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Zwei Menschen flüchten aus dem Wald. Doch wer ist Opfer und wer ist Täter?
Nur wenige Sekunden dauert der Unfall, der Farahs Leben für immer verändert. Aus der nächtlichen Dunkelheit des Waldes stürzt ein Mann – direkt vor ihren Wagen. Als sein Körper die Windschutzscheibe zerschlägt, scheint auch Farahs Herz für einen Augenblick stillzustehen. Doch dann richtet sich das Opfer wieder auf … und läuft einfach weiter. Benommen und mutterseelenallein trifft Farah eine folgenschwere Entscheidung. Und ahnt dabei nicht, dass eine weitere Gestalt durch die Dunkelheit streift.
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Seitenzahl: 549
Veröffentlichungsjahr: 2025
Chris Warnat, 1986 in Oldenburg geboren, studierte BWL mit juristischem Schwerpunkt und absolvierte ein Volontariat in Köln, wo sie anschließend als Redakteurin und zuletzt auch Gerichtsreporterin im Newsressort arbeitete – eine Inspirationsquelle für ihr Schreiben. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und zwei Töchtern zwischen Köln und Bonn. In ihrem Podcast Kreativdate spricht sie seit 2021 mit Büchermenschen über ihre Projekte, die Branche und den Schreibprozess. Fünfzehn Sekunden ist ihr erster Thriller.
www.penguin-verlag.de
CHRIS WARNAT
THRILLER
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Copyright © 2025 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Lisa Wolf
Umschlaggestaltung: bürosüd
Umschlagabbildung: Arcangel Images (Andrei Cosma, Nic Skerten), www.buerosued.de
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-31838-3V002
www.penguin-verlag.de
Für Gretchen.Kalte Hände, warmes Herz.
Die Nacht ist gefräßig. Sie schluckt alle Lichter, jedes noch so sanfte Schimmern. Selbst die Sterne haben Schutz hinter Wolkentürmen gesucht, als würden sie das Böse wittern, das hier draußen auf mich lauert. Ein leiser Windhauch im Nacken. Mein ganzer Körper zittert.
Ich kauere in einer Senke, klemme zwei Finger zwischen die Zähne, damit sie nicht aufeinanderschlagen und mein Versteck verraten. Warum nur habe ich heute Morgen nicht den verfluchten Wollpullover angezogen?
Ich will unsichtbar sein, mit der Umgebung verschmelzen. So fest es geht, schließe ich die Augen. Wie früher als Kind, wenn die Schatten in den Winkeln meines Zimmers zum Leben erwachten und ihr Unwesen trieben, bis der Morgen kam. Ob ich den nächsten Sonnenaufgang erlebe? Oder werden Pilzsammler meinen Körper finden, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt von den Kreaturen, die diesen Ort bevölkern? Endet es so? Allein im Wald?
Quello che voi siete noi eravamo;
Quello che noi siamo voi sarete.
Schon verrückt, wie das Hirn funktioniert. Wie es diese Worte ausspuckt, die ich vor langer Zeit in Rom gelesen habe. An einem glutheißen Sommertag im Beinhaus einer Kirche, wo Tausende Wirbel, Beckenknochen und Schulterblätter die Wände zierten und sich Skelette in Mönchskutten in den Nischen duckten.
Was ihr seid, sind wir gewesen;
Was wir sind, werdet ihr sein.
Ein Heulen steigt in meinem Hals auf und entweicht als Schluchzen, das viel zu laut durch das Prasseln des Regens tönt. Ich schlucke, zwinge meinen Verstand, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, um nicht die Fassung zu verlieren. Nass bis auf die Unterhose lausche ich dem Regen. Ich rieche Moder, feuchte Erde und Laub, das bereits verrottet. Vertrautes Winteraroma, für immer hiermit verbunden. Mit Angst und Schmerzen.
Ein Knacken. Ganz nah. Wie zum Hohn. Mein Mund ist wie ausgedörrt, jeder Muskel in mir wird zu Stein. Ich ducke mich so tief, dass die rechte Gesichtshälfte fast bis zum Nasenbein im Matsch versinkt. Brackwasser in meinem Mund. Ich spucke es nicht aus. Eine unbedachte Bewegung, ein verräterisches Rascheln, und es ist vorbei. Noch immer spüre ich die kalte Klinge ihres Messers an meiner Kehle, sehe den gehörnten Totenkopf, der mich aus leeren Höhlen anstarrt. Nein, ich bin noch nicht bereit zu sterben. Nicht heute. Nicht so.
Ich beiße zu. Beiße mir fest auf die Finger, bis ich Blut schmecke. Befreie mich aus der Lethargie. Einmal noch atme ich tief ein. Ich ziehe einen Fuß nach vorne, setze ihn behutsam neben der Schulter ab, schiebe den hinteren in den Morast und drücke so lange, bis er auf festen Grund trifft. Wie ein Sprinter am Startpunkt presse ich meine Handflächen gegen den Boden – und stoße mich ab.
Ich sehe nichts, dennoch haste ich weiter, selbst erstaunt darüber, dass mich meine Beine tragen. Die Arme strecke ich aus wie Fühler, damit mein Gesicht nicht an einem Baumstamm zerschmettert. Ich kann sie hören.
Das Schmatzen ihrer Schritte, die Flüche, die Stimme, die meinen Namen brüllt. Sie hat nichts Menschliches mehr an sich. Es ist mehr ein Jaulen und Winseln. Mehr ein Tosen und Grollen. Es ist laut gewordener Hass.
Das Klirren von Kristallgläsern. Farah Rosendahl fängt das selbstgefällige Grinsen ihrer Chefin auf, die ihr über die Köpfe hinweg zuprostet. Kommentarlos dreht sie sich um und verlässt die Feier. Das hätte sie besser gleich während der Ansprache von Monique Durant-Biedenkopf getan, in der sie sich ausgiebig mit den Forschungsgeldern rühmte, die die Rechtsmedizin der Uniklinik Hamburg-Eppendorf akquirieren konnte. Doch Farah wartete darauf, ihren Namen zu hören. Zumindest beiläufig in einem hingenuschelten Nebensatz. Wie ein Kind, das nach der Anerkennung seiner Mutter lechzt. »Hey, warte mal!«
Farah ist schon fast am Auto, als ihr Kollege Lars Kerkhoff sie einholt.
»Sei mir nicht böse, aber ich will nur noch heim. Die Egoshow war einfach zu viel.«
Lars überholt sie. »Jetzt warte doch mal!«
Er will ihr den Weg abschneiden, doch sie geht einfach weiter, treibt ihn rückwärts vor sich her, bis er abrupt stehen bleibt und sie auflaufen lässt. Farah entfährt ein dumpfer Laut, als sie gegen seinen Oberkörper prallt, sein Aftershave wahrnimmt. Citrus, leicht herb. Nicht zu aufdringlich. Wie gut er riecht. Ein zutiefst irritierender Gedanke in diesem unpassenden Moment. Benommen tritt sie einen Schritt zurück, hebt die Hände und lässt sie wieder sinken, als ihr aufgeht, wie das wirken muss. Falls Lars sich wundert, lässt er es sich zumindest nicht anmerken.
»Ich versteh dich ja.« Er lächelt, seine Stimme klingt heiser. »Aber Hauptsache ist doch, was wir mit der Kohle alles anfangen können, die du an Land gezogen hast, oder?«
»Ich werde nicht gerne ausgenutzt.« Farah marschiert an ihm vorbei, bringt Abstand zwischen sie beide, um diese seltsame Verbindung zu unterbrechen, die ihre Sinne vernebelt. Noch immer konfus reißt sie die Tür des Wagens auf und pfeffert ihre Handtasche hinein. »Sie will Karriere machen, und zwar um jeden Preis. Ich weiß jetzt schon, wie die Presse Monique morgen wieder hochjubelt.«
Lars hat die Hände in die Manteltaschen geschoben und lehnt sich gegen ihr Auto. Viel zu nah. Warum kommt er ihr so nah? Erst als sie mit dem Rücken gegen die offene Wagentür stößt, merkt Farah, dass sie instinktiv zurückgewichen ist. Kein Wunder, dass viele sie für distanziert oder gar arrogant halten.
»Die Chefin hat in der Aufregung sicher nur vergessen, dich zu erwähnen.«
»Vergessen?« Ungläubig schnauft Farah. »Das war pure Berechnung, und das weißt du genau.«
Dass Monique eben die durchgemachten Nächte unterschlagen hat, in denen Farah über Anträgen gebrütet hat, die so lang wie ihre Dissertation waren, ist nur einer von vielen Nadelstichen. Jeder einzelne zu klein, um dahinter eine böse Absicht zu vermuten, und doch in Summe zu schmerzhaft, als dass sie sie weiter ignorieren kann.
»Willst du das Auto nicht lieber stehen lassen?«
»Ich habe doch nur ein kleines Glas getrunken«, protestiert Farah, obwohl sie weiß, dass er recht hat.
»Kann schon sein, aber du bist aufgewühlt. Dazu noch dieses Schietwetter.« Lars schlägt den Mantelkragen hoch, um dem heulenden Wind etwas entgegenzusetzen, der über den Parkplatz fegt. Dann sieht er sie an, durchdringend, ernst, nimmt ihre Hand. Sein Daumen streicht über ihre Haut und hinterlässt eine unsichtbare Spur der Wärme, die kribbelt, als sei sie elektrisch aufgeladen.
Perplex starrt Farah auf ihre Hände, dann auf seinen Mund, der sich zu einem Lächeln verzogen hat. Ein ausgesprochen hübscher Mund. Für einen waghalsigen Moment stellt sich Farah vor, dass er sich vorbeugen und sie küssen könnte. Doch Lars steht nur da, den Blick unverwandt auf sie gerichtet.
»Komm, ich fahr dich nach Hause. Ich bin eh nicht scharf auf die lahme Veranstaltung da drinnen.«
Es wäre nur vernünftig, sein nettes Angebot anzunehmen. Farah ist müde, wütend, und in den Nachrichten haben sie vor überfrierender Nässe gewarnt. Aber etwas hält sie davon ab, mit ihm zu fahren. Jemand.
Frederik. Und seine Eifersucht, die ihr so lange geschmeichelt hat, bis sie sich gegen Lars richtete. Inzwischen traut sich Farah kaum noch, in Freddys Gegenwart über ihn zu sprechen, dabei schätzt sie ihn sehr. Als Freund und Kollegen. Auch wenn Freddy ihr permanent einzureden versucht, dass da mehr ist zwischen ihnen.
»Danke, aber ich brauche ein bisschen Zeit für mich. Wir sehen uns Montag.«
»Fahr vorsichtig.«
Farah gleitet auf den Fahrersitz und startet den Motor. Schnell, um es hinter sich zu bringen. Ihre Entschlossenheit ist brüchig. Es dauert erstaunlich lange, bis der Impuls abebbt, die Bremse durchzutreten. Als sie es endlich wagt, in den Rückspiegel zu schauen, ist Lars verschwunden. Natürlich.
Sie packt das Lenkrad fester. Gleich Montag wird sie ihn zum Essen einladen und sich dafür entschuldigen, dass sie ihn hat stehen lassen. Auch wenn das zwangsläufig Diskussionen mit Freddy nach sich ziehen wird.
Die Straße wird enger, sodass die Bäume bedrohlich näher rücken. Farah bremst ab, schaltet einen Gang runter. Allmählich verraucht der Ärger und macht Platz für Grübeleien. Weshalb hat Moniques Rede sie dermaßen aus der Fassung gebracht? Steckt gekränkte Eitelkeit dahinter, ist es das? Geht es hier nur um alberne Befindlichkeiten, den Applaus, der ausgeblieben ist? Nein, die Sache reicht tiefer.
Farah muss der Wahrheit ins Auge sehen. Es lässt sich ohnehin nicht länger leugnen. Monique kann sie nicht ausstehen. Punkt. Seit Professorin Durant-Biedenkopf vor zwei Jahren den Posten der stellvertretenden Institutsleiterin übernommen hat, lässt sie Farah ihre Antipathie spüren. Sieht Monique eine Konkurrentin in ihr? Hat sie Angst, dass sie ihr den Posten streitig machen könnte? Das wäre lächerlich. Farah hat keinerlei Ambitionen in diese Richtung. Im Gegenteil.
Für sie gibt es kaum etwas Erfüllenderes als die Detektivarbeit der Rechtsmedizin mit ihren tröstlich rationalen Lösungen. Ihr Platz ist am Sektionstisch, nicht in der Verwaltung. Tatsächlich wurde ihr der Posten bereits mehrmals angeboten, bevor Monique den Zuschlag erhalten hat. Womöglich reicht allein das schon aus, um ihr Misstrauen gegen sie zu schüren.
Die Lichtkegel ihres Autos streifen über Baumstämme neben der Landstraße, die sich durch das Gelände windet. Obwohl die Strecke eng ist und Schilder aus der Erde ragen, die vor Wildunfällen warnen, ist Tempo siebzig erlaubt. Die Einheimischen interessiert das nicht. Sie fahren hundert, manchmal schneller. Genau wie der Wagen, der in dieser Sekunde um die Kurve schießt.
Das Fernlicht blendet Farah im Rückspiegel, sodass sie blinzeln muss und instinktiv abbremst, bis die Scheinwerfer verschwinden, weil ihr der Idiot auf der Stoßstange hängt. Sicher irgendein Nachtschwärmer auf dem Weg zum nächsten Club, mit reichlich Alkohol im Blut. Sie atmet tief ein, um ihr Herz zu beruhigen, das schneller wummert als die Bässe, die der Wind zu ihr trägt.
Ein sachtes Tippen aufs Gaspedal, und dieser Proll würde ihre Rücklichter am Horizont verschwinden sehen. Doch der Tempomat hält die Tachonadel bei Strich siebzig. Zu derartigen Manövern lässt sie sich nicht hinreißen. Weder beabsichtigt Farah, ihr eigenes Leben zu riskieren, noch will sie falsche Signale senden und diesen Typen zu einem Rennen provozieren. Dass es ein Typ ist, der sie bedrängt, daran besteht für Farah kein Zweifel, obwohl die Fahrerkabine außerhalb ihres Sichtfeldes liegt.
Es sind meist Männer, die zu riskanten Fahrmanövern neigen und sich und andere in Unfälle verwickeln. In der Rechtsmedizin sieht sie fast täglich, was Stahl und Beton mit dem menschlichen Körper anrichten. Diese Bilder von zermalmten Knochen und Fleisch sollte man zur Abschreckung auf Plakatwände ziehen. Wie die Fotos von Raucherlungen auf Zigarettenschachteln.
»Was zur …?«
Hinter ihr blendet der Fahrer auf, hupt, schert abwechselnd rechts und links aus, bis er offenbar die Geduld verliert und aus dem Windschatten taucht. Das Auto schließt zu Farah auf. Ein roter Golf, zwei Insassen, die trotz des Regens die Fenster heruntergekurbelt haben. Der Beifahrer beugt sich heraus, legt Zeige- und Mittelfinger vor den Mund und lässt seine Zunge dazwischen zappeln, woraufhin sein Kumpel grölt und wie wild hupt. Farah verdreht die Augen, weicht keinen Millimeter zur Seite. Auch nicht, als der Golf über die durchgezogene weiße Linie fährt, die die beiden Fahrbahnen trennt.
Der Wagen kommt so nah, dass sie schon das Kreischen von Stahl auf Stahl zu hören meint. Noch eine Handbreit näher, und er wird an ihrem zwei Tonnen schweren Kokon zerschellen. In ihrem klapprigen Polo aus Studienzeiten wäre Farah jetzt der Angstschweiß aus jeder Pore gedrungen. Die Assistenzsysteme und Airbags ihres neuen Range Rovers hingegen vermitteln ihr ein Gefühl der Kontrolle. Obwohl sie nicht beeinflussen kann, welche hirnrissige Aktion die Kerle als Nächstes aushecken. Oder was geschieht, wenn ihnen jemand entgegenkommt.
Farah schaltet die Dashcam ein. Ein Geschenk von Frederik, als ihre Beziehung noch frisch war. Sein Plädoyer für das Teil hätte auch vor Gericht Bestand gehabt. Die Aufnahmen sind als Beweismittel zulässig, Urteil vom BGH, Aktenzeichen soundso, in den USA hat die fast jeder, und so weiter und sofort. Schließlich ließ Farah sich breitschlagen, die Kamera zu installieren. Rechtsanwälte können ziemlich überzeugend sein. Außerdem wollte sie nicht mit ihm streiten. Leider ist die Dashcam nicht nur peinlich, sondern auch noch nutzlos, wie sich jetzt herausstellt. Zwar ist die Straße auf dem Display gestochen scharf, doch was der Golf neben ihr veranstaltet, entgeht der Kameralinse.
Okay, einen Versuch ist es wert. Die Bahn hinter ihr ist frei. Farah steigt auf die Bremse, lässt sich zurückfallen, bringt Abstand zwischen sich und diese Kerle. Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Meter, der erste Leitpfosten rauscht an ihr vorbei, der zweite. Es scheint, als sei der Plan aufgegangen.
Farah atmet aus, erlaubt sich, die Augen zu schließen. Als sie sie wieder öffnet, flammen vor ihr rote Bremsleuchten auf. Weißes Rückfahrlicht am Heck. Ach du … Diese Idioten fahren rückwärts auf sie zu! Schon ist der Golf wieder auf ihrer Höhe. Reifen quietschen, als er beschleunigt. Die Männer lachen, Müll fliegt aus dem Seitenfenster.
Immerhin hat die Kamera das Kennzeichen aufgenommen. Wobei das kaum etwas nutzen dürfte. Wer sich die Aufnahmen später ansieht, wird nur einen bremsenden Wagen erkennen. Warum hat Farah bloß gedacht, es sei eine gute Idee, die Abkürzung über Land zu nehmen? Immer wieder huscht ihr Blick von der Straße zum angrenzenden Wald, aus dem jederzeit ein Hirsch brechen könnte. Ein Fingerschnippen, ein Blinzeln, und das war’s. Wenn ihr Beruf sie eins gelehrt hat, dann, wie erschütternd zerbrechlich das Leben ist.
»Sie haben die 110 gewählt?« Im Gegensatz zum Freizeichen plärrt die Stimme unangenehm laut aus der Freisprecheinrichtung. Farah fährt zusammen. Hastig tippt sie auf der Tastatur herum, regelt den Ton herunter.
»Farah Rosendahl hier. Ich bin auf einer Landstraße unterwegs und werde von einem anderen Wagen bedrängt.« Sie gibt das Kennzeichen und den Standort durch, ohne ernsthaft zu glauben, dass die Typen der Polizei ins Netz gehen. Nachdem das Gespräch beendet ist, schlingert der Golf noch immer hupend neben ihr her. Als ob ihm schwant, dass Unheil in Form einer Streife naht, gibt der Fahrer Gas und braust davon. Es würde Farah nicht überraschen, das Auto in der nächsten Kurve wiederzusehen. Als Blechschal um einen Baum gewickelt.
Aus dem Radio sickert die angenehm samtene Stimme dieser Psychologin, der Farah normalerweise ewig zuhören kann. Mona Winter. Obwohl sie ehrenamtlich bei der Krisenintervention in Hamburg arbeitet, haben sich ihre Wege erst ein paar Mal bei Einsätzen gekreuzt. Farah schaltet ihre Sendung ab, und die einsetzende Ruhe ist eine Wohltat für ihre Nerven, die nach diesem verkorksten Samstagabend sowieso schon angespannt sind.
Der Wagen fährt auf freies Feld, weite Sicht, durchatmen, ehe er von einem schwarzen Loch geschluckt wird, das aussieht wie der Eingang zu einer Geisterbahn. Baumkronen berühren sich über dem Mittelstreifen und bilden eine Art Tunnel. Das Scheinwerferlicht fällt auf rot-weiße Richtungstafeln, die eine scharfe Rechtskurve markieren. Farah schlägt das Lenkrad ein. Wie unsichtbare Schnüre zerren die Fliehkräfte an ihr.
Einen Herzschlag lang, zwei, drei.
Dann setzt er aus.
Die Welt bleibt stehen.
Zerspringt in tausend Stücke.
Eine Abfolge von Szenen spult sich in Zeitlupe ab. Das Licht, die Straße, zwei Augen, weit aufgerissen, genau wie der Mund. Drei perfekte Kreise. Farah bremst. Reifen quietschen. Zu spät.
Sein Körper zerschlägt die Windschutzscheibe. Mit einem ohrenbetäubend lauten Knall explodieren die Airbags und schleudern Farah in den Sitz. Blind vom Talkumpulver, das durch die Luft wirbelt, umklammert sie das Steuer. Der Range Rover schlittert über den Asphalt, bis das Notbremssystem greift und das Auto schräg zwischen zwei Eichen zum Stehen kommt.
Mechanisch geht Farahs Hand zur Mittelkonsole, aktiviert den Warnblinker. Ihre Atmung ist flach und klingt gedämpft. Genau wie ihr Schreien. Sie hört es kaum und weiß doch, dass sie brüllt, weil ihre Stimmbänder schmerzen. Ein verkohlter Geruch beißt ihr in die Nase.
Verdammt, brennt es etwa? Nein, nein, nein.
Langsam schüttelt sie den Kopf. Das kommt von den Airbags. Genau wie dieser Staub. Das Zeug hat sich überall abgesetzt, in ihrem Mund, den Nasenlöchern und Augen. Farah bewegt den Unterkiefer hin und her und presst die Handflächen auf die Ohren, um das Klingeln auszusperren, das den Innenraum des Wagens ausfüllt. Doch es wird nicht leiser. Endlich begreift sie. Der Ton kommt geradewegs aus ihrem Schädel. Höchstwahrscheinlich ein Knalltrauma.
Telefonieren, Hilfe, ich brauche Hilfe.
Im Dunkeln tastet sie nach ihrer Handtasche, die durch die Kollision in den Fußraum gerutscht sein muss. Farah fühlt das Handy im Futter der Seitentasche. Sie greift danach und erstarrt mitten in der Bewegung.
Die Kollision.
Um Gottes willen.
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, reißt sie die Autotür auf und stolpert in die Schwärze der Nacht. Keine Laternen, keine Sterne, kein Mond, nirgends ein Fixpunkt, der Orientierung bietet. Trotzdem sieht sie ihn sofort. Sein helles Hemd leuchtet schwach im Takt der Warnblinker. Der Mann liegt etwa fünfzig Meter entfernt rücklings auf dem Asphalt. Farah rennt, hört schon von Weitem ein Rasseln, das in seiner Lunge brodelt. Ein Geräusch, das sie in ihrer Assistenzarztzeit zu fürchten gelernt hat.
Doch halt, was …
Abrupt bleibt Farah stehen, verharrt reglos, wagt nicht einmal zu atmen. Ihr Verstand weigert sich zu begreifen, was sich vor ihr abspielt. Sie reibt sich heftig über die Augen, doch das Bild ist unverändert. Ein Stakkato albtraumhafter Sequenzen eröffnet sich ihr, zerhackt vom Blinken der Scheinwerfer.
Mit ruckartigen Bewegungen wuchtet sich der Mann auf die Seite.
Dunkelheit.
Er spuckt aus.
Dunkelheit.
Er kommt auf die Knie …
Dunkelheit.
… steht, stotternd und schwankend wie ein gefällter Baum, der zu kippen droht.
Dunkelheit.
Die tropfnasse Hose hängt in Fetzen an ihm herab, Regen spült sein Blut von der Straße.
Ein Zombie.
Ein lebender Toter.
Plötzlich überkommt sie die irrationale Panik, er könnte im nächsten Lichtblitz direkt vor ihr auftauchen. Aschfahl, wutverzerrt, die Zähne gebleckt.
Das Herz drängt ihr aus der Kehle. Passiert das wirklich? Es ist, als sei sie in einen postapokalyptischen Film geraten. Der Mann wirkt desorientiert, wahrscheinlich hat er einen Schock erlitten. Farah muss Erste Hilfe leisten, sie ist Ärztin, verdammt! Doch sie ist wie in Trance, ihre Beine rühren sich nicht von der Stelle, immerhin hat das Fiepen in ihrem Kopf aufgehört. Sie kann nur zusehen, wie die zerrissene Gestalt davonhumpelt. Er hat einen Turnschuh verloren, der andere hängt lose an seinem Fuß und schleift über den Asphalt und dann über das Gras, als er im Wald verschwindet.
Farah späht ins Geäst, lauscht auf seine raschelnden Schritte, die mit jedem Herzschlag vom Prasseln des Regens getilgt werden, bis schließlich nur noch ein gespenstisches Rauschen zu hören ist.
Und jetzt? Hektisch sieht Farah nach links und rechts. Niemand da. Soll sie den Krankenwagen rufen, dem verstörten Mann nachlaufen? Sie kann sich ja selbst nur mit Not auf den Beinen halten. Andererseits ist der Mann schwer verletzt und braucht dringend Hilfe.
Widerstrebend setzen sich ihre Füße in Bewegung. Erst wackelig und unsicher, dann streift sie immer schneller durchs Unterholz, arbeitet sich vorwärts. Nur wegen des schwächer werdenden Lichts der Warnblinker findet sie sich halbwegs zurecht. Farah spürt Angst in sich aufsteigen. Sie ist nicht allein hier draußen. Außerdem fürchtete sie sich schon als Kind vor der Dunkelheit, konnte bis ins Teenageralter nur einschlafen, wenn die Jalousie ein Stückchen offen, das Nachtlicht angeknipst war. An schlechten Tagen muss es sie noch heute in den Schlaf leuchten.
Das Handy fällt ihr ein. Ungläubig stellt sie fest, dass sie es umklammert. Irgendwie muss das Teil in ihre Hand gelangt sein. Nur, dass sie sich nicht daran erinnern kann, wie. Gerade, als sie die Taschenlampenfunktion aktivieren will, flammt das Licht der Warnblinker erneut auf. Farah stockt. Aus dem Augenwinkel hat sie etwas ausgemacht. Jemanden.
Sie glotzt auf den Körper, der am Boden liegt. Es macht den Anschein, als sei er steif wie ein Brett vornübergekippt. Und zwar so abrupt, dass der Mann offenbar nicht einmal mehr seine Arme vor den Kopf reißen konnte. Höchstwahrscheinlich waren sämtliche Schutzreflexe außer Kraft gesetzt, als er das Bewusstsein verloren hat.
Farah hockt sich neben den Mann und dreht ihn behutsam auf die Seite. Als sie in sein zerschmettertes Antlitz starrt, muss sie sich zwingen, nicht sofort wieder wegzusehen. Die Arbeit in der Rechtsmedizin härtet ab, auf diesen Anblick war sie dennoch nicht vorbereitet. Er ist grün und blau, die Augen so stark zugeschwollen, dass sie nicht sagen kann, ob sie offen oder geschlossen sind. Die Nase ist mehrfach gebrochen, auf der rechte Seite klafft rohes Fleisch, als sei jemand mit einer Schleifmaschine darübergefahren. Vermutlich hat er sich die Wange aufgeschürft, als er nach dem Crash über den Asphalt geschrammt ist.
»Alles wird gut, alles wird gut, Hilfe ist unterwegs«, hört Farah sich sagen. Satzschleifen, die ihn beruhigen sollen. Vor allem aber sie selbst. »Alles wird gut.«
Der Mann wimmert, hustet, hebt flehend den Kopf, soweit ihm das in seinem Zustand möglich ist. Die geplatzten Lippen öffnen und schließen sich. Farah muss das Ohr nah davorhalten, um zu verstehen.
»Hilfe …«, raunt er heiser. »Gefährlich … Sie … kommt …«
Noch einmal atmet er aus und hustet. Rasch weicht Farah zurück, kann jedoch nicht verhindern, dass ihr sein Blut ins Gesicht spritzt, ehe er in sich zusammensackt. Ein scheußliches Röcheln, ein letztes Aufbäumen, und sein Körper wird schlaff. Das Rasseln hört auf.
Farah schaut auf ihn herab. Innerlich brüllt sie:
Schnell, du musst ihn wiederbeleben, sonst stirbt er! Na los, worauf wartest du?
Aber statt zu handeln, ist ihr Körper wie paralysiert, die Festplatte gelöscht. Wie führt man eine Herzdruckmassage durch? Stabile Seitenlage? Keine Ahnung, sie weiß es nicht mehr. Sogar die Nummer vom Notruf ist weg. Da ist nur der garstige Wind, der in Wogen unter ihren Mantel weht. Ihre Knie, die im Matsch versinken und vor Kälte schon halb taub sind. Und dieser scheußliche Regen, der sich mit seinem Blut auf ihrer Wange mischt und in den Kragen rinnt. Eiskalt.
Ein Zucken erfasst sämtliche Glieder. Vielleicht ist es auch dieses Zucken, das den Schalter umlegt. Etwas rastet ein. Wie auf ein stilles Kommando hin übernimmt ihr Verstand die Führung.
Farah überstreckt den Hals des Mannes, legt ihn in den Nacken, sodass sich der Mund weit öffnet. Die Atmung hat ausgesetzt. Mit zittrigen Fingern friemelt sie ihren Schlüsselbund aus der Innenseite des Mantels. Daran baumelt eine quadratische Tasche aus Nylon etwa im Format eines Eiswürfels. Sie reißt den Klettverschluss auf und zieht ein in Folie verpacktes Tuch mit Beatmungsventil heraus, das sie auf Mund und Nase des Mannes platziert. Routinierte Handgriffe, alles geht blitzschnell, dabei ist es Jahre her, dass sie zuletzt einen Menschen reanimieren musste. Mit einer Hand umfasst sie sein Kinn, mit der anderen verschließt sie durch das Plastik, was noch von der Nase übrig ist, presst ihre Lippen auf das Ventil und atmet kräftig aus.
Sein Brustkorb hebt und senkt sich.
Noch zweimal bläst Farah Luft in seine Lungen, ehe sie ihre Handballen energisch auf den Thorax presst, die Finger ineinander verschränkt, die Arme durchdrückt und pumpt.
Jetzt bin ich dein Herz.Komm schon, halte durch, nur noch ein bisschen!, fleht sie den Fremden lautlos an, der sie nie zuvor gesehen hat und dennoch darauf hoffen muss, dass sie nicht aufgibt. Dass sie kämpft mit ihm.
Farah stemmt sich auf seine Brust, erstaunt, wie stark sie nachgibt. Mehrmals schon hat sie das Knacken gespürt, als unter ihrem Gewicht Rippen gebrochen sind. Und noch etwas spürt sie. Ein seltsames Prickeln im Rücken. Die Worte des Mannes kommen ihr wieder in den Sinn.
Gefährlich … Sie … kommt.
Was hatte das zu bedeuten? Wer kommt? Mit einem Mal ist das Gefühl, beobachtet zu werden, übermächtig. Farahs Kopf ruckt hoch, fliegt so hastig hin und her, dass ihr nasse Haarsträhnen in die Augen peitschen. Sie wischt sie nicht beiseite, pumpt stoisch weiter, sondiert die Gegend. Der Lichtpuls ist schwach, aber die Helligkeit genügt, um Umrisse von Stämmen sichtbar zu machen. Wuchtige Rotbuchen, dazwischen junge Birken und dicht verflochtenes Astwerk.
Sonst nichts. Niemand. Sie ist allein mit ihm.
Du siehst Gespenster!, ermahnt sie sich und richtet ihren Fokus wieder auf den Mann. Er liegt reglos da und gibt keinen Mucks von sich. Alles dreht sich, Sternchen schießen an ihr vorbei und verglühen. Farah blinzelt gegen den aufkeimenden Schwindel an und atmet tief ein und aus, bis sich ihr Kreislauf wieder gefangen hat. Sie zieht das Beatmungstuch weg, lehnt sich über seinen Mund und lauscht.
Nichts.
Das kann nicht sein! Farah schließt die Augen, um ihre Sinne zu schärfen. Angestrengt horcht sie gegen das Rauschen ihres eigenen Blutes an. Sie hat sich nicht getäuscht. Der Mann atmet nicht. Kein noch so leiser Luftstrom streift ihre Wange. Seine Haut ist blass, die Lippen bläulich verfärbt, auch sonst sind keine Vitalzeichen erkennbar. Farah schluchzt auf, so grenzenlos ist die Verzweiflung, die sie ergreift.
»Halte durch! Nur noch ein bisschen«, beschwört sie den Mann, und es klingt fast wütend. »Wir schaffen das!«
Mechanisch pumpt sie weiter, hundertmal pro Minute, besser öfter, um die Sauerstoffversorgung des Gehirns aufrechtzuerhalten. Zwischendurch beatmen. Trotz der Kälte bricht ihr der Schweiß aus, am liebsten würde sie sich auf der Stelle den Mantel vom Leib reißen, was bei diesen winterlichen Temperaturen keine gute Idee wäre. Außerdem müsste sie die Reanimation unterbrechen, und das geht nicht. Das geht auf keinen Fall.
Ha ha ha ha, stayin’ alive, stayin’ alive. Ha ha ha ha, stayin’ alive …
Ihr Schädel glüht, die Arme zittern vor Anstrengung. Farah ist so verbissen damit beschäftigt, den Kerl am Leben zu halten, dass sie ihr Kommen zunächst nicht bemerkt.
»Es ist vorbei.«
Eine Stimme. Undeutlich und verzerrt schafft sie es durch den Nebel ihres Bewusstseins. Jemand berührt Farahs Arm. Die Empfindung ist wie ein Stromschlag. Sie fährt herum, starrt mit weit aufgerissenen Augen zu einem Mann empor, der sich zu ihr herunterbeugt. Als sie das vertraute Gesicht ihres Freundes erkennt, steigen ihr Tränen in die Augen, die sie nur mühsam zurückhält.
»Wase«, wispert sie, nimmt das Blaulicht wahr, das in kreisenden Rauten den Wald durchschneidet. Das Heulen des Martinshorns in der Ferne.
»Die Notärztin übernimmt, du kannst aufhören.« Kriminalhauptkommissar Wase Rahimi reicht ihr eine Hand. »Komm, komm mit. Ich bring dich hier weg.«
Ein Sanitäter eilt herbei, noch einer drängt Farah beiseite. Sie steckt ihr Handy ein, das achtlos neben ihr im Matsch lag, und lässt sich von Wase auf die Füße ziehen. Ihre Beine zittern so sehr, dass sie sich ohne seine Hilfe kaum aufrecht halten kann. Er stützt sie und führt sie fort von dem, was sich nun hinter ihnen abspielt. Knappe Befehle hallen durch die Dunkelheit, das Reißen von Verpackungen und Stoff. Wase zieht sie weiter. Farah bemerkt, dass er ihr immer wieder besorgte Seitenblicke zuwirft.
»Was machst du hier?«, stammelt sie.
»Du hast mich angerufen.« Er zieht die Brauen zusammen, taxiert sie. »Weißt du das nicht mehr?«
Farah schüttelt nur den Kopf und guckt auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Nichts zu erkennen. Das Ziffernblatt ist blutverschmiert. Nachlässig wischt sie es am Hosenbein sauber, stellt verblüfft fest, dass es bereits halb zwölf ist. Wie kann das sein? Sie hat die Feier doch eben erst verlassen.
Unvermittelt treffen ihre Schuhsohlen auf harten Untergrund.
Farah bleibt stehen und schaut an sich herab. Asphalt. Fast schwarz glänzt er im Regen und reflektiert die Festbeleuchtung der beiden Krankenwagen, die blinkend hintereinanderstehen und die rechte Fahrbahn blockieren. Merkwürdig, sie hätte schwören können, dass sie viel weiter in den Wald hineingerannt ist. Offenbar ist gerade weder Farahs Gedächtnis noch ihrer zeitlichen oder räumlichen Wahrnehmung zu trauen.
Behutsam bugsiert Wase sie weiter zu seinem Auto, das quer vor ihrem Range Rover parkt. Über die Windschutzscheibe zieht sich ein Netz aus Rissen. Dort, wo der Körper des Mannes aufgeschlagen ist, bevor er übers Dach und auf die Straße geschleudert wurde, ist die Motorhaube eingedrückt. Am Kühlergrill klebt etwas, das wie Blut aussieht.
O Gott. Was, wenn der Mann stirbt? Wegen ihr. Weil sie ihn überfahren hat.
Kraftlos sackt Farah in sich zusammen. Es ist, als habe sich auf einen Schlag alle Spannung entladen, die ihren Körper bislang zusammengehalten hat. Allein Wases resoluter Griff verhindert, dass sie zu Boden stürzt. Er hält sie fest, während Farahs Adrenalinspiegel absinkt, sich ihr Herzschlag normalisiert und ihr allmählich dämmert, was soeben geschehen ist.
Sie windet sich aus Wases Arm, lässt ihn stehen, taumelt weiter. Ihre Gedanken rasen. Sie malt sich aus, was später im OP-Bericht stehen wird. Vorausgesetzt natürlich, der Mann schafft es in ein Krankenhaus. Polytrauma. Massiver Blutverlust. Milzriss, Leberkapselriss, Subarachnoidalblutung, Schädelbruch. Die inneren Verletzungen nach einem Crash bei dieser Geschwindigkeit sind meist fatal. Im Lauf ihrer Karriere hatte sie genug Unfallopfer auf dem Tisch, um zu wissen, dass die Überlebenschancen des Mannes gering sind.
Direkt vor ihr materialisiert sich jemand. Eine Sanitäterin, so viel begreift Farah, doch ihren Namen hat sie sofort wieder vergessen. Die Frau ergreift ihre schlaffe Linke, und bei der Berührung merkt Farah, wie eiskalt und nass sie ist.
»Professorin Rosendahl?«
Farahs Kiefer klappen mechanisch auf und zu, aber aus irgendeinem Grund ist sie unfähig, auch nur einen Laut der Bestätigung zu produzieren. Immerhin gelingt ihr ein Nicken, ehe ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gezerrt wird. Stimmen dröhnen aus dem Wald, nehmen sekündlich mehr Raum ein, bis sie einzelne Bruchstücke herausfiltern kann.
»Vorsichtig, ganz vorsichtig«, kommandiert jemand. »Achtung, da liegt ein Fels, ihr müsst rechts ausweichen … Langsam! … Gut so.«
Eine Frau stapft mit grimmiger Miene ins Freie. Vermutlich die Notärztin. Sie schleppt einen Koffer, dessen Riemen ihr tief in die Schulter schneidet. Mit zackigen Bewegungen dirigiert sie einen Trupp Sanitäter hinter sich her, der über den unwegsamen Grund eine Trage balanciert.
Der Mann ist mit Gurten fixiert, sein Hemd zerschnitten. Es teilt sich in der Mitte und hängt triefnass herab. Auf der behaarten Brust kleben noch die Defibrillationselektroden, Schläuche führen aus Handrücken zu Infusionsbeuteln, die eine Rettungskraft zusammen mit einem Monitor zum Krankenwagen schleppt.
Das Fiepen in ihren Ohren kehrt zurück.
Lauter, schneidender diesmal, als wolle der Tinnitus den Regen übertönen. Das Klappern der Trage, die einrastet und auf Schienen ins Innere des RTW gleitet, hört sie nicht. Genau wie das Knallen der Türen, die hinter dem Mann zuschlagen. Wases Mund bewegt sich, richtet Worte an sie, die sie nicht versteht. Farah kann nicht einmal sagen, ob das Martinshorn heult, als der Rettungswagen davonbraust und das rotierende Blaulicht hinter der nächsten Biegung verschwindet.
Der Mann ist ein Phantom. Er hatte nichts bei sich, was Rückschlüsse darauf zulässt, wer er war, woher er kam oder wohin er wollte. Kein Portemonnaie, kein Handy, nichts. Das hat Wase Rahimi von der Sanitäterin erfahren. Falls der Mann die Fahrt zur Klinik überstanden hat, kämpfen die Ärztinnen und Ärzte gerade im OP um sein Leben. Und falls nicht …
Wase mag gar nicht an diesen Worst Case denken, aber sein Hirn neigt dazu, vom Schlechtesten auszugehen. Wenn der Mann gestorben ist, haben sie ihn vermutlich in die Rechtsmedizin nach Kiel überführt. Gut möglich, dass er schon in einem Kühlfach liegt und auf seine Obduktion wartet. Zettel mit Juteschnur am Zeh:
Todesursache: Verkehrsunfall.Todesart: nicht natürlicher Tod.Personalien: unbekannt.
Standardmäßig wäre eigentlich die Uniklinik Hamburg-Eppendorf für die Sektion zuständig. Doch das ist Farahs Refugium, ihr Habitat – und somit keine Option. Sollte es zum Prozess kommen, würden die Ankläger diesen Punkt gnadenlos gegen sie verwenden, ihren Kolleginnen und Kollegen Befangenheit unterstellen, eventuell sogar andeuten, dass Beweise manipuliert worden seien, um sie zu schützen. Falls es hart auf hart kommt, steht Farah zum Glück eine unparteiische Zeugin zur Seite. Sie ist unbestechlich und objektiv und könnte ihr damit den Hintern retten, was eine gewisse Ironie in sich birgt, wenn man weiß, wie sehr Farah die Dashcam verabscheut.
Ob ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen? Wase beobachtet sie verstohlen. Mit zusammengepressten Lippen starrt sie aus dem Beifahrerfenster, in dem sich ihr Gesicht spiegelt. Ein bleiches Oval auf Glas, durchzogen von Regenschlieren, die tränengleich darüberlaufen. Farahs Ausdruck ist unergründlich. Ihre rechte Hand umklammert den Türgriff, als rechne sie jederzeit mit einer erneuten Kollision.
Seit sie vom Parkplatz der Notfallambulanz gerollt sind, hat sie nicht ein Wort gesprochen, sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Der Arzt hat ihr Blut abgenommen, um im Auftrag der Verkehrsunfallpolizei den Alkoholgehalt zu bestimmen. Außerdem hat er ihr eine leichte Gehirnerschütterung attestiert und Bettruhe verordnet. Sofern Farah Schmerzen hat, kann sie sie gut kaschieren. Alles an ihr ist Beherrschung, Kontrolle.
Doch Wase spürt das Brodeln unter der reglosen Oberfläche, sieht das Talkumpulver, das ihr dunkles Haar stumpf und grau macht. An einer Wange klebt Blut. Das Blut des verunglückten Mannes? Aus einem Impuls heraus streckt er den Arm nach Farah aus, berührt ihre Hand, wie um sich zu vergewissern, dass sie wirklich da ist. Sie schnappt nach Luft und sieht ihn an, als wäre sie überrascht, ihn hier zu sehen. Dasselbe ungläubige Staunen, mit dem sie ihn vorhin am Unfallort bedacht hat. Dabei war sie es doch, die ihn angerufen hat.
Noch immer hört er ihre Stimme. Dieses von Panik verzerrte Wispern am Telefon, weit entfernt, als habe sie den Lautsprecher aktiviert und das Handy beiseitegelegt. Wortfragmente, die keinen Sinn ergaben, aber von einer solchen Dringlichkeit waren, dass Wase alles stehen und liegen ließ und zu der Straße raste, deren Namen er in dem Kauderwelsch verstehen konnte. Sie liegt nur ein paar Autominuten von Farahs Haus in Hamburg-Bergstedt entfernt.
Farah dreht den Kopf weg und schaut wieder hinaus in die Nacht. Ihre Hand entzieht sie Wase nicht. Auch nicht, als er sie in seine nimmt, zurückhaltend, weil es ihm vorkommt, als ob er eine unsichtbare Linie überschreitet. Er will sie so viel fragen, doch er denkt an die Rettungssanitäterin und daran, wie Farah sie stehen ließ und wortlos im Auto verschwand. Eine klare Botschaft. Wase muss sich gedulden. Gerade gibt es nichts zu sagen, nichts zu tun, außer den Wunsch seiner Freundin nach Rückzug zu respektieren.
Aus Farahs Befragung hat er zumindest ein paar Details zum Unfallhergang aufgeschnappt. Dass sie die vorgeschriebenen siebzig Stundenkilometer eingehalten und in der Kurve abgebremst hat. Dass der Mann einfach so aus dem Wald und auf die Straße gerannt ist, ohne sich umzusehen, als habe er es darauf angelegt, draufzugehen. Und dass er aufgestanden und weitergerannt ist, vermutlich im Schock. Weniger plausibel ist hingegen, dass er bei dem Wetter nachts allein unterwegs war, ohne Jacke, ohne Handy oder Portemonnaie.
In der Ferne taucht Farahs Reetdachkate auf. Obwohl Wase darin kaum von A nach B gehen kann, ohne sich den Schädel anzuhauen, ist sie, und er findet keine Worte, die es treffender beschreiben, ein echtes Zuhause. Besonders verglichen mit seiner Junggesellenbude in Billstedt.
Über fünf Monate wohnt er nun schon dort, und noch immer sind Wände und Fenster nackt. Neulich hat er sich fast das Genick gebrochen, als er schlaftrunken über einen der Umzugskartons gestolpert ist. Etwas in ihm sträubt sich dagegen, sie endlich auszuräumen. Oder die Gardinen aufzuhängen, die zerknittert im Schrank liegen. Sich hier häuslich einzurichten, wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass die ranzige Dachgeschosswohnung doch mehr ist als das, wofür er sie gehalten hat: eine Übergangslösung. Ein Lager, um kurzzeitig seinen Kram unterzustellen. Eine Strafe, die Wase ertragen muss, bis sich die Trennung als dummes Missverständnis entpuppt und er wieder in ihre gemeinsame Atelierwohnung kann, wo der Wind nicht aus den Steckdosen pfeift, sobald es draußen auffrischt. Verflucht.
Allein der Gedanke daran, später in diese Absteige zurückkehren zu müssen, in der es nach Schimmel und Nikotin mufft, bereitet ihm schlechte Laune. Wohl auch, weil er insgeheim ahnt, dass er noch länger mit ihr vorliebnehmen muss.
»Ernsthaft? Du gehst? Das kannst du mir doch nicht antun!« Ihre harschen Worte tönen noch immer in seinen Ohren. »Dann hau halt ab! Geh!«
Die Brücken sind abgebrochen und verbrannt. Irreversibel zerstört. Kein Zurück mehr. Nur Bedauern. Sie sind einen langen Weg gegangen und haben sich unterwegs verloren. Womöglich hat Wase einen unverzeihlichen Fehler begangen und eine Katastrophe eingeleitet, über deren Ausgang er nicht nachdenken will. Er kann es nicht ändern, muss die Konsequenzen seines Handelns ertragen. Alles, was jetzt kommt, liegt nicht mehr in seinen Händen.
Wase überlegt, sein Nachtquartier im Büro aufzuschlagen. Immer noch besser, als mit stur verschränkten Armen in seinem Dienstwagen zu kampieren. Zweimal ist es jetzt schon vorgekommen, dass er im Sitzen wegdämmerte und morgens von den Nackenschmerzen seines Lebens geweckt wurde, weil er sich nicht aufraffen konnte, die siebte Etage des Mehrfamilienbunkers zu erklimmen.
Wase umrundet die Trockenmauer aus Findlingen, die Farahs Grundstück umfriedet, setzt den Blinker und lenkt den Wagen auf den Hof. Er hält auf seinem Stammplatz neben einer Pappel und dreht den Zündschlüssel. Das Dröhnen des Motors verhallt. Als er die Holzbalken und das windschiefe Gemäuer betrachtet, überkommt ihn wie jedes Mal ein wohliges Gefühl. Aber etwas ist anders.
Farahs Haus liegt dunkel da, obwohl im Erdgeschoss normalerweise Licht brennt. Auch das Gebell, das sonst zuverlässig über den Platz schallt, sobald ein Auto vorfährt, fehlt.
»Ist Noa gar nicht da?«
Farah sieht ihn mit großen Augen an, sie blinzelt nicht, scheint nicht einmal zu atmen. Ein lang gezogenes Seufzen.
»Alles gut. Er ist bei Irma. Richtig, alles gut.« Mit geschlossenen Augen lässt sie sich gegen die Lehne fallen. »Hab ich mich jetzt erschreckt. Wenn ich spät nach Hause komme, übernachtet er doch immer drüben.«
»Okay.« Wase löst seinen Gurt. »Wenn du magst, koche ich uns jetzt erst mal eine Kanne Tee.«
»Schnaps wäre mir lieber.« Farah schnallt sich ebenfalls ab und öffnet die Tür. Sie will schon aussteigen, hält jedoch in der Bewegung inne, als sei ihr noch etwas eingefallen. »Wann ist Freddy da?«
Verdammt.
Wase zwingt sich zu einem Lächeln, das in seinen Mundwinkeln zwickt. »Er müsste gleich hier sein. Geh schon mal vor, ich komm nach.«
Farah taxiert ihn unter zusammengezogenen Brauen. Sie ahnt, dass etwas nicht stimmt. Trotzdem schafft er es irgendwie, ihrem bohrenden Blick standzuhalten, bis sie nickt, sich abwendet und über das nasse Kopfsteinpflaster eilt. Bewegungsmelder erfassen sie, Spots flammen auf, schicken Lichtsäulen an der weiß getünchten Fassade empor. Sobald die Haustür hinter Farah ins Schloss gefallen ist, kramt Wase in der Innentasche seines Parkas, findet, wonach er gesucht hat.
Das grelle Handydisplay blendet ihn. Er kneift die Augen zusammen, klickt sich in die Anrufliste und tippt seinen Namen an. Zum elften Mal, wie die in Klammern gesetzte Ziffer dahinter anzeigt. Es klingelt, doch genau wie bei den vorherigen Versuchen landet er nur auf Frederiks Mailbox. Bildet sich Wase das ein, oder hat seine Ansage tatsächlich einen leicht spöttischen Unterton angenommen?
Ich bin gerade leiiider nicht zu erreichen. Wie schade für dich. Versuch es doch später noch mal …
Wase boxt gegen das Lenkrad. Fest. Einmal, zweimal trifft seine Faust auf Kunstleder. Der dritte Schlag gerät etwas zu weit links. Er landet auf der Hupe, woraufhin sein Auto ein erschreckend lautes Quäken absondert. Mist, das hat er nicht gewollt. Die Schultern bis an die Ohren gezogen, schielt Wase zum Haus. Aus der Küche fällt Licht in den in den Hof. Es flimmert, als Farahs Schatten am Fenster entlanghuscht. Doch sie schaut nicht nach, was das Gehupe zu bedeuten hat.
Wase packt sein Handy, öffnet WhatsApp, um seiner Wut anderweitig Ausdruck zu verleihen.
Wo zur Hölle steckst du?!, tackert er ins Chatfenster. Farah braucht dich jetzt!! Schwing gefälligst deinen Arsch hierher.
Mit einem Zischen verschwindet die Nachricht im Äther, erreicht ihr Ziel, was die hellgrauen Doppelhaken signalisieren. Freddys Handy ist an. Natürlich ist es das. Als Top-Strafverteidiger wird er nicht selten auch am Wochenende aus dem Bett geklingelt, etwa, wenn einer seiner umtriebigen Mandanten aus der Arrestzelle anruft und anwaltlichen Beistand verlangt. Sein Bürotelefon leitet er nach Feierabend aufs Handy um. Er will sich in der neuen Kanzlei beweisen, in der er vor knapp einem Jahr angeheuert hat. Voller Einsatz rund um die Uhr, der Mann ist Farah zufolge zum Workaholic mutiert. Das und die permanente Rufbereitschaft treiben sie zur Weißglut. Sie konnte ihm nicht einmal den Kompromiss abringen, von Kill Bills martialischem »Bang Bang« auf Vibrationsalarm zu switchen.
Wase fixiert Freddys Namen, bis ihm die Augen tränen, als könnte er ihn per Telepathie dazu bringen, online zu gehen. Vergeblich. Weshalb ignoriert er seine Kontaktversuche? Wie soll er Farah bloß beibringen, dass ihr Lebensgefährte zwar für jeden Schwerverbrecher 24/7 ins Auto hüpft, für sie jedoch leiiider nicht erreichbar ist?
Wieder einmal.
Atmen. In den Bauch, auf drei Zeiten ein, auf fünf Zeiten aus. Loslassen, die Kopfhaut, den Punkt zwischen den Brauen, Zunge, Unterkiefer, alles wird weich. Wase lehnt sich zurück und macht, was er immer macht, wenn heftige Gefühle aufwallen. Er hat die Technik so oft trainiert, dass sich sein Puls bald auf einem annehmbaren Level eingepegelt hat.
Scheiß auf Frederik.
Die Luft abseits der Stadt ist klar und riecht nach Kaminfeuer und Tannennadeln. Wase inhaliert tief. Heute wird er Wache halten. Er wird da sein, wenn Farah bereit ist zu reden. Egal, wie lange das dauern mag. Zu Hause wartet ohnehin niemand auf ihn.
Und das Unfallopfer? Wandert gerade jetzt in dieser Minute irgendwo da draußen jemand durch seine Wohnung, horcht sorgenvoll auf jedes Geräusch, jedes vorbeifahrende Auto, in der bangen Hoffnung, dass er endlich heimkehrt? Oder gibt es niemanden, der ihn vermisst? Wem würde es auffallen, wenn Wase etwas zustößt? Den Nachbarn in seiner anonymen Bettenburg wohl kaum.
Er schüttelt den Gedanken ab und späht in den wolkenverhangenen Himmel. Kein Stern weit und breit. Immerhin hat der Regen aufgehört.
Illusion eines normalen Morgens. Der Wecker auf dem Nachttisch tickt, Frostluft weht durch das gekippte Fenster herein und spielt mit den Gardinen, lässt sie flattern wie Geister. Einen Herzschlag noch hängt Farah in der Parallelwelt zwischen Träumen und Denken, seligem Vergessen und Realität. Dann kehrt das Chaos zurück. Es schwappt über sie hinweg und reißt sie fort.
Der Knall, der Mann, wie er daliegt in seinem Blut, sie ansieht, anfleht, wie seine Rippen nachgeben. Knack, knack. Die Rufe der Sanitäter, der RTW in blauem Licht, Reifen, die durch Pfützen pflügen.
Jede Sequenz ist wie ein brutaler Hieb, der Farah niederstreckt und in die Kissen zwingt. Ein Schluchzen bricht sich Bahn, von dem sie nicht wusste, dass es in ihr war. Schwerfällig rollt sie sich auf die Seite und macht sich klein. Sie will verschwinden, sich wenigstens zurück in den Schlaf retten, doch der Muskelkater hält sie davon ab. Arme, Rücken und Schultern brennen von der Reanimation. Dazu die hämmernden Kopfschmerzen. Nachwehen des Unfalls, der abgesehen von der leichten Gehirnerschütterung spurlos an ihr vorbeigegangen ist.
Farah hat letzte Nacht jeden Quadratzentimeter ihres Körpers unter der heißen Dusche abgesucht, bis ihre Haut krebsrot war und juckte. Nichts. Nicht die kleinste Schramme. Sein Blut ist gurgelnd im Abfluss versickert, genau wie das Talkumpulver. Der Tinnitus ist fast weg, und auch die Kopfschmerzen werden bald abgeklungen sein. Der Mann dagegen …
Menschen sind endlos fragil. Die meisten begreifen das erst, wenn sie mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert sind. Ein Gewicht senkt sich auf Farahs Brust, presst alle Luft aus ihrer Lunge, nimmt ihr den Atem.
Bitte, mach, dass er das überlebt, verhandelt sie mit einer höheren Instanz. Mach, dass er sich wieder erholt und bald nach Hause kann.
Sie tastet nach ihrem Handy, schielt auf den Bildschirm, der sich zeitverzögert scharf stellt. Keine verpassten Anrufe, keine SMS, kein Funkloch. Seufzend legt Farah es wieder weg und blinzelt ins grauende Tageslicht, das zwischen Kirschbaumzweigen ins Zimmer strömt. Nicht einmal die Jalousie hat sie gestern heruntergelassen. Ein weiteres Indiz dafür, wie fertig sie war. Direkt über ihr verläuft ein einzelner Strahl, in dem Staubfäden flirren, silbern und wild. Sie hebt eine Hand und spürt die Novembersonne auf ihrer Haut.
Aarian.
Sein Name, ganz unvermittelt.
Farah neigt nicht zu spirituellen Gefühlen, dafür ist sie als Wissenschaftlerin zu fest in der Welt der Fakten verhaftet. Im letzten Jahr jedoch hat sie gelernt, dass der Glaube an diese kleinen Zeichen einen gewissen Trost in sich birgt. Etwa das eine Mal, als sie an ihn dachte und der Schmerz so groß war, dass er sie fast zerriss und ein Getöse losging, das sie nicht verorten konnte, bis sie erkannte, dass sich eine Wolkenwand wenige Meter vor ihr ins Roggenfeld ergoss. Der Feldweg, auf dem sie stand, blieb trocken. Und da war ja auch noch die Sache mit dem Hirsch.
Neulich ist er im Garten aus den Schatten der Pappeln getaucht. Sekundenlang haben sie einander durch die Fensterscheibe des Wohnzimmers angesehen, in staunendem Erkennen, eher er sich beinahe würdevoll abgewandt hat und davonstolziert ist. Ohne Eile, raumgreifend, genau wie er früher.
Früher. Das ist elf Monate und sieben Tage her. Eine halbe Ewigkeit, die Aarian nun schon fort und sie zurück in sein Haus gezogen ist. Freddy hat noch immer daran zu knabbern. Immerhin hat sie sich für die »runtergekommene Bruchbude am Arsch der Heide« und gegen sein Eppendorfer Architektenhaus entschieden. Ein riesiger Betonklotz im Brutalismus-Stil mit Fenstern, die in Farah unangenehme Assoziationen an Schießscharten wecken. Abweisend wie eine Festung. Oder ein Bunker. Jedenfalls kein Ort, an dem sie bedenkenlos die Schuhe abstreifen und sich mit einem Glas Rotwein auf die Couch fläzen würde.
Sicher, Aarians Kate war baufällig, und sie musste ungezählte Stunden Arbeit investieren, um sie wieder in Schuss zu bringen. Aber sie liebt die Abgeschiedenheit. Der nächste Hof liegt ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt, und im Juni, wenn sie vor dem Haus sitzt, kann sie die Hummeln in den Rhododendronkelchen rascheln hören. Außerdem verzeihen die alten Holzdielen verschütteten Primitivo, und in jedem Winkel hängt die Erinnerung, hängt sein Duft, auch wenn er sich allmählich verflüchtigt. Hier kann sie endlich friedlich einschlafen, statt mit rasendem Puls in die Dunkelheit zu lauschen, bis sie irgendwann das Bewusstsein verliert, so wie sie es als Kind getan hat. Farah hätte es nicht übers Herz gebracht, das Haus zu verkaufen, in dem er sie großgezogen und vor Übergriffen ihrer Mutter abgeschirmt hat.
Sie strampelt die Beine frei und schwingt sie aus dem Bett, ihre nackten Sohlen treffen auf blanke Holzdielen. Fröstelnd schlüpft sie in ihre Hausschuhe, zieht sich an und schleppt sich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Langsam und vorsichtig, weil sich jede Erschütterung anfühlt, als würde ihr Hirn gegen die Schädeldecke schwappen. Es dauert eine Weile, bis sie die Veränderungen wahrnimmt.
Auf halbem Weg bleibt Farah stehen. Sie reckt die Nase in die Luft, versucht zu ergründen, was sie stört, und riecht das würzige Aroma frisch gebrühten Kaffees. Sieht die Jacke an der Garderobe, die nicht ihr gehört.
»Freddy?«
Ein Kopf mit Silberdutt schiebt sich leicht gebeugt aus der Tür, gefolgt von einem Körper, der den gesamten Rahmen ausfüllt. Wase, wie konnte sie ihn vergessen? Er ist noch hier. Dabei wäre sie jetzt lieber allein. Sofort nagt das schlechte Gewissen an Farah.
»Guten Morgen!« Er lächelt schief. »Wie geht es dir?«
»Frag nicht. Etwas gegen Kopfweh wäre gut.«
Farah lacht auf, weil ihr bewusst wird, welch absurden Anblick sie mit ihrem zerzausten Haar und den verquollenen Augen bieten muss. Ein Fehler. Mitten durch ihre Stirn schießt ein Schmerzblitz. Sie stöhnt und legt instinktiv eine Hand darauf.
»Ibuprofen liegt bereit«, sagt Wase und mustert sie besorgt.
»Klasse, danke«, presst Farah mühsam hervor und nimmt die letzten Stufen in Angriff.
»Nich’ dafür.«
Unten angekommen bleibt sie vor Wase stehen, starrt zu ihm auf, weil sie es nicht fertigbringt, die Frage zu formulieren, die ihr seit dem Aufwachen auf der Seele brennt. Er versteht auch so.
»Ich habe vorhin ein bisschen rumtelefoniert.« Das Zögern in seiner Stimme verstärkt Farahs Angst. Ihr Herz trommelt, das Gesichtsfeld verengt sich, alles in ihr zieht sich zusammen. Sie rechnet mit dem Schlimmsten. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann es nicht geschafft hat, ist hoch. Doch Wase sagt etwas, bei dem Farah vor Erleichterung ganz schwindelig wird.
»Er ist durchgekommen.«
Sie stützt sich am Geländer ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Komm, wir setzen uns erst mal. Ich erzähl dir alles in Ruhe.« Wase reicht ihr eine Hand. Farah rührt sich nicht, sieht ihn nur an.
»Nein, ich muss es jetzt wissen«, beharrt sie. »Bitte. Wie steht es um ihn?«
Wieder dieses Zögern, das nicht zu Wase passt. Normalerweise poltert er ungefiltert drauflos, direkt und unverblümt. Dass er sich nun Zeit nimmt, seine Worte richtig zu wählen, hat etwas Unheilvolles an sich. Als würde sich vor ihren Augen eine Schlechtwetterfront zusammenbrauen. Unweigerlich richtet sich Farah auf und strafft die Schultern.
»Es war wohl sehr knapp.« Wase seufzt. »Sie haben ihn die ganze Nacht operiert und mussten ihn in ein künstliches Koma versetzen.«
Farah lässt den Kopf hängen. Obwohl es schon länger brachliegt, ist das Wissen zu dem Thema erstaunlich schnell wieder präsent. Ein medikamentös induziertes Koma. Der Körper des Mannes ist durch das Trauma und den Eingriff offenbar so sehr geschwächt, dass man ihn gewissermaßen stilllegen musste. Stoffwechsel, Blutdruck, Körpertemperatur, alles fährt runter. Das Gehirn braucht weniger Sauerstoff. Das System läuft im Energiesparmodus, damit es sich voll auf die Heilung konzentrieren kann. Die Organe arbeiten weiter, der Patient muss jedoch künstlich beatmet und durch eine Sonde ernährt werden. Bestenfalls nicht lange. Mit jedem Tag, der verstreicht, wächst das Risiko für Komplikationen. Lungenentzündung, Thrombosen, Wachkoma. Die achtundvierzig Stunden nach der OP sind am kritischsten. Wenn er die übersteht, ist die akute Gefahr gebannt, was nicht bedeutet, dass keine Folgeschäden zurückbleiben. Oder dass aus dem künstlichen Koma kein dauerhafter Zustand wird.
In der Küche flackert ein Feuer im Ofen. Wase muss Brennholz gehackt haben. Auf dem Tisch hat er, wie es scheint, den gesamten Kühlschrankinhalt um zwei Becher, Gläser, Besteck und Teller arrangiert.
»Ich war beim Bauernmarkt«, sagt Wase, dem wie immer nichts entgeht. »Hab Croissants, Ingwer, frische Minze und Zitronen besorgt.«
»Und was ist das?« Farah deutet auf ein flaches Weinglas, das neben der spärlich bestückten Obstschale steht.
»Altes Hausmittel. Saft mit Essig vermischt und ein Spritzer Spülmittel.«
»Lecker.« Farah verzieht das Gesicht.
»Also den Fruchtfliegen bekommt das Zeug nicht so gut«, kontert Wase. »Keine Ahnung, wie du das im Winter fertiggebracht hast, aber in deiner Küche hat sich ein ganzer Schwarm einquartiert.«
»Ich war in letzter Zeit eben viel unterwegs«, entgegnet sie leicht verschämt.
»Ist dir mal aufgefallen, dass hier überall Lippenstifte rumfliegen?«
»Ein Spleen von mir.« Farah lächelt und sieht zur Spüle, in der sich gestern noch dreckiges Geschirr gestapelt hat. Jetzt ist sie leer und blitzblank sauber. »Wann hast du das alles gemacht?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Dein Sofa muss geschrumpft sein.«
Es ist ihr schleierhaft, wie dieser riesige Kerl auf dem Teil ein Auge zubekommen hat. Die Couch misst knapp einen Meter achtzig, Armlehnen mit eingerechnet.
»Wenn du wieder hier übernachtest, kannst du mein neues Gästebett einweihen.«
»Ach ja? Und wo wird das stehen?«, fragt Wase, obwohl er sich die Antwort denken kann.
»Ich habe Aarians Zimmer ausgeräumt.«
»Das war sicher hart.«
Farah unterdrückt ein Seufzen. Wase macht sich andauernd Sorgen, es könnte ihr nicht gut gehen. Das war schon vor Aarians Tod so, und manchmal, an schlechten Tagen, argwöhnt sie, dass er damit bloß von seinen eigenen Problemen ablenken will. In Wirklichkeit ist sie genervt, weil er meistens richtigliegt. Ja, es war hart, verdammt hart sogar. Sie kam sich vor wie eine Verräterin. Als hätte sie mit dem Staub auch Aarian aus ihrem Leben gekehrt und die letzten Spuren seiner Existenz ausgelöscht.
»War schon okay«, gibt Farah kurz angebunden zurück. Der Wanduhr zufolge ist es schon weit nach zehn. Sie stutzt. Ist die Batterie leer, das Uhrwerk stehen geblieben? Nein, jetzt hört sie das monotone Ticken. So lange hat sie ewig nicht mehr geschlafen, selbst am Wochenende ist sie meist schon vor sieben wach. Ausgeruht fühlt sie sich trotzdem nicht. Im Gegenteil. Sie sinkt zwischen die Polster der Ofenbank, froh, sich nach dem kräftezehrenden Abstieg ins Erdgeschoss wieder ausruhen zu können. Keine Faser in ihr, die nicht rebelliert. Sie fühlt sich uralt. Jedenfalls deutlich älter als ihre einundvierzig Jahre.
Alles zu seiner Zeit, immer mit der Ruhe.
Aarians Stimme.
Sie drückt eine Tablette aus dem Blister und schluckt sie mit etwas Orangensaft. Dummerweise ist ihre Kehle so staubtrocken, dass sie auf halbem Weg kleben bleibt und sich in der Speiseröhre verkantet. Farah trinkt gegen den Schmerz, muss das ganze Glas exen, ehe sich die Tablette endlich löst und den Hals passiert.
»Alles gut bei dir?« Wase sieht aus, als stünde er kurz davor, sie in den Heimlich-Griff zu nehmen.
Farah hustet und winkt ab, was so viel wie »geht schon wieder« heißen soll. Mit einer Serviette wischt sie sich über die Augen. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hat, deutet sie auf Wases Tasse, in die er gerade einen Löffel Honig rührt.
»Darf ich auch einen?«
»Du und Ingwertee?«
»Mein Magen ist noch nicht bereit für Kaffee.«
Er zieht die Brauen hoch, verkneift sich aber einen Kommentar, der ihm zweifellos auf der Zunge liegt, und schenkt ihr ein. Farah wärmt ihre Hände am Becher. Das Holz knackt im Ofen, die Balken arbeiten in der Wärme, Wind rüttelt an den Fensterläden. Ewiger Dreiklang eines in die Jahre gekommenen Hauses. Melodie ihrer Kindheit.
Verstohlen betrachtet sie Wase von der Seite. Das lange Haar sitzt zu einem Knoten gebunden auf der Krone seines Kopfes. Als sie sich vor zehn Jahren bei Ermittlungen kennenlernten, war es schwarz, nun ist es vollständig weiß. Wase bevorzugt silberfarben, auf Weiß reagiert er allergisch. Ein eitler Zug, den Farah auf alberne Weise rührend findet. Seine Augen sind so dunkel wie der Vollbart. Ob er ihn heimlich färbt? Und wie er wohl mit weißem Bart aussähe? Sicher komisch. Anders. Dampf legt sich wie ein Weichzeichner über sein Gesicht. Dennoch fällt ihr auf, dass die Linien um seine Augen tiefer geworden sind. Er wirkt abgekämpft, die Trennung hat ihre Spuren hinterlassen.
Sie alle haben Wunden davongetragen. Farah, Wase und auch Lennart Bär, der Dritte im Bunde. Ihn erwischte es am härtesten. Der Hauptkommissar ist Wases Kollege. Die beiden kennen sich seit Wases Kindheit, Bär ist sein bester Freund, eine Art Vaterfigur. Zumindest war er das einmal. Die Suche nach seinem verschollenen Sohn Paul brachte sie auseinander.
Wie immer, wenn sie an den lebensfrohen Mann von früher denkt, dessen Augen sich zu zwei Mondsicheln verzogen, wenn ihn etwas amüsierte, versetzt es ihr einen Stich. Denn dieser Mensch ist fort, und sie trauert noch immer um ihn. Depressive Resignation erstickte Bärs Wut und den Feuereifer, die ihn anfangs noch vorantrieben. Ihre unverbrüchliche Freundschaft ist im Begriff, sich vor Farahs Augen aufzulösen. Wase zerpflückt sein Croissant und schiebt sich ein Fitzelchen Blätterteig in den Mund. Bald sind nur noch sie zwei übrig, und es gibt nichts, was sie tun könnte, um es zu verhindern.
Bislang hat Wase den Unfall mit keiner Silbe erwähnt. Farah ahnt, wie viel Beherrschung ihn das kostet, immerhin kennt sie niemanden, der auch nur annähernd so neugierig ist wie er. Sie nippt am Tee, spürt der Schärfe nach, die sich warm in ihrem Magen ausbreitet. Als er sie ansieht, fühlt sich Farah seltsam ertappt. Sie räuspert sich.
»Mir will einfach nicht in den Kopf, dass wir hier sitzen und frühstücken, während der Mann gerade um sein Leben kämpft. Hoffentlich«, fügt sie leiser hinzu. Ihre Stimme ist brüchig, hält aber. »Ausgerechnet heute.«
»Heute?«
»Am Totensonntag«, erklärt sie. »Wenn er stirbt, ist es meine Schuld.«
Wase hat das Kauen eingestellt. Sein Blick ruht auf ihr. Hellwach und durchdringend. Womöglich derselbe Blick, mit dem er Verdächtige im Verhörraum taxiert und sie zwingt zu beichten. Heute werden keine Psychospielchen vonnöten sein. Vor ihm sitzt eine geständige Täterin, die ihr Gewissen erleichtern will.
Sie hat hin- und herüberlegt, die Sache aus jedem erdenklichen Winkel betrachtet und kommt doch immer wieder zu demselben Schluss. Ihre Entscheidungen haben dazu geführt, dass sie zu exakt der falschen Uhrzeit am falschen Ort war. Daran gibt es nichts zu rütteln.
»Der Mann wäre jetzt zu Hause, würde Cappuccino trinken oder Gott weiß was machen, wenn ich meinem Bauchgefühl gefolgt und früher losgefahren wäre.« Sie sieht Wase an, spürt Verzweiflung in sich aufsteigen. »Wenn Lars mich nach Hause gefahren hätte. Wenn ich die Abkürzung nicht genommen hätte. Wenn ich auf dieses eine Glas Sekt verzichtet hätte. Wenn ich einmal im Leben nicht so eine Prinzipienreiterin gewesen wäre und aufs Gas gedrückt hätte!«
Farah stockt, atmet durch. Kurz befürchtet sie, Wase könnte etwas in die einsetzende Pause erwidern. Dass er protestiert oder zumindest die Nase darüber rümpft, dass sie Alkohol getrunken hat. Sie beide kennen die Zahlen, wissen, dass schon 0,3 Promille – ein Glas Bier – Sehvermögen und Bewegungskoordination einschränken. Doch er sieht sie nur an und hört zu. Genau wie damals, als Aarian gestorben ist. Es ist seine Art, ihr Raum zu geben. Womöglich auch eine Verhörmethode. Let the silence suck out the truth, oder wie war das noch gleich?
Das Bild hinter dem beschlagenen Küchenfenster spiegelt Farahs Gemütszustand. Im Garten hängt trübes Zwielicht, als würde der neue Tag bereits wieder in die Nacht kippen. Wolken künden von Regen und schirmen die Wintersonne ab. In einer der Pappeln, der höchsten, hockt ein Vogel. Kurz ist es ihr, als schaue er geradewegs herein. Dann breitet er seine Schwingen aus und gleitet davon. Etwas streift Farahs Bewusstsein, sacht wie Federspitzen. Es hat mit dem Vogel zu tun. Mit der Art, wie er fliegt, sich entfernt, bis er nur noch ein winziger Punkt ist.
Natürlich. Das hatte sie fast vergessen. Nun drängen die verschütteten Bilder ans Licht. Der Golf, die beiden Männer, ihr Grölen und Hupen. Atemlos stolpert Farah durch die Chronologie, verhaspelt sich immer wieder, als sie Wase von der Begegnung erzählt. Er unterbricht sie nicht, obwohl Farah bezweifelt, dass er dem Gestammel folgen kann. Sie schafft es ja selbst kaum.
»Nur weil sie im Vollrausch wie die Henker gerast sind, haben sie die Stelle kurz vor mir passiert. Ihr asoziales Verhalten hat sie davor bewahrt, den Mann zu überfahren«, schließt sie und schüttelt den Kopf.
Ein warmer Druck an ihrer Hand. Überrascht sieht sie in Wases Gesicht. Vor lauter Sorgenfalten ist es fast so zerknittert wie sein kariertes Hemd nach der unruhigen Nacht auf ihrer Couch. Farah schiebt den Teller mit dem Croissant von sich. Sie hat es nicht einmal angerührt. Übelkeit drängt ihren Hals empor. Gedanken fliegen wie Flipperkugeln kreuz und quer durch ihren Kopf. Einen bekommt sie zu fassen.
»Weiß man schon irgendwas über ihn? Wie er heißt, wo er wohnt, ob er Familie hat?«
Wase schüttelt den Kopf. »Ich habe vorhin kurz mit einer Kollegin vom Verkehrsunfalldienst gesprochen. Der Mann hatte keine Papiere bei sich, oder sonst etwas, das Rückschlüsse auf seine Identität zulässt. Er passt auch auf keine der laufenden Vermisstenanzeigen. Sie suchen gerade im Umkreis von zwanzig Kilometern nach einem abgestellten Auto. Bislang haben sie wohl keins gefunden.«
»Seltsam. Ich meine, irgendwie muss er ja dahingekommen sein.«
»Sie fragen gerade sämtliche Taxiunternehmen und Fahrservices an.« Wase zuckt mit den Schultern. »Sag mal, dass er nach dem Unfall weggelaufen ist, lag vermutlich am Schock, richtig?«
»Vermutlich, ja.« Sofort sieht sie ihn wieder vor sich. Diesen lebenden Toten. Wie er aufgestanden und davongehumpelt ist. »O Gott, das war so schrecklich.«
»Du hast mir das zwar schon mindestens hundertmal erklärt, aber …«
»Du bist ein Goldfisch, ich weiß«, beendet Farah den Satz und lächelt schwach. »Also im Grunde ist ein Schock ein Überlebensmechanismus, den der Organismus in Notsituationen fährt und der diesen Fluchtreflex auslösen kann. Die Blutbahnen werden mit Adrenalin und Noradrenalin geflutet, was wie ein körpereigenes Schmerzmittel wirkt. Dazu kommt Cortisol in rauen Mengen. Schweiß bricht aus, die Herzfrequenz schnellt in die Höhe, und Blut fließt zu den lebenswichtigen Organen«, rattert sie ihr Wissen zu dem Thema herunter. Gerade öffnet sie den Mund, um weiterzusprechen, als es an der Tür schellt.
Fragend schaut sie Wase an, der jedoch ebenso ratlos wirkt, aufsteht und im Flur verschwindet. Ein Klimpern ertönt, gefolgt