1984 - George Orwell - E-Book

1984 E-Book

George Orwell

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Beschreibung

Winston Smith, ein einfaches Mitglied der diktatorischen Staatspartei, arbeitet im Ministerium für Wahrheit, wo er die Vergangenheit im Sinne der Regierung umschreibt. «Der große Bruder» überwacht alle Bürger, jeder Widerstand gegen das System wird streng bestraft. Winston jedoch sehnt sich in seinem Innersten nach echter Wahrheit – und nach Liebe. Trotz aller Verbote beginnt er eine Beziehung mit seiner Kollegin Julia und träumt sogar davon, sich gegen die Partei aufzulehnen. Doch aus dem Überwachungsstaat gibt es kein Entkommen ... Die berühmte Dystopie von George Orwell, neu übersetzt von Karsten Singelmann.

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George Orwell

1984

Aus dem Englischen von Karsten Singelmann

Über dieses Buch

Winston Smith, ein einfaches Mitglied der diktatorischen Staatspartei, arbeitet im Ministerium für Wahrheit, wo er die Vergangenheit im Sinne der Regierung umschreibt. «Der große Bruder» überwacht alle Bürger, jeder Widerstand gegen das System wird streng bestraft. Winston jedoch sehnt sich in seinem Innersten nach echter Wahrheit – und nach Liebe. Trotz aller Verbote beginnt er eine Beziehung mit seiner Kollegin Julia und träumt sogar davon, sich gegen die Partei aufzulehnen. Doch aus dem Überwachungsstaat gibt es kein Entkommen ...

 

Die berühmte Dystopie von George Orwell, neu übersetzt von Karsten Singelmann.

Vita

George Orwell, 1903 in Indien als Eric Arthur Blair geboren, zählt zu den bedeutendsten Autoren der englischen Literatur. Besonders seine Dystopien «Farm der Tiere» und «1984» verhalfen ihm zu internationalem Ruhm. Er starb 1950 in London

1. TEIL

I

Es war ein kalter, klarer Apriltag, die Uhren schlugen dreizehn. Das Kinn zum Schutz vor dem ekligen Wind an die Brust gedrückt, schlüpfte Winston Smith schnell durch die Glastüren des Wohngebäudes «Victory Mansions», doch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Schwaden von körnigem Staub mit ihm ins Innere fegten.

Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und alten Teppichläufern. Ein farbiges Plakat, eigentlich viel zu groß für Innenräume, war mit Reißzwecken an der Wand befestigt. Es zeigte nichts weiter als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: die kernigen, attraktiven Züge eines Mannes von etwa fünfundvierzig, mit einem mächtigen, schwarzen Schnurrbart. Winston steuerte auf die Treppe zu. Den Fahrstuhl zu nehmen war zwecklos. Selbst in besten Zeiten funktionierte er nur selten, und momentan war tagsüber sowieso der Strom abgestellt. Diese Maßnahme lief unter dem Motto Sparsamkeit, zur Vorbereitung auf die anstehende Hasswoche.

Seine Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig war und ein Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel hatte, nahm sich Zeit für den Aufstieg, gönnte sich zwischendurch mehrere Ruhepausen. Auf jedem Treppenabsatz, an der Wand gegenüber dem Fahrstuhlschacht, blickte ihm das Plakat mit dem riesigen Gesicht entgegen. Es war eine von diesen Abbildungen, deren Augen einem überallhin zu folgen scheinen. BIG BROTHER IS WATCHING YOU verkündete die Bildunterschrift.

Im Innern seiner Wohnung verlas eine tiefe, wohltönende Stimme eine Aufstellung von Zahlen, die mit der Produktion von Roheisen zu tun hatten. Die Stimme kam aus einer länglichen Metallplatte, ähnlich einem stumpfen Spiegel, die einen Teil der rechten Seitenwand einnahm. Winston drehte an einem Schalter, worauf die Stimme etwas leiser wurde, jedoch weiterhin zu verstehen war. Die Lautstärke ließ sich zwar regeln, aber man konnte das Gerät (das als «Teleschirm» bezeichnet wurde) nicht abschalten.

Winston trat ans Fenster: eine kleine, schmächtige Gestalt, deren Zartheit von dem blauen Overall – der Parteiuniform – noch betont wurde. Er hatte hellblonde Haare und ein von Natur aus rötliches Gesicht, seine Haut war aufgeraut von grober Seife, stumpfen Rasierklingen und der Kälte des eben erst zu Ende gegangenen Winters.

Die Welt draußen wirkte frostig, selbst durch die geschlossene Fensterscheibe. Staub und Papierfetzen, vom Wind aufgewirbelt, tanzten im Kreis, und obwohl die Sonne hoch am grellblauen Himmel stand, wirkten alle Dinge farblos, mit Ausnahme der überall angeklebten Plakate. Wohin man auch blickte, starrte einem das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart an. Eins der Plakate hing an der Hauswand direkt gegenüber. BIG BROTHER IS WATCHING YOU erklärte die Aufschrift, während der Blick aus den dunklen Augen Winston zu durchbohren schien. Unten auf Straßenhöhe flatterte die eingerissene Ecke eines weiteren Plakats im Wind hin und her, dahinter blitzte immer wieder das Wort ENGSOZ hervor. In der Ferne tauchte ein Hubschrauber zwischen die Dächer hinab, schwebte wie eine Schmeißfliege für einen Moment auf der Stelle und schoss dann in einem weiten Bogen wieder davon. Das war die Polizeipatrouille, die den Leuten in die Fenster spähte. Diese Patrouillen spielten aber kaum eine Rolle, sie zählten nicht. Was zählte, war allein die Gedankenpolizei.

Hinter Winstons Rücken ließ die Stimme aus dem Bildschirm sich weiter über Roheisen und die Übererfüllung des Neunten Drei-Jahres-Plans aus. Der Bildschirm war Sender und Empfänger zugleich. Er fing jedes Geräusch auf, das über ein leises Flüstern hinausging, und solange Winston sich innerhalb des von der Metalltafel kontrollierten Sichtfelds aufhielt, konnte er nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden. Natürlich wusste man nie, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einzelne Leitungen einklinkte, ließ sich nur vermuten. Aber es war durchaus vorstellbar, dass sie jede und jeden zu jeder Zeit überwachten. Auf jeden Fall konnten sie sich einklinken, wann immer sie wollten. Man musste damit rechnen – und tat es instinktiv, schon aus reiner Gewohnheit –, dass jeder Laut, den man von sich gab, abgehört und jede Bewegung beobachtet wurde, außer bei Dunkelheit.

Winston wandte dem Bildschirm weiter den Rücken zu. Das war sicherer, auch wenn ihm klar war, dass selbst ein Rücken allerhand preisgeben konnte. Einen Kilometer entfernt ragte das Ministerium für Wahrheit, sein Arbeitsplatz, weiß und wuchtig aus der verrußten Landschaft hervor. Das hier, dachte er leicht angewidert – das war London, Hauptstadt von Landefeld Eins, der Provinz mit der drittgrößten Bevölkerungszahl in Ozeanien. Er versuchte sich in seine Kindheit zurückzuversetzen, sich zu erinnern, ob London immer schon so ausgesehen hatte. Hatte man immer schon auf diese verfallenden Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert geblickt, deren Seitenwände notdürftig mit Holzbalken gestützt, deren Fenster mit Pappe und deren Dächer mit Wellblech geflickt waren, während die baufälligen Gartenmauern nach allen Seiten wegbröckelten? Und was war mit den Trümmergrundstücken, wo der Mörtelstaub in der Luft waberte und Weidenröschen auf dem Geröll wucherten, oder mit all den Stellen, wo die Bomben größere Flächen freigelegt hatten und wo sofort ganze Kolonien aus schäbigen, hühnerstallähnlichen Holzhütten aus dem Boden geschossen waren? Doch sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern: Von seiner Kindheit war ihm nichts geblieben als eine Reihe von zusammenhanglosen Bildern, die hin und wieder aufblitzten, ohne einen rechten Sinn zu ergeben.

Das Ministerium für Wahrheit – Miniwahr auf Neusprech[*] – unterschied sich verblüffend von allem anderen, was weit und breit zu sehen war. Es war ein gewaltiger, pyramidenförmiger Bau aus glitzerweißem Beton, der sich Absatz für Absatz bis in dreihundert Meter Höhe auftürmte. Von Winstons Standort aus konnte man eben noch die drei Parolen der Partei lesen, die in eleganten Schriftzügen auf der weißen Fassade prangten:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSEN IST STÄRKE

Das Ministerium für Wahrheit umfasste, so hieß es, dreitausend oberirdische Räume sowie die entsprechenden, ähnlich verzweigten Untergeschosse. Übers Londoner Stadtgebiet verstreut gab es lediglich drei weitere Gebäude von ähnlicher Größe und Erscheinung. So sehr überragten sie alle umgebenden Bauten, dass man vom Dach der Victory Mansions alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie waren Sitz der vier Ministerien, auf die sich der gesamte Regierungsapparat aufteilte: Es gab das Ministerium für Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und den schönen Künsten befasste; das Ministerium für Frieden, das sich um den Krieg kümmerte; das Ministerium für Liebe, das Recht und Ordnung aufrechterhielt. Und das Ministerium für Überfluss, das für die Wirtschaft zuständig war. Auf Neusprech lauteten die Namen: Miniwahr, Minipax, Minilieb und Miniflu.

Vielleicht am furchterregendsten war das Ministerium für Liebe. Dort gab es keinerlei Fenster. Winston hatte dieses Liebesministerium noch nie betreten, war ihm nie näher gekommen als einen halben Kilometer. Es war unmöglich, hineinzukommen, es sei denn, in amtlichen Angelegenheiten, und dann auch nur, indem man sich durch ein Labyrinth von Stacheldraht, Stahltüren und versteckten Maschinengewehrnestern kämpfte. Selbst in den Straßen, die zu den äußeren Sperranlagen führten, gingen gorillagesichtige Wachleute in schwarzer Uniform Streife, bewaffnet mit Gelenkschlagstöcken.

Mit einem Ruck drehte Winston sich um. Er hatte einen Ausdruck ruhiger Zuversicht aufgesetzt, der angeraten war, sobald man dem Teleschirm sein Gesicht zeigte. Er ging quer durchs Zimmer in die winzige Küche. Weil er das Ministerium zu dieser frühen Stunde verlassen hatte, musste er auf sein Mittagessen in der Kantine verzichten, und ihm war bewusst, dass in der Küche nichts Essbares aufzutreiben war außer einem Stück dunklem Brot, das aber fürs morgige Frühstück aufgespart werden musste. Vom Regalbrett hob er eine Flasche, auf der ein schlichtes weißes Etikett mit der Aufschrift VICTORY GIN klebte. Die farblose Flüssigkeit verströmte einen abgestandenen, öligen Geruch, wie chinesischer Reisschnaps. Winston goss sich fast eine Teetasse voll ein, bereitete sich seelisch auf den Schock vor und stürzte alles mit einem Schluck hinunter, als wäre es bittere Medizin.

Sofort wurde sein Gesicht puterrot, und das Wasser lief ihm aus den Augen. Das Zeug schmeckte nicht nur wie Salpetersäure, man hatte beim Schlucken auch das Gefühl, man bekäme mit dem Gummiknüppel eins über den Hinterkopf gezogen. Doch schon im nächsten Moment ließ das Brennen im Bauch nach, und gleich sah die Welt ein bisschen fröhlicher aus. Er zog eine Zigarette aus einer zerknüllten Packung mit der Aufschrift VICTORY ZIGARETTEN und hielt sie unvorsichtigerweise senkrecht, worauf der Tabak auf den Boden rieselte. Mit der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an einen kleinen Tisch links vom Teleschirm. Aus der Tischschublade holte er einen Federhalter, ein Tintenfass und ein dickes Notizbuch im Quartformat mit rotem Rücken und marmoriertem Einband.

Aus irgendeinem Grund war der Teleschirm im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle installiert. Nicht, wie üblich, an der Stirnseite, wo er den ganzen Raum überblicken konnte, sondern an der Längsseite, gegenüber dem Fenster. Seitlich davon befand sich eine flache Nische, in der Winston jetzt saß und die wohl ursprünglich, beim Bau des Hauses, Platz für ein Bücherregal hatte bieten sollen. Wenn er sich ganz in die Nische schmiegte, konnte Winston sich dem Sichtfeld des Teleschirms entziehen. Gehört werden konnte er natürlich trotzdem, aber solange er in seiner Stellung verharrte, wurde er nicht gesehen. Zum Teil war es die ungewöhnliche Anlage des Zimmers gewesen, die ihn auf die Idee gebracht hatte, das zu tun, was er jetzt vorhatte.

Diese Idee hing aber auch mit dem Buch zusammen, das er soeben aus der Schublade gezogen hatte. Es war ein besonders schönes Buch. Das glatte, sämige Papier, altersbedingt ein wenig vergilbt, war von einer Qualität, wie sie seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. So wie er die Sache einschätzte, war dieses Buch aber noch viel älter. Er hatte es in der Auslage eines muffigen kleinen Trödelladens in einem der Elendsviertel der Stadt gesehen (welches Viertel genau das war, wusste er nicht mehr) und war sofort von dem überwältigenden Verlangen gepackt worden, es zu besitzen. Als Parteimitglied durfte man eigentlich kein gewöhnliches Geschäft betreten («auf dem freien Markt verkehren», sagte man dafür), aber diese Vorschrift wurde nicht mit letzter Konsequenz durchgesetzt, weil es verschiedene Dinge gab, Schnürsenkel oder Rasierklingen zum Beispiel, die auf anderem Wege nicht zu bekommen waren. Er hatte sich also kurz umgeblickt und war dann rasch in den Laden geschlüpft, um sich das Buch für zwei Dollar fünfzig zu kaufen. Welchen Zweck er damit verfolgte, hätte er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht sagen können. Mit schlechtem Gewissen hatte er das Buch in seiner Aktentasche nach Hause getragen. Auch wenn überhaupt nichts darin geschrieben stand, war es ein Besitz, der ihn in Schwierigkeiten bringen konnte.

Jetzt hatte er den Vorsatz gefasst, ein Tagebuch anzulegen. Das war zwar nicht illegal (da es keine Gesetze mehr gab, konnte auch nichts mehr illegal sein), aber wenn so etwas herauskam, wurde es ziemlich wahrscheinlich mit dem Tod oder zumindest mit fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager bestraft. Winston steckte eine Feder in den Federhalter und saugte daran, um die Schmiere zu entfernen. Es war ein altertümliches Schreibgerät, kaum je benutzt, allenfalls für die eine oder andere Unterschrift, und er hatte es sich heimlich und nicht ohne Schwierigkeiten besorgt, einfach aus dem Gefühl heraus, dass dieses wunderbar sämige Papier es verdient hatte, mit einer echten Feder beschrieben zu werden anstatt mit einem kratzigen Tintenstift. Eigentlich hatte er überhaupt keine Übung darin, mit der Hand zu schreiben. Von ganz kurzen Notizen abgesehen, war es üblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, aber das kam für sein jetziges Projekt natürlich nicht in Frage. Nachdem er die Feder in die Tinte getaucht hatte, zauderte er für einen Moment. Ein Grummeln war ihm durch die Eingeweide gefahren. War die Tinte erst einmal auf dem Papier, gab es kein Zurück mehr. Mit kleiner, ungelenker Schrift schrieb er:

 

4. April 1984

 

Er sank gegen die Rückenlehne des Stuhls. Ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit hatte ihn gepackt. Die Probleme fingen schon damit an, dass er nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob dies tatsächlich das Jahr 1984 war. So ungefähr musste es aber stimmen, denn er selbst, da war er sich einigermaßen sicher, war neununddreißig Jahre alt und seines Wissens 1944 oder 45 geboren worden; allerdings war es heutzutage schlicht unmöglich, egal welches Datum auf ein oder zwei Jahre genau zu bestimmen.

Für wen, diese Frage fiel ihm plötzlich ein, schrieb er dieses Tagebuch eigentlich? Für die Zukunft, für die Nachgeborenen. Er war noch dabei, dem zweifelhaften Datum oben auf der Seite nachzusinnen, da stolperten seine Gedanken plötzlich über das Neusprechwort Doppeldenk. Erst jetzt ging ihm auf, wie gewaltig das war, was er sich vorgenommen hatte. Wie konnte man denn mit der Zukunft kommunizieren? Das war doch schon logisch gar nicht denkbar. Entweder war die Zukunft der Gegenwart ähnlich, dann würde sie ihm nicht zuhören – oder sie unterschied sich völlig von dieser, dann hätte seine heutige missliche Lage keine Bedeutung für sie.

Eine Weile lang starrte er nur dumpf auf das Papier. Der Teleschirm sendete mittlerweile zackige Militärmusik. Schon merkwürdig, dass er nicht nur die Fähigkeit, sich auszudrücken, verloren zu haben schien, sondern offenbar sogar vergessen hatte, was er eigentlich sagen wollte. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass dafür etwas anderes nötig wäre als Mut. Das Schreiben an sich, hatte er gedacht, würde ganz leicht gehen. Er müsste nichts weiter tun, als das zu Papier zu bringen, was ihm ohnehin, buchstäblich seit Jahren, wieder und immer wieder durch den Kopf ging. Doch jetzt, gerade wo es darauf ankam, war selbst dieser innere Redefluss versiegt. Obendrein hatte sein Geschwür am Unterschenkel unerträglich zu jucken begonnen. Er traute sich nicht zu kratzen, denn immer wenn er das tat, entzündete es sich. Die Sekunden vergingen. Er konnte nichts anderes wahrnehmen als die leere Seite vor seinen Augen, das Jucken über dem Knöchel, die plärrende Musik und die leichte, vom Gin verursachte Benommenheit.

Plötzlich aber, von nackter Panik gepackt, schrieb er einfach drauflos, ohne große Überlegung. Seine kleine, aber kindliche Schrift ergoss sich kreuz und quer über die Seite, und dabei mussten zuerst die Großbuchstaben dran glauben, dann die Kommas und schließlich sogar die Satzzeichen:

 

4. April, 1984. Gestern Abend im Kino. Nur Kriegsfilme. Ein sehr guter dabei, handelte von einem Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wurde. Publikum amüsierte sich prächtig, als ein großer, fetter Mann gezeigt wurde, der wegzuschwimmen versuchte, verfolgt von einem Hubschrauber. erst sah man, wie er sich im wasser wälzte wie eine schildkröte, dann sah man ihn durchs visier des hubschraubers, dann war sein ganzer körper durchlöchert und das meer um ihn herum färbte sich rosa und er versank so schnell als wäre das wasser in die löcher geströmt. publikum brüllte vor lachen, als er unterging. dann sah man ein rettungsboot voller kinder, über dem ein hubschrauber schwebte. eine frau mittleren alters vielleicht jüdin saß im bug, in ihren armen ein kleiner junge von ungefähr drei jahren. der kleine junge schrie vor Angst und verbarg seinen kopf zwischen ihren brüsten als wollte er in sie hineinkriechen und die frau schlang die arme um ihn und tröstete ihn obwohl sie selbst vor Angst schlotterte und die ganze zeit schirmte sie ihn ab so gut es ging und als würde sie glauben dass ihre arme ihn vor den kugeln schützen könnten. dann warf der hubschrauber eine 20-kilo-bombe genau auf sie drauf mit riesenexplosion und das boot wurde zu kleinholz. dann gab es eine wunderbare einstellung von einem kinderarm der steil in die luft flog da muss ein hubschrauber mit kamera in der kanzel gleich hintendran gewesen sein und aus den logen kam jede menge beifall aber unten im saal bei den prolls schlug eine frau plötzlich krawall und rief so was hätte man nich zeigen dürfen nicht wenn kinder dabei sind das gehört sich nich vor kindern bis die polizei kam und sie rausschaffte ich glaub nich dass ihr groß was passiert ist kein mensch interessiert sich für was die prolls sagen typische prollreaktion nie können die –

 

Winston brach ab, unter anderem, weil er einen Krampf in der Hand bekam. Es war ihm unbegreiflich, wie er einen solchen Schwall von Blödsinn hatte produzieren können. Seltsam genug aber, dass währenddessen eine ganz andere Erinnerung in ihm wachgeworden war, so klar und deutlich, dass er sich beinahe imstande fühlte, sie aufzuschreiben. Dieser andere Vorfall, wurde ihm jetzt bewusst, war der Grund gewesen, warum er plötzlich beschlossen hatte, nach Hause zu gehen und heute mit dem Tagebuch anzufangen.

Ereignet hatte es sich am Morgen im Ministerium, falls man bei einer so ungreifbaren Sache überhaupt von einem Ereignis sprechen kann.

Es war kurz vor elf Uhr, und in der Abteilung Dokumentation, wo Winston arbeitete, wurden alle Schreibtischstühle in die Mitte des Großraumbüros getragen und vor dem großen Telebildschirm aufgestellt, für den Zwei-Minuten-Hass. Winston nahm gerade seinen Platz in einer der mittleren Reihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen kannte, mit denen er aber noch nie ein Wort gewechselt hatte, unerwartet den Raum betraten. Die eine war eine junge Frau, die ihm oft in den Fluren begegnete. Ihren Namen kannte er nicht, wusste aber, dass sie in der Abteilung Literatur arbeitete. Anscheinend – er hatte sie mehrmals mit einem Schraubenschlüssel und ölverschmierten Händen gesehen – war sie eine Art Technikerin, die die Romanmaschinen wartete. Die Frau, er schätzte sie auf ungefähr siebenundzwanzig, machte einen ziemlich kessen Eindruck, hatte üppige schwarze Haare, Sommersprossen im Gesicht und eine forsche, athletische Art, sich zu bewegen. Eine schmale scharlachrote Schärpe, das Abzeichen der Junioren-Anti-Sex-Liga, war mehrfach um die Taille ihres Overalls gewickelt, gerade eng genug, dass ihre wohlgeformten Hüften gut zur Geltung kamen. Sie war Winston sofort unsympathisch gewesen, schon als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er wusste auch, warum. Es war ihre ganze Ausstrahlung, die ihn an Hockeyplätze, an kalte Bäder, an Wandertage und an eine rundum tadellose Gesinnung denken ließ. Ihm waren fast alle Frauen unsympathisch, vor allem die jungen und hübschen. Immer waren es die Frauen, und zuallererst die jungen, die sich als die engstirnigsten Parteianhänger erwiesen, die alle Slogans und Parolen schluckten, sich als Amateurspitzel betätigten und fleißig Gesinnungsschnüffelei betrieben. Aber speziell diese Frau wirkte auf ihn noch gefährlicher als die meisten anderen. Einmal, als er im Flur an ihr vorbeigegangen war, hatte sie ihn von der Seite angesehen, mit einem bohrenden Blick, der ihm durch und durch gegangen war. Im ersten Moment der Panik hatte er befürchtet, sie könnte eine Agentin der Gedankenpolizei sein. Das aber war, zugegebenermaßen, eher unwahrscheinlich. Trotzdem verspürte er weiterhin ein eigenartiges Unbehagen, gemischt mit Furcht und auch Feindseligkeit, sobald sie nur in seine Nähe kam.

Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, Mitglied der Inneren Partei, in der er eine so hohe und bedeutende Funktion ausübte, dass Winston allenfalls ahnen konnte, worin genau sie bestand. Für einen Moment breitete sich Stille rund um die Stuhlreihen aus, als die Mitarbeiter den schwarzen Overall näherkommen sahen, der Angehörigen der Inneren Partei vorbehalten war. O’Brien war ein großer, bulliger Mann mit Stiernacken und derben Gesichtszügen, die Humor, aber auch Brutalität verrieten. Trotz seiner Respekt einflößenden Erscheinung konnte er einen gewissen Charme an den Tag legen. Sein Trick bestand darin, die Brille auf seiner Nase zurechtzurücken, was eigenartig entwaffnend wirkte – ja, irgendwie geradezu kultiviert. Es war eine Geste, die an einen englischen Adligen des achtzehnten Jahrhunderts hätte erinnern können, der seine Schnupftabakdose zückt und eine Prise daraus anbietet – wenn denn die Erinnerung an solche Figuren noch lebendig gewesen wäre. Winston hatte O’Brien bisher vielleicht ein Dutzend Mal zu Gesicht bekommen, in fast ebenso vielen Jahren. Er fühlte sich stark von ihm angezogen, und nicht nur, weil ihn der Kontrast zwischen O’Briens weltmännischer Art und seiner Boxerstatur faszinierte. Sondern vielmehr, weil er insgeheim glaubte – oder vielleicht nicht einmal glaubte, sondern lediglich hoffte –, dass O’Brien nicht hundertprozentig linientreu war. Irgendetwas in seinem Gesicht schien es unmissverständlich anzudeuten. Aber vielleicht war es auch gar nicht unbedingt Abweichlertum, was darin geschrieben stand, sondern einfach nur Intelligenz. Auf jeden Fall aber machte er den Eindruck eines Menschen, mit dem man reden konnte, falls es einem gelang, den Teleschirm zu überlisten und ihn unter vier Augen zu erwischen. Winston hatte nie auch nur den leisesten Versuch unternommen, sich diese Vermutung bestätigen zu lassen, und es gab auch schlicht und einfach keine Möglichkeit dazu.

In diesem Moment warf O’Brien einen Blick auf seine Armbanduhr, stellte fest, dass es schon fast elf Uhr war, und beschloss offenbar, in der Abteilung Dokumentation zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass vorüber war. Er nahm in derselben Reihe wie Winston Platz, nur zwei Stühle weiter. Eine kleine, rotblonde Frau, die in Winstons Nachbarkabine arbeitete, saß zwischen ihnen, die junge Frau mit den dunklen Haaren direkt dahinter.

Plötzlich ertönte aus dem großen Teleschirm am Ende des Raumes ein grässliches, durchdringendes Kreischen, wie von einer riesigen Maschine, der das Öl ausgegangen war. Es war ein Geräusch, das einem durch Mark und Bein ging. Der Hass hatte begonnen.

II

Winston griff schon zur Türklinke, da bemerkte er, dass er das Tagebuch aufgeschlagen auf dem Tisch hatte liegen lassen. Auf der ganzen Seite prangten die Worte NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER, die Schrift groß genug, dass man sie beinahe quer durchs ganze Zimmer lesen konnte. Eine unfassbare Dummheit, die ihm da unterlaufen war. Und zwar, das wurde ihm im nächsten Moment klar, weil er bei aller Panik das wunderbar sämige Papier nicht hatte verschmieren wollen, indem er das Buch zuschlug, solange die Tinte noch nass war.

Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Sofort überströmte ihn eine warme Welle der Erleichterung. Draußen im Flur stand eine blasse, verhärmt wirkende Frau mit dünnen Haaren und Falten im Gesicht.

«O Genosse», legte sie mit monoton leiernder Stimme los, «dachte ich doch, dass ich dich habe reinkommen hören. Meinst du, du könntest mal rüberkommen und einen Blick auf unsere Küchenspüle werfen? Die ist nämlich verstopft und –»

Es war Mrs. Parsons, die Nachbarsfrau von nebenan. (Der Ausdruck «Mrs.» war vonseiten der Partei eigentlich verpönt – man sollte sich gegenseitig immer mit «Genosse» oder «Genossin» anreden –, aber manche Frauen konnte man sich einfach nur als «Mrs.» vorstellen.) Sie war etwa dreißig, sah aber viel älter aus. Man hatte irgendwie den Eindruck, in den Falten ihres Gesichts hätte sich Staub abgelagert.

Winston folgte ihr durch den Flur. Reparaturen dieser Art fielen ärgerlicherweise fast täglich an, ohne dass man einen Handwerker hätte rufen können. Die Wohnungen in den Victory Mansions waren alt, erbaut um 1930 herum, sie verfielen immer mehr. Ständig rieselte Putz von der Decke und den Wänden, die Rohre platzten bei jedem strengen Frost; sobald Schnee fiel, leckte es durchs Dach, die Heizungsanlage lief meistens nur mit halber Kraft, wenn sie nicht – aus wirtschaftlichen Gründen – ganz abgeschaltet wurde. Reparaturen, die man nicht selbst vornehmen konnte, mussten von Komitees genehmigt werden, die wer weiß wo saßen und selbst die Ausbesserung einer Fensterscheibe gern mal um zwei Jahre verzögerten.

«Ich frage natürlich nur, weil Tom grad nicht zu Hause ist», jammerte Mrs. Parsons.

Die Wohnung der Parsons’ war größer als Winstons und auf andere Weise schäbig. Die ganze Einrichtung machte einen schadhaften, ramponierten Eindruck, als hätte sich ein wildes Tier hier ausgetobt. Sportausrüstung – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, eine schweißgetränkte, auf links gekrempelte kurze Hose – lag auf dem Fußboden verstreut, auf dem Tisch stapelten sich schmutziges Geschirr und eselsohrige Schulbücher. An den Wänden hingen scharlachrote Fahnen der Jugendliga und der Kleinen Spione sowie ein Plakat des Großen Bruders in Lebensgröße. Der übliche, fürs ganze Haus typische Geruch nach gekochtem Kohl hing in der Luft; aber in dieser Wohnung mischte er sich mit noch schärferen Ausdünstungen, die – das roch man auf Anhieb, auch wenn man es nicht recht erklären konnte – von einer Person stammten, die im Moment nicht anwesend war. In einem anderen Zimmer versuchte jemand, mit einem Kamm und einem Streifen Toilettenpapier die Militärmusik zu begleiten, die noch immer aus dem Teleschirm schallte.

«Das sind die Kinder», sagte Mrs. Parsons mit einem leicht besorgten Blick zur Tür. «Sie sind heute noch nicht draußen gewesen. Und natürlich –»

Sie hatte die Angewohnheit, Sätze nicht zu Ende zu sprechen. Die Küchenspüle war fast bis zum Rand mit schmierig grünlichem Wasser gefüllt, das besonders übel nach Kohl stank. Winston kniete sich hin, um das Winkelgelenk des Abflussrohres in Augenschein zu nehmen. Er benutzte seine Hände nur ungern, und bücken mochte er sich auch nicht, denn davon musste er meistens husten. Mrs. Parsons stand hilflos daneben.

«Klar, wenn Tom zu Hause wäre, würde er die Sache in null Komma nichts beheben», sagte sie. «Da ist er in seinem Element. Unglaublich geschickt mit seinen Händen, das ist er.»

Tom Parsons war einer von Winstons Kollegen im Wahrheitsministerium, ein dicklicher, aber umtriebiger Mensch von lähmender Beschränktheit, die Verkörperung von hirnloser Begeisterung – einer dieser nie zweifelnden und bedingungslos loyalen Untertanen, die die Stärke der Partei ausmachten, mehr noch als die Gedankenpolizei. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er kürzlich, mehr oder weniger unfreiwillig, von der Jugendliga verabschiedet worden, und schon ehe er dort aufgenommen worden war, hatte er ein Jahr länger bei den Kleinen Spionen bleiben dürfen, als es die Altersvorschriften eigentlich gestatteten. Im Ministerium führte er untergeordnete Tätigkeiten aus, die keinerlei Intelligenz erforderten, dafür aber war er eine führende Figur im Sportausschuss und all den anderen Ausschüssen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Wandertage, spontane Demonstrationen, Sparaktionen und sonstige freiwillige Aktivitäten zu organisieren. Mit stillem Stolz, zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife, erzählte er jedem, der es hören wollte, dass er sich die letzten vier Jahre hindurch an jedem einzelnen Abend im Gemeindezentrum habe blickenlassen. Ein durchdringender Schweißgeruch, der sozusagen unbewusst demonstrierte, wie anstrengend sein Leben war, folgte ihm auf Schritt und Tritt und machte sich auch dann noch bemerkbar, wenn er nicht mehr da war.

«Habt ihr einen Schraubenschlüssel?», fragte Winston, während er sich an der Mutter des Winkelgelenks zu schaffen machte.

«Einen Schraubenschlüssel», wiederholte Mrs. Parsons und schien augenblicklich in sich zusammenzusacken. «Ich weiß nicht, keine Ahnung. Vielleicht die Kinder –»

Schwere Stiefelschritte und weitere Trompetenstöße auf dem Kamm ertönten, offenbar marschierten die Kinder gerade ins Wohnzimmer. Mrs. Parsons brachte den Schraubenschlüssel herbei. Winston ließ das Wasser abfließen und entfernte angewidert den Propf aus Menschenhaaren, der das Rohr verstopft hatte. So gut es ging, wusch er sich die Finger mit dem kalten Leitungswasser, dann ging er ins andere Zimmer zurück.

«Hände hoch!», schrie eine wilde Stimme. Ein hübscher, verwegen dreinblickender Junge von etwa neun Jahren war hinter dem Tisch aufgesprungen und drohte ihm mit einer automatischen Spielzeugpistole, während seine kleine Schwester, etwa zwei Jahre jünger, ihm nacheiferte, indem sie mit einem Stück Holz auf Winston zielte. Beide trugen blaue kurze Hosen, graue Hemden und rote Halstücher, die Uniform der Kleinen Spione. Winston hob die Hände über den Kopf, doch war ihm nicht wohl dabei, denn so rabiat, wie der Junge sich aufführte, war das hier mehr als nur ein Spiel.

«Du bist ein Verräter!», schrie der Junge. «Du bist ein Gedankenverbrecher! Du bist ein eurasischer Spion! Ich knall dich ab, ich vaporisier dich, ich schick dich ins Salzbergwerk!»

Plötzlich sprangen sie im Kreis um ihn herum und riefen immerzu «Verräter!» oder «Gedankenverbrecher», wobei das kleine Mädchen jede Bewegung, jede Geste seines Bruders nachahmte. Man konnte es durchaus mit der Angst zu tun bekommen, es war ein bisschen wie das Herumtollen von kleinen Tigerjungen, die schon bald zu menschenfressenden Raubtieren heranwachsen werden. Im Blick des Jungen lag so etwas wie berechnende Grausamkeit, der ziemlich deutliche Wunsch, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Bewusstsein, dass er schon beinahe groß genug war, es auch zu tun. Man musste froh sein, dachte Winston, dass seine Pistole nicht echt war.

Mrs. Parsons’ Blick schweifte unruhig zwischen Winston und den Kindern hin und her. Im helleren Licht des Wohnzimmers registrierte Winston mit Interesse, dass tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts lag.

«Heute sind sie richtig unruhig und laut», sagte sie. «Sind enttäuscht, weil sie nicht beim Aufhängen zugucken können, daran liegt es. Ich hab zu viel zu tun, um mit ihnen hinzugehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.»

«Warum können wir nicht zum Aufhängen gehen?», polterte der Junge mit seiner durchdringenden Stimme.

«Will das Hängen sehen! Will das Hängen sehen!», skandierte das kleine Mädchen, während es im Zimmer herumhüpfte.

An diesem Abend, erinnerte sich Winston, sollten im Park einige eurasische Gefangene gehenkt werden, die wegen Kriegsverbrechen angeklagt und verurteilt worden waren. Solche Veranstaltungen fanden ungefähr einmal im Monat statt und bildeten ein beliebtes Spektakel. Kinder lagen ihren Eltern in den Ohren, damit sie daran teilnehmen durften.

Winston verabschiedete sich von Mrs. Parsons und verließ die Wohnung. Er war aber noch keine sechs Schritte durch den Hausflur gegangen, da spürte er einen jähen Schmerz im Nacken. Es war, als wäre er mit glühendem Draht geschlagen worden. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie Mrs. Parsons ihren Sohn durch die Tür zurückzerrte, während dieser sich ein Katapult in die Hosentasche schob.

«Goldstein!», brüllte der Junge, bevor die Tür zuschlug. Das war erschreckend genug, aber noch bemerkenswerter fand Winston den Ausdruck hilfloser Furcht im gräulichen Gesicht der Frau.

Zurück in seiner Wohnung, ging er rasch am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch. Er rieb sich den Nacken, der noch immer brannte. Die Musik aus dem Teleschirm hatte aufgehört. Stattdessen war jetzt eine zackige Militärstimme zu hören, die mit einem gewissen brutalen Genuss eine Aufstellung der Bordwaffen auf der neuen Schwimmenden Festung verlas, die gerade erst zwischen Island und den Färöern vor Anker gegangen war.

Mit solchen Kindern, dachte Winston, musste das Leben dieser elenden Frau ein einziger Albtraum sein. Noch ein oder zwei Jahre, dann würden sie sie Tag und Nacht beobachten und nach Hinweisen auf mangelnde Linientreue suchen. Heutzutage waren fast alle Kinder so schrecklich. Das Schlimmste war, dass sie von Organisationen wie den Kleinen Spionen zu zügellosen kleinen Wilden erzogen wurden, was aber nicht bedeutete, dass sie jemals Lust bekamen, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, die Partei und alles, was damit zusammenhing, liebten sie abgöttisch. Die Lieder, die Umzüge, die Fahnen, die Wanderungen, die Drillübungen mit Gewehrattrappen, das Rufen von Parolen, die Anbetung des Großen Bruders – das alles war für sie ein herrliches, aufregendes Spiel. Ihre ganze wilde Energie wurde nach außen gelenkt, gegen die Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Menschen über dreißig war es fast schon normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das mit gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in der nicht in der Times davon berichtet wurde, wie so ein spionierender kleiner Petzer – «Kinderheld» war der gängige Ausdruck dafür – irgendeine verräterische Bemerkung belauscht und seine Eltern bei der Gedankenpolizei angeschwärzt hatte.

Der brennende Schmerz von der Katapultattacke hatte nachgelassen. Halbherzig griff Winston zum Federhalter, obwohl ihm im Moment nichts einfiel, was er noch ins Tagebuch schreiben könnte. Plötzlich kehrten seine Gedanken zu O’Brien zurück.

Vor Jahren – wie lange war das jetzt her? Bestimmt sieben Jahre – hatte er einmal geträumt, er würde durch einen stockfinsteren Raum gehen. Jemand, der dort saß, hatte ihn von der Seite angesprochen: «Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.» Das wurde sehr ruhig, fast beiläufig gesagt – eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne innezuhalten. Seltsam war, dass diese Worte zu der Zeit, in diesem Traum, keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später, nach und nach, schienen sie an Bedeutung gewonnen zu haben. Heute konnte er sich nicht mehr erinnern, ob er O’Brien vor oder nach dem Traum zum ersten Mal gesehen hatte; auch wusste er nicht mehr, wann er die Traumstimme als die Stimme O’Briens identifiziert hatte. Jedenfalls hatte die Identifizierung stattgefunden. Es war O’Brien, der aus dem Dunkel zu ihm gesprochen hatte.

Winston war sich nie sicher gewesen – selbst nach dem Blickwechsel von heute Morgen nicht –, ob er in O’Brien einen Freund oder einen Feind sah. Darauf schien es aber auch gar nicht wirklich anzukommen. Zwischen ihnen gab es eine Verbindung, ein gegenseitiges Verständnis, und das war wichtiger als Zuneigung oder Parteilichkeit. «Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht», hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete, nur dass es, auf diese oder jene Weise, so kommen würde.

Die Stimme aus dem Teleschirm legte eine Pause ein. Ein Trompetensignal, klar und wunderschön, schwebte durch die verbrauchte Zimmerluft. Schnarrend fuhr die Stimme fort:

«Achtung, Achtung! Soeben erreicht uns eine Eilmeldung von der Malabar-Front. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glanzvollen Sieg errungen. Ich darf mitteilen, dass die militärische Operation, von der wir nun berichten, ein Ende des Krieges in absehbarer Zeit näher rücken lässt. Hier also die Eilmeldung –»

Oje, schlechte Nachrichten, dachte Winston. Und tatsächlich, auf einen äußerst blutrünstigen Bericht über die völlige Vernichtung einer eurasischen Armee, in dem gewaltige Zahlen von Toten und Gefangenen genannt wurden, folgte die Ankündigung, dass von der folgenden Woche an die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm gekürzt werde.

Winston musste wieder rülpsen. Die Wirkung des Gins ließ nach, ein Gefühl der Ernüchterung blieb zurück. Aus dem Teleschirm schmetterte jetzt «Ozeanien, du unsere Heimat» – vielleicht um den Sieg zu feiern, vielleicht um den bevorstehenden Schokoladenverlust zu verdrängen. Es wurde erwartet, dass man dabei strammstand. Da, wo er jetzt saß, war er allerdings nicht zu sehen.

Auf die Ozeanien-Hymne folgte leichtere Musik. Winston ging zum Fenster, stand mit dem Rücken zum Teleschirm. Die Luft draußen war unverändert klar und kalt. Irgendwo in der Ferne explodierte eine Raketenbombe mit dumpfem, widerhallendem Donner. Derzeit gingen pro Woche ungefähr zwanzig bis dreißig dieser Bomben über London nieder.

Unten auf der Straße flatterte das zerrissene Plakat im Wind hin und her, sodass das Wort ENGSOZ mal verschwand, mal wieder auftauchte. Engsoz. Die heiligen Prinzipien des Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderlichkeit der Vergangenheit. Winston kam sich vor, als würde er durch dichte Wälder auf dem Meeresgrund wandern, verloren in einer ungeheuerlichen Welt, in der er selbst das Ungeheuer war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft nicht auszudenken. Wie konnte er sicher sein, dass es in der Gegenwart auch nur ein einziges Menschenwesen gab, das auf seiner Seite stand? Und wie konnte er wissen, dass die Vorherrschaft der Partei nicht ewig bestehen würde?

Wie eine Antwort auf diese Fragen standen ihm die drei Parolen auf der weißen Vorderseite des Wahrheitsministeriums vor Augen:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Er zog ein Fünfundzwanzigcentstück aus der Tasche. Auch diesem waren in winziger, klarer Schrift dieselben Parolen aufgeprägt, und auf der Rückseite der Münze der Kopf des Großen Bruders. Selbst von dem Geldstück aus verfolgten einen diese Augen. Von Münzen, von Briefmarken, von Buchdeckeln, von Fahnen, von Plakaten und von Zigarettenschachteln – von überall. Immer die Augen, die einen beobachteten, und die Stimme, die einen umfing. Ob im Schlaf oder im Wachen, bei der Arbeit oder beim Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett – es gab kein Entkommen. Und nichts, was wirklich einem selbst gehörte, außer den paar Kubikzentimetern im Innern deines Schädels.

Die Sonne war weitergezogen, und die unzähligen Fenster des Wahrheitsministeriums, auf die kein Licht mehr fiel, wirkten so düster wie die Schießscharten einer Festung. Winston sank das Herz im Angesicht der gewaltigen Pyramidenform. Diese Festung war zu stark, sie war uneinnehmbar. Eintausend Raketenbomben würden nicht reichen, sie zu Fall zu bringen. Erneut fragte er sich, für wen er das Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – für ein Zeitalter, das es vielleicht nur in der Phantasie gab? Vor ihm, da lag nicht bloß der Tod, sondern die völlige Vernichtung. Vom Tagebuch würde nur Asche übrig bleiben, von ihm selbst nur Dampf. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor sie es auslöschte und jede Erinnerung daran tilgte. Wie konnte man die Zukunft anrufen, wenn nicht die geringste Spur von einem, nicht einmal ein anonym auf ein Stück Papier gekritzeltes Wort überdauerte?

Der Teleschirm schlug vierzehn. In zehn Minuten musste er los. Um vierzehn Uhr dreißig hatte er wieder bei der Arbeit zu sein.

Seltsamerweise schien das Stundenläuten ihm neuen Mut eingeflößt zu haben. Er war ein einsamer Geist, und die Wahrheit, die er aussprach, würde niemand je hören. Aber solange er sie aussprach, bestand sie auf irgendeine Weise fort. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man bei Verstand blieb, bewahrte man das menschliche Erbe.

Er setzte sich wieder an den Tisch, tauchte den Federhalter ein und schrieb:

 

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der die Menschen verschieden sind und nicht alleine leben – an eine Zeit, in der Wahrheit existiert und man Geschehenes nicht ungeschehen machen kann:

Aus der Zeit der Gleichförmigkeit, der Zeit der Einsamkeit, der Zeit des Großen Bruders, der Zeit des Doppeldenk – seid gegrüßt!

 

Er war bereits tot, überlegte er. Es schien ihm, dass er erst jetzt, da er nach und nach lernte, seine Gedanken zu formulieren, den entscheidenden Schritt getan hatte. Die Folgen einer jeden Handlung sind Teil der Handlung selbst. Er schrieb:

 

Gedankenverbrechen hat nicht den Tod zur Folge: Gedankenverbrechen IST der Tod.

 

Nun, da er sich als Toten auf Abruf erkannt hatte, wurde es umso wichtiger, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte beschmiert. Gerade Kleinigkeiten dieser Art konnten einen verraten. Irgendeine fanatische Schnüffelnase im Ministerium (eine Frau wahrscheinlich, jemand wie die kleine Rotblonde oder die Dunkelhaarige aus der Abteilung Literatur) könnte sich fragen, wozu er während der Mittagspause schreiben musste, warum er dafür einen altmodischen Federhalter benutzte und vor allem: was er da wohl zu Papier brachte – und an zuständiger Stelle einen entsprechenden Hinweis hinterlassen.

Er ging ins Bad und wusch sich gründlich die Hände mit der groben, dunkelbraunen Seife, die wie Schmirgelpapier über die Haut rieb und daher für diesen Zweck gut geeignet war.

Er packte das Tagebuch in die Schublade. Es hatte wenig Sinn, es verstecken zu wollen, aber er konnte wenigstens Vorkehrungen treffen, um zu erkennen, ob es entdeckt worden war oder nicht. Ein über die Seitenenden gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit einer Fingerspitze nahm er einige gut zu identifizierende weißliche Staubkörner auf und platzierte sie auf einer Ecke des Buchdeckels, von der sie zwangsläufig abgeschüttelt werden würden, falls jemand das Buch bewegte.

III

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste zehn oder elf gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war groß und ziemlich still, eine klassische Schönheit mit ruhigen Bewegungen und prachtvollen blonden Haaren. An seinen Vater erinnerte er sich eher verschwommen: dunkelhaarig, mager, immer in dunkler, schicker Kleidung (ganz besonders hatte Winston noch seine sehr dünnen Schuhsohlen vor Augen), Brillenträger. Die beiden waren offenbar von einer der ersten großen Säuberungswellen in den fünfziger Jahren erfasst worden.

In diesem Traum saß seine Mutter irgendwo tief unter ihm und hatte seine kleine Schwester im Arm. An diese Schwester konnte er sich fast gar nicht erinnern, nur dass sie ein winziges, kümmerliches Baby war, immer still, mit großen, aufmerksamen Augen. Beide blickten hoch zu ihm. Sie befanden sich an irgendeinem unterirdischen Ort – auf dem Boden eines Brunnens vielleicht, oder in einem sehr tiefen Grab –, aber dieser Ort, so tief er ohnehin schon lag, bewegte sich immer noch weiter abwärts. Jetzt war es der Salon eines sinkenden Schiffes, aus dem sie durch das immer dunklere Wasser zu ihm heraufblickten. Es gab noch Luft in diesem Salon, sie konnten ihn noch sehen und er sie auch, doch die ganze Zeit sanken sie immer weiter in die grünen Tiefen des Wassers hinab, in dem sie jeden Augenblick für immer verschwinden mussten. Er selbst stand im Licht und im Freien, während sie hinab in den Tod gesaugt wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Er wusste es, und sie wussten es, und er konnte in ihren Gesichtern lesen, dass sie es wussten. Es war kein Vorwurf in ihren Augen oder in ihren Herzen, nur das Wissen darum, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bleiben konnte, und dass dies Teil der nicht hintergehbaren Ordnung der Dinge war.

Er erinnerte sich nicht, was vorher geschehen war, aber im Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und seiner Schwester auf irgendeine Weise seinem eigenen geopfert wurde. Es war einer von diesen Träumen, die zwar in typischen Traumkulissen spielen, tatsächlich aber eine Fortsetzung des bewussten Denkens sind und gewisse Tatsachen und Ideen ins Licht rücken, die auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Schlagartig wurde Winston klar, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren ein tragisches und trauriges Ereignis gewesen war, das heutzutage so nicht mehr möglich war. Tragik, begriff er, war etwas aus einer versunkenen Zeit, einer Zeit, in der es noch Liebe, Freundschaft und eine Privatsphäre gab, einer Zeit, in der die Mitglieder einer Familie einander ganz selbstverständlich beistanden, ohne einen Grund dafür haben zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter tat ihm im Herzen weh, weil sie in Liebe zu ihm gestorben war, während er noch zu jung und selbstsüchtig war, um diese Liebe zu erwidern, und weil sie sich – wie genau, wusste er nicht mehr – aufgeopfert hatte für ein persönliches, unerschütterliches Verständnis von Treue, die ihr wichtiger war als alles andere. So etwas konnte heute nicht mehr passieren. Heutzutage gab es Furcht, Hass und Schmerz, aber keine Würde des Gefühls, keinen wirklich tiefen Kummer. All dies glaubte er in den Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu erkennen, die durch das grüne Wasser zu ihm heraufblickten, aus mehreren hundert Metern Tiefe und immer noch weiter sinkend.

Plötzlich stand er auf einer kurzen, weichen Grasnarbe, es war ein Sommerabend, die schrägen Sonnenstrahlen vergoldeten den Boden ringsum. Die Landschaft, auf die er blickte, tauchte so häufig in seinen Träumen auf, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie aus der realen Welt kannte oder nicht. Im Wachzustand nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen abgefressene Wiese, über die, zwischen einigen Maulwurfshügeln hindurch, ein ausgetretener Pfad führte. Im struppigen Gehölz auf der gegenüberliegenden Feldseite schaukelten die Zweige der Ulmen sanft im Wind, das dichte Laub wogte kaum merklich wie Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, wenn auch außer Sicht, plätscherte ein klarer, träger Bach, in dessen Tümpeln unter den Weiden kleine Fische schwammen.

Die dunkelhaarige junge Frau kam quer über das Feld auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie verächtlich zur Seite. Ihr Körper war weiß und glatt, weckte aber kein Verlangen in ihm, nicht einmal genauer hinsehen mochte er. Stattdessen war er voller Bewunderung für die Geste, mit der sie die Kleidung von sich geschleudert hatte. Diese Anmut und Unbekümmerheit schien eine ganze Kultur, ein ganzes Gedankengebäude zum Einsturz zu bringen – als könnte der Große Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei einfach mit grandiosem Armschwung ins Nichts katapultiert werden. Auch diese Geste gehörte zu einer früheren Zeit. Winston erwachte mit dem Wort «Shakespeare» auf den Lippen.

Der Teleschirm gab plötzlich ein ohrenbetäubendes Pfeifen von sich, das ungefähr dreißig Sekunden lang auf gleicher Tonhöhe andauerte. Es war sieben Uhr fünfzehn, Aufstehzeit für Büroangestellte. Winston wälzte sich aus dem Bett – nackt, denn als Mitglied der Äußeren Partei erhielt er pro Jahr nur dreitausend Kleidungscoupons, und allein für einen Pyjama wurden schon sechshundert benötigt – und griff nach einem schmuddeligen Unterhemd und einem Paar Shorts, die er auf einem Stuhl abgelegt hatte. Drei Minuten noch, dann begannen die Gymnastikübungen. Im nächsten Moment krümmte er sich unter einem heftigen Hustenanfall, wie fast immer direkt nach dem Aufstehen. Anschließend war seine Lunge so gründlich leergepumpt, dass er sich flach auf den Rücken legen und tief durchschnaufen musste, um wieder zu Atem zu kommen. Vom angestrengten Husten waren die Adern angeschwollen und das Krampfadergeschwür hatte zu jucken begonnen.

«Gruppe dreißig bis vierzig!», krakeelte eine durchdringende Frauenstimme. «Gruppe dreißig bis vierzig! Auf die Plätze, bitte. Dreißiger bis Vierziger!»

Eilig nahm Winston vor dem Teleschirm Aufstellung, auf dem inzwischen eine junge, recht dürre, aber muskulöse Frau in Tunika und mit Sportschuhen aufgetaucht war.

«Arme beugen und strecken!», kommandierte sie. «Richtet euch nach meinem Tempo. Eins, zwei, drei, vier! Na los, Genossen, ein bisschen lebendiger, wenn ich bitten darf. Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! ...»

Der schmerzvolle Hustenanfall hatte die Traumeindrücke nicht völlig aus Winstons Gedanken vertreiben können, und durch die rhythmischen Gymnastikbewegungen wurden sie gewissermaßen wiederbelebt. Während er mechanisch die Arme hin und her schwenkte und dazu den Ausdruck grimmiger Freude im Gesicht trug, der für die gymnastischen Übungen allgemein als angemessen erachtet wurde, versuchte er, sich die weitgehend im Dunkeln liegende Zeit seiner frühen Kindheit ins Gedächtnis zu rufen. Das war außerordentlich schwer. Alles, was vor den späten fünfziger Jahren geschehen war, entzog sich der Erinnerung. Wenn es keine handfesten Aufzeichnungen gab, auf die man zurückgreifen konnte, verschwamm sogar der eigene Lebenslauf. Man erinnert sich an große Ereignisse, die wahrscheinlich gar nicht stattgefunden hatten, andere Geschehnisse standen einem noch im Detail vor Augen, aber die dazugehörige Stimmung ließ sich nicht wieder wachrufen, und dann gab es lange, leere Zeiträume, mit denen man gar nichts verbinden konnte. Alles war anders gewesen damals. Sogar die Namen von Ländern und ihre Umrisse auf der Landkarte. Landefeld Eins zum Beispiel hatte früher nicht so geheißen, man hatte England oder Großbritannien dazu gesagt. London allerdings, da war er sich einigermaßen sicher, war schon immer London gewesen.

Winston konnte sich nicht mit Bestimmtheit an Zeiten erinnern, in denen sein Land keinen Krieg geführt hatte, aber während seiner Kindheit musste es eine längere Friedensperiode gegeben haben, denn eine seiner frühesten Erinnerungen handelte von einem Luftangriff, der anscheinend für alle überraschend gekommen war. Vielleicht war das zu der Zeit gewesen, als die Atombombe auf Colchester gefallen war. An den Angriff selbst konnte er sich nicht erinnern, aber daran, wie sein Vater seine Hand gepackt hielt, während sie abwärts, immer weiter abwärts, an irgendeinen tiefen unterirdischen Ort eilten, immer im Kreis eine Wendeltreppe hinunter, die unter den Füßen dröhnte, bis er schließlich so müde Beine bekam, dass er zu jammern begann und sie eine Ruhepause einlegen mussten. Seine Mutter, mit ihrer gemächlichen, träumerischen Art, folgte weit hinter ihnen. Sie hatte seine kleine Schwester im Arm – oder vielleicht waren es auch nur ein paar Decken, die sie trug; er war sich nicht sicher, ob seine Schwester damals schon auf der Welt war. Am Ende waren sie an einem lärmenden, dicht bevölkerten Ort gelandet, nämlich einer U-Bahn-Station, wie ihm erst dann klarwurde.

Überall auf dem Steinfußboden kauerten Menschen, andere zwängten sich dichtgedrängt in mehrstöckigen Metallkojen. Winston, seine Mutter und sein Vater fanden einen Platz auf dem Boden, in der Nähe eines alten Mannes und einer alten Frau, die nebeneinander auf einer Koje hockten. Der alte Mann trug einen ordentlichen dunklen Anzug und eine schwarze Schirmmütze, unter der sehr weiße Haare hervorquollen; seine blauen Augen im tiefroten Gesicht standen voller Tränen. Er stank nach Alkohol. Es war, als würde er ihn über die Haut ausdünsten, anstelle von Schweiß, und man konnte sich vorstellen, dass die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen, aus reinem Gin bestanden. Doch wenn er auch zumindest angetrunken war, so litt er doch ersichtlich unter einem echten, unerträglichen Kummer. Mit seinem kindlichen Verstand erfasste Winston, dass gerade etwas geschehen sein musste, das niemals vergeben und niemals geheilt werden konnte. Er glaubte auch zu wissen, was das war. Jemand, den der alte Mann liebte, war zu Tode gekommen, vielleicht eine kleine Enkelin. In regelmäßigen Abständen wiederholte er immer wieder die gleichen Sätze:

«Wir hätten denen nich trau’n dürfen. Ich hab’s doch gesacht, Mutter, oder nich’? Das kommt davon, wenn man denen traut. Hab ich die ganze Zeit gesacht. Nie im Leben hätt’n wir den Mistkerlen trau’n dürfen.»

Aber was das für Mistkerle waren, denen sie nicht hätten trauen dürfen, das wusste Winston nicht mehr.

Ungefähr seit dieser Zeit hatte es buchstäblich ununterbrochen Krieg gegeben, wenn es auch streng genommen nicht immer derselbe Krieg war. Noch während seiner Kindheit hatten in London selbst über Monate hinweg chaotische Straßenkämpfe stattgefunden, an die er sich teilweise noch lebhaft erinnerte. Aber es war unmöglich, die Geschichte dieser Zeit im Ganzen zu rekonstruieren, zu sagen, wer in dieser oder jener Phase gegen wen gekämpft hatte, denn es gab keine schriftlichen Aufzeichnungen oder mündlichen Berichte, die je etwas anderes erwähnten als die Konstellation, wie sie heute bestand. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beispielsweise, also 1984 (falls man sich wirklich im Jahr 1984 befand), führte Ozeanien Krieg gegen Eurasien und war mit Ostasien verbündet. Weder öffentlich noch im privaten Gespräch wurde jemals zugegeben, dass die drei Mächte sich irgendwann einmal in anderer Gruppierung gegenübergestanden hätten. Tatsächlich wusste Winston aber sehr genau, dass Ozeanien noch vor vier Jahren im Bündnis mit Eurasien Krieg gegen Ostasien geführt hatte. Allerdings stand er ganz allein mit diesem heimlichen Wissen, das er nur zufällig besaß, weil die Kontrolle über sein Gedächtnis gewisse Lücken aufwies. Offiziell hatte es den Wechsel der Bündnisse nie gegeben. Ozeanien befand sich im Krieg mit Eurasien, also hatte Ozeanien sich schon immer im Krieg mit Eurasien befunden. Der aktuelle Feind repräsentierte immer das absolute Böse, und daraus folgte, dass jedes Übereinkommen mit ihm, ob in der Vergangenheit oder in der Zukunft, absolut undenkbar war.

Das eigentlich Beängstigende, überlegte er zum zehntausendsten Mal, während er die Schultern zurückbog, bis es weh tat (die Hände auf die Hüften gestützt, ließen sie den Oberkörper kreisen, eine Übung, die angeblich gut für die Rückenmuskulatur war) – das eigentlich Beängstigende also war, dass all das wahr sein konnte. Wenn die Partei einfach in die Vergangenheit eingreifen und von diesem oder jenem Ereignis sagen konnte: Es hat nie stattgefunden – dann war das doch sicherlich noch furchterregender als Folter und Tod?

Die Partei sagte, Ozeanien sei nie mit Eurasien verbündet gewesen. Er, Winston Smith, wusste, dass es vor gerade mal vier Jahren noch ein Bündnis zwischen Ozeanien und Eurasien gegeben hatte. Aber wo existierte dieses Wissen? Einzig und allein in seinem Bewusstsein, und das würde ohnehin eher früher als später ausgelöscht werden. Und wenn alle anderen die von der Partei verordnete Lüge akzeptierten – wenn alle Quellen und Aufzeichnungen dieselbe Erzählung lieferten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit. «Wer die Vergangenheit kontrolliert», so lautete der Slogan der Partei, «der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit.» Und dennoch war die Vergangenheit, obwohl ihrer Natur nach veränderbar, nie verändert worden. Alles, was heute die Wahrheit war, war die Wahrheit vom Anfang bis zum Ende aller Zeiten. Es war ganz simpel. Es brauchte nichts weiter als eine niemals endende Siegesserie im Kampf gegen die eigene Erinnerung. «Realitätskontrolle», nannten sie es; in Neusprech: «Doppeldenk».

«Steht bequem!», bellte die Übungsleiterin, im Ton jetzt ein bisschen freundlicher.

Winston ließ die Arme sinken und saugte langsam Luft in seine Lunge zurück. Seine Gedanken irrten ab in die labyrinthische Welt des Doppeldenk. Zu wissen und nicht zu wissen, sich der vollen Wahrheit bewusst zu sein und trotzdem ausgefeilte Lügen zu verbreiten; zwei Meinungen, die sich gegenseitig ausschließen, gleichzeitig zu vertreten, zu wissen, dass sie einander widersprechen, und dennoch an beide zu glauben; mit Logik gegen die Logik anzugehen, die Moral zu verwerfen und sich gleichzeitig auf sie zu berufen, zu glauben, dass Demokratie unmöglich und die Partei die Hüterin der Demokratie sei; zu vergessen, was aktuell vergessen werden muss, und es dann in die Erinnerung zurückzuzerren, wenn es wieder gebraucht wird, um es bald darauf erneut zu vergessen – und, das vor allem: dieses gleiche Verfahren auf das Verfahren selbst anzuwenden. Raffinierter ging es wirklich nicht: sich bewusst der Bewusstlosigkeit hinzugeben und dann wiederum den Akt der Hypnose, den man soeben vollführt hat, aus dem Bewusstsein zu streichen. Um das Wort «Doppeldenk» auch nur zu verstehen, musste man schon Doppeldenk betreiben.

Die Trainerin hatte die nächste Übungsrunde ausgerufen. «Jetzt wollen wir doch mal sehen, wer von uns mit den Fingern an seine Zehen herankommt!», verkündete sie begeistert. «Aus der Hüfte nach unten beugen, Genossen. Eins-zwei! Eins-zwei! …»

Winston hasste diese Übung, die ihm einen stechenden Schmerz von den Fersen bis hinauf zum Hintern bescherte und oft genug auf einen weiteren Hustenanfall hinauslief. Auch seine Grübeleien machten ihm zusehends weniger Freude. Die Vergangenheit, überlegte er, war nicht lediglich verändert, sie war tatsächlich zerstört worden. Denn wie sollte man auch nur die offensichtlichsten Tatsachen nachweisen, wenn es außerhalb des eigenen Gedächtnisses keine Aufzeichnungen davon gab?

Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum ersten Mal vom Großen Bruder gehört hatte. Es musste irgendwann in den sechziger Jahren gewesen sein, aber sicher sein konnte er sich beim besten Willen nicht. In der Geschichtsschreibung der Partei wurde der Große Bruder natürlich als Führer und Hüter der Revolution seit ihren frühesten Anfängen dargestellt. Seine vielen Heldentaten waren nach und nach immer weiter vorverlegt worden, bis sie sogar in die märchenhafte Welt der dreißiger und vierziger Jahre zurückreichten, als noch die Kapitalisten mit ihren seltsamen Zylinderhüten in großen glänzenden Automobilen oder verglasten Pferdedroschken durch die Straßen von London kutschiert waren. Unmöglich zu sagen, wie viel an diesen Legenden der Wahrheit entsprach und was reine Erfindung war. Winston erinnerte sich nicht einmal mehr an das genaue Datum der Parteigründung. Seines Wissens war ihm das Wort Engsoz vor 1960 niemals begegnet, er wollte jedoch nicht ausschließen, dass es in seiner Altsprech-Version – also als «Englischer Sozialismus» – schon vorher in Gebrauch gewesen war. Alles verschwamm im Nebel des Ungewissen. Manchmal gelang es aber tatsächlich, eine eindeutige Lüge dingfest zu machen. Zum Beispiel war es, anders als die Geschichtsbücher der Partei behaupteten, nicht wahr, dass die Partei das Flugzeug erfunden hatte. Aus seiner frühesten Kindheit konnte er sich noch an Flugzeuge erinnern. Aber das ließ sich nicht beweisen. Es gab nie Beweise für irgendetwas. Ein einziges Mal in seinem ganzen Leben hatte er einen untrüglichen dokumentarischen Beleg über die Verfälschung einer historischen Tatsache in Händen gehalten. Und zu diesem Anlass –

«Smith!», schrie die zänkische Stimme aus dem Teleschirm. «6079 Smith W! Ja, du! Tiefer runterbeugen, bitte! Das kannst du besser. Du gibst dir keine richtige Mühe. Tiefer, bitte! So ist es besser, Genosse. Und jetzt steht bequem, ihr alle, und seht her zu mir.»

Winston war der Schweiß aus allen Poren gebrochen. Sein Gesicht blieb trotzdem vollkommen ausdruckslos. Lass dir nie deinen Schrecken anmerken! Oder deinen Ärger! Ein bloßes Augenzucken konnte einen verraten. Er sah gehorsam zu, wie die Übungsleiterin die Arme über den Kopf hob, sich vornüberbeugte – nicht unbedingt elegant, aber doch bemerkenswert sauber und geschickt – und die Fingerspitzen unter ihre Zehen schob.

«Da, Genossen! So möchte ich das von euch sehen. Guckt noch mal, wie ich es mache. Ich bin neununddreißig und hab vier Kinder zur Welt gebracht. Passt auf.» Sie beugte sich erneut vornüber. «Ihr seht, dass meine Knie nicht einknicken. Das könnt ihr auch, ihr müsst nur wollen», fuhr sie fort, während sie sich wieder aufrichtete. «Jeder unter fünfundvierzig ist ohne weiteres imstande, seine Zehen zu berühren. Wir besitzen nicht alle das Privileg, in vorderster Reihe zu kämpfen, aber wenigstens können wir uns alle fit halten. Denkt an unsere Jungs an der Malabar-Front! Und an die Matrosen in der Schwimmenden Festung! Überlegt einmal, was die alles aushalten müssen. Jetzt versucht es noch mal. So ist besser, Genosse, viel besser», fügte sie aufmunternd hinzu, während Winston es mit geradezu übermenschlicher Anstrengung schaffte, seine Finger bei durchgestreckten Knien an die Zehen zu bekommen, zum ersten Mal seit Jahren.

IV

Mit einem tiefen, unwillkürlichen Seufzer, vor dem selbst die Nähe des Teleschirms ihn nicht bewahren konnte, wenn er sich morgens an die Arbeit setzte, zog Winston den Sprechschreiber zu sich heran, blies den Staub von der Muschel und setzte seine Brille auf. Dann entrollte er die vier kleinen Papierzylinder, die bereits aus der Rohrpoströhre auf der rechten Seite seines Schreibtisches geplumpst waren, und heftete sie zusammen.

In den Wänden der Kabine befanden sich drei Öffnungen. Zweimal Rohrpost: rechts vom Sprechschreiber eine zum Empfang von schriftlichen Mitteilungen, links eine größere für Zeitungen. Und in der Seitenwand, mit der Hand bequem zu erreichen, ein großer, länglicher, von einem Drahtgitter geschützter Schlitz. Dieser diente der Entsorgung von Papier. Ähnliche Schlitze gab es zu Tausenden oder Zehntausenden im ganzen Gebäude, nicht nur in jedem Bürosaal, sondern alle paar Meter auch auf jedem Flur. Inoffiziell wurden sie als Erinnerungslöcher bezeichnet. Wusste man, dass ein bestimmtes Schriftstück zur Vernichtung bestimmt war, oder sah man auch nur einen Fetzen Altpapier auf dem Boden liegen, öffnete man ganz automatisch die Klappe des nächsten Erinnerungsloches und warf den Abfall hinein, der daraufhin von einem Strom warmer Luft davongewirbelt wurde, um in einem der riesigen Öfen zu landen, die sich irgendwo in den Tiefen des Gebäudes verbargen.

Winston begutachtete die vier Papierstreifen, die er glattgestrichen hatte. Alle enthielten eine Mitteilung von nur einer oder zwei Zeilen, in dem Kürzeljargon – kein richtiges Neusprech, aber mit allerlei Neusprech-Vokabeln durchsetzt –, der im Ministerium für interne Zwecke verwendet wurde. Sie lauteten:

times 17.3.84 gb rede fehlberichtet afrika richtigstellen

times 19.2.83 prognosen 3jp 4. quartal 83 druckfehler richtigstellen aktuelle ausgabe

times 14.2.84 minifluss fehlzitiert Schokolade richtigstellen

times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppelplusungut bezug auf unpersonen vollmäßig neuschreib hochreich präarch

Mit leiser Genugtuung legte Winston den vierten Streifen beiseite. Das war eine verzwickte und verantwortungsvolle Aufgabe, mit der er sich am besten als Letztes befasste. Die anderen drei waren Routineangelegenheiten, auch wenn er sich für die zweite wahrscheinlich durch irgendwelche Zahlenkolonnen würde kämpfen müssen.