oberbergische Land fest im Griff. Ein rauer Wind treibt ihm Regentropfen ins Gesicht.

Er hat nur wenige Minuten zuvor seinen Wagen auf dem Parkplatz des Thailänders abgestellt, ist den angrenzenden, abschüssigen Weg nach unten gegangen, um sich an dessen Ende umzudrehen und einen Blick auf die Mauer zu werfen. So wie immer. Immer dann, wenn sich das vertraute, stete Rauschen in seinen Ohren in ein eindringliches Flüstern verwandelt.

Stephan braucht diese Mauer. Für ihn bedeutet das 230 Meter lange Bauwerk mehr, dient nicht nur der Stromerzeugung oder dem Hochwasserschutz.

Er kommt hierher, um zu erkennen, dass sie hält. Das ist ihm wichtig. Standfest, entschlossen und undurchdringbar. Ihre Attribute sind im Laufe der Zeit zum Symbol seiner selbst geworden. Denn genau wie für die Mauer gilt es auch für ihn, standzuhalten, unüberwindbar zu sein für die Dämonen seiner Vergangenheit und rigoros ihren Versuchungen zu widerstehen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass der Beton keinen Tropfen durchlässt. Kein einziger Riss ziert die Oberfläche. Spürt Stephan nur einen Hauch von Zweifel, kehren die Stimmen nur für einen Moment zurück, kommt er hierher. Die Mauer, bei deren Bau gegen Ende der 1920er Jahre einige Arbeiter ihr Leben ließen, erscheint ihm vertraut und sie hält stand. Jedes Mal, wenn er sich am Fuße aufhält und seinen Blick hinaufschweifen lässt, ebben die Stimmen ab.

Nur heute ist es anders. In diesen Minuten büßt die Mauer an Stabilität ein. Sie wird in ihren Grundfesten erschüttert.

Anfangs hat er die Person gar nicht wahrgenommen. Immer wieder kommt es vor, dass Wanderer oder Touristen am Geländer der Mauer lehnen und über das Tal hinwegschauen. Doch die Gestalt, die er eben bemerkt hat, scheint zu leuchten. Er findet kein passenderes Wort dafür. Es wirkt, als würde sie das trübe Licht des Herbsttages reflektieren. Von innen heraus. Dabei rudert sie mit den Armen. Was macht der denn da? Dann fällt sie.

Alles um ihn herum scheint zu verstummen, als bewundere die Natur das Spektakel. Den reglosen Körper, der die Staumauer der Aggertalsperre hinabfällt.

Stephan braucht einen Moment, um zu erfassen, was er sieht. Er hält unmerklich die Luft an, taucht kurz danach aus dem Schock auf und rennt los.

Hastig eilt er am Wasser entlang, schwenkt rechts über die kleine Brücke in Richtung der alten, schwarzen Lok.

Ihm ist bewusst, dass kein Mensch in der Lage ist, solch einen Sturz zu überleben. Dennoch verdrängt er die Vorstellung von dem, was ihn erwartet.

Er verlangsamt den Schritt, schaut sich suchend um, presst die Luft aus seinen Lungen.

Wie kann das sein? Wo?

In seinem Schädel hämmert der Puls. Da war kein Aufprall.

Stephan geht an einer niedrigen Steinmauer entlang, die ein Füllbecken umrahmt, und erreicht eine verschlossene, grüne Tür, die in das Innere des Bauwerks führt. Er legt den Kopf in den Nacken, schaut nach oben.

Da ist kein Vorsprung oder so etwas in der Art, wo der Körper hängengeblieben sein könnte. Da ist nur die glatte Betonfläche. Ich habe ihn doch gesehen.

Er tritt ein paar Schritte zurück. Nichts.

Wenige Meter links von ihm führt eine Metalltreppe hinunter in das Becken. Ein Schutzgitter und eine abgeschlossene Tür verhindern, dass man sie ohne Weiteres betreten kann. Stephan stellt sich auf die Steinmauer, klettert daran vorbei und steigt die Stufen hinab. Zu seiner Rechten klatscht aus einem schweren, rostigen Rohr Wasser auf den Boden. Sonst nichts.

Nachdenklich schüttelt er den Kopf.

Das gibt᾽s doch gar nicht.

Nervös fährt er sich durch die Haare. Hat er sich den Sturz eingebildet? Wiederholt legt er seinen Kopf in den Nacken und schaut nach oben. Das oberbergische Regenwetter lädt nicht gerade zu einem Spaziergang auf der Staumauer ein, und trotzdem erkennt er einen Wanderer, der den Blick über See und Tal genießt.

Stephan klettert zurück, rutscht auf den feuchten Metallstufen aus, stößt sich den Ellbogen schmerzhaft an dem Geländer und steht wieder auf dem laubbedeckten Waldboden.

Eilig rennt er den kurvigen Pfad hinauf zum Plateau der Mauer. Völlig außer Atem greift er in den Arm des Mannes.

„Haben Sie ihn auch gesehen? Den Mann? Hier …“

Mit einem heftigen Kopfschütteln und einem verständnislosen Blick reißt dieser sich von ihm los und sucht das Weite.

Das kann doch nicht wahr sein!

Hat es in Wahrheit niemanden gegeben, der hier oben gestanden hat und hinabgestürzt ist? Er tritt an die Stelle, die er glaubt, von unten erkannt zu haben, fasst das Geländer an, kniet sich davor und sucht nach irgendeinem Beweis dafür, dass hier jemand gewesen ist.

Ich bin doch nicht verrückt!

Stephan steht auf, lehnt sich über die Brüstung. Da ist nichts! Vorsichtig schwingt er sein rechtes Bein über das Geländer, setzt sich rittlings ab, zieht dann das linke nach. Einen Moment bleibt er auf dem Metall sitzen. Atmet durch. Die schwindelerregende Höhe löst ein mulmiges Gefühl in ihm aus. Der Wind packt ihn an seinem Jackenkragen. Er schließt die Augen, spürt sein Gewicht auf dem Geländer, umklammert es mit den Fingern.

Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Behutsam lässt er die Füße auf dem schmalen Rand der Brüstung ab, hält sich mit den Armen hinter seinem Rücken an dem kalten Geländer fest.

Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?

In seinem Rücken bremst abrupt ein Wagen auf der Straße, der Fahrer lässt die Seitenscheibe nach unten und schreit ihm entgegen: „Hey du, was hast du vor? Du machst hier keinen Scheiß, okay?“

Stephan schluckt. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie laut die Stimmen in seinem Kopf klagen. Feine Risse bilden sich auf der Oberfläche der eigenen Mauer. Stephan sammelt sich schnell, schwingt das linke Bein zurück, setzt die Füße hinter dem Begrenzungsgeländer ab und tritt an das Auto heran.

„Alles okay, ich dachte, ich hätte was gesehen …“, murmelt er, leicht in den Wagen gebeugt.

„Na, dann ist ja gut“, entgegnet der Fahrer und fährt an.

Stephan taumelt zurück, schüttelt immer wieder den Kopf. Dann schreitet er noch einmal den gesamten Weg ab. Auch wenn es unmöglich erscheint, dass er den Körper des Menschen bisher nicht gesehen hat.

Während er sich den rechten Ellbogen reibt, erfasst sein Blick einen glänzenden Gegenstand. Er liegt nur einen Steinwurf entfernt. Stephan erreicht ihn nach wenigen Schritten, kniet sich in den Dreck und wühlt mit den Fingern die feste, nasskalte Erde auf.

Was ist das?

Nur ein Bruchteil des Objektes ist erkennbar, Stephan gräbt immer tiefer, seine Finger schmerzen. Er stößt die durchgefrorenen Glieder in den lehmigen Boden, bis es ihm endlich gelingt, den Gegenstand aus der Erde zu drehen. Er steht auf, reibt und klopft vorsichtig den Dreck davon ab. Auf einem silberfarbenen, nostalgisch verzierten Sockel thront eine Glaskugel. Stephan zieht einen Ärmel über seine Hand und streicht über das Glas. Er erkennt im Schnee versunkene Häuser, entdeckt eine von Tannen gesäumte Kirche. Im unteren Bereich des Sockels gibt es eine Auslassung, in der eine Lokomotive zu sehen ist. Es erscheint ihm unerklärlich, wer die Schneekugel an dieser Stelle in der Erde vergraben hat. Sie wirkt abgenutzt, aber trotzdem nicht alt.

Stephan lässt sie in der Hand kreisen, dreht sie. Auf der Unterseite entdeckt er einen kleinen Kippschalter. Er räuspert sich kurz, schiebt ihn dann zur Seite. Die Kugel leuchtet auf. Auf der Außenseite des Sockels ertastet er einen kleinen Aufziehmechanismus, dreht den feinen Schlüssel.

Sleigh bells ring, are you listening …

Stephan erkennt die Melodie sofort.

Winter wonderland.

Er hält die Kugel vor seine Augen, die Lokomotive in der Auslassung, die jetzt ebenfalls erleuchtet ist, dreht störrisch eine Runde. Stephan schmunzelt, schüttelt dabei ungläubig den Kopf. Als er nach oben blickt, rieseln wahrhaftig feine Schneeflocken zur Erde. Sein Blick fällt auf das Geländer der Staumauer.

Das gibt’s nicht!

Mit offenem Mund steht er genau unterhalb der Stelle, an der er die Gestalt erkannt hat. Er kneift die Augen zusammen, senkt den Kopf und schaut auf das Loch vor ihm im Boden.

Gone away is the bluebird, here to stay is a new bird, he sings …

2

Living easy, living free, season ticket on a one-way ride …

Nach knapp zwanzig Sekunden speit ihm Bon Scott die ersten Worte des Songs entgegen. Ein Gemisch aus Rotz, Wut und Revolution. Er nickt leicht mit dem Kopf zu dem sich wiederholenden Riff, dem treibenden Beat. Sitzt zusammengekauert da, eingeschlossen, nur bei sich selbst, ohne sich fühlen zu können. Der Kopfhörer verhindert, dass er die Geräusche um sich herum hören muss. Sie überfordern, ängstigen ihn.

Seine zitternden Finger. Die abgekauten Nägel. Trotzig zieht er die Nase hoch, hebt den Blick. Sieht die unzähligen Beine, die an ihm vorbeigehen, durch den fettigen Strähnenvorhang. Er glaubt, ihre Verachtung zu spüren, fast zu hören. Ein Murmeln, das sich unter die Musik mischt.

Asking nothing, leave me be, taking everything in my stride …

Sie kennen ihn nicht. Wie sollten sie auch? Er kennt sich ja nicht einmal selbst. Das neuronale Feuer in seinem Körper flammt auf, beginnt zu wüten. Ihm ist übel. Er streicht sich die Kapuze von den langen Haaren, um sie direkt danach wieder überzuziehen. Zäher Schleim sammelt sich in seinem Mundraum. Als er ihn auf den Beton spuckt, auf dem er sitzt, zieht sich sein Magen zusammen.

Don’t need reason.

Den Versuch, die Arme zu strecken, bricht er schnell wieder ab. Seine Gelenke schmerzen zu sehr. Es fühlt sich an, als würden sie brennen.

Don’t need rhyme.

Zeit und Raum verlieren an Kontur, an Wichtigkeit. Er hört die Schreie. Das wütende Poltern. Sein Oberkörper beginnt zu wippen. Er ermahnt sich selbst, flucht vor sich hin, ganz egal, ob ihn irgendjemand hört. Es gilt durchzuhalten, nur ein bisschen. Die Intensität der Schreie nimmt zu. Sie sitzen zwischen seinen Rippen. Krallen sich in die Organe. Sich dagegen zu wehren, dagegen anzukämpfen, ist sinnlos. Ein Kampf ohne Sieger. Nur Verlierer. Zu oft schon hat er verloren.

No stop signs, speed limit. Nobody’s gonna slow me down.

Widerstand ist zwecklos.

Sein Mund ist trocken. Die Augenlider flirren. Stoisch kratzt er sich den Schorf an seinem Schienbein unter der schwarzen Jeans auf. Das Blut sickert in den Stoff, verklebt. Er spürt es kaum.

Like a wheel, gonna spin it. Nobody’s gonna mess me around …

Die Spanne verkürzt sich jedes Mal ein wenig mehr. Es bleibt kaum mehr Zeit.

Hey Satan, paid my dues …

Er dreht die Lautstärke weiter auf. Die Musik verzerrt. Die Schreie erklimmen seinen Hals, drängen sich durch die Luftröhre. Ihm ist so verdammt übel.

Hey mama, look at me. I’m on my way to the promised land.

Unter einem gewaltigen Stechen zieht sich sein Magen zusammen und er erbricht grüne Galle. Der bittere Geschmack der Wahrheit. Es wird Zeit.

3

Stephan hat die Zeit vergessen. Das Display des neuen Smartphones, das er sich bei der Vertragsverlängerung mit seinem Mobilfunkanbieter hat aufschwatzen lassen, zeigt 13:10 Uhr an. Verdammt.

Er überquert die Straße, eilt zu seinem Auto und lässt es an. Die Schneekugel legt er vorsichtig auf den Beifahrersitz. In knapp zwanzig Minuten hat er einen Termin in Nümbrecht wegen einer anstehenden Aussegnung. Die Witwe des Verstorbenen hat ihn am Morgen kontaktiert und darum gebeten. Die Gemeinde bietet den Gläubigen die Möglichkeit einer kurzen Andacht für die Trauernden am Totenbett an. Stephan hasst es.

Gemeinsam mit der Trauer der Hinterbliebenen, die hochdosiert wie ein Gas in der Luft zu liegen scheint, steht man dabei meist in engen Räumen und nimmt Abschied. Die Menschen setzen derweil die irrationale Hoffnung in seine Worte, dass es dem Verstorbenen dort besser gehe, wo er sich jetzt befinde. Als sei er, der Pfarrer, der Leumundszeuge des Toten vor Gott. Die Auferstehung, für die die Menschen beten, existiert in Stephans Vorstellung nicht. Er weiß, dass das blasphemisch klingt. Ein Pfarrer, der nicht an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben glaubt? Die Beweggründe dafür, warum er Pfarrer geworden ist, liegen nicht in seinem Glauben.

Es ist die Vergangenheit, seine Geschichte, die ihn zu dem hat werden lassen, der er heute ist. Auch deswegen gilt er nicht als Vorzeigepfarrer, doch genauso wenig sieht man in ihm einen kirchlichen Reaktionär. Zu selten entscheiden Menschen sich dafür, Diener Gottes zu sein, somit respektiert man Stephan, bevorzugt dennoch innerhalb der Gemeinde seinen Kollegen. Ein selbstverschuldetes Verspäten würde die zukünftigen Aufgaben in der Pfarrgemeinde sicher nicht vereinfachen.

Er lenkt den Wagen über die Staumauer in Richtung Bundesstraße. Unterwegs versucht er, sich an die Worte zu erinnern, die er während der Andacht sprechen muss. Es gelingt ihm nicht, sich zu konzentrieren. Einerseits fällt sein Blick immer wieder auf das seltsame Fundstück neben ihm, andererseits nervt ihn das monotone Klackern des Kleiderbügels mit seinem schwarzen Talar gegen die hintere Seitenscheibe des Wagens.

Die Ereignisse, der vermeintliche Sturz, der Fund der unversehrten Schneekugel, drängen sich immerzu in seine Gedanken.

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben …

An vielen Tagen fällt es ihm schwer, die Institution und ihre Inhalte zu repräsentieren. Tage, an denen er sich zurückerinnern muss, warum er diesen Schritt gegangen ist. Sein unstetes Leben, die dunklen Tage seiner Vergangenheit, schmerzhafte Erinnerungen. Stephan versteht sich seit jeher selbst als Suchenden. Religion kann erklären, stützen, helfen. Aber sie beantwortet immer nur Teile seiner Fragen, im Kern bleibt auch sie im Suchmodus. Ihr Schöpfer scheint unerreichbar. Ein einseitiger Telefonanschluss … und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?

4

„Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, dass Sie kommen!“

„Es tut mir leid, aber ich wurde dienstlich aufgehalten“, entschuldigt Stephan sich halbherzig, öffnet die Hintertür des Wagens und fummelt den Kleiderbügel aus dem Haltegriff.

„Dienstlich aufgehalten, soso.“

Er bemerkt ihren Blick auf seinen verdreckten Händen, versucht, sie rasch hinter dem Rücken zu verstecken. „Ich … es tut mir wirklich leid, aber jetzt bin ich ja da.“

Sie verzieht das Gesicht. Stößt einen Seufzer aus.

„Dann zeige ich Ihnen wohl erst einmal, wo das Bad ist.“

Stephan folgt ihr. Sie nickt in Richtung einer Tür neben dem Eingang. „Wir warten im Schlafzimmer. Die zweite Tür rechts.“

„Danke.“

Stephan zieht die Tür hinter sich zu und betritt das rosa geflieste Badezimmer. Hat er eben die Zeit noch verflucht, so scheint sie hier definitiv stehen geblieben zu sein. Er dreht den Wasserhahn auf, wäscht sich ordentlich die Hände, klatscht etwas Nass in sein Gesicht und betrachtet sich kurz in dem kleinen Wandspiegel.

Diese Menschen brauchen dich jetzt. Reiß dich zusammen.

Bevor er die Klinke in die Hand nimmt, atmet er tief ein, öffnet dann erst die Tür des Schlafzimmers. Verweinte Augen, gespannte Blicke, Trauer, Angespanntheit, Argwohn.

„Der Friede Gottes sei mit uns allen.“

Amen.

Langsam schreitet er auf die Witwe zu, nimmt ihre Hände in seine, drückt sie. Durch die dunklen Ränder scheinen ihre Augen tiefer in den Höhlen zu liegen. Sie blinzelt, ihre Lider sind gerötet, von unzähligen Fältchen umgeben.

„Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie nickt, er spürt ihre runzelige Haut, während sie seine Hände sanft tätschelt. Stephan nickt ihr ebenso kurz zu, stellt sich dann neben die kleine Frau. „Herr, unser Gott, dein sind wir im Leben und im Sterben. Du hast durch Jesus Christus dem Tod die Macht genommen. Wir bitten dich: Sei in dieser schweren Stunde bei uns mit deinem Trost und deiner Gnade.“

Amen.

Dann wendet er sich dem Toten zu, der in dem alten Ehebett liegt. Darüber mittig ein Kreuz. Keine Fotos. Allein ein Abreißkalender an der Wand, der eine große, schwarze Vierzehn zeigt. Einen kurzen Moment irritiert ihn die falsche Zahl, dann gleitet sein Blick wieder zurück zu dem Verstorbenen. Der Mann wirkt friedlich, mit sich und der Welt versöhnt. Ein ruhevoller, tiefer Schlaf im Nirgendwo. Die blütenweiße Bettdecke liegt glattgestrichen bis zum Bauch, seine Hände ruhen gefaltet darauf. Er trägt einen blauen Pyjama. Vermutlich zum ersten Mal im Leben. Und zum letzten Mal. Stephan tut einen Schritt nach vorne, stutzt. Eine Träne. Sie läuft aus dem Auge des Toten. Stephan schluckt. Dann öffnet die Leiche die Augen, ihre Blicke treffen sich. Die trockenen, bläulichen Lippen beben. Hektisch schaut Stephan sich um. Die Angehörigen stehen weiter um das Bett herum, die Augen geschlossen. Die Hand des Toten ergreift ihn, zieht ihn zu sich.

„Schwiegermuttergift“, flüstert er rau.

Stephan taumelt rückwärts, ein kurzes Raunen erfüllt den Raum.

„Herr Pfarrer? Alles in Ordnung?“

Sein Puls rast. „Ich …“

Die Witwe steht jetzt vor ihm, drückt seine Hand. Als Stephans Blick auf den Toten fällt, liegt er genauso friedlich unter dem strahlenden Laken wie zuvor.

„Entschuldigung“, stammelt er, schließt kurz die Augen, zieht den Talar zurecht. Im Anschluss nickt er kurz den anderen zu, um zu zeigen, dass es ihm bessergeht. Stephan schaut den Toten an. Die Augen geschlossen. Friedlich. Keine Träne.

Ich brauche Luft.

„Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“

Amen.

5

„Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“

Der Blick des Mannes mit den trüben Augen trifft ihn, er hebt die Arme, scheint zu zittern. Er trägt einen langen Mantel, der ihm bis zu den nackten Knöcheln reicht, ein zerzauster Bart verdeckt die Hälfte seines Gesichts, die knochigen Finger sind schwarz vor Dreck.

Er hat dich durchschaut …

Dieser Wahnsinnige predigt jeden Donnerstag hier, zur selben Zeit, am selben Ort. Reckt dabei ein Pappschild hoch, auf dem geschrieben steht: Jesus rettet. Er wirkt desorientiert, verwirrt. Man sagt über ihn, er sei früher Lehrer gewesen. Doch habe er nie den tragischen Unfalltod seiner Eltern überwunden. Seit diesem Tage stehe er hier mit dem Schild in den Händen und zitiere aus der Bibel. Bei Wind und Wetter wird man unfreiwillig zum Zeugen seines Verfalls.

Heute ist etwas anders, der wässrige Blick fester. Er hat das Gefühl, diesen im Nacken zu spüren, wie er sich anschmiegt, ihn verfolgt, weiß, was er in der Bauchtasche seines Kapuzenpullis krampfhaft mit der Faust umschließt. Das kleine Päckchen türkischer Honig.

Der Prediger verstummt, folgt ihm mit seinem Blick, lässt die Augen nicht von ihm ab. Er schluckt, versucht, den Kopf abzuwenden, seinen Schritt zu beschleunigen. Er muss hier weg, ihn beschleicht das Gefühl, alle anderen Menschen drehten sich zu ihm um, wüssten, warum der selbsternannte Priester verstummt ist.

Er hat dich durchschaut …

Jeder weiß es, alle erkennen, was er vorhat.

Ich scheiße auf euch, ihr wisst rein gar nichts!

Seine Hände schwitzen, klarer Schleim läuft ihm aus der Nase, den er sich unbeholfen mit dem Unterarm aus dem Gesicht wischt. Die Sonne strahlt, ihm ist kalt. Am Ende des Weges wartet die Wärme, die Vertrautheit, wenn auch die Glut von heute nur ein Rest des Feuers von damals ist.

Endlich sitzt er da. Zittrige Finger umschließen das Metall. Konzentration. Gleich. Bleib ruhig. Gleich.

Der vertraute, heiße Schmerz an der Spitze des Daumens. Windstille. Ruhende Flamme. Der Duft von Zitronen.

Es wird still in ihm, wie so oft, wenn er weiß, dass er es gleich geschafft hat. Der kurze, aber doch spürbare Druck auf dem Arm. Schatzsuche. An etlichen Stellen wurde bereits gegraben.

Hier, ja, hier ist gut …

Eine alte Stelle, vor nicht allzu ferner Zeit erst zugeschüttet, wird wiederholt freigelegt.

Mein Gott, wie ich auf euch alle scheiße!

Er wird nicht wie Gott, geht vielmehr begierig auf die Einladung des Teufels ein, Gut und Böse verschwimmen zu einer unförmigen Masse.

Wieder ein Tag geschafft. Es ist Zeit.

6

Die letzten Minuten im Hause der Hörters sind Stephan endlos lang vorgekommen. Endlich steht er draußen, an die offene Tür des Autos gelehnt, und atmet durch.

„Ein echter Klassiker!“

„Bitte?“ Erschrocken dreht Stephan sich um und steht vor einem älteren Herrn.

„Der Film“, meint der Alte.

„Entschuldigen Sie, ich glaube, ich verstehe nicht.“ Noch immer zittern seine Beine leicht, Tausende Gedanken rasen durch den Kopf.

„Der muss aus den 40ern stammen, oder?“ Der Mann fährt sich mit der flachen Hand durchs Gesicht, als könnte er so die Erinnerung vom Staub befreien. „Na ja, wie auch immer. Hat es der Alte endlich geschafft?“ Er nickt in Richtung Hauseingang.

„Sie meinen Herrn Hörter?“

„Der plagt sich ja nun schon eine ganze Weile mit der Frage herum, ob er seine Josefine allein lassen kann oder nicht.“ Er lacht laut auf.

„Ja, Herr Hörter ist leider heute Morgen von uns gegangen“, versucht Stephan es ernster. Zumindest glaube ich das.

Der alte Mann zieht die Nase hoch. „Tja, irgendwann erwischt es jeden von uns, nicht wahr, Herr Pfarrer?“

„Ein Jegliches hat seine Zeit, und …“

„Alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde“, unterbricht er ihn. „Schon tausendmal gehört. Das ist nur Blabla, wenn Sie mich fragen. Der Hörter, der hat die ganze Zeit darauf geachtet, nach den Worten des Herrn zu leben. Und? Hat es ihm was gebracht? Sehen Sie mich an. Ich habe mit der Kirche nix am Hut, habe zwei wunderbare Kinder, mittlerweile den ersten Enkel und erfreue mich bester Gesundheit. Und der Hörter? Kinderlos, krank, tot.“

„Vielleicht lag seine Erfüllung in anderen Dingen.“ Bekümmert erinnert sich Stephan an die karge Einrichtung des Zimmers. Wo liegt der Unterschied zwischen Leben und Existieren?

„Sicher. Ein ziemlich schwacher Trost, wenn Sie mich fragen. Aber lassen Sie uns wieder über Citizen Kane sprechen.“

„Citizen Kane?“ Stephan blickt ihn verständnislos an.

„Die Schneekugel.“ Der alte Mann richtet einen Finger auf die silberne Kugel auf dem Beifahrersitz.

„Ach, die! Die habe ich bei einem Spaziergang gefunden.“ Genau an der Stelle, an der eigentlich eine Leiche hätte liegen müssen.

Der Alte lacht auf. „Gefunden? Ich dachte, der Hörter hätte sie in seinen Armen gehabt, bevor er sich auf den Weg zu seinem Schöpfer gemacht hat.“

Stephan sucht nach Worten und reibt sich dabei versonnen das Handgelenk, das der Tote vermeintlich ergriffen hat.

„Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede, oder?“

„Nein, ich glaube nicht“, gibt Stephan zu.

„Citizen Kane. Orson Welles. Charles Foster Kane. Klingelt da bei Ihnen gar nichts?“

„Naja, es geht wohl um einen Film, oder?“

„Das ist nicht einfach irgendein Film, Herr Pfarrer! Das ist Kunst! Ein Klassiker, der beste amerikanische Film aller Zeiten.“

„Aber was hat das mit Herrn Hörter und der Schneekugel zu tun?“

„Na, die Anfangsszene: Charles Foster Kane liegt im Bett im Sterben, in seinen Händen eine Schneekugel. Bevor er stirbt, lässt er sie fallen und spricht nur ein Wort.“

Stephan stutzt. Wenn der Schwiegermuttergift gesagt hat, raste ich auf der Stelle aus.

„Äh, nein, die Kugel lag die ganze Zeit in meinem Auto“, antwortet er mechanisch.

„Hätte mich auch gewundert“, entgegnet der Alte und wendet sich zum Gehen. „Solch eine Theatralik passt einfach nicht zu dem.“

Nur ein Wort. „Ach, eine Frage noch!“, ruft Stephan dem Alten nach.

Der dreht sich um, kneift die Augen zusammen. „Was denn?“

„Das letzte Wort. Was hat Kane vor seinem Tod gesagt?“

Der Alte grinst.

Jetzt sag nichts Falsches.

„Rosebud. Rosebud, hat er gesagt.“ Stephan atmet erleichtert auf, gleichzeitig blitzt in ihm eine Erinnerung auf. „Rosebud?“, wiederholt er.

„Richtig! Warum er genau das Wort gesagt hat, das müssen Sie schon selbst herausfinden.“ Der Alte hebt eine Hand, dreht sich um und schlurft davon.

Stephan lässt sich in den Fahrersitz fallen, schlägt die Tür zu und schüttelt den Kopf. Wir sind hier. Kannst du uns hören?

Rosebud. Rosenknospe.

Das Flüstern schwillt an. Eine Woge erster Zweifel. Was für ein verrückter Zufall. Oder Schicksal? Die Trennlinie zwischen beiden Begriffen löst sich langsam auf.

Rosenknospe? Was soll das Ganze?

Stephan dreht den Schlüssel und setzt den Wagen zurück auf die Straße. Egal ob Zufall oder Schicksal, die Stimmen werden keine Ruhe geben. Er greift nach der Schneekugel.

When it snows, ain’t it thrillin‘?

Schnaubend legt Stephan einen Gang ein und beschleunigt.

7

Mit Vollgas vor die Wand. Der Gurt reißt. Man schwebt. Nur für einen kurzen Augenblick ist Newtons Apfelgeschichte für den Arsch. Er hebt ab, schließt die Augen, durchbricht die Windschutzscheibe. Winzige Splitter bohren sich in die Schädeldecke, rieseln wie Hagelkörner auf ihn herab. Sauerstoff.

Das Gefühl, den eigenen Körper zu überholen, befällt ihn. Für einen Moment sieht er sich selbst von oben zu, wie er über die Motorhaube fliegt, sich dabei dreht, grotesk elegant. Peter Pan. Er ist wie er. Entflieht dem Erwachsenwerden. Ist verloren.

Das Licht der Scheinwerfer brennt grell in seinen Augen, er durchbricht alle Grenzen.

Wärme. Kälte. Klarheit und Nebel. Alles wirkt vertraut. Hier ist er sicher. In der Zwischenwelt, jenseits der Realität.

Szenenwechsel. In eine warme Decke eingehüllt sitzt er vor dem Kaminfeuer. Irgendwo weint ein Baby. In der Ferne heult ein Wolf. Das Radio rauscht. Im Untergrund murmeln die Stimmen. Flüstern. Beten. Kreischen.

Abrupt werden seine Schultern nach hinten gerissen. Er wird über den Boden geschleift, spürt Steine, Nägel. Die Haut platzt auf, Blut sickert in die Erde. Er will noch nicht zurück. Zu kostbar ist dieser Moment. Zu kostspielig, ihn zu wiederholen.

Die Scherben verbinden sich. Alles wird eins. Der Gurt führt sich selbst ins Schloss zurück, umschließt seinen Körper. Das Leben hat ihn wieder. Bleibt die Frage: Will er dieses Leben?

8

Niemals ist er dem Tod so nahe gewesen wie an jenem Tag. Stephan versucht, sich auf die Straße zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweifen dauernd ab. Schlaglichter der Vergangenheit.

Er glaubt, den Schmerz an den Füßen erneut zu spüren. Die aufgescheuerte Haut, die mit Blut gefüllten Blasen.

Wie lange ist das her?

Schritt für Schritt, einen Fuß vor den anderen, war er die Allee entlanggeschlurft, die brennenden Augen auf das Kopfsteinpflaster gerichtet. Jeder Atemzug ein Kampf. Ohne nur den Hauch einer Ahnung, was ihn tatsächlich an diesen Ort geführt hatte.

Schwiegermuttergift. Rosebud.

Das Rätsel des heutigen Tages holt ihn zurück aus seinen Erinnerungen. Alles scheint irgendwie verbunden zu sein.

Je weniger er mit dem Wort des Toten etwas anfangen kann, umso mehr erinnert ihn das Zitat aus Citizen Kane an eine besondere Zeit in seiner eigenen Vergangenheit. Es mag ein Zufall sein, aber dieser Tag scheint etwas von ihm zu wollen: Der vermeintliche Fall an der Agger, die Vision des sprechenden Toten und dann die Bemerkung des Nachbarn.

Stephan braucht kein Radio. Die Stimmen haben längst die Kontrolle übernommen. Er muss sich eingestehen, dass er zwar gelernt hat, sie zu überhören, aber sie nie wirklich vertreiben konnte.

Damals. Die Allee. Die geschundenen Füße. Kopfsteinpflaster unter den nackten Fußsohlen. Wie er es in die Basilika geschafft hat, weiß er nicht mehr. Später erschien es ihm unmöglich, dass er in diesem Zustand die schwere Holztür alleine aufgestoßen haben sollte. Man fand ihn auf dem Mittelgang liegend. Ausgezehrt.

Aufgewacht in einem Bett. Der zarte Duft von Waschmittel. Die unzähligen Wunden mit Jod versorgt. Zitternd. Durstig.

Jeder Versuch, die Erinnerung an das alles zu manipulieren, misslingt. Stephan beschleunigt den Wagen auf der L278 in Richtung der Ortschaft Wissen. Zu seiner Rechten huschen aufgetürmte Container vorbei. Die Schneekugel vibriert leicht auf dem Beifahrersitz.

Dieser Tag, ewig scheint er her zu sein, hat die Fäden seines Lebens aneinandergeknüpft, und es tut körperlich weh, sie zu entflechten, sich daran zu erinnern, wer er vorher war und wie er zu dem geworden ist, was ihn heute ausmacht.

Wir sind es, die dich zu dem haben werden lassen, der du bist. Wir. Vergiss uns nicht.

Stephan drückt das Gaspedal weiter durch, übertritt die zulässige Höchstgeschwindigkeit, führt den Wagen durch den großen Kreisel am Bahnhof und folgt den Schildern in Richtung Hachenburg.

9

Die rostigen Schienen kreischen. Das Metall windet sich, biegt sich, ächzt und stöhnt, als die Räder es unter sich begraben. Er sieht es, kann es hören, schmecken. Die Schienen leiden.

Der Wind singt. Er sitzt da, eine kaputte Sonnenbrille auf der Nase, obwohl es schon dunkel ist, spürt Gravitation, Rotation, das Verblassen der Zeit. Die Schmerzen versiegen im Kyrie der Stimmen. Fuß um Fuß.

Hydraulik. Hermetisch abgeriegelt stehen und sitzen alle gemeinsam da, als das stoische Rattern einsetzt. Puls, Herzschläge, das Weiten der Lungenflügel. Die Geheimnisse des Lebens offenbaren sich all seinen Sinnen.

Geschwindigkeit. Zunehmend. Kurven. Geraden. Alles im Fluss.

Die Sterne funkeln, der Nachthimmel pulsiert, das Universum atmet und bebt. Milchstraße. Schwarze Löcher. Satelliten. Es ist der Rausch des Daseins, das Leben in vollen Zügen.

In Sekundenbruchteilen zeigt sich die Welt, und doch erscheint es ihm, als könne er sie beherrschen. Anhalten, drehen, neigen und dehnen. Im Zentrum des Geschehens, im Schnittpunkt von Tempo und Verlauf, auf dem Höhepunkt der Empfindung keimt die Frage in ihm auf: Wie schnell wird ein Mensch im freien Fall?

Plötzliche Unruhe. Seitenwinde. Enge. Aufgerissene Münder. Tränen. Erstickte Schreie. Die Zeit verlangsamt sich. Wo ist der Prediger, wenn man ihn braucht? Hier danken sie Gott, nehmen einander in die Arme, während die Farben verblassen. Als sich alles zum Guten wendet, bleibt er zitternd zurück. Verlassen. Verraten. Die Realität ist die schlimmste aller Fantasien. Verbissen kämpft sie sich zurück. Wo ist die Sonnenbrille?

Abgewetzte Sitze, fahle Haut, der Gestank der Existenz. Das Rattern zehrt an seinen Nerven. Eingeschlossen sehnt er sich nach dem Draußen. Luft. Sauerstoff.

„Du brauchst dringend Hilfe, wirklich!“

„Der kriegt doch überhaupt nichts mehr mit.“

„Dem gebe ich kein Jahr mehr.“

Erkenntnis ist eine Verletzung, eine klaffende Wunde.

„Lass ihn in Ruhe. Das bringt doch nichts.“

„Wir können ihn doch nicht einfach so hier liegen lassen!“ „Was denn? Sollen wir ihn mit nach Hause nehmen? Als Haustier halten? Da ist jede Katze stubenreiner.“

Zwischen Speichel, Schleim und Blut stecken vereinzelte Worte. Er ist allein. Einsam.

Ein jäher Halt. Hydraulik. Er wankt ins Freie.

Alle werden von dem Glück erzählen, von dem gewaltigen Wink des Himmels. Beim Frühstück, beim Mittagessen, im Bett.

Er rollt sich zusammen im Nirgendwo und bleibt zurück als Fußnote. Er war dabei. Er hat als Einziger etwas gesehen, was niemand sehen konnte. Unter der schützenden Hand, die er bisher so vehement ausgeschlagen hat. Es wird Jahre dauern, bis er begreift.

10

Im letzten Moment erkennt Stephan die schwarzen Buchstaben auf weißem Grund, setzt den Blinker und biegt nach rechts ab. Nach nur wenigen Metern lenkt er den Wagen nach links, um in das Tal abzubiegen, wo ihm vor vielen Jahren das Leben gerettet wurde.

Die kurvige Straße führt ihn am Parkplatz des örtlichen Gymnasiums und an großen Hofgebäuden vorbei. Er biegt ab, lässt die Parkbuchten an den Seiten hinter sich, rollt langsam am Brauhaus vorbei und stellt den Wagen in direkter Nähe zum Torhaus ab.

So sehr sich Stephan zu erinnern versucht, bis heute bleibt ihm verborgen, wie er es damals an diesen Ort geschafft hat. Er steigt aus, verschließt den Wagen und tritt unter den Torbogen. Warmes Licht strömt aus den Fenstern der Buch- und Kunsthandlung zu seiner Linken, vor sich erkennt er die knorrigen Kronen der Eschen, die die Basilika-Allee säumen. An deren Ende baut sich die über 580 Jahre alte gotische Abteikirche auf.

Dichte Wolken stehlen dem Himmel das Licht, es bleibt zwar noch Zeit bis zum Sonnenuntergang, doch spürt Stephan die aufkommende Dunkelheit. Fast erscheint es ihm, als gehe sie von ihm selbst aus, als ernähre sie sich von der verbliebenen Helligkeit.

Zielsicher steuert er auf das Eingangsportal zu, steigt die wenigen Stufen hinab und zieht an dem rechten Torflügel. Flackerndes Kerzenlicht, ein Gemisch aus Staub und Weihrauch hängt in der Luft. Er wählt den Mittelgang, genau wie damals, und bewegt sich bedächtig auf den Altar zu. Auf der rechten Seite, in der ersten Reihe, sitzt ein Mann. Den Kopf leicht nach vorne gebeugt, ein Buch auf seinen Knien. Stephans Schritte hallen durch das Gewölbe, so sehr er auch versucht, darauf zu achten, vorsichtig aufzutreten.

Wie ein Magnet zieht ihn das Kreuz an, das mittig über dem Altar hängt. Andächtig bleibt er einen Moment davor stehen. Hier bin ich wieder. Die Stimmen sind verstummt.

„Sie dürfen sich gerne zu mir setzen“, flüstert ihm der Mann aus der ersten Reihe zu.

Stephan lächelt ihm kurz zu, während die Bank unter seinem Versuch, neben sich Platz zu schaffen, laut knarrt.

„Ich komme oft hierher“, beginnt dieser, als sich Stephan zu ihm setzt. „Ich mag das.“

„Was mögen Sie?“

„Die Einsamkeit, die Ruhe. Wenn mir alles zu viel wird, dann komme ich hierher, setze mich und lese.“

So wie ich zur Mauer gehe. Stephans Blick fällt auf das Buch des Mannes. 19 Minuten. Jodi Picoult.

„Worum geht es?“

„In 19 Minuten kann man so einiges erledigen, ganz banale Dinge. In diesem Fall aber“, der Mann streicht über das rotbraune Cover, „geht es um einen Amoklauf. 19 Minuten dauert er.“

„Eine interessante Lektüre in einer Kirche.“

„Gehören Gewalt und Tod nicht irgendwie auch zur Kirche?“

Stephan nickt schmunzelnd.

„Warten Sie.“ Der Mann schlägt das Buch auf, blättert ein paar Seiten vor und zurück. „Ah, hier ist es: Aber vielleicht geschehen schlimme Dinge ja auch deshalb, damit wir uns daran erinnern, wie das Gute aussehen sollte.“ Erwartungsvoll schaut er Stephan an.

„Da ist sicherlich was Wahres dran.“

„Das hoffe ich.“ Der Mann schlägt das Buch zu. Das dumpfe Geräusch hallt von den Gemäuern wider.

„Wie meinen Sie das?“

„Meine Schwester“, flüstert der Mann und senkt den Kopf.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“

Der Mann winkt ab. „Das tun Sie nicht, keineswegs. Es ist nur, ich vermisse Sie jeden Tag, seit sie fort ist.“

„Wie lange ist es her, dass sie von uns gegangen ist?“

Mit großen Augen blickt er Stephan an. „Sie ist nicht tot, nein, um Gottes willen.“

Stephan hebt beschwichtigend die Hand.

„Ich habe mich missverständlich ausgedrückt“, fährt der Mann fort. „Sie ist verschwunden.“

„Verschwunden?“ Stephan runzelt die Stirn.

„Ja, von einem Tag auf den anderen. Wie vom Erdboden verschluckt. Das Komische an der Sache ist, dass sie kurz vorher ein Haus gekauft hat. Sie wollte sesshaft werden. Auf dem Land.“ Er lacht kurz auf. „Das Haus hatte sie sogar schon bezahlt, 125.000 Euro in bar. In einem Koffer.“ Er haut sich das Buch auf den rechten Oberschenkel und zuckt ob des lauten Knalls selbst zusammen. „Sie wollte nach Portugal. Hat sogar Bescheid gegeben, wann sie zurück sein wird. Und dann …“

Er schluchzt.

Stephan legt einen Arm um den Mann. „Sie haben nie wieder etwas von ihr gehört?“

„Nein, nie wieder. Nicht einmal ihr Auto wurde gefunden. Es gibt keine Spur, nichts. Die Polizei geht davon aus, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist oder die Chance genutzt hat, um auszusteigen.“

„Was glauben Sie?“

„In Morsbach, also dort, wo das Haus steht, das sie gekauft hat, befindet sich ein Container auf dem Grundstück. Darin befindet sich ihr gesamtes Hab und Gut. Aussteigen? Im Leben nicht, sie kauft doch kein Haus, lässt ihren ganzen Kram dort hinkarren, um dann zu verschwinden. Es steckt etwas anderes dahinter.“

„Sie meinen, dass ihr etwas zugestoßen ist?“

Der Mann nickt stumm.

„Kommen Sie auch deshalb hierher?“, fragt Stephan.

„Nur, um Gott wissen zu lassen, dass ich Carola nie vergessen werde, auch wenn er es schon längst getan hat.“

„Es gibt viele Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Wir dürfen nur nicht resignieren, nicht aufgeben oder nachlassen, denn Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“

Erstaunt hebt der Mann den Kopf.

„Sie sind Pastor! Hier? In Marienstatt?“

„Nein, ich lebe in Nümbrecht, im Oberbergischen Kreis. Dort arbeite ich als Pfarrer.“

„Ein Protestant? Was tun Sie dann hier? Spion beim Klassenfeind?“

Stephan grinst.

„Seit der ökumenischen Bewegung habe ich kaum mehr etwas zu tun, aber es schadet ja nicht, mal bei der Konkurrenz vorbeizuschauen.“

„Danke“, flüstert der Mann.

„Wofür?“

„Manchmal braucht man einfach jemanden zum Zuhören.“

„Immer wieder gerne.“

Seufzend erhebt sich der Mann, Stephan tritt aus der Bank, um ihm Platz zu machen. Knarzend öffnet sich die Tür eines Beichtstuhls an der Innenwand der Kirche. Ein Mönch verlässt die kleine Kammer, nimmt ein Schild oberhalb der Tür ab, nickt Stephan kurz zu, tritt durch ein verziertes Metalltor und bewegt sich aus seinem Sichtfeld.

Stephan wendet sich wieder dem Mann zu, um ihn zu verabschieden. Doch er ist nirgendwo zu sehen. Verwundert blickt er sich in der Kirche um.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Erschrocken dreht Stephan sich um und sieht sich dem Mönch gegenüber, der soeben den Beichtstuhl verlassen hat. „Äh, danke. Also, nein, ich meine …“

„Alles in Ordnung?“

„Schon, ich hätte mich nur gerne von dem Mann verabschiedet, mit dem ich mich unterhalten habe.“

„Wo ist er denn hin?“

„Das ist eine gute Frage. Er war eben noch hier, ich hatte ihm gerade Platz gemacht, als Sie aus dem Beichtstuhl herausgekommen sind.“

„Ich habe leider niemanden gesehen.“

Stephan kratzt sich am Hinterkopf. „Das ist der Satz des Tages.“

Der Mönch sieht ihn verständnislos an. Stephan setzt sich zurück in die Reihe, der Geistliche nimmt neben ihm Platz.

„Wie meinen Sie das mit dem Satz?“

„Es scheint, als würde ich heute als einziger irgendwelche Menschen sehen.“

„Wollen Sie mir mehr davon erzählen?“

Stephan richtet sich auf. „Heute Morgen habe ich eine Person gesehen, die sich die Staumauer der Aggertalsperre hinabgestürzt hat. Als ich an der Stelle ankam, an der der Körper hätte liegen müssen, war dort nichts.“

„Es lag niemand da?“

„Nein, niemand. Das Einzige, was ich dort gefunden habe, war eine Schneekugel. Vergraben in der Erde.“

„Vergraben?“

Stephan nickt stumm. Die Gegenfragen zeigen ihm schon jetzt, wie verrückt seine Geschichte klingt. Und dabei ist er erst beim Anfang.

„Darf Sie noch etwas fragen?“

„Natürlich.“

„Diese Aggertalsperre, die befindet sich nicht im Westerwald, oder?“

„Nein“, seufzt Stephan. „Sie liegt im Oberbergischen Kreis. In der Nähe von Gummersbach.“

Jetzt nickt der Mönch.

„Sie fragen sich bestimmt, was ich nun hier mache?“

Der Mönch lächelt.

„Ich war vor vielen Jahren schon einmal hier. Dieser Ort, Marienstatt, hat mir in vielerlei Hinsicht das Leben gerettet. Er bedeutet mir sehr viel.“

„Es ist ein magischer Ort.“

Stephan massiert sich die Stirn.

„Irgendwann müssen wir alle einmal gerettet werden. Aus welcher Situation auch immer.“

„Das war keine hohle Phrase!“, wehrt sich Stephan. „Ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich hierherkommen sollte. Irgendetwas hat mich geschickt.“

„Ich wollte Sie nicht …“

„Ich bin selbst Pfarrer“, unterbricht Stephan ihn. „Ich habe heute eine Aussegnung vorgenommen. Mitten im Gebet hat mich der Tote am Handgelenk gepackt und etwas gesagt. Kurz danach lag er wieder völlig reglos da.“

Der Mönch starrt ihn mit offenem Mund an.

„Nachdem ich das Haus verlassen hatte, sprach mich ein Nachbar auf die gefundene Schneekugel an. Er erzählte mir von dem Film Citizen Kane und dem letzten Wort, das eben jener auf dem Sterbebett gesprochen habe, bevor er eine Schneekugel fallen ließ.“

„Ich kenne den Film.“

„Dann wissen Sie vielleicht auch, warum ich nun hier bin?“

„Rosebud?“, fragt der Mönch.

„Rosenknospe“, bestätigt Stephan.

„Sie meinen, diese Ereignisse sollen eine Art versteckter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte unseres Klosters sein?“

„Jetzt, wo Sie mich das so fragen, klingt es wirklich nicht sonderlich plausibel.“

„Nun ja, die Legende, dass hier Mönche einst einen blühenden Rosenstrauch mitten in einem strengen Winter gefunden haben, ist tatsächlich nur eine Legende. Vielmehr soll Abt Hermann von Marienstatt die Gottesmutter im Traum erschienen sein und ihn auf einen im Winter blühenden Weißdornstrauch hingewiesen haben.“

„Ich kenne die Geschichte“, merkt Stephan an.

„Zugegebenermaßen gehört der Weißdorn auch zu den Rosengewächsen.“

„Jedenfalls habe ich es als Hinweis verstanden, hierherzukommen“, beginnt Stephan. „Und dann habe ich diesen Mann hier getroffen. Genau hier hat er mit mir gesessen, genau wie Sie jetzt.“ Dabei gestikuliert er wild mit seinen Händen.

„Und Sie glauben, Sie haben ihn sich nur eingebildet?“

„Es erscheint mir jedenfalls unmöglich, dass er so schnell die Kirche verlassen hat, ohne dass ich es mitbekommen habe.“

Der Mönch streicht sich über die Oberschenkel.

„Ich kann mir vorstellen, wie verrückt das klingt.“

Der Mönch steht auf. „Haben Sie Lust auf einen kleinen Spaziergang?“

11

„Und hier sind wir.“ Mit einer ausladenden Geste weist Frater Thomas auf den Ort, an dem der Weißdornbusch blüht, und grinst stolz. Über ihren Köpfen schieben sich Wolkentürme ineinander. Er schaut den Mönch an und friert. Hinter ihm steht Josef auf einem Podest, den kleinen Jesus in seinem Arm. Die gütigen Augen in die Zukunft gerichtet. Stolzer Vater, gesegneter Sohn.

„Und dieses Teil ist irgendeinem von euch im Traum erschienen?“

„Nicht irgendeinem. Dem Abt persönlich. Danach wusste er, dass hier der richtige Ort für die Neuansiedlung des Klosters sein muss.“

„Und, glaubst du den Scheiß?“

Der Mönch sieht ihn verwirrt an. Er bückt sich, zieht Unkraut aus dem kleinen, von Bruchsteinen eingefassten Beet, das den Strauch umgibt.

„Na ja, ich meine … überleg doch mal: Das hat der sich vielleicht nur ausgedacht, um die anderen Brüder zu überzeugen.“

„Aber warum sollte er das tun?“, fragt Frater Thomas und greift nach einer weiteren Pflanze.

„Was frage ich dich, du bist ja einer von ihnen.“ Er wendet sich ab, geht zu der hohen Bruchsteinmauer hinter der Josefsfigur.

„Und du? Du bist hier. Genau hier an diesem Ort.“

Jetzt blickt er Frater Thomas verständnislos an.

„Glaubst du vielleicht, dass das auch nur irgendein kalkulierter Zufall gewesen ist? Du warst fast tot. Und in dieser Stunde, just in diesem Moment, führen dich deine letzten Schritte nach Marienstatt?“, fragt der Geistliche.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich nicht weiß, wie ich hierhergekommen bin.“ Erinnerungen blitzen auf. Die blutenden Wunden an seinen Füßen. Der Schmerz in den Eingeweiden. Das Gift.

„Ja, das sagtest du. Du warst kaputt. Ein drogenabhängiges Wrack.“

Er schaut kurz zu Boden.

„Aber sieh dich jetzt an: Du hast es geschafft!“

Ein kurzer Windstoß erfasst die Zweige des Weißdorns, streichelt sein Gesicht. Josef lächelt. Jesus auch. Wer bin ich?

12

Stephan hat sich verändert. Zu sich selbst gefunden, auch wenn die Stimmen im Hintergrund flüstern. Die Erinnerung an den Tag, an dem ihn Frater Thomas genau an diese Stelle geführt hat, an der er nun erneut steht, ist frisch. Hier, im Schatten der Josefsfigur, die ihr Lächeln nicht verloren hat, die das Jesuskind im Arm hält, steht der Weißdorn. Seine Erscheinung hat dafür gesorgt, dass Marienstatt heute ein Teil des Westerwaldes ist. Sein noch immer sattes Grün hebt sich von der weißen Wand des Gebäudes ab, an der er sich gen Himmel reckt.

„Warum haben Sie mich hierhergebracht?“, fragt Stephan den Mönch.

„Es hat ein wenig gedauert, aber dann habe ich mich an die Erzählung von Frater Thomas erinnert. Er hat mir einst von einem jungen Mann berichtet, den man hier einmal aufgepäppelt habe. Sie haben gesagt, der Ort habe Sie gerettet. Zuerst habe ich das nicht wörtlich verstanden, aber im Laufe unseres Gesprächs fiel der Groschen: Sie sind dieser junge Mann gewesen.“

Stephan senkt den Kopf. „Was ist aus Frater Thomas geworden?“

„Er ist vor ungefähr zwei Jahren verstorben. Eine gute Seele. Er fehlt uns.“

„Scheiße.“

„Genau.“

Beide lächeln kurz. Stephan schaut instinktiv nach oben. Der verwaschene Himmel wirkt kalt und abweisend.

„Ganz egal, was Sie glauben, heute gesehen zu haben. Ob Ihnen Ihr Gehirn einen Streich gespielt hat oder nicht. Sie sind auf der Suche. Damals wie heute. Und genau deswegen sind Sie auch wieder hier. Alles beginnt von vorne.“

„Nur, dass ich heute clean bin.“

„Sie sind ein Mann Gottes. Gott spricht alle Sprachen, wahrscheinlich sogar solche, die wir auf Anhieb nicht verstehen.“

„Sie glauben, Gott hat etwas mit mir vor?“

„Hören Sie ihm einfach zu.“

Stephan denkt an die Stimmen. Das stete Flüstern in seinem Kopf, das ihn Tag für Tag begleitet. Mal mehr, mal weniger, aber immer da. Wie oft hat er versucht, die Worte zu filtern, zu verstehen, was sie sagen. Sein Leben lang hat er die Stimmen bekämpft, sie zum Verstummen bringen wollen. Heute waren sie lauter als je zuvor. Die Zeit scheint gekommen, die Zeichen zu deuten.

„Ich denke, ich weiß, was ich zu tun habe“, sagt er mit fester Stimme.

„Ich wünsche Ihnen viel Glück.“

Ohne sich noch einmal umzudrehen, schreitet Stephan den Weg ab, den er vor vielen Jahren in entgegengesetzter Richtung gegangen ist. Die knotigen Kronen der den Weg säumenden Bäume recken ihre dürren Finger zum Himmel. Im Hintergrund verblasst die Fassade der Basilika im aufkommenden Nebel. Eine Krähe zieht plärrend über ihn hinweg. Hast du gehört? Du sollst uns zuhören! Er muss zurück ins Oberbergische.

13

Lichtenberg. Auf dem Weg dahin hat Stephan an einer Tankstelle angehalten, das Auto vollgetankt, sich einen Kaffee bestellt und im Internet nach der Adresse des Hauses gesucht, von dem ihm der vermeintliche Bruder der Vermissten in der Basilika erzählt hatte.

Über das rätselhafte Verschwinden von Carola Herzog hat man in der Vergangenheit in regionalen Medien immer wieder berichtet, ihre Geschichte war sogar in einer populären Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen thematisiert worden. Alles ohne Erfolg. Carola Herzog gilt weiterhin als vermisst. Das Haus, im Internet als Geisterhaus betitelt, steht noch immer leer.

Während er an der Tankstelle in seinem Auto sitzt und an dem heißen Kaffee schlürft, ruft er Google Maps auf und notiert die angezeigte Straße. Sein Blick fällt auf den Satellitenbildbutton. Stephan drückt auf das kleine Display und nach einiger Zeit baut sich ein pixeliges Bild auf. Ein kaum erkennbares Plus-Zeichen zoomt das Bild näher heran. Neben dem vielen Grün erkennt er die Dächer einzelner Häuser. Zwischen einer Gruppe von Bäumen sticht die rote Farbe des länglichen Containers durch, von dem ihm der Leser in der Basilika erzählt hat.

Sie kauft doch kein Haus, lässt ihren ganzen Kram dort hinkarren, um dann zu verschwinden.

Lichtenberg. Hier steht das Haus. Stephan fühlt sich wie der Hase, der, egal wie sehr er sich beeilt, am Ende immer wieder auf den Igel trifft.

Er befährt die Straße Hohler Berg direkt am Waldrand, sucht die Gegend ab. Die Bauten scheinen aus den 1960er Jahren zu stammen. Deutlich hebt sich das Grundstück eines Schieferhauses ab. Unkraut wuchert aus Rissen in den alten Gehwegplatten, eine Häkelgardine hängt schief in einem der dreckigen Fenster. Stephan stoppt den Wagen, blickt sich kurz um und steigt dann aus.

Es nieselt leicht, als Stephan die Stufen zum Eingang des Hauses betritt. Neben der Eingangstür hängt ein vollgestopfter Briefkasten. Hinter gelblichem Milchglas verschwimmt der Flur zu einer trüben Masse. Obwohl alles darauf hindeutet, dass es sich um das Haus von Carola Herzog handelt oder es zumindest unbewohnt ist, klopft Stephan und wartet. Es bleibt still.

Er steigt die Stufen hinab und umrundet das Haus. Auf der Rückseite, inmitten von Bäumen, steht auf dicken Betonsockeln der rote Überseecontainer. Stephan steuert darauf zu, überfliegt die weißen Buchstaben, betriebliche Kennzeichen mit Prüfziffer, und umfasst eine der vier Türstangen. Auf den Türflügeln befindet sich je eine Verriegelung. Wieder schaut er sich um. Dann zieht er quietschend den rechten Flügel auf.

Ein modriger Geruch strömt aus dem Inneren. Reflexartig hält Stephan sich eine Hand vor Nase und Mund. Er fingert sein Smartphone aus der Hosentasche und schaltet das Licht der Kamera ein. Der dünne Strahl gleitet an sorgsam in Folie eingepackten Kleidungsstücken auf einem Ständer vorbei. Stephan dreht sich um, steigt in den Container und zieht den Türflügel ein Stück zurück, damit nicht von außen direkt auffällt, dass er ihn geöffnet hat.

Auf knapp zwölf Metern Länge, bei über zwei Metern Breite und fast zweieinhalb Metern Höhe muss der Stahlcontainer ein Volumen von nahezu 70 Kubikmetern fassen. Auf der Fläche stapeln sich Kartons, Kleidung und Hausrat. Mühsam kämpft sich Stephan vor, ohne zu wissen, wonach er überhaupt sucht. Vor dem spärlichen Strahl der Lampe tanzt der Staub. Es wird Stunden dauern, sich allein einen Überblick zu verschaffen. Bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hat, vernimmt er ein quietschendes Scharren, und ehe er die Quelle einordnen kann, fällt mit einem lauten Knall die Tür des Containers zu. Stephan hält den Atem an.

Hey …

Mehr als diese naive Empörung kommt ihm nicht in den Sinn. Er hastet zurück zur Tür und sucht mit der Lampe nach einer Möglichkeit, das Stahlkonstrukt von innen zu öffnen.

„Hallo? Ist da jemand? Ich bin hier drin!“, ruft er und schlägt mit der Faust an das kalte Metall. „Hallo!“

Nichts. Kann solch eine Tür einfach zufallen? Ist sie dann gleichzeitig verriegelt? Stephan verflucht sich selbst, dass er den Mechanismus nicht genauer untersucht und sich vergewissert hat, bevor er blindlings in das Dunkel getappt ist. Aufgewühlt entsperrt er sein Smartphone. Kein Empfang. Keine Internetverbindung.

„Scheiße! Verfluchte Scheiße!“, schreit er wütend und stampft mit dem Fuß auf den Boden. Wuchtig schlägt ihm das Echo entgegen.

Das Haus von Carola Herzog steht inmitten eines Wohngebietes. Irgendein Nachbar wird ihn hören, wenn er weiterhin auf sich aufmerksam macht.

Hoffentlich …

Stephan versucht, sich zu konzentrieren. Es muss doch irgendetwas in diesem Container geben, das ihm helfen kann. Er prüft den Akkustand seines Smartphones und begibt sich auf die Suche.

14

„Willst du mir sagen, was du vermisst hast?“

„Wie meinst du das?“