1440 Minuten krimineller Scharade - Simone Mariella - E-Book

1440 Minuten krimineller Scharade E-Book

Simone Mariella

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Beschreibung

Am Montag, den 10. August 2020 findet in der Bankfiliale des neuen Einkaufszentrums (NEZ) der Großstadt ein Überfall statt. Zeitgleich wird im Nebengebäude das Juweliergeschäft Jansen beraubt. Hängen die Verbrechen zusammen? Kommissar Jörg Nowak und seine Kollegen stoßen bei den Ermittlungen auf einige Ungereimtheiten. Warum lassen die Diebe das eigentliche Juwel, eine wertvolle antike Uhr, im Schmuckladen zurück? Wieso werden bei einem Bankraubzug mit Geiselnahme weder Forderungen gestellt, noch Geld gestohlen? Die Polizei steht vor einem Rätsel. Auch die beiden Hauptzeugen, Thomas Rutnik, ein Angestellter bei Frau Jansen und Melanie Brandt, eine Kundin der Bank, verstricken sich in widersprüchliche Aussagen. Handelt es sich bei den beiden um Opfer oder Täter?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

eins

zwei

drei

vier

fünf

sechs

sieben

acht

neun

zehn

elf

zwölf

dreizehn

vierzehn

fünfzehn

sechszehn

siebzehn

achtzehn

neunzehn

zwanzig

einundzwanzig

zweiundzwanzig

dreiundzwanzig

vierundzwanzig

fünfundzwanzig

sechsunzwanzig

siebenundzwanzig

achtundzwanzig

neunundzwanzig

dreissig

EINS

Bloß nicht unnötig auffallen. Nur die Ruhe bewahren und sich nicht das Geringste anmerken lassen.

Die ersten Schritte ihrer Planungsreihe hatten sie erfolgreich umgesetzt. Fast alle Hürden waren mit Bravour gemeistert worden. Wenn der restliche Plan genauso fehlerfrei durchgeführt würde, dann würde alles perfekt laufen und sein jetziges Leben wäre in ein paar Tagen für immer passé. Nur der letzte Feinschliff fehlte. Eine gemeinsame Absprache noch in der Vorbereitungsphase. Das war der Grund für das heutige Event. Das letzte gemeinsame Treffen, bevor die Finalphase eingeleitet werden würde. Persönliche Kontakte hatten über den ganzen Zeitraum hinweg nur einmal im Quartal stattgefunden. Dafür gab es einen kurzen Telefonanruf mit klaren Instruktionen, die von einer Computerstimme überbracht wurden.

Zwei Jahre akribische Planung und Vorbereitung würden bald zu Ende gehen. Eigentlich schade, dass dieses euphorisierende Gefühl bei dem Gedanken daran, etwas Unerlaubtes zu tun, bald vorbei sein sollte. Aber auf das, was ihnen bevorstand, freute er sich überaus. Sich endlich nicht mehr verstellen, nicht mehr auf der Hut sein müssen. Er besaß seiner Meinung nach zwar die Stärke, den Großteil der Situationen zu meistern, registrierte jedoch, wie die Zeit an seinen Kräften zehrte. Er war in die Jahre gekommen, doch die Menschen wurden trotz offizieller politischer Toleranz nicht weiser und nicht weniger müde, ihn auf seine nicht standardtreue Lebensweise aufmerksam zu machen. Zwar hatte er erkannt, dass sein Arbeitsumfeld und vor allem seine Kunden eine gewisse Akzeptanz mitbrachten, doch wirklichen Respekt gegenüber seinem Auftreten gab es dennoch kaum.

Die Aufregung durchlief in diesem Moment seinen ganzen Körper, von der kleinen Zehe über den Rumpf bis hoch zur Kopfhaut. Jede seiner Körperzellen schien wie elektrisiert, sogar die Haut unter seinen Fingernägeln konnte er durch seine Lederhandschuhe spüren, die er trotz der Sommerhitze anzog, um keinen Schlag beim Anfassen der Stange in der U-Bahn zu bekommen. In zwei Haltestellen musste er aussteigen.

»Fahre mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Ostbahnhof. Nimm die Rolltreppe in südlicher Richtung. Gehe an der Kreuzung in Richtung des roten Hauses. Tritt nach zwei Querstraßen durch das gelbe Tor. Durchquere den Innenhof. Nimm im Hinterhaus das linke Treppenhaus und begib dich in den 5. Stock. Klopfe dreimal an der weißen Tür mit schwarzem Türgriff.« So lautete die Anweisung.

Ihre komplette Kommunikation in den letzten zwei Jahren war auf das Minimale beschränkt gewesen. Nichts wurde aufgeschrieben, damit im Nachhinein keinerlei Nachweise zu finden wären. Es gab nur telefonische Beschreibungen, und alles merkten sie sich immer im Kopf. Nach zehn Telefonaten wurde die Karte gewechselt. Prepaidkarte versteht sich. Warum genau nach zehn, hatte ihm keiner der anderen erklären können. Das war schlichtweg die Regel. Die Telefongespräche dauerten nie länger als zwei Minuten, und auf gar keinen Fall durften die Nummern der anderen eingespeichert werden. Für Kurznachrichten wurde die altmodische SMS-Technik verwendet, alle Arten der Kommunikation per sozialen Medien war nicht gestattet. Damit jeder Bescheid wusste, wann einer der andere seine Karte erneut austauschen musste, gab es eine SMS an alle mit dem persönlichen Kürzel, Datum und Uhrzeit. Er war gestern Abend an der Reihe gewesen: TR-090820-1800 hieß es in seinem Text. Nach dem Kartenwechsel schickte man eine zweite SMS in die Runde: NN für »Neue Nummer«, Kürzel, Gültig-bis-Datum und wieder die Uhrzeit: NN-TR-190820-1800. Alle sechs Monate wurde die Hardware gewechselt. Jeder hatte sich mehr als ein Telefon angeschafft, von den ältesten Handys bis hin zu den neuesten Smartphones. Bei einem Modell mit integrierter Kamera wurden nach Inbetriebnahme zuerst die Einstellungen für die Kamera deaktiviert oder auf einen externen Speicherort umgestellt. Außerdem hatte jeder eine Anweisung erhalten, wie die GPS-Dienste auszustellen waren.

Sein Herz raste vor Aufregung. Bald würden sie Deutschland endgültig den Rücken kehren und in Würde alt werden können. Ohne Geldsorgen. Die Vorfreude spiegelte sich in seinen Augen. So gestrahlt hatte er nicht mehr, seit er ein kleiner Junge gewesen war.

»Nächste Station: Ostbahnhof« las er auf der Anzeige in der U-Bahn. Sein Puls war jetzt so intensiv, dass er sich sicher war, der Fahrgast gegenüber könnte ihn schlagen hören.

ZWEI

Sie liegt vor mir auf dem Asphalt. Keine drei Meter weg von mir. Unter einer weißen Plane. Blut ist um sie herum. Ich will zu ihr, aber meine Beine lassen sich nicht bewegen. Kalt ist es. So richtig kalt. Ich zittere am ganzen Leib. Ich will zu ihr, aber meine Beine bewegen sich nicht. Meine Knie sind starr wie Besenstiele. Jemand hat mir eine Decke umgehängt. Das weiß ich, weil sie schwer auf meinen Schultern liegt. Ich halte die beiden Zipfel in den Händen vor meiner Brust. Aber die Decke wärmt mich nicht. Ich sehe nur sie. Die Wölbungen unter der weißen Plane. Ob sie auch friert? Ich muss ihr doch helfen. Ich will ihr meine Decke geben, sie wärmen, damit sie aufwachen kann und alles wieder gut wird. Aber meine Füße bewegen sich nicht. Sie sind im Asphalt unter mir verwurzelt. Mein Blick ist verschwommen. Nur die Plane ist deutlich. Ich bemerke, dass Menschen um mich herum sind. Ich kann ihre Stimmen undeutlich hören. Aber sehen kann ich nur sie. Mein Blick ist starr wie in einem schwarzen Tunnel mit einem kleinen Lichtfleck am Ende. Ich schwanke hin und her. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich komme nicht zu ihr. Ein Blitzen in der Ferne. Meine Augen bewegen sich nicht. Die Lider sind weit geöffnet. Ich muss Obacht geben, dass meine Augäpfel nicht herausfallen, soweit geöffnet sind meine Lider. Ich sehe Gestalten auf mich zukommen. Schwarze Gestalten. Sie tragen eine Bahre. Nein, bitte nicht! Ich will weg, nur noch weg. Aber es geht nicht. Ich blicke verzweifelt zu meinen Füßen. Ich sehe Fußfesseln, die mich festhalten. Jetzt gehen die Gestalten auf sie zu. Sie wollen sie mir wegnehmen. Aber das geht doch nicht. Das ist meine Mama. Das können sie nicht machen. Meine Finger sind hart wie Stahl. Ich komme mir vor wie Edward mit den Scherenhänden. Das Blitzen wird blau. Es entpuppt sich als Blaulicht. Die Gestalten sind jetzt fast bei ihr. Ich versuche krampfhaft, zu schreien, aber mein Mund lässt sich nicht öffnen. Ich bekomme nur kurze Zuckungen zustande. Und mein Rufen zerfällt in ein ruckhaftes Stöhnen. Mit aller Kraft versuche ich, mich aus den Fesseln zu befreien, aber es gelingt mir nicht. Ich muss mitansehen, wie sie immer näherkommen und sie mir klauen wollen. Sie stellen eine lange Box neben ihr auf dem Boden ab. Dann hebt einer die Plane an. Ich kann noch einen Blick auf sie werfen. Sie ist weiß, kahl, regungslos. Ihre Seele hat sich bereits verabschiedet. In diesem Moment erkenne ich, dass meine Mama schon weg ist. Die Frau, die ich kannte, gibt es nicht mehr. Sie bewegt sich nicht.

Trotzdem, ihr Körper ist noch da, den können sie mir nicht einfach so nehmen. Ich will zu ihr. Mit aller Kraft ziehe ich an meinen Beinen. Ich strecke meine Arme aus und versuche, mich so lang wie möglich zu machen. Ich will sie greifen, doch es gelingt mir nicht. Mein Herz schlägt wie verrückt. Sie nehmen ihre Arme und Beine und heben sie in die Box. Deckel drauf. Sie kann sich nicht wehren und ich kann ihr nicht helfen. Sie tragen sie in Richtung Licht. Der Tunnel fängt an, sich zu drehen wie eine Scheibe. Die Gestalten entfernen sich, und kleine Punkte erscheinen. Das Blaulicht ist zu einem Flackern geworden. Meine Starre löst sich langsam auf. Meine Knie knicken ein und meine Hände hängen an meinem schlaffen Körper herab. Das Licht, es verschwindet. Auch die Gestalten mit der Box und meiner Mama. Sie sind weg. Ich kann nicht mehr an mich halten. Ich rufe jetzt laut, doch es ist zu spät.

Melanie öffnete die Augen und presste ihre Hände flach auf die Matratze. Ihr ganzer Körper war wie versteinert. Die Luft hatte ihren geöffneten Mund austrocknet. Wo war sie? Langsam tastete sie ihre Umgebung ab. Eine weiche Unterlage aus Stoff. Unten an ihren Füßen konnte sie feine Leinen fühlen. Sie lag in einem Bett, natürlich in ihrem eigenen. Wo denn sonst?

Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Ihre rechte Hand fasste an ihren Brustkorb und drückte dagegen. Atme. Atme. Ein und aus. Dann stützte sie sich mit den Armen ab und setzte sich auf die Bettkante, hielt den Kopf in der aufgestützten Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Puls raste weiterhin vor Aufregung. Wieder hatten sie diese Albträume eingeholt. Der Autounfall, bei dem ihre Mutter gestorben war, war schon zehn Jahre her. Und trotzdem hatte sie noch mit den Erinnerungen an diese Nacht zu kämpfen. Ein Blick auf ihr Smartphone verriet ihr, dass es Montag, der 10. August war.

Wieder einer diese faden Montagvormittage. Seit Melanie vor ein paar Monaten bei einer amerikanischen Firma angefangen hatte, begann ihre Präsenzzeit dank der Zeitverschiebung eher später am Tag. Da kein offizielles Meeting vor halb fünf angesetzt war konnte sie ihre Arbeit bis zum frühen Nachmittag flexibel gestalten. Aufgrund der momentanen Weltsituation war sie hauptsächlich im Homeoffice. So konnte sie sich mit ihrem Laptop bewaffnet an jeden Ort setzen, auf den sie gerade Lust hatte.

Heute hatte sie um zehn einen Termin bei ihrem Anlageberater in ihrer Bank, den sie nach langer Wartezeit endlich erhalten hatte. Es gab in Sachen Geldanlagen allerdings nicht viel zu besprechen, weshalb sie damit rechnete, nach spätestens dreißig Minuten fertig zu sein. Somit könnte sie schon vormittags zwei Stunden arbeiten bis zu ihrem Lunch mit ihrer besten Freundin. Wo genau sie sich treffen wollten, war noch nicht geklärt. Aus Erfahrung rechnete sie nicht damit, kein Mitspracherecht zu bekommen. Sie kannte Swenjas pedantische Natur zu

gut. Anschließend könnte sie sich ein schönes Plätzchen am Flussufer suchen und sich für ihren »finalizing call« gegen Nachmittag vorbereiten. Alles in allem ein normaler, langweiliger Montag.

Nachdem sie den Plan in Gedanken durchgegangen war, sich kurz geduscht hatte und in ihre blaue Jeans mit schwarzem T-Shirt und schwarz-weißen Sneakern geschlüpft war, goss sie sich ihren Kaffee in einen To-go-Becher, klemmte sich ihre Tasche samt Laptop unter den Arm und verließ die Wohnung.

Die Bankfiliale befand sich im Hauptgebäude des neuen Einkaufszentrums im Herzen der Millionenstadt, das kurz NEZ genannt wurde. Es lag je nach Verkehrslage und Ampelphasen etwa eine halbe Stunde entfernt. Da sie bis vor Kurzem dort in der Nähe gearbeitet und in ihrem ersten Jahr als Zugereiste in einem WG-Zimmer um die Ecke gewohnt hatte, hatte sich die Wahl der Bankfiliale angeboten.

Sie holte ihr Fahrrad aus der Tiefgarage und machte sich auf den Weg. Es war mitten im Hochsommer, das hieß, es waren Schulferien und somit aller Wahrscheinlichkeit nach weniger Verkehr zu erwarten. Die meisten Familien waren zu dieser Jahreszeit im Sommerurlaub oder schliefen noch, und so trat sie in die Pedale, um es bei tief Dunkelgelb über die Kreuzung zu schaffen. Auch wegen der Pandemie waren weniger Menschen auf den Straßen unterwegs. Sie radelte vorbei am Ostbahnhof, dann linker Hand am Rathausplatz weiter die Hauptstraße entlang bis zu einem kleinen Platz. Die meisten Einheimischen oder solche, die sich dafür hielten, wären einen anderen Weg gefahren; die erste Seitenstraße links rein und dann rechts querfeldein, um die befahrene Hauptstraße zu meiden. Aber Melanie liebte den Blick auf das große Tormonument am Ende der Straße mit dem Brunnen und den dahinter hervorstechenden Rosengärten, die selbst im trockenen Hochsommer intensiv und farbenreich glänzten. Der kleine Platz, auf dem sich normalerweise Hunderte von Touristen vergnügten, war zu dieser Zeit wie leer gefegt. Die Wenigen, die sich auf eine Reise in die Großstadt trauten, standen entweder am Frühstücksbuffet oder saßen in einem der Busse, um die Sehenswürdigkeiten zu betrachten. Warum gab es nach wie vor so unterschiedliche Ferienzeiten, fragte sie sich, als sie stehen bleiben musste, um eine Schulklasse vorbeiziehen zu lassen. Sie lächelte die Kinder an, überlegte, aus welchem Land ihre Schuluniformen stammten, ließ sie brav passieren und fuhr weiter. Als sie in die Straße einbog, in der sich ihre Bankfiliale befand, klingelte ihr Handy. Sie hatte es wie immer in ihrer Tasche, die sie in den Lenkradkorb getan hatte, und konnte nicht rangehen. Sie würde zurückrufen. Wer rief sie am Montagvormittag an? Wahrscheinlich Swenja, die ein Lokal für das Mittagessen vereinbaren wollte. Nein, es war zu früh für sie und das könnte sie ihr auch schreiben.

Melanie stellte ihr Fahrrad an einem Fahrradständer ab und sperrte es mit ihrem neuen Hochsicherheitsschloss an. Nachdem man ihr letztes Jahr das uralte Mountainbike gestohlen hatte, obwohl es angeschlossen gewesen war, hatte sie sich beim Kauf ihres neuen Fahrrads ein dementsprechendes Schloss angeschafft. Vorher hatte sie nur ein simples Spiralfaserschloss benutzt. Wer so etwas in der Großstadt verwendete, sei selbst schuld, wie Swenjas Freund zu sagen pflegte. Melanie wiederholte in Gedanken seine herablassende Bemerkung und erinnerte sich schmerzhaft an den Diebstahl zurück. Die Anzeige bei der Polizei inklusive aller behördlichen Folgen und Anrufe und E-Mail-Korrespondenzen mit der Versicherung waren ein langwieriges und nerviges Unterfangen gewesen.

Wieder klingelte und vibrierte ihr Handy und riss sie aus den Gedanken. Diesmal konnte sie den Anruf annehmen.

»Hallo?« Melanie gab sich alle Mühe, nicht zu gehetzt zu klingen.

»Hello, Melanie, is that you?«, erklang eine männliche Stimme. Hätte sie sich doch bloß die Mühe gemacht, vorher zu gucken, wer der Anrufer war. Aber vor lauter Eile hatte sie keine Gelegenheit gehabt, auf das Display zu schauen, um den Störenfried eventuell wegzudrücken oder gar nicht erst ranzugehen. Ohne Vorwarnung blieb sie wie angewurzelt stehen und schaute ins Schaufenster der Bankfiliale. »Yes, who's there?« Als wüsste sie das nicht.

»It's me, Mathew! Hello? ... Melanie, are you still there?«

Als sie sich selbst im Spiegelbild wiedererkannte, erlangte sie die Fassung zurück. Reiß dich zusammen! Melanie unterdrückte den Ausdruck von Verwunderung in ihrer Stimme und versuchte, so normal und nebensächlich wie möglich zu antworten.

»Yes, I am still here. Mathew, hey. Schön, von dir zu hören.«

»Hey, Melanie. How are you?«

»Danke, gut. Wie geht es dir?«, erwiderte sie absichtlich auf Deutsch. Ihr war bewusst, dass es ihn provozieren würde.

»Thank you, I'm fine.« Diese Amerikaner und ihre formale Höflichkeit.

Nach einer längeren Stille griff Mathew das Gespräch wieder auf.

»Well, listen. Ich bin beruflich in der Stadt und möchte dich sprechen.« Seine Stimme klang so blechern, wie es bei Freisprechanlagen während des Autofahrens üblich war. Saß sie etwa neben ihm und hörte zu? Dieser Gedanke löste Krämpfe in Melanies Magengegend aus.

»Um was geht es denn?«, fragte sie unschlüssig, als ob sie die Antwort hören wollte.

»Ich will das persönlich mit dir teilen, bitte«, erklärte Mathew.

Ich will etwas persönlich mit dir besprechen oder persönlich mit dir reden, verbesserte Melanie ihn gedanklich. Wie hatte sie das so lange aushalten können? Sie antwortete nicht.

»Tonight? Im Deli Olivia. At eight p.m., okay? Melanie, are you still there? Can you hear me?«

»Ja, okay. Heute Abend um acht im Ristorante D'Olivia«, berichtigte sie ihn etwas ruppig und war von ihrer Zustimmung überrascht. So viel zu dem Thema, keinen Kontakt mehr halten zu wollen. Nie wieder.

»Okay. Great. Have a good day, and I will see you tonight? Looking forward. Bye.«

Bevor sie antworten konnte, hatte ihr Ex-Freund aufgelegt. Was war das denn? In Gedanken vertieft beugte sie sich über ihr Fahrradschloss, um sicherzugehen, dass sie die Zahlenkombination verdreht hatte. Hätte sie das nicht getan, sondern wäre gleich in das Gebäude gegangen, wäre ihr die Frau nicht aufgefallen, die in diesem Moment über den Bürgersteig eilte, um die große, offene Halle zwischen den beiden Gebäuden des Einkaufszentrums zu betreten. Sie hatte schwarzes Haar, das zu einem Bob geschnitten war, und trug eine enge, schwarze Hose, schwarze Lederstilettos und eine schwarze Bluse. Auf ihrer Schulter hing eine Umhängetasche aus Leder, ebenfalls schwarz und genau das Modell, das sich Melanie nicht leisten wollte. 325 Euro für eine Handtasche waren nicht in ihrem Budget enthalten. Mit einer schrillen und zugleich verrauchten Stimme in einer eher für Männer typischen Tonlage fegte sie einen Herrn an, den sie selbst angerempelt hatte: »Mach dich mal locker, Alter. Stehst doch noch gerade!«

DREI

Melanie betrat den Eingangsbereich des Gebäudes und genoss die Abkühlung, die durch die hohen Wände aus Fliesen in Marmoroptik und verdunkelten Glasfenstern entstand. Sie hielt kurz inne, um die kühle Luft auf ihrer Haut zu genießen und ihre Maske aufzusetzen. Warum hatte Mathew angerufen? Was wollte er? Melanie drückte den Knopf für den Aufzug und betrachtete beiläufig die Etagenanzeige. Heute Abend würde sie es erfahren und, bis dahin konnte sie nichts daran ändern. Sie schüttelte den Gedanken ab.

Der ebenfalls klimatisierte Fahrstuhl mit den großen Spiegeln auf allen Seiten brachte sie in den zweiten Stock. Die neuen Büroflächen der Bank wirkten auf den ersten Blick kleiner, als sie es erwartet hatte, und waren nicht annähernd so angenehm temperiert. Weiße Wände, dunkelblauer Teppichboden, hellgraue Büromöbel, die einen biederen und kahlen Eindruck vermittelten. Ein ziemlicher Kontrast zu der glamourös wirkenden Eingangshalle. Zwei große grüne Zimmerpflanzen standen in je einer der beiden Ecken des Empfangsbereichs, und nichtssagende Bilder hingen an den Wänden. Stillleben. Sie erinnerte sich an den Kunstunterricht bei Frau Lange. Bei dem Gedanken an ihre schräg gekleidete Lehrerin mit dem strohigen Nest auf dem Kopf, das sie als Frisur bezeichnete, musste Melanie schmunzeln. Sie ertappte sich dabei und setzte sich ein wenig pikiert auf einen der beiden abgenutzten Stoffsessel.

»Herr Unken ist gleich für Sie da«, meinte eine Frau in einem hellblauen Kostüm im Vorbeigehen.

Kurz darauf stand ein gut aussehender Mittvierziger im Türrahmen. Braune Haare, circa ein Meter achtzig groß, sportliche Figur und blaue Augen. Vielleicht wäre der ja was für sie, schallte die Stimme ihrer Mutter zwischen ihren Ohren.

»Frau Brandt? Melanie Brandt?« Er machte einen fragenden Schritt auf sie zu.

Melanie stand auf, und der Mann streckte ihr die Hand entgegen, zog sie aber im selben Augenblick zurück.

»Alte Angewohnheiten lassen sich nur schwer abstellen.« Er lächelte ihr höflich unter seiner hellblauen OP-Maske entgegen, was die kleinen Grübchen auf der linken Wange hervorkommen ließ.

Charmant, dachte Melanie.

»Ich bin Robert Unken. Schön, Sie kennenzulernen, Frau Brandt. Folgen Sie mir bitte.«

Ein zartes »Guten Morgen« kam ihr über die Lippen. Der Bankangestellte machte kehrt und eilte voraus. Aus dem Eingangsbereich ging es links in einen kleinen Gang, der in einem großen Seminarraum endete. Herr Unken bog davor rechts ab in einen weiteren Gang. Sie folgte ihm. Knackiger Hintern, ging ihr durch den Kopf. Lass das! Am Ende würde sie nur wieder rot im Gesicht werden, und dann wurde es stets peinlich. Krampfhaft hob sie den Blick und betrachtete beiläufig das Ambiente. Der Flur war lang und extrem breit. Die Türen zu den einzelnen Büros waren aus undurchsichtigem Milchglas. Sie passierten zwei Nischen, in denen Kopiergeräte und Regale mit den üblichen Büroutensilien standen. Auf halber Strecke kamen sie an einer kleinen Kaffeeküche mit Stehtischen linker Hand und den WCs für Damen und Herren mit je einer Tür rechter Hand vorbei. »Die goldene Mitte heißt es bei uns«, meinte Herr Unken. »Halbzeit sozusagen.«

Am Ende des Ganges öffnete er die rechts gelegene Tür und wandte sich um. »Hier sind wir. Bitte.« Er deutete ihr mit einer Handbewegung an, das Büro zu betreten. »Nehmen Sie doch schon mal Platz. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wasser, Kaffee, Tee oder einen Saft?«

Wie vornehm. Er war auch noch Knigge-konform. Lass das!

»Einen Kaffee, bitte. Schwarz«, antwortete Melanie mit etwas mehr Sicherheit in der Stimme.

»Kommt sofort, Frau Brandt.« Er lächelte erneut.

Melanie wollte sich gerade abwenden, um das Büro zu betreten, da passierte es.

PENG!

Ein lauter Knall und mit ein wenig Verzögerung ein Kreischen. Beide Geräusche kamen aus Richtung des Eingangsbereichs. Melanie drehte sich abrupt wieder zurück. Noch einmal.

PENG!

»Was war das?«, hörte sie einen Mann aus einem der Büros rufen, an denen sie vorbeigegangen waren.

Dann eine weitere laute Männerstimme. »Alle sofort die Hände hoch! Hände aus den Taschen und bleiben Sie, wo Sie sind!«

Melanie blickte ungläubig zu Herrn Unken und ging instinktiv einen Schritt auf ihn zu.

»Hände hoch!«, brüllte die Männerstimme wieder.

Melanie spähte den langen Flur zurück und sah, wie einige Bürotüren geöffnet wurden. Behutsam traten die Angestellten und Kunden aus den Zimmern.

»Hände hoch!«, schrie der Mann erneut, der jetzt am gegenüberliegenden Ende des Flurs auftauchte. Eine große Gestalt in einem schwarzen Overall und einer Skimaske über dem Kopf. In der Hand hielt er eine Maschinenpistole. Hinter ihm folgte ein zweiter Mann.

PENG!

Ein weiterer Schuss wurde in die Luft gefeuert. Melanie fuhr vor Schreck zusammen. Sie stand wie eine Statue da und regte sich keinen Millimeter. Im Flur entstand ein panischer Wirrwarr aus lauten Schreien und knallenden Türen. Einige Menschen hasteten wieder zurück und wollten sich verstecken. Aus Richtung Eingangsbereich folgten weitere Anweisungen. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Hände hoch!«

»Wir werden überfallen«, kreischte eine Frau.

Melanie stand immer noch wie angewurzelt da, unfähig, sich zu bewegen. Was geschah hier? Ein intensives Kribbeln hielt in ihren Beinen inne und ihr Herzschlag wurde immer heftiger. Sie hob die rechte Hand, um sich an Herrn Unken festzuhalten, doch als sie sich zu ihm drehte, bemerkte sie, dass nicht mehr er dort stand, sondern ein anderer Mann. Sie starrte auf seinen schwarzen Mundnasenschutz. Wer war er? Was machte er hier? Wo kam er her? All das wollte Melanie den Mann fragen, doch sie bekam nicht mehr als ein »W...« heraus. Der Unbekannte schlug ihren Arm so heftig beiseite, dass sie gegen die Wand flog und keine Luft mehr bekam. Es fühlte sich an, als drückten sich unsichtbare Hände tief in ihre Eingeweide und unterbanden gleichzeitig die Sauerstoffzufuhr. Melanie wurde schwarz vor Augen und sie sackte zu Boden.

VIER

Das Juweliergeschäft Jansen war im zweiten Stockwerk des NEZ zu finden. Von hier aus hatte man Einblick in den Dessousladen, der gegenüber lag. Der direkte Nachbar rechter Hand war ein Tabakladen und linker Hand ein Seifenshop. Die Frontseite des Schmuckgeschäfts bestand zu 90 Prozent aus Glasfenstern, die fast bis zum Boden reichten und mit Glasvitrinen ausgestattet waren, die Schmuckstücke ausstellten. Die meisten der edleren Teile hatten einen Preiszettel im Schaukasten, es sei denn, es handelte sich um Juwelen von exquisiter Qualität, wie Thomas es seinen Kunden erklärte. Die High-End-Ausgaben waren in seinem kleinen Kämmerchen hinter dem Tresen zu finden und wurden nur auf persönliche Nachfrage gezeigt.

»Wo kämen wir denn sonst hin. Wissen Sie, werte Damen, wir sind hier in einem Haus für jeden Geldbeutel. Man muss Rücksicht auf alle Schichten unseres Systems nehmen, wenn Sie verstehen, was ich meine!« Mit dieser Aussage und einem Zwinkern versuchte Thomas bei betuchten Frauen zu punkten.

Diese überhebliche Art hatte ihn schon in einige prekäre Situationen gebracht. Allen Kundenbeschwerden zum Trotz schien seine Vorgesetzte einen Narren an ihm gefressen zu haben und stand stets hinter ihm.

Thomas Rutnik war 52 Jahre alt und gelernter Goldschmied. Nach seiner Ausbildung hatte er das große Abenteuer gesucht und war nach Paris gegangen, um dort als Model durchzustarten. Mit seinen Körpermaßen, den intensiv türkisen Augen und dunklen Haaren hatte er sich einige Chancen ausgerechnet. Der Durchbruch zum Supermodel, von dem in dieser Branche alle insgeheim träumten, blieb leider aus. Es hatte bei ihm noch nicht einmal für normale Laufstegaufträge gereicht. Fünf Jahren des reinen Überlebens, wie er diese Phase seines Lebens nannte, zwangen ihn zur Rückkehr in die Heimat, um dann doch das kleine Juweliergeschäft des Vaters zu übernehmen. Da er kein Gespür für Geschäftliches hatte und seine Verhandlungen eher auf emotionaler Ebene führte, ging er relativ schnell Pleite. Im Anschluss hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten meistens als Angestellter im Einzelhandel über Wasser, bis er vor einigen Jahren bei Frau Jansen im Schmuckladen anfing.

In all der Zeit war in der Mall, wie das Einkaufszentrum von den Angestellten genannt wurde, eher selten etwas Spannendes oder Aufregendes passiert. Einmal gab es einen Herzinfarkt auf Etage eins. Bei den Herrenmoden war ein älterer Mann zusammengebrochen und mit dem Krankenwagen abtransportiert worden, wie Thomas über den Flurfunk erfahren hatte. Ein anderes Mal platzte einer Schwangeren die Fruchtblase unten im Eingangsbereich. Die Frau schleppte sich zu den Toiletten und gebar dort sogar ihr Kind. Das sorgte damals für Aufsehen und Gesprächsstoff unter den Angestellten. Im Gegensatz dazu war im Haupthaus, in der Zentrale, schon einiges mehr geschehen. »Dort vorne ist mehr Laufkundschaft«, hatte der Gebäudemanager bei der Feier zum einjährigen Bestehen erklärt. An einem normalen Montagvormittag war nicht viel Betrieb. Die meisten Menschen hielten sich zu dieser Tageszeit im Untergeschoss auf. Dort gab es nicht nur den Eingang zum öffentlichen Nahverkehr, sondern auch zahlreiche Bäckereien. Wie jeden Vormittag fuhr Thomas die Rollos des Juwelierladens um exakt 10:00 Uhr hoch und entriegelte dann die Eingangstür.

»Huch! Guten Morgen, gnädige Frau. Zu dieser frühen Morgenstunde begegne ich hier sonst selten jemandem«, meinte Thomas zu der Kundin, die ihm einen Schrecken eingejagt hatte. Nicht nur durch ihre Anwesenheit mit der Thomas auf keinen Fall gerechnet hatte, sondern vor allem wegen ihrer dunklen Erscheinung. Die Frau war von oben bis unten in schwarz gekleidet. Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich wider im Griff und fügte hinzu: »Treten Sie ein. Was kann ich denn für Sie tun? Suchen Sie etwas Spezielles?«

»Nein, danke«, erwiderte die Dame mit einer rauen Stimme.

»Meine Armbanduhr ist stehen geblieben und braucht eine neue Batterie. Und ich habe es etwas eilig.«

»Selbstverständlich«, entgegnete er, während sie ihm die Damenarmbanduhr schon vor das Gesicht hielt. »Danke. Ich werde mich im Handumdrehen darum kümmern. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie können sich in der Zwischenzeit gerne umsehen.«

»Wie lange dauert das?«, fragte die Frau.

»Keine zehn Minuten. Ich bin ein ganz flinker Finger«, provozierte er die Frau.

Sie reagierte überhaupt nicht und tat, als hätte sie den Spruch nicht gehört. »Ich bin dann in zehn Minuten wieder da«, sagte sie und verschwand durch die Eingangstür. Ihre Augen waren eiskalt, sodass Thomas schauderte, als er mit der Armbanduhr hinter den Tresen trat.

Er setzte sich auf seinen Hocker und bereitete alles für einen Batteriewechsel vor.

»Salve, Thomas!«, kam es vom Flur. Er blickte auf und sah Atilla, einen der Männer vom Gebäudesicherheitsdienst, im Türrahmen stehen. »Schon so früh Arbeit?«

»Guten Morgen, Atilla«, antwortete Thomas. »Ist nur ein Batteriewechsel.«

»Zu so früher Stunde?«, scherzte der Sicherheitsmann. »Du musst aufpassen, dass du nicht dieses Burn-out bekommst, von dem immer alle reden. Zu viel Arbeit und Stress und so.«

»Jetzt übertreibst du aber.« Thomas blickte weiter auf die Uhr in seinen Händen.

»Die war extrem sonderbar«, meinte Atilla. Der Quotentürke, wie er sich selbst an dessen erstem Arbeitstag Thomas vorgestellt hatte, stand im Türrahmen des Ladens und sah Thomas bei der Arbeit zu. Thomas erinnerte sich daran, wie überrannt er sich bei dieser Vorstellung damals vorgekommen war. Man kannte sich nicht und wurde auf einmal per Du angesprochen. Wie unverschämt! Aber Atilla hatte Thomas abwehrende Haltung überspielt und ihm auf die Schultern geklopft. »Schüchtern, wie? Keine Angst, das wird schon.«

Seitdem kam Atilla jeden Morgen von Montag bis Samstag bei Thomas im Laden vorbei, um ein kleines Pläuschchen zu halten. Manchmal, wenn wenig los war, blieb er länger. Ab und an brachte er Kaffee und Kuchen von Helga aus dem Kellerbistro mit. Im Laufe der Jahre hatten die beiden Männer sich ein wenig angefreundet. Thomas hätte das zwar nie zugegeben, aber wenn Atilla im Urlaub war oder aus anderen Gründen nicht zur Arbeit erschien, hatte Thomas das Gefühl, es würde etwas fehlen.

»Ich tippe auf Einweg.«

»Bitte, wie meinen? Der Herr sprechen wieder in Kryptonisch. Ich kenne Einweg als Pfandflasche. Jedoch nicht in Zusammenhang mit Frauen.« Thomas hatte die Aufmerksamkeit auf seiner Seite.

»Eine Einwegkundin ist eine Frau, die eher zweckmäßig beim Einkaufen vorgeht. Nicht explizit auf der Suche nach einer bestimmten Kette oder Ohrringen, sondern eher hier, um eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Sowas wie eben ein Batteriewechsel oder das Verkürzen oder Verlängern von Armbändern und Halsketten.« Thomas pausierte und blickte auf zu Atilla, der ihm gegenüber stand. Dieser war offenbar noch nicht gelangweilt und wartete auf eine Art Pointe.

»Die sind halt selten explizit wegen der Qualität meiner Arbeit hier, sondern weil sie eben gerade durch das NEZ schlendern und es sich eben ergibt. Sobald der Auftrag erledigt ist, verschwinden die auf immer und ewig. Da hilft meistens auch kein charmantes Bezirzen und angewandte Verkaufstaktiken, die ich ja durchaus perfekt beherrsche.«

»Nicht den Kopf hängen lassen, mein Freund.«

»Immerhin bringt sie Umsatz. Gibt auch solche, die nur kommen, mich ewig aushorchen, mir mein Fachwissen aus der Nase ziehen. Schleichen Ewigkeiten im Laden herum, stellen Fragen bis ins kleinste Detail, wie viel Karat hier, welche Fassung da, doch eine Nut mehr im Armband oder eher alles in Rotgold, nur um dann, wieder zu verschwinden, ohne etwas gekauft zu haben. Bestellen dann höchstwahrscheinlich online.«

»Jaja, damit ihre Ehemänner die Ausgaben kontrollieren. Über die schimpfen alle hier«, versuchte Atilla Thomas ein wenig aufzumuntern. Der war allerdings mit seinem Redeschwall noch nicht fertig.

»Am liebsten würde ich solchen Kundinnen mitteilen, dass sie sich doch auch ihre Informationen online heraussuchen sollen, statt meine wertvolle Zeit zu stehlen. Aber der Kunde ist nun einmal König.« Stille. Es entstand eine unangenehme Schweigesituation, die der Sicherheitsmann zu unterbrechen wusste. Er griff das ursprüngliche Thema wieder auf.

»Mit der Aufmache schwitzt die Alte sich doch nen Ast. Ganz in Schwarz und das im Hochsommer! Mindestens 38 Grad wird es heute. Die spinnen eh zurzeit alle. Vielleicht ist die ja aus der Arbeit gerade nach Hause gefahren.« Atilla amüsierte sich über seinen eigenen Scherz bestens.

Die Gespräche mit dem Angestellten des Sicherheitsdienstes verliefen meist in diese Richtung: Frauen, Autos, Sex. Ab und an ergaben sich Unterhaltungen über die Familien oder Essen. Alle Klischeethemen, die ein Gesamtschulabsolvent mit türkischem Hintergrund erfüllen konnte, erfüllte Atilla im ganzen Umfang.

»Alarm im Nebengebäude!«, kam eine Stimme aus Atillas Funkgerät.

»Was los?« Thomas legte gespannt die Armbanduhr zur Seite und lauschte dem Funkverkehr zwischen Atilla und seinen Kollegen.

»Erdgeschoss. Ausgang 2A.«

»Ein älterer Mann randaliert. Anscheinend volltrunken.« Thomas konnte zwei Männerstimmen aus der Unterhaltung hören, aber nur eine davon identifizieren; Manni. Der Angestellte vom Sicherheitsdienst, der meistens die Schicht im Erdgeschoss übernahm, weil er ungern Treppen steigen wollte.

»Soll ich zu euch kommen?«

»Bleib mal, wo du bist. Geht schon hier.«

Nach einer kleinen Pause meinte Thomas von seinem Barhocker hinter dem Tresen: »Ganz schön was los heute. Alarm gleich am Vormittag. Die Woche fängt ja ereignisreich an.« Er widmete sich wieder dem Batteriewechsel.

»Das ist nicht normal für Montag früh«, entgegnete Atilla.

»Vielleicht ja nur ein Fehlalarm. Warst du heute schon unten bei Herta?«, erkundigte sich Thomas.

Er war heute Morgen spät dran gewesen und hatte keine Zeit für ein Frühstück gehabt. Da ihm in diesem Job immer langweiliger wurde, vor allem im Hochsommer, wenn eine Pandemie die Reiselust der meisten Touristen weltweit einschränkte, fehlte ihm der Anreiz, sich zeitig aus dem Bett zu bewegen. Thomas hielt wenig von Reisenden, die in einer Großstadt nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, als in einem Einkaufszentrum herumzulaufen und in einem Juweliergeschäft blöde Frage zu stellen. Sich zum Beispiel nach dem Weg erkundigten und ob das denn hier nicht Kenny's Potatoes sei.

»No«, antwortete er stets höflich und mit so viel Geduld, wie ihm möglich war. »This is the second floor. Kenny's Potatoes is on the third floor. You can use the elevator or escalator to get there. One floor up.«

Es waren meistens Amerikaner oder Kanadier, die sich in der Etage vertan. Nach dem dritten Pärchen hatte er damals gegoogelt, warum Nordamerikaner offenbar nicht bis drei zählen konnten. Die Erklärung, die er nach einer Weile fand, leuchtete ihm ein: In den USA und in Kanada erhielt das Erdgeschoß die Nummer 1 und nicht 0 oder E wie in Deutschland. Folglich war Etage 2 für sie Etage 3 und so weiter. Auch wenn er meistens genervt war, jetzt, da kaum Touristen im Einkaufszentrum auftauchten, vermisste er sie durchaus.

Allgemein hatte er dieser Tage zu viel Zeit, über einiges nachzudenken. Aber je öfter er über sein Leben und seinen Beruf nachgrübelte, umso mehr stellte er fest, dass er schlichtweg nichts erreicht hatte. Er war Anfang 50, normaler Angestellter und weit davon entfernt, sich mit seiner Rente einen gewissen Lebensstandard erhalten zu können. Aber das würde sich hoffentlich bald ändern. Bei diesem Gedanken wurde ihm wieder warm um sein Herz. Nichts anmerken lassen. Bloß nicht auffallen!

»Bei Herta, warum? Haste Hunger?«, riss ihn Atillas Frage wieder in die Realität zurück.

»Montagmorgens habe ich immer Hunger. Das dürfte dir doch langsam bekannt sein«, antwortet Thomas.

»Bastelst du noch immer an der Uhr rum? Null Bock heute, wie?«

Thomas antwortete nicht, war sich aber bewusst, dass er damit Atilla Recht gab.

»Herta ist heut nicht da. Hab schon geschaut. Musst dir deinen Zucker woanders holen«, teilte Atilla mit, als er näher an den Tresen trat.

»Na, dann wird es wohl ein normaler Schokoladenkuchen vom Lebensmittelladen werden. Was ist aus dem Alarm geworden?«, fragte Thomas.

»Ein Besoffener hatte randaliert. War aber Fehlalarm.«

»Fehlalarm? Wie das?«, wollte Thomas wissen.

»Der Penner wollte nichts klauen. Wenn er etwas dabeigehabt hätte, dann hätte doch der Alarm im Geschäft losgehen müssen«, überlegte Atilla.

»Ist denn der Alarm im Geschäft nicht losgegangen?«, wollte Thomas wissen. Er konnte Atillas Gedankengang nicht nachvollziehen.

»Nee, Mann, ist er eben nicht.«

»Dann ist der Alarm am Laden eventuell defekt. Dafür gibt es doch die Signale beim Ausgang aus dem Gebäude. Doppelte Sicherung, sozusagen.«

»Alarm im Nebengebäude. Erdgeschoss, Eingang 4A«,ertönte die Stimme aus dem Funkgerät erneut.

FÜNF

»Wir haben ihn. Situation ist unter Kontrolle.«

»Was war?«

»Ach, ein Penner hat Schlüpfer aus dem Damenbekleidungsgeschäft mitgehen lassen und beim Rausgehen den Alarm ausgelöst.« Thomas erkannte diesmal Olaf. Ein Kollege von Atilla, der am längsten Dienst im NEZ schob und das Aufsichtsrudel insgeheim anführte. Diese Information hatte er aus Beobachtungen erschlossen, das es eher eine unausgesprochene Stellung war.

»Was für ein Trottel!«

»Aber alles ist gut.«

»Braucht ihr mich?«, erkundigte sich Atilla erneut.

»Nein, danke dir. Wir kommen klar.«

»Was will ein Penner mit Damenschlüpfern? Seiner Alten schenken oder verhökern oder wie?«

»Dran Schnüffeln, Alter!« Thomas schmunzelte insgeheim bei diesem verbalen Schlagabtausch, den er immer noch hinter seinem Tresen sitzend mitbekam.

»Alles klar. Wir rufen jetzt die Polizei. Sollen die sich weiter drum kümmern.«

Atilla, der sich wieder an Thomas wenden wollte, drehte sich ab und sprach erneut in sein Funkgerät. Ihm war ein Gedanke gekommen. »In welchem Schlüpferladen war der Penner denn?«

»Warum fragst du?«

»Es gibt doch nur zwei davon, oder?«

»Ja, einen hier vorne und einen im zweiten Stock hinten. Warum?«

»Willst du dir auch welche holen?«

»Ist doch komisch«, ignorierte Atilla den Scherz von Olaf und sprach weiter. »Der Alarm geht bei 4A los. Nicht direkt im Geschäft. So wie vorher bei 2A.«

»Das ist allerdings komisch. Was steht auf dem Label?«

»Die Ware muss aus dem Laden im zweiten Stock sein. Von hier unten ist sie jedenfalls nicht.«

»Da bin ich gerade. Da war ich heute die ganze Zeit.«

»Der Alarm war definitiv nur unten im Erdgeschoss.«

»Warst du mal kurz austreten?«

»Kurze Runde, wie immer. Sonst war ich die ganze Zeit bei der Jansen. Die ist ja hier direkt gegenüber. Ich geh mal und frag die im Geschäft, ob die was vermissen.«

Während Atilla antwortete, hob er die Hand, um sich von Thomas zu verabschieden. Thomas nickte, dann war er wieder allein. Eine Weile verging, in der er nur leise das Alarmsignal vernahm, bis es wieder verstummte. Er tauschte die Batterie, klappte die Abdeckung wieder zu und beäugte die Uhr. Ein schwarzes Damenmodell einer renommierten Marke mit rosagoldenen Verzierungen. Er stellte die Uhrzeit auf 10:47 Uhr. Die zehn Minuten, nach denen die Frau hatte wiederkommen wollen, waren längst vergangen. Wie hatte die Zeit so schnell vorbeifliegen können? Hatte er doch länger in Gedanken verbracht, mit Träumereien von einem besseren Leben? Aber wo war die Frau abgeblieben?

Er tat die Uhr in ein kleines Papiertütchen und begab sich zur Kasse, um den Auftrag einzugeben. Dann verließ Thomas den Tresen, trat nach draußen auf den Flur und blickte zu Atilla hinüber, der sich im Dessousgeschäft mit einer der Verkäuferinnen unterhielt. Thomas holte sein Handy aus der Hosentasche, um seine Nachrichten durchzusehen, doch er hatte keine erhalten. Mindestens einer seiner Freunde hätte sich bis jetzt mit einem Kommentar über den langweiligen Montagmorgen äußern müssen. Er erwartet fast immer, wenn er auf sein Handy schaute, dass es wieder unzählige Bilder oder Geschichten über das Wochenende gab. Aber nichts! Er sah nach gegenüber und beobachtete, wie Atilla sich von der Verkäuferin verabschiedete. Irritiert blickte er wieder auf sein Handy zurück. Er hatte keinen Empfang. Mit ausgestrecktem Arm suchte er nach einem Balken. Nichts. Er schaltete die mobilen Daten aus und wieder ein.

»Hast du Empfang?«, rief er Atilla entgegen, der just in diesem Moment aus dem Geschäft trat.

»Im Unterwäscheladen hat keiner geklaut. Die Slips kommen nicht von hier.« Während er Thomas entgegen ging, sprach Atilla in sein Funkgerät. Offenbar hatte er Thomas nicht gehört.

»Wie jetzt?«, ertönte die Stimme von Olaf.

»Aus dem anderen Geschäft sind sie aber auch nicht. Der Kollege hat ebenfalls angefragt. Bist du sicher?«

»Ja, ich bin sicher.« Atilla Stand wieder auf Höhe von Thomas.

»Wieso geht dann der Alarm los? War denn der Diebstahlschutz an den Schlüpfern?«

»Nein. Der Penner hat nur den Alarm ausgelöst. Als wir ihn festgenommen haben, hatte er diese Schlüpfer in der Tasche. Sonst nichts.«

»Sonst nichts, was den Alarm auslösen hätten können?«