1984 - George Orwell - E-Book + Hörbuch

1984 E-Book

George Orwell

5,0

Beschreibung

George Orwells großer dystopischer Klassiker in meisterhafter Neuübersetzung 1948 beendete George Orwell nach dreijähriger Arbeit seinen letzten Roman, der ihn weltberühmt machen sollte: »1984« schildert eine Welt, in der ein totalitärer Überwachungsstaat das Leben der Menschen bis ins Letzte bestimmt. Was Orwell, neben der sowjetischen Realität, noch als bedrohliche Perspektive sah, ist heute längst Wirklichkeit geworden, wenngleich es nicht (nur) Regierungen, sondern vor allem Konzerne sind, die uns aushorchen und beeinflussen. Frank Heibert legt mit seiner Neuübertragung einen ebenso mutigen wie souveränen Text vor, der die Bezeichnung übersetzerisches Meisterwerk rechtfertigt – die definitive Ausgabe von »1984« für das 21. Jahrhundert.

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1984

George Orwell

Inhalt

Teil I

Teil II

Teil III

Teil 1

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 1

ES WAR ein heller, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn. Winston Smith drückte das Kinn an die Brust, um den harschen Wind abzuhalten. So schlüpfte er schnell durch die Glastür des Victory-Wohnblocks - jedoch nicht schnell genug, um ohne einen Wirbel körnigen Staubs einzutreten.

Im Flur hing der Geruch von gekochtem Kohl und alten Matten. An seinem Ende war ein für Innenräume eigentlich zu großes, farbiges Poster an der Wand angebracht. Darauf war lediglich ein über einen Meter breites, riesiges Gesicht abgebildet: das Gesicht eines etwa fünfundvierzig-jährigen, gutaussehenden Mannes mit markanten Zügen und einem kräftigen schwarzen Schnurrbart. Winston ging auf die Treppe zu. Es war sinnlos, den Aufzug zu probieren.

Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er nur selten, und aktuell war der Strom tagsüber abgestellt. Das war Teil der Sparmaßnahmen im Rahmen der Vorbereitung für die Hasswoche. Zur Wohnung musste man sieben Treppen hochlaufen und Winston, der neununddreißig Jahre alt war und ein Geschwür über seinem rechten Fußknöchel hatte, ging gemächlich und hielt auf dem Weg mehrfach inne. Auf jedem Treppenabsatz starrte, gegenüber vom Aufzug, das riesige Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, welche so entworfen sind, dass die Augen dir folgen, wenn du dich bewegst. Darunter stand der Schriftzug DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH.

In der Wohnung verlas eine angenehme Stimme eine Liste von Zahlen, die etwas mit der Roheisenproduktion zu tun hatten. Die Stimme kam von einerlänglichen Metallplatte, die einem trüben Spiegel glich und einen Teil der Oberfläche der rechten Wand bildete.Winston betätigte einen Schalter, woraufhin die Stimme etwas leiser wurde, wobei die Worte noch verständlich waren. Das Gerät (genannt wurde es "der Teleschirm") konnte leiser, nicht jedoch komplett abgestellt werden. Er ging hinüber zum Fenster - er hatte eine eher kleine, fragile Figur, sein magerer Körper wurde von den blauen Overalls, welche die Uniform der Partei darstellten, nur umso mehr betont. Sein Haar war recht blond, sein Gesicht von Natur aus lebhaft, seine Haut rau vom Kontakt mit körniger Seife und stumpfen Rasierklingen sowie von dem kalten Winter, der gerade vorüber war.

Die Welt draußen sah kalt aus, auch durch die Scheibe des geschlossenen Fensters. Unten auf der Straße blies der Wind Staub und Papierfetzen in Wirbeln umher und obwohl die Sonne schien und der Himmel in ein strenges Blau gefärbt war, schien alles farblos zu sein, außer den Postern, die überall an den Wänden hingen. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte von jeder dominanten Ecke herab. Eines der Plakate hing an der direkt gegenüberliegenden Hausfront. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH lautete der Text und die dunklen Augen schauten tief in die von Winston. Tiefer, auf Höhe der Straße, flatterte ein weiteres Poster unruhig im Wind, wobei das einzige Wort ENGSOZ abwechselnd auf- und zugedeckt wurde. In weiter Ferne flog ein Helikopter zwischen den Hausdächern hindurch, verharrte einen kurzen Moment schwebend in der Luft wie eine Fliege, um dann in einer Kurve davonzuflitzen. Es war die Polizeistreife, die durch die Fenster bei den Leuten herumschnüffelte. Doch die Streife war unwichtig. Wichtig war bloß die Gedankenpolizei.

Hinter Winstons Rücken faselte die Stimme aus dem Teleschirm noch immer etwas über Roheisen und die Übererfüllung des neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm empfing und sendete simultan. Jedes Geräusch, das Winston verursachte - sofern es lauter war als ein leises Flüstern - wurde von dem Gerät aufgeschnappt. Darüber hinaus konnte er nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden, solange er sich in dem von der Metallplatte abgedeckten Bereich aufhielt. Natürlich konnte man nicht wissen, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtet wurde. Wie oft, oder nach welchem Muster, die Gedankenpolizei sich beim jeweiligen Individuum einschaltete, war reine Spekulation. Es war sogar denkbar, dass sie jeden einzelnen rund um die Uhr beobachteten. Sicher war jedenfalls, dass sie sich bei dir einschalten konnten, wann immer sie wollten. Du musstest unter der Annahme leben - aus Gewohnheit wurde Instinkt -, dass jedes deiner Geräusche mitgehört und jede deiner Bewegungen, außer in der Dunkelheit, genau geprüft wurde.

Winston hielt dem Teleschirm den Rücken zugewandt. Das war sicherer, obwohl auch ein Rücken aufschlussreich sein konnte, wie ihm wohl bewusst war. Einen Kilometer entfernt ragte das enorme weiße Wahrheitsministerium, sein Arbeitsplatz, über der schmutzigen Umgebung empor. Das - so dachte er mit einer Art unspezifischem Abscheu -, das war London, Hauptort von Luftstützpunkt Eins, welcher wiederum bei den Provinzen von Ozeanien bezüglich der Bevölkerungsgröße an dritter Stelle stand. Er versuchte seinen Kindheitserinnerungen zu entlocken, ob London wohl immer so gewesen war. Hatte es immer diese Reihen vermodernder Häuser aus dem 19. Jahrhundert gegeben, deren Seiten mit Holzbalken verstärkt, deren Fenster mit Pappe und deren Dächer mit Wellblech ausgebessert waren und deren wackelige Gartentrennmauern in alle Richtungen nachgaben? Und die zerbombten Stellen, wo Putzstaub durch die Luft wirbelte und Weidenröschen auf Schutthaufen wucherten; und die Orte, wo die Bomben größere Flächen leergefegt hatten und wo Kolonien von schäbigen Holzbehausungen aufgesprossen waren, die Hühnerställen glichen? Aber es half nichts, er konnte sich nicht erinnern - nichts war von seiner Kindheit geblieben, abgesehen von einer Reihe grell beleuchteter Bilder, zu denen es keinen Hintergrund gab und die zum Großteil unverständlich waren.

Das Wahrheitsministerium - auf Neusprech Wahrmini [Neusprech war die offizielle Sprache Ozeaniens. Für einen Abriss ihrer Struktur und Etymologie, siehe Anhang.] - unterschied sich auffallend von jedem anderen Objekt im Sichtkreis. Es war eine enorme pyramidale Struktur aus glänzend weißem Beton und erhob sich Stockwerk für Stockwerk 300 Meter hoch in die Luft. Von Winstons Standort aus konnte man nur die drei Parteislogans lesen, die aus dem weißen Hintergrund in stilvollen Buchstaben hervorstachen:

KRIEG IST FRIEDEN. FREIHEIT IST SKLAVEREI.

UNWISSEN IST STÄRKE.

Es hieß, das Wahrheitsministerium habe dreitausend Zimmer über der Erde und ebenso viele darunter. In ganz London gab es ansonsten nur noch drei andere Gebäude von vergleichbarer Erscheinung und Größe. Sie überragten die sie umgebende Architektur derart, dass man vom Victory-Wohnblock aus alle vier gleichzeitig im Blick hatte. Sie waren die Sitze der vier Ministerien, in die der gesamte Regierungsapparat unterteilt war. Das Wahrheitsministerium, welches sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und den bildenden Künsten beschäftigte. Das Friedensministerium, welches mit Krieg befasst war. Das Liebesministerium, welches für Recht und Ordnung sorgte. Und das Wohlstandsministerium, welches für wirtschaftliche Belange zuständig war. Ihre Namen in Neusprech lauteten: Wahrmini, Paxmini, Liebmini und Wohlmini.

Das wirklich furchterregende von ihnen war das Liebesministerium. Es hatte überhaupt keine Fenster. Winston hatte das Liebesministerium nie betreten und sich ihm nicht einmal auf einen halben Kilometer genähert. Man konnte das Gebäude unmöglich betreten, es sei denn für dienstliche Angelegenheiten, und auch dann nur durch das Passieren eines Gewirrs von Stacheldrahtgeflechten, Stahltüren und verborgenen Maschinengewehrnestern. Selbst die zu seinen äußeren Schranken hinführenden Straßen wurden patroulliert von schwarz uniformierten Wächtern mit Gorillagesichtern, die mit Schlagstöcken bewaffnet waren.

Winston drehte sich abrupt um. Er hatte einen Ausdruck von ruhigem Optimismus aufgesetzt, was ratsam war, wenn man das Gesicht dem Teleschirm zugewandt hatte. Er durchquerte das Zimmer und ging in die winzige Küche. Dadurch, dass er das Ministerium zu dieser Zeit verlassen hatte, hatte er sein Mittagessen in der Kantine geopfert und es war ihm bewusst, dass es in der Küche außer einem Brocken Schwarzbrot, welchen er sich für das morgige Frühstück aufheben musste, nichts zu essen gab. Er nahm eine Flasche farbloser Flüssigkeit mit einem einfachen weißen Aufkleber des Schriftzugs

 VICTORY GIN vom Regal. Sie gab einen unangenehmen, öligen Geruch ab, der dem von chinesischem Reisschnaps glich. Winston goss sich fast eine ganze Tasse voll ein, bereitete sich auf einen Schock vor und würgte es herunter wie eine Dosis Medizin.

Sofort lief sein Gesicht scharlachrot an und seine Augen begannen zu tränen. Das Zeug war wie Salpetersäure und wenn man es herunterschluckte, fühlte es sich an, als würde man mit einem Gummiknüppel einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Doch im nächsten Augenblick legte sich das brennende Gefühl in seinem Bauch und die Welt begann, etwas heiterer auszusehen. Er nahm eine Zigarette aus einer zerdrückten Schachtel der Marke VICTORY ZIGARETTEN und hielt sie unaufmerksamerweise senkrecht, woraufhin der Tabak auf den Boden fiel. Bei der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links vom Teleschirm stand. Aus der Schublade nahm er einen Federhalter, ein Tintenglas und ein leeres Buch im Quartformat mit rotem Rücken und marmoriertem Cover.

Aus irgendeinem Grund war der Teleschirm im Wohnzimmer an einer seltsamen Stelle angebracht. Anstatt, wie üblich, an der hinteren Wand montiert zu sein, von wo aus er den ganzen Raum hätte abdecken können, hing er an der Längswand gegenüber vom Fenster. Zu seiner einen Seite befand sich eine kleine Nische, in der Winston jetzt saß, die aber wohl ursprünglich beim Wohnungsbau für ein Bücherregal vorgesehen gewesen war. Indem er in der Nische saß und sich zurücklehnte, konnte Winston der Reichweite des Teleschirms entgehen, zumindest in Bezug auf das Visuelle. Natürlich konnte er noch gehört werden, doch solange er an seiner aktuellen Stelle blieb, war er nicht zu sehen. Zum Teil hatte ihn der eigenartige Aufbau des Zimmers auf das gebracht, was er nun zu tun vorhatte.

Zum anderen war er aber auch durch das Buch, welches er soeben aus der Schublade genommen hatte, auf den Gedanken gekommen. Es war ein besonders schönes Buch. Sein glattes, cremefarbenes Papier - altersbedingt ein wenig vergilbt -, war von einer Art, die seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Er konnte sich jedoch vorstellen, dass das Buch noch deutlich älter war. Er hatte es im Schaufenster eines verstaubten, kleinen Ramschladens

 in einem Elendsviertel der Stadt (in welchem Viertel genau, wusste er nicht mehr) liegen sehen und es hatte ihn sogleich ein überwältigendes Verlangen gepackt, es zu besitzen. Von Parteimitgliedern wurde erwartet, keine normalen Geschäfte zu betreten (das wurde "Teilnahme am freien Markt" genannt), doch diese Regel wurde nicht strikt umgesetzt, denn bestimmte Dinge, wie Schnürsenkel oder Rasierklingen, waren auf anderem Weg gar nicht zu bekommen. Er hatte zwei mal kurz die Straße rauf und runter geguckt, sich dann hineingeschlichen und das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Zu diesem Zeitpunkt war er sich nicht bewusst gewesen, es für irgendeinen speziellen Zweck haben zu wollen. Schuldbewusst hatte er es in seinem Aktenkoffer heim getragen. Selbst ohne dass etwas darin geschrieben stand, war es kompromittierender Besitz.

Das, was er zu tun vorhatte, war, ein Tagebuch zu beginnen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, denn Gesetze gab es nicht mehr), doch wenn er erwischt werden würde, würde es ziemlich sicher mit dem Tod oder wenigstens fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeitslager bestraft werden.

Winston steckte eine Schreibfeder in den Füllhalter und befeuchtete sie, um die Tintenreste loszuwerden. Die Feder war ein archaisches Utensil und wurde selbst für Unterschriften nur selten benutzt. Er hatte sich nur deswegen heimlich und nicht ohne Schwierigkeiten eine besorgt, weil er das Gefühl hatte, dass das schöne, cremige Papier es verdient hatte, von einer richtigen Feder beschrieben zu werden, anstatt dass bloß mit einem Tintenstift darauf gekratzt wurde. Eigentlich war er nicht gewohnt, per Hand zu schreiben. Von kurzen Notizen abgesehen, diktierte man üblicherweise alles in den Sprechschreiber, was aber für sein jetziges Anliegen natürlich ausgeschlossen war. Er tauchte die Feder in die Tusche und zögerte dann für einen kleinen Moment. Ein Zucken war durch seine Eingeweide geschossen. Der entscheidende Akt bestand darin, das Papier zu beschriften. In kleinen plumpen Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich nach hinten. Ein Empfinden völliger Hilflosigkeit überkam ihn. Zuerst einmal wusste er nicht genau, ob es gerade das Jahr 1984 war. Es musste ungefähr dieses Jahr sein, da er sich ziemlich sicher war, dass sein Alter neununddreißig betrug und er meinte, 1944 oder 1945 geboren zu sein. Doch heutzutage war es nie möglich, ein Datum auf ein oder zwei Jahre genau zu bestimmen.

 Für wen, so fragte er sich plötzlich, schrieb er dieses Tagebuch eigentlich? Für die Zukunft, für die noch Ungeborenen. Sein Verstand verweilte einen Augenblick lang bei dem fraglichen Datum auf der Seite, um dann mit einem Aufprall gegen das Neusprechwort DOPPELDENK zu stoßen. Zum ersten Mal realisierte er das Ausmaß seines Unterfangens. Wie konnte man mit der Zukunft kommunizieren? Es war naturgemäß unmöglich. Entweder würde die Zukunft der Gegenwart gleichen, in welchem Fall sie ihm nicht zuhören würde - oder sie würde sich von ihr unterscheiden, und seine missliche Lage wäre dann unbedeutend.

Eine Zeit lang saß er da und starrte dumm auf das Papier. Der Teleschirm war zu schriller Militärmusik übergegangen. Es war sonderbar - er hatte anscheinend nicht nur die Fähigkeit verloren, sich auszudrücken, sondern auch vergessen, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Wochenlang hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er noch irgendetwas anderes brauchen würde, außer Mut. Das Schreiben an sich würde einfach sein. Er brauchte lediglich den unaufhörlichen, ruhelosen Monolog, der buchstäblich seit Jahren in seinem Kopf abgelaufen war, auf Papier zu übertragen. Doch in diesem Augenblick hatte sich selbst der Monolog verflüchtigt. Zudem hatte sein Geschwür unerträglich zu jucken angefangen. Er wagte es nicht, daran zu kratzen - denn wenn er das tat, entzündete es sich immer. Die Sekunden verstrichen. Ihm war nichts bewusst als das Leersein der vor ihm liegenden Seite, das Jucken der Haut über seinem Knöchel, das Plärren der Musik und die leichte Beschwipstheit von dem Gin.

Mit einem Mal begann er geradezu panisch mit dem Schreiben, wobei er sich des von ihm Geschriebenen nur zum Teil im Klaren war. Seine kleine, aber kindliche Handschrift schweifte quer über die Seite, wobei sie erst die Großbuchstaben und dann sogar die Punkte unter den Tisch fallen ließ:

4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Alles Kriegsfilme. Ein sehr guter über ein Schiff voller Flüchtlinge irgendwo auf dem Mittelmeer, das bombardiert wird. Publikum sehr erheitert über Aufnahmen von einem großen, fetten Mann, der davonschwimmt und einen Helikopter hinter sich hat, erst sah man ihn sich imWasser vorwärts wälzen wie ein Schweinswal, dann sah man ihn durch das Visier des Helikopters, dann war er durchlöchert und das Meer um ihn herum wurde rosa und dann sank er so schnell, als ob die Löcher das Wasser hineingelassen hätten, das Publikum brüllte vor Lachen, als er unterging. dann sah man ein rettungsboot voller kinder mit einem darüber schwebendem helikopter.  da war eine frau mittleren alters vielleicht eine jüdin die im bug saß mit einem kleinen jungen von ungefähr drei jahren in den armen. kleiner junge schreit vor angst und versteckt seinen kopf zwischen ihren brüsten als wolle er sich regelrecht in sie eingraben und die frau legt ihre arme um ihn und tröstet ihn obwohl sie selbst bleich vor angst war, bedeckt ihn die ganze zeit so gut wie möglich als ob sie glauben würde dass ihre arme die kugeln von ihm abhalten könnten. dann warf der helikopter eine 20 kilo bombe zwischen sie ein gewaltiges aufblitzen und das boot wurde komplett in fetzen gerissen. dann war da eine fantastische aufnahme von einem kinderarm der hoch hoch hoch in die luft ging ein helikopter mit kamera an der vorderseite muss ihn verfolgt haben und es gab einen großen applaus von den parteisitzen aber eine frau aus dem proletenteil des hauses machte auf einmal ein großes theater und rief das sollten sie nich zeigen vor kinder sie haben nich es is nich richtig nich vor kinder es is nich bis die polizei sie raus sie rausbrachte ich schätze ihr ist nichts passiert es interessiert keinen was die proleten sagen typische proletenreaktion die werden nie -

Winston hörte mit dem Schreiben auf, zum Teil, weil er einen Krampf hatte. Er wusste nicht, was ihn dazu gebracht hatte, diesen Fluss von Müll auszugießen. Doch das Erstaunliche war, dass sich ihm eben dabei eine ganz andere Erinnerung wieder in seinem Bewusstsein aufgehellt hatte, so sehr, dass es sich fast so anfühlte, als habe er sie aufgeschrieben. Es war, wie ihm nun klar wurde, aufgrund dieses anderen Vorfalls gewesen, dass er auf einmal beschlossen hatte, nach Hause zu gehen und das Tagebuch heute zu beginnen.

Es war an diesem Morgen im Ministerium passiert, wenn man von etwas so Nebulösem sagen konnte, dass es passiert war.

Es war fast elf, und in der Aktenabteilung, wo Winston arbeitete, zerrten sie in Vorbereitung der Zwei Minuten Hass die Stühle aus den Büros und versammelten sie in der Mitte der Halle gegenüber des Teleschirms. Winston nahm gerade in einer der mittleren Reihen Platz, als zwei Personen, die er zwar vom Sehen her kannte, mit denen er aber noch nie gesprochen hatte, unerwartet den Raum betraten. Eine der beiden war eine junge Frau, der er häufig auf dem Flur begegnete. Ihren Namen kannte er nicht, wusste aber, dass sie in der Fiktionsabteilung arbeitete. Vermutlich - da er sie mitunter mit schmierigen Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen hatte - arbeitete sie als Mechanikerin an einer der Romanschreibe-Maschinen. Sie sah selbstsicher aus, ungefähr siebenundzwanzig, hatte kräftiges Haar und Sommersprossen im Gesicht und bewegte sich flink und athletisch. Eine schmale scharlachrote Schärpe, das Emblem der Anti-Sex Juniorliga, hatte sie sich mehrfach über ihren Overall um die Taille gebunden, gerade eng genug, um die Form ihrer Hüften zu unterstreichen. Sie war Winston vom ersten Sehen an unsympathisch gewesen. Den Grund kannte er. Es lag an der Atmosphäre der Hockey-Felder, der kalten Bäder und Gemeinschaftswanderungen und dem generellen sauberen Denken, das sie mit sich umherzutragen vermochte. Er hatte eine Abneigung gegen fast alle Frauen, besonders gegen junge und hübsche. Es waren immer die Frauen, und vor allem die jungen, die die engstirnigsten Parteianhänger waren, die die Slogans aufsogen, die als Amateurspione Unorthodoxes aufspürten. Doch dieses Mädchen schien ihm gefährlicher zu sein als die meisten. Als sie sich einmal im Flur begegnet waren, hatte sie ihm einen kurzen Seitenblick zugeworfen, der ihn regelrecht durchbohrt und einen Moment lang mit blanker Panik erfüllt hatte. Es war ihm sogar in den Sinn gekommen, dass sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das war, zugegeben, ziemlich unwahrscheinlich. Und trotzdem verspürte er ein eigenartiges Unbehagen, das sowohl aus Angst als auch aus Feindseligkeit bestand, wann immer sie sich in seiner Nähe befand.

Die andere Person war ein Mann namens O'Brien, ein Mitglied der Inneren Partei, der irgendein so wichtiges und entferntes Amt innehatte, dass Winston von dessen Art nur eine vage Ahnung hatte. Ein kurzes Säuseln lief durch die Gruppe von Leuten, die um die Stühle versammelt waren, als sie den schwarzen Overall eines herannahenden Mitglieds der Inneren Partei sahen. O'Brien war ein großer, stattlicher Mann mit einem kräftigen Nacken und einem rauen, heiteren, brutalen Gesicht. Trotz seiner respekteinflößenden Erscheinung hatte seine Art einen gewissen Charme. Er pflegte die Brille auf seiner Nase so geschickt zurecht zu rücken, dass es seltsam entwaffnend wirkte - auf eine unbeschreibliche Art, seltsam zivilisiert. Es war eine Geste, die einen - wenn denn noch jemand in solchen Begriffen gedacht hätte - vielleicht an einen Edelmann aus dem 18. Jahrhundert erinnert hätte, der jemandem seine Schnupftabakdose anbietet. Winston hatte O'Brien vielleicht ein Dutzend Mal in ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich stark von ihm angezogen, und nicht nur wegen des Kontrasts zwischen O'Briens kultiviertem Auftreten und seiner Boxerstatur. Vielmehr war es aufgrund einer geheimen Überzeugung - oder vielleicht keiner Überzeugung, sondern nur einer Hoffnung -, dass O'Briens politische Orthodoxie nicht vollkommen war. Etwas in seinem Gesicht legte dies unwiderstehlich nahe. Und vielleicht war es noch nicht einmal Unorthodoxie, die in sein Gesicht geschrieben stand, sondern schlicht Intelligenz. Doch auf jeden Fall sah er so aus wie jemand, mit dem man reden konnte, wenn man nur irgendwie den Teleschirm austricksen und mit ihm allein sein konnte. Winston hatte nie den kleinsten Versuch unternommen, diese Vermutung zu bestätigen - tatsächlich gab es keine Möglichkeit, dies zu tun. In diesem Moment sah O'Brien auf seine Armbanduhr, sah, dass es bald elf war und entschied sich offenbar dafür, in der Aktenabteilung zu bleiben, bis die Zwei Minuten Hass vorüber sein würden. Er setzte sich auf einen Stuhl in Winstons Reihe, ein paar Plätze von ihm entfernt. Eine kleine Frau mit sandfarbenem Haar, die im Büro neben dem von Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Direkt dahinter saß das Mädchen mit dem dunklen Haar.

Unmittelbar danach brach aus dem großen Teleschirm am Ende des Raums eine scheußliche, zermürbende Rede hervor, wie von einer monströsen Maschine, die ohne Öl lief. Es war ein Geräusch, das einen mit den Zähnen knirschen ließ und bei dem sich einem die Nackenhaare sträubten. Der Hass hatte begonnen.

Wie üblich war das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Feind des Volkes, auf dem Schirm aufgeflackert. Im Publikum war hier und da ein Zischen zu vernehmen. Die kleine Frau mit dem sandfarbenen Haar gab ein aus Angst und Abscheu gemischtes Quieken von sich. Goldstein war der Abtrünnige und Überläufer, der früher einmal, vor langer Zeit (vor wie langer Zeit wusste keiner mehr so genau) eine der Führungspersonen der Partei gewesen war, fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst, der dann aber an konterrevolutionären Aktivitäten teilgenommen hatte, zum Tode verurteilt worden und dann mysteriös entkommen und verschwunden war. Das Programm der Zwei Minuten Hass variierte von Tag zu Tag, doch es gab keine Sendung, bei der Goldstein nicht die Hauptfigur war. Er war der oberste Verräter, der erste, der die Reinheit der Partei befleckt hatte. Alle nachfolgenden Verbrechen gegen die Partei, jeder Verrat, jede Sabotagehandlung, Irrlehre und Abweichung entsprang direkt seiner Lehre. Er war noch immer irgendwo da draußen und brütete seine Verschwörungen aus: vielleicht irgendwo in Übersee unter dem Schutz seiner ausländischen Zahlmeister, oder vielleicht - dieses Gerücht machte zuweilen die Runde - sogar in irgendeinem Versteck in Ozeanien selbst.

Winstons Zwerchfell verspannte sich. Er konnte das Gesicht Goldsteins nicht sehen, ohne dabei eine schmerzvolle Mixtur von Emotionen zu erleben. Es war ein dünnes jüdisches Gesicht mit einem weißen, wuscheligen Haarkranz und einem kleinen Ziegenbart - ein kluges Gesicht, und doch irgendwie inhärent verachtenswürdig, eine Art senilen Schwachsinns lag in der langen, dünnen Nase, an deren Ende eine Brille saß. Es glich dem Gesicht eines Schafs, und auch die Stimme hatte etwas Schafartiges an sich. Goldstein ließ seinen üblichen giftigen Angriff gegen die Lehren der Partei los - einen Angriff, der so überzogen und verdreht war, dass selbst ein Kind es hätte erkennen müssen, und doch gerade plausibel genug, um einem das beunruhigende Gefühl zu geben, dass andere, weniger vernünftige Leute als man selbst, vielleicht davon verführt werden könnten. Er beleidigte den Großen Bruder, er verurteilte die Diktatur der Partei, er forderte einen sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, er warb für das Recht der freien Meinungsäußerung, für Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Gedankenfreiheit, er schrie hysterisch, dass die Revolution verraten worden sei - und all das in einer sehr schnellen, vielsilbigen Rede, die in gewisser Weise eine Parodie des üblichen Stils der Parteiredner war und sogar Neusprechwörter enthielt: tatsächlich sogar mehr Neusprechwörter, als ein Parteimitglied jemals wirklich gebrauchen würde. Und die ganze Zeit über - damit kein Zweifel über die Realität hinter Goldsteins trügerischem Geschwätz bestehen konnte - marschierten auf dem Teleschirm hinter seinem Kopf endlose Reihen der eurasischen Armee: eine Reihe nach der anderen von strammen Männern mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, welche bis an den Rand des Schirms fluteten und dann verschwanden, um durch andere ersetzt zu werden, die ihnen exakt glichen. Das eintönige, rhythmische Stampfen der Soldatenstiefel formte den Hintergrund zu Goldsteins blökender Stimme.

Noch bevor die ersten dreißig Sekunden des Hasses verstrichen waren, erschollen von der Hälfte der im Raum befindlichen Leute unkontrollierte Wutrufe. Das selbstgefällige, schafsähnliche Gesicht auf dem Schirm und die furchterregende Macht der eurasischen Armee dahinter waren zu viel, um ertragen werden zu können - zudem erzeugten der schiere Anblick Goldsteins und selbst der Gedanke an ihn bereits automatisch Angst und Zorn. Er war ein konstanteres Hassobjekt als Eurasien oder Ostasien, denn wenn sich Ozeanien im Krieg mit einer dieser Mächte befand, hatte es generell Frieden mit der anderen. Doch das Seltsame war, dass - obschon Goldstein von jedermann gehasst und verachtet wurde und seine Theorien täglich und tausend Mal am Tag auf Bühnen, auf dem Teleschirm, in Zeitungen und in Büchern widerlegt, zerschmettert, verspottet und dem allgemeinen Blick als der erbärmliche Müll präsentiert wurden, der sie waren - trotz alledem schien sein Einfluss niemals abzunehmen. Es gab immer neue Idioten, die nur darauf warteten, von ihm verführt zu werden. Kein Tag verging, an dem keine Spione und Saboteure von der Gedankenpolizei enttarnt wurden, die unter seiner Leitung agierten. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, einem Untergrundnetzwerk von Verschwörern, die dem Umsturz des Staates verschrieben waren. Die Bruderschaft, so lautete angeblich ihr Name. Es gab auch heimlich erzählte Geschichten über ein furchtbares Buch, einer Sammlung aller Irrlehren, dessen Autor Goldstein war und welches hier und da im Verborgenen zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute nannten es, wenn überhaupt, ganz einfach DAS BUCH. Doch von diesen Dingen wusste man nur durch schwammige Gerüchte. Weder die Bruderschaft noch DAS BUCH waren ein Thema, welches ein gewöhnliches Parteimitglied erwähnte, wenn es vermieden werden konnte.

In der zweiten Minute steigerte sich der Hass zur Raserei. Die Leute zappelten auf ihren Stühlen auf und ab und riefen so laut sie konnten, um die wahnsinnig machende Blökstimme, die vom Schirm kam, zu ersticken. Die kleine sandfarben-haarige Frau war hellrosa angelaufen und ihr Mund klappte auf und zu wie bei einem gestrandeten Fisch. Selbst O'Briens schweres Gesicht war rot gefärbt. Er saß sehr aufrecht auf seinem Stuhl, seine mächtige Brust wölbte sich und bebte, als ob er einer anstürmenden Welle standhalten würde. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte angefangen "Schwein! Schwein! Schwein!" zu schreien und plötzlich nahm sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch und warf es gegen den Schirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte ab - die Stimme fuhr unerbittlich fort. In einem klaren Moment stellte Winston fest, dass er mit den anderen mitrief und kräftig mit der Ferse gegen den Querstab seines Stuhls trat. Das Schreckliche an den Zwei Minuten Hass war nicht, dass man seine Rolle spielen musste, sondern, dass es unmöglich war, nicht miteinzustimmen. Nach dreißig Sekunden war jedes Vorgaukeln unnötig. Eine abscheuliche Ekstase von Angst und Rachsucht, dem Verlangen zu töten, zu foltern und Gesichter mit einem Hammer einzuschlagen schien die ganze Menschengruppe zu durchfließen wie elektrischer Strom, und machte einen sogar gegen den eigenen Willen zu einem Grimassen schneidenden, schreienden Wahnsinnigen. Und dabei war der Grimm, den man verspürte, ein abstraktes, ungerichtetes Gefühl, welches vom einen Objekt auf das nächste gerichtet werden konnte, wie die Flamme einer Lötlampe. So war Winstons Hass im einen Moment gar nicht gegen Goldstein gerichtet, sondern, ganz im Gegenteil, gegen den Großen Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei; und in solchen Momenten fühlte er sich dem einsamen, verhöhnten Häretiker auf dem Schirm verbunden, dem einzigen Wächter der Wahrheit und der Vernunft in einer Welt von Lügen. Und dennoch war er bereits im nächsten Augenblick eins mit den Menschen um ihn herum,  und alles das, was über Goldstein gesagt wurde, schien ihm wahr zu sein. In solchen Momenten verwandelte sich seine heimliche Verachtung dem Großen Bruder gegenüber in Bewunderung, und der Große Bruder schien emporzuragen als ein unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der den Horden Asiens wie ein Fels standhielt, und Goldstein, trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit und dem Zweifel, der über seiner Existenz im Ganzen hing, erschien wie ein verruchter Beschwörer, der durch die schiere Macht seiner Stimme dazu imstande war, die Struktur der Gesellschaft zu zerstören.

Es war sogar, jedenfalls manchmal, möglich, den eigenen Hass mit Absicht in die eine oder andere Richtung umzuschalten. Plötzlich gelang es Winston durch die Art gewaltsamer Anstrengung, mit der man bei einem Alptraum seinen Kopf vom Kissen reißt, seinen Hass vom Gesicht auf dem Schirm auf das dunkelhaarige Mädchen hinter ihm umzulenken. Lebhafte, schöne Halluzinationen flammten in seiner Vorstellung auf. Er würde sie mit einem Gummiknüppel totprügeln. Er würde sie nackt an einen Pfahl binden und sie mit Pfeilen voll schießen wie den heiligen Sebastian. Er würde sie vergewaltigen und ihr beim Klimax die Kehle durchschneiden. Und mehr als zuvor wurde ihm außerdem klar, WARUM er sie eigentlich hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und asexuell war, weil er mit ihr ins Bett wollte, es aber nie tun würde, weil um ihre süße, geschmeidige Taille, die dich darum zu bitten schien, sie mit deinem Arm zu umfassen, bloß die widerliche scharlachrote Schärpe gebunden war, das aggressive Symbol der Enthaltsamkeit.

Der Hass stieg auf seinen Höhepunkt. Die Stimme Goldsteins war zu einem tatsächlichen Schafsblöken geworden und für einen Augenblick hatte sich das Gesicht in das eines Schafs verwandelt. Dann zerschmolz das Schafsgesicht in den Körper eines großen und angsteinflößenden eurasischen Soldaten, der sich zu nähern schien und den Eindruck erweckte, als würde er mit seiner dröhnenden Maschinenpistole durch die Oberfläche des Schirms gesprungen kommen, sodass manche der Leute in den vorderen Reihen tatsächlich auf ihren Stühlen zurückwichen. Doch genau dann stießen alle einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als die feindliche Figuer in das Gesicht des Großen Bruders zerschmolz - mit seinem scharzen Haar, seinem schwarzen Schnurrbart, voller Kraft und geheimnisvoller Ruhe, und so riesig, dass es beinahe den Schirm ausfüllte. Niemand hörte, was der Große Bruder sagte. Es waren lediglich ein paar Worte der Ermunterung, die Art von Worten, die während des Schlachtgetöses gesprochen werden, die nicht einzeln verstanden werden, aber die Zuversicht allein dadurch erneuern, dass sie ausgesprochen werden. Dann verging das Gesicht des Großen Bruders wieder und an seiner Stelle standen in fetten Großbuchstaben die drei Parteislogans:

KRIEG IST FRIEDEN. FREIHEIT IST SKLAVEREI.

UNWISSEN IST STÄRKE.

Doch das Gesicht des Großen Bruders schien noch einige Sekunden auf dem Schirm zu verharren, als wäre der Eindruck, den es auf den Augen aller hinterlassen hatte, zu lebhaft, um sofort zu vergehen. Die kleine sandfarben-haarige Frau hatte sich nach vorne über die Lehne des Stuhls vor ihr geworfen. Mit einem zittrigen Murmeln, welches wie "Mein Retter!" klang, streckte sie die Arme in Richtung des Schirms aus. Dann vergrub sie das Gesicht zwischen ihren Händen. Es war offensichtlich, dass sie ein Gebet sprach.

In diesem Augenblick brach die gesamte Gruppe in einen tiefen, langsamen und rhythmischen Gesang des Inhalts "G-B!...G-B!" aus - immer und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem "G" und dem "B" - ein schwerer, murmelnder Klang, irgendwie sonderbar barbarisch, in dessen Hintergrund man das Stampfen nackter Füße und das Trommeln auf Tamtams zu hören schien. Sie fuhren vielleicht dreißig Sekunden lang damit fort. Es war ein Refrain, den man häufig in Momenten überwältigender Emotionen hören konnte. Teils war es eine Art Hymne an die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, doch noch mehr als das war es ein Akt der Selbst-Hypnose, ein absichtliches Ertränken des Bewusstseins durch rhytmischen Lärm. Kälte schien in Winstons Eingeweide zu fahren. In den Zwei Minuten Hass konnte er nicht anders, als sich dem allgemeinen Delirium anzuschließen, doch dieser untermenschliche Gesang von "G-B!...G-B!" erfüllte ihn immer mit Entsetzen. Natürlich hatte er mit dem Rest mitgesungen - es war unmöglich, das nicht zu tun. Gefühle vorzutäuschen, das Gesicht zu beherrschen, zu tun, was alle anderen taten, war instinktives Handeln. Doch für die Dauer weniger Sekunden hatten seine Augen einen Ausdruck, der ihn womöglich verraten hätte. Und es war exakt jetzt, dass das Bedeutsame geschah - sofern es denn wirklich geschah.

Sein Blick traf kurz auf den von O'Brien. O'Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade dabei, sie wieder mit seiner charaktaristischen Gestik auf seiner Nase zurechtzurücken. Doch für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Augen, und in dieser Zeit wusste Winston - ja, er WUSSTE es! -, dass O'Brien das selbe dachte wie er selbst. Eine unmissverständliche Botschaft war übermittelt worden. Es war, als hätte sich ihr Bewusstsein geöffnet und als seien die Gedanken durch die Augen vom einen zum anderen geflossen. "Ich bin bin mit dir," schien O'Brien ihm zu sagen. "Ich weiß genau, was du fühlst. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass, deine Abscheu. Doch keine Sorge, ich bin auf deiner Seite!" Und dann war der Nachrichtenblitz vorüber und O'Briens Gesicht war wieder so undurchschaubar wie das von allen anderen.

Das war alles, und jetzt war er sich schon wieder unsicher, ob es überhaupt stattgefunden hatte. Auf solche Vorkommnisse folgte nie etwas. Sie bewirkten lediglich, dass in ihm der Glaube, die Hoffnung lebendig blieb, dass noch andere außer ihm Feinde der Partei waren. Vielleicht waren die Gerüchte über riesige Untergrund-Verschwörungen wirklich wahr - vielleicht gab es die Bruderschaft wirklich! Man konnte trotz der endlosen Festnahmen, Geständnisse und Hinrichtungen nicht sicher sein, dass die Bruderschaft nicht einfach ein Mythos war. Es gab keine festen Indizien, bloß flüchtige Eindrücke, die etwas bedeuten konnten oder auch nicht: Fetzen aufgeschnappter Gespräche, blasse Kritzeleien auf Toilettenwänden - einmal sogar, als sich zwei Fremde begegneten, eine kleine Handbewegung, die so ausgesehen hatte, als hätte sie ein Erkennungszeichen sein können. Es war alles Spekulation: Sehr wahrscheinlich hatte er sich alles eingebildet. Er war zurück in sein Büro gegangen, ohne noch einmal zu O'Brien zu blicken. Die Idee, ihrem kurzen Kontakt etwas folgen zu lassen, kam ihm kaum in den Sinn. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er es hätte angehen können. Für eine Sekunde, zwei Sekunden, hatten sie einen gegenseiten Blick ausgetauscht, und das war das Ende der Geschichte. Doch selbst das war ein denkwürdiges Ereignis, in der verschlossenen Einsamkeit, in der man leben musste.

Winston rüttelte sich wach und setzte sich gerader hin. Er stieß einen Rülpser aus. Der Gin stieg aus  seinem Magen auf.

Seine Augen fokussierten wieder die Seite. Er erinnerte sich, dass er, während er hilflos dagesessen und nachgesonnen hatte, dabei auch geschrieben hatte, wie automatisch. Und es war nicht mehr die selbe verkrampfte, merkwürdige Handschrift wie zuvor. Seine Feder war lüstern über das glatte Papier geschweift und hatte in großen, schönen Großbuchstaben geschrieben -

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER.

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

immer und immer wieder, eine halbe Seite voll.

Er konnte nicht anders, als ein panisches Stechen zu spüren. Das war absurd, denn das Schreiben dieser speziellen Worte war nicht gefährlicher als das ursprüngliche Eröffnen des Tagebuchs, doch für einen Moment war er versucht, die beschmutzten Seiten herauszureißen und das Unterfangen komplett aufzugeben.

Doch er tat es nicht, denn er wusste, dass es sinnlos war. Ob er nun NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER schrieb, oder ob er es nicht schrieb - das machte keinen Unterschied. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr, oder ob er nicht mit ihm fortfuhr - es machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so bekommen. Er hatte das essenzielle Verbrechen begangen, welches alle anderen in sich einschloss, und das hätte er auch dann, wenn er niemals das Papier mit der Feder berührt hätte. Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen waren nichts, was für immer verborgen bleiben konnte. Du konntest vielleicht erfolgreich eine Zeit lang ausweichen, sogar über Jahre, doch früher oder später mussten sie dich bekommen.

Es war immer nachts - die Festnahmen geschahen unausweichlich bei Nacht. Plötzlich wachgerissen werden, die Hand, die grob an deiner Schulter rüttelte, das Licht, das dir in die Augen grellte, der Ring harter Gesichter um dein Bett herum. Bei der großen Mehrheit der Fälle gab es keinen Prozess, keinen Bericht über die Festnahme. Die Leute verschwanden einfach, immer während der Nacht. Dein Name wurde aus den Registern entfernt, alle Aufzeichnungen, von allem, was du jemals getan hattest, wurde ausgelöscht, deine einstige Existenz wurde geleugnet und dann vergessen. Du wurdest abgeschafft, vernichtet: VAPORISIERT war das übliche Wort.

Für einen Augenblick wurde er von einer Art Hysterie ergriffen. Er begann in einem übereilten, unsauberen Gekritzel zu schreiben:

sie werden mich erschießen mir egal sie werden mir ins genick schießen mir egal beim großen bruder schießen sie dir immer ins genick mir egal nieder mit dem großen bruder -

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück - er schämte sich etwas über sich selbst - und legte die Feder nieder. Im nächsten Moment fuhr er gewaltig auf. Da war ein Klopfen an der Tür

So schnell! Er saß still wie eine Maus da in der zwecklosen Hoffnung, dass wer immer da war, nach dem ersten Versuch wieder verschwinden würde. Aber nein, das Klopfen wiederholte sich. Das Schlimmste von allem wäre jetzt Aufschub. Sein Herz pochte wie eine Trommel, doch sein Gesicht war - aus langer Gewohnheit - vermutlich ausdruckslos. Er stand auf und schritt stürmisch zur Tür.

Kapitel 2

ALS ER MIT der Hand zum Türknopf griff, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand dort überall, in Buchstaben, die beinahe groß genug waren, um selbst von der anderen Seite des Zimmers aus lesbar zu sein. Es war unfassbar dumm, das getan zu haben. Doch, so wurde ihm klar, selbst in seiner Panik hatte er nicht gewollt, dass das cremige Papier dadurch beschmiert würde, dass er das Buch zuklappte, während die Tinte noch feucht war.

Er atmete durch und öffnete die Tür. Ihn durchfloss unmittelbar eine warme Welle der Erleichterung. Eine farblose, zerdrückt aussehende Frau mit dünnem Haar und gezeichnetem Gesicht stand da draußen.

"Ach, Genosse," setzte sie mit einer tristen, weinerlichen Stimme an, "ich dachte, ich hätte Sie reinkommen hören. Meinen Sie, Sie könnten mal 'rüber kommen und sich die Spüle in unserer Küche ansehen? Sie ist verstopft und - "

Es war Frau Parsons, die Frau des Nachbarn auf demselben Flur. (Die Partei hörte die Anrede "Frau" nicht gerne - jeder sollte "Genosse" genannt werden - doch manche Frauen sprach man instinktiv so an.) Sie war eine Frau von ungefähr dreißig Jahren, sah aber viel älter aus. Man hatte den Eindruck, in den Falten ihres Gesichts sei Staub abgelagert. Winston folgte ihr den Flur entlang. Mit diesen Amateur-Reparaturen musste er sich fast täglich herumplagen. Der Victory-Wohnblock bestand aus alten Wohnungen, die etwa um 1930 herum gebaut worden waren und nun langsam zerfielen. Ständig rieselte Putz von Decken und Wänden und bei jedem starken Frost barsten die Rohre, das Dach leckte

 immer, wenn es Schnee gab und das Heizungssystem lief für gewöhnlich auf halber Flamme, wenn es nicht aus wirtschaftlichen Gründen ganz abgeschaltet war. Reparaturen mussten - es sei denn, du konntest sie selbst übernehmen - von entfernten Kommissionen genehmigt werden, welche dazu neigten, selbst das Reparieren einer Fensterscheibe zwei Jahre lang aufzuschieben.

"Es ist natürlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist," sagte Frau Parsons undeutlich. Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und ganz besonders schäbig. Alles sah verbeult, zertrampelt aus, als sei hier gerade ein gewaltiges wildes Tier zu Besuch gewesen. Sportutensilien - Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein aufgeplatzter Fußball, ein Paar auf links gedrehter verschwitzter Shorts - lagen überall auf dem Boden verteilt und auf dem Tisch herrschte ein Chaos aus schmutzigem Geschirr und Schulbüchern mit geknickten Seiten. An den Wänden hingen scharlachrote Banner der Jugendliga und der Spione und ein enormes Plakat des Großen Bruders. Der übliche Geruch gekochten Kohls, der dem ganzen Haus gemein war, hing in der Luft. Doch er war durchzogen von dem schärferen Schweißgestank, welcher - das wusste man beim ersten Schnüffeln, obwohl man schwer sagen konnte, warum - vom Schweiß einer gerade nicht anwesenden Person kam. In einem anderen Zimmer versuchte jemand mit einem Kamm und einem Stück Toilettenpapier, mit der noch immer vom Teleschirm ausgehenden Militärmusik mitzuhalten.

"Es sind die Kinder," sagte Frau Parsons, indem sie einen leicht besorgten Blick zur Tür warf. "Sie waren heute noch nicht draußen. Und natürlich - "

Sie hatte die Gewohnheit, ihre Sätze in der Mitte abzubrechen. Die Spüle war fast bis zum Rand gefüllt mit schmutzigem, grünlichem Wasser, welches schlimmer denn je nach Kohl roch. Winston kniete sich hin und untersuchte den Verbindungswinkel des Rohrs. Er hasste es, seine Hände zu gebrauchen, und er hasste es, sich herunterzubeugen, was ihn immer zum Husten brachte. Frau Parsons sah hilflos zu.

"Wenn Tom zu Hause wär, würde er es natürlich sofort wieder in Ordnung bringen," sagte sie. "Er liebt solche Sachen. Er ist so geschickt mit seinen Händen, der Tom."

Parsons war Winstons Kollege beim Wahrheitsministerium. Er war ein dicklicher, aber aktiver Mann von lähmender Dummheit, eine Masse dämlichen Enthusiasmus - einer jener niemals hinterfragenden, hingebungsvollen Sklaven, von welchen die Stabilität der Partei abhing, mehr noch als von der Gedankenpolizei. Mit fünfunddreißig war er gerade unfreiwillig aus der Jugendliga ausgeschlossen worden, und bevor er in die Jugendliga aufgestiegen war, hatte er es geschafft, ein Jahr über das vorgeschriebene Alter hinaus bei den Spionen zu bleiben. Beim Ministerium war er für einen untergeordneten Posten eingeteilt, für den keine Intelligenz nötig war, doch andererseits war er eine Führungsperson im Sportkomitee und allen anderen Komitees, die mit der Organisation von Gemeinschaftswanderungen, spontanen Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwilligen Aktivitäten im Allgemeinen beschäftigt waren. Er informierte dich mit ruhigem Stolz - wobei er zwischendurch Rauchwolken von seiner Pfeife ausblies -, dass er während der letzten vier Jahre jeden Abend im Gemeinschaftszentrum erschienen war. Ein überwältigender Schweißgeruch, eine Art unbewusstes Zeugnis seines anstrengenden Lebens, folgte ihm überall hin und blieb sogar hinter ihm zurück, wenn er bereits verschwunden war.

"Haben Sie einen Schraubenschlüssel?" fragte Winston, während er an der Mutter des Verbindungswinkels hantierte.

"Einen Schraubenschlüssel," sagte Frau Parsons, wobei sie sofort eingeschüchtert war. "Ich weiß nicht, bestimmt. Die Kinder könnten - "

Dann hörte man Stiefelgetrampel und einen weiteren Trompetenstoß auf dem Kamm, als die Kinder ins Wohnzimmer stürmten. Frau Parsons brachte den Schraubenschlüssel herbei. Winston ließ das Wasser ab und entfernte angewidert den Klumpen von Menschenhaar, der das Rohr blockiert hatte. Er wusch seine Finger so gut er es mit dem kalten Wasser aus dem Hahn konnte und ging dann in das andere Zimmer zurück.

"Heb deine Hände hoch!" brüllte eine schroffe Stimme.

Ein schöner, zäh wirkender Bursche von neun Jahren war hinter dem Tisch aufgetaucht und bedrohte ihn mit einer Spielzeug-Maschinenpistole, während seine kleine Schwester, etwa zwei Jahre jünger, mit einem Stück Holz die gleiche Geste machte. Die beiden waren bekleidet mit den blauen Shorts, grauen Hemden und roten Halstüchern, die die Uniform der Spione bildeten. Winston hob die Hände über seinen Kopf, jedoch mit einem beklemmenden Gefühl - das Auftreten des Jungen war so feindselig, dass es kein richtiges Spiel war.

"Du bist ein Verräter!" rief der Junge. "Du bist ein Gedankenverbrecher! Du bist ein eurasischer Spion! Ich erschieße dich, ich vaporisiere dich, ich schicke dich in die Salzminen!"

Auf einmal sprangen sie beide um ihn herum und riefen "Verräter!" und "Gedankenverbrecher!", wobei das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders imitierte. Es war irgendwie leicht unheimlich, wie das Herumtollen von Tigerjungen, die bald zu Menschenfressern heranwachsen werden. Da war so etwas wie berechnende Grausamkeit in den Augen des Jungen, ein leises, offenkundiges Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten und das Bewusstsein, schon fast groß genug zu sein, es zu tun. Winston dachte bei sich, dass er von Glück reden konnte, dass die Pistole in der Hand des Jungen nicht echt war.

Frau Parsons' Augen wanderten nervös von Winston zu den Kindern und wieder zurück. Im besseren Licht des Wohnzimmers stellte er mit Interesse fest, dass sie tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts hatte.

"Sie werden so laut," sagte sie. "Sie sind enttäuscht, weil sie nicht das Erhängen anschauen gehen konnten, das ist es. Ich bin zu beschäftigt, um sie dahin zu bringen. Und Tom ist nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück."

"Warum können wir nicht das Erhängen gucken gehen?" brüllte der Junge mit seiner kräftigen Stimme.

"Wollen das Erhängen sehen! Wollen das Erhängen sehen!" begann das kleine Mädchen zu singen, immer noch im Kreis hüpfend.

Einige eurasische Gefangene, die Kriegsverbrechen begangen hatten, sollten an diesem Abend im Park erhängt werden, wie Winston einfiel. Das passierter etwa einmal im Monat und war ein beliebtes Spektakel. Kinder verlangten stets lautstark, dorthin mitgenommen zu werden. Er verabschiedete sich von Frau Parsons und ging Richtung Tür. Doch er war noch keine sechs Schritte den Flur hinunter gegangen, als etwas auf sein Genick traf und einen durchdringenden Schmerz verursachte. Es war, als hätte man ihn mit rotglühenden Draht durchstochen. Er drehte sich noch gerade rechtzeitig um, um sehen zu können, wie Frau Parsons ihren Sohn zurück in den Wohnungseingang zerrte, während der Junge eine Schleuder in die Tasche steckte.

"Goldstein!" schrie der Junge, als sich die Tür vor ihm schloss. Doch was Winston am meisten traf, war der Ausdruck hilfloser Angst auf dem gräulichen Gesicht der Frau.

Zurück in der Wohnung schritt er schnell am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, sich noch immer den Nacken reibend. Die Musik vom Teleschirm hatte aufgehört. Stattdessen verlas eine abgehackte Militärstimme, mit einer Art brutalem Vergnügen, eine Beschreibung der neuen Waffen der Schwimmenden Festung, welche soeben zwischen Island und den Färöer

geankert hatte.

Mit diesen Kindern, dachte er, musste diese elende Frau ein Leben des Schreckens führen. Noch ein, zwei Jahre und sie würden sie Tag und Nacht belauern, um Symptome der Unorthodoxie zu entdecken. Beinahe alle Kinder heutzutage waren furchtbar. Das Schlimmste von allem war, dass sie durch Organisationen wie die Spione systematisch zu unkontrollierbaren kleinen Barbaren gemacht wurden, und doch rief dies in ihnen absolut keine Neigung hervor, gegen die Partei und alles, was mit ihr zu tun hatte, zu rebellieren. Im Gegenteil, sie verehrten die Partei und alles im Zusammenhang mit ihr. Die Lieder, die Prozessionen, die Banner, das Wandern, der Drill mit Modellgewehren, das Brüllen von Slogans, die Anbetung des Großen Bruders - das war alles wie ein glorreiches Spiel für sie. All ihre Aggressivität wurde nach außen gerichtet, gegen die Feinde des Staates, gegen Fremde, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war schon fast normal für Leute über dreißig, vor ihren eigenen Kindern Angst zu haben. Und mit gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in welcher die "Times" nicht einen Abschnitt darüber enthielt, dass irgendein lauschender kleiner Schnüffler - "Kinderheld" war der gebräuchliche Begriff dafür - eine kompromittierende Bemerkung mitgehört und seine Eltern bei der Gedankenpolizei beschuldigt hatte.

Der stechende Schmerz des Schleudergeschosses hatte sich gelegt. Halbherzig griff er zu seiner Feder und fragte sich, ob ihm noch etwas einfallen würde, das er in das Tagebuch schreiben könnte. Plötzlich begann er wieder an O'Brien zu denken. Vor Jahren - wie lange war es her? Es mussten sieben Jahre gewesen sein - hatte er geträumt, wie er durch einen pechschwarzen Raum ging. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte, als er vorüberging, gesagt: "Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit ist." Das war sehr leise, fast schon beiläufig, gesagt worden - eine Aussage, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne  anzuhalten. Kurios war, dass die Worte zu dem Zeitpunkt, im Traum, keinen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später und schrittweise schienen sie an Bedeutung gewonnen zu haben. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob er O'Brien das erste Mal vor oder nach dem Traum begegnet war, noch wusste er mehr, wann er zuerst die Stimme als die von O'Brien identifiziert hatte. Doch in jedem Fall exisitierte diese Identifikation. Es war O'Brien gewesen, der zu ihm aus der Dunkelheit gesprochen hatte.

Winston hatte sich nie sicher fühlen können - selbst nach dem Augenkontakt von heute Morgen war es noch immer unmöglich, sicher zu sein, ob O'Brien ein Freund oder ein Feind war. Auch schien es keinen großen Unterschied zu bedeuten. Es gab eine Verbindung von Verständnis zwischen ihnen, wichtiger als Zuneigung oder Parteilichkeit. "Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit ist." hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was es bedeutete, bloß, dass es auf die eine oder andere Art wahr werden würde.

Die Stimme vom Teleschirm hielt inne. Ein klares, schönes Trompetensignal fuhr in die träge Luft. Die Stimme fuhr krächzend fort:

"Achtung! Ihre Aufmerksamkeit bitte! Eine Eilmeldung ist soeben von der malabarischen Front eingetroffen. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich darf Ihnen sagen, dass die Handlung, von der wir jetzt berichten, das Ende des Krieges in greifbare Nähe bringen wird. Hier ist die Eilmeldung - "

Schlechte Nachrichten, dachte Winston. Und tatsächlich, nach einer brutalen Beschreibung der Vernichtung der eurasischen Armee, mit enormen Zahlen von Getöteten und Gefangenen, kam die Ankündigung, dass ab nächster

 Woche die Schokoladenration von dreißig Gramm auf zwanzig reduziert werden würde.

Winston rülpste wieder. Der Gin verflüchtigte sich und ließ dabei ein Gefühl der Leere zurück. Der Teleschirm - vielleicht um den Sieg zu feiern, vielleicht um den Gedanken an die verlorene Schokolade zu ersticken - ging schlagartig zur Hymne "Ozeanien, Für dich allein" über. Es wurde erwartet, dass man dazu stillstand. Doch in seiner derzeitigen Position war er unsichtbar.

"Ozeanien, Für dich allein" wurde von seichterer Musik abgelöst. Winston ging zum Fenster hinüber, dem Teleschirm den Rücken zugewandt. Der Tag war noch immer kalt und klar. Irgendwo in der Ferne explodierte eine Raketenbombe mit einem dumpfen, nachhallendem Grollen. Zur Zeit fielen ungefähr zwanzig oder dreißig davon auf London.

Unten auf der Straße ließ der Wind das zerrissene Plakat hin und her flattern und das Wort ENGSOZ erschien und verschwand dabei fortwährend. Engsoz. Die heiligen Prinzipien von Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Wandelbarkeit der Vergangenheit. Er fühlte sich, als wanderte er durch das Gewucher des Meeresbodens, verloren in einer monströsen Welt, in der er selbst das Monster war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft war unvorstellbar. Welche Sicherheit hatte er, dass ein einziges, jetzt lebendes menschliches Geschöpf auf seiner Seite war? Und wie konnte er wissen, dass die Vorherrschaft der Partei nicht FÜR IMMER fortdauern würde? Die drei Slogans auf der weißen Oberfläche des Wahrheitsministeriums kamen ihm, wie eine Antwort, wieder in den Sinn:

KRIEG IST FRIEDEN. FREIHEIT IST SKLAVEREI.

UNWISSEN IST STÄRKE.

Er nahm ein Fünfundzwanzig-Centstück aus seiner Tasche. Auch hier waren in winziger, klarer Schrift dieselben Slogans eingraviert, und auf der anderen Seite der Münze der Kopf des Großen Bruders. Selbst von der Münze aus verfolgten die Augen dich. Auf Münzen, auf Briefmarken, auf Buchdeckeln, auf Bannern, auf Plakaten und auf der Hülle von Zigarettenschachteln - überall. Ständig beobachteten dich die Augen und umgab dich die Stimme. Schlafend oder wach, beim Arbeiten oder Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett - es gab kein Entkommen. Nichts gehörte dir selbst, bis auf die paar Kubikzentimeter in deinem Schädel.

Die Sonne war weitergewandert und die Myriaden von Fenstern des Wahrheitsministeriums sahen, da das Licht nicht mehr auf sie schien, düster aus wie die Schießscharten einer Festung. Sein Herz sank vor der emormen pyramidalen Struktur. Sie war zu stark und konnte nicht erstürmt werden. Tausend Raketenbomben würden sie nicht zerschlagen können. Wieder fragte er sich, für wen er das Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit - für eine Zeit, die imaginär sein mochte. Und vor ihm lag nicht der Tod, sondern Vernichtung. Das Tagebuch würde zu Asche verbrannt und er selbst vaporisiert werden. Bloß die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor sie die Existenz des Buchs und die Erinnerung an ihn auslöschen würde. Wie könnte er einen Appell an die Zukunft richten, wenn keine Spur von ihm, noch nicht einmal ein auf ein Stück Papier gekritzeltes anonymes Wort, physisch überleben konnte?

Der Teleschirm schlug vierzehn Uhr. Er musste in zehn Minuten los. Um vierzehn dreißig musste er zurück bei der Arbeit sein.

Kurioserweise hatte das Tönen der Uhrzeit ihm anscheinend neuen Mut gegeben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit aussprach, die niemand jemals hören würde. Aber solange er sie aussprach, war die Verbindung auf irgendeine obskure Weise nicht unterbrochen. Nicht dadurch, dass man sich Verhör verschaffte, sondern dadurch, dass man vernünftig blieb, hielt man das menschliche Erbe aufrecht. Er ging zum Schreibtisch zurück, befeuchtete seine Feder und schrieb:

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der die Menschen unterschiedlich von einander sind und nicht alleine leben - an eine Zeit, in der es die Wahrheit gibt und in der das Geschehene nicht ungeschehen werden kann: Aus der Ära der Gleichförmigkeit, aus der Ära der Einsamkeit, aus der Ära des Großen Bruders, aus der Ära des Doppeldenks - Grüße!

Er war schon tot, reflektierte er. Es schien ihm, dass er erst jetzt, als er begonnen hatte, seine Gedanken ausformulieren zu können, den entscheidenden Schritt gemacht hatte. Die Folgen einer jeden Tat sind in der Tat selbst miteingeschlossen. Er schrieb:

Gedankenverbrechen beinhaltet den Tod nicht - Gedankenverbrechen IST der Tod.

Jetzt, da er sich selbst als toten Mann erkannt hatte, wurde es wichtig, solange wie möglich am Leben zu bleiben. An zwei Fingern seiner rechten Hand klebte Tinte. Das war genau die Art von Detail, das dich verraten konnte. Irgendein umherspähender Eiferer im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau - jemand wie die kleine sandfarben-haarige Frau oder das dunkelhaarige Mädchen aus der Fiktionsabteilung) könnte sich fragen, warum er denn während der Mittagspause geschrieben hatte, warum er eine altmodische Feder benutzt hatte, WAS er geschrieben hatte - und dann bei der zuständigen Stelle einen Hinweis abliefern. Εr ging ins Badezimmer und schrubbte sorgfältig mit der körnigen dunkelbraunen Seife die Tinte ab, die deine Haut raspelte wie Sandpapier und daher bestens zu diesem Unterfangen passte.

Er verstaute das Tagebuch in der Schublade. Es war ziemlich zwecklos, es verstecken zu wollen, doch zumindest konnte er feststellen, ob seine Existenz entdeckt worden war. Ein über die Seitenenden gelegtes Haar war zu auffällig. Mit seiner Fingerspitze nahm er ein wiedererkennbares weißliches Staubkörnchen auf und deponierte es an der Ecke des Buchdeckels, von wo es herunterfallen musste, wenn das Buch bewegt wurde.

Kapitel 3

WINSTON TRÄUMTE VON seiner Mutter.

Er musste, so dachte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwunden war. Sie war eine hochgewachsene, wohlgeformte, recht ruhige Frau mit langsamen Bewegungen und prachtvollem, schönem Haar. An seinen Vater erinnerte er sich ungenauer als dunkel und dünn, stets in schicke schwarze Sachen gekleidet (Winston hatte besonders noch die äußerst dünnen Sohlen der Schuhe seines Vaters im Gedächtnis) und Brille tragend. Die beiden mussten wohl in einer der ersten großen Säuberungsaktionen in den Fünfzigern geschluckt worden sein.

Nun saß seine Mutter an einer Stelle tief unter ihm mit seiner jüngeren Schwester in ihren Armen. Er konnte sich gar nicht an seine Schwester erinnern, außer als kleines, schwächliches Baby, immer still und mit großen, aufmerksamen Augen. Die zwei sahen zu ihm hinauf. Sie befanden sich an einem unterirdischen Ort - dem Grund eines Brunnens zum Beispiel, oder einem sehr tiefen Grab -, doch es war ein Ort, welcher, obwohl er bereits weit unter ihm lag, sich selbst noch weiter abwärts bewegte. Sie waren im Salon eines sinkenden Schiffes und sahen ihn durch das verdunkelnde Wasser hindurch an. Im Salon war noch Luft, sie konnten ihn noch immer sehen und er sie, doch währenddessen sanken sie immerzu tiefer, tief ins grüne Wasser, welches sie jeden Moment für immer der Sichtbarkeit entziehen würde. Er war draußen im Licht und an der Luft, während sie hinunter in den Tod geschlungen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Er wusste es und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern sehen. Es war keine

 Beschuldigung, weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen, bloß das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er weiterleben konnte und dass dies Teil der unumgänglichen Ordnung der Dinge war.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was passiert war, doch in seinem Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und seiner Schwester für sein eigenes geopfert worden war. Es war einer jener Träume, die - während die charaktaristische Traumkulisse beibehalten wird - eine Verlängerung des eigenen intellektuellen Lebens darstellen und in denen man sich Fakten oder Ideen bewusst wird, welche einem noch immer neu und hilfreich erscheinen, wenn man bereits erwacht ist. Das, was Winston nun schlagartig klar wurde, war, dass der fast dreißig Jahre zurückliegende Tod seiner Mutter auf eine heute gar nicht mehr mögliche Art tragisch und traurig gewesen war. Tragik, verstand er, gehörte der alten Zeit an, einer Zeit, in der es noch Privatsphäre, Liebe und Freundschaft gab, und in der die Mitglieder einer Familie einander beistanden, ohne dafür einen Grund wissen zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter riss an seinem Herzen, da sie ihn geliebt hatte, als sie gestorben war, als er noch zu klein und selbstbezogen gewesen war, um sie zurück zu lieben, und weil sie sich irgendwie - wie wusste er nicht mehr - für ein Konzept von Loyalität geopfert hatte, das privat und unveränderbar war. Etwas Derartiges konnte heute, das erkannte er, nicht mehr passieren. Heute gab es Angst, Hass und Schmerz, aber keine Würde des Gefühls, keine tiefe oder komplexe Trauer. All dies schien er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu sehen, die zu ihm durch das grüne Wasser hindurch hochblickten, hunderte Faden tief und noch immer sinkend.

Plötzlich stand er auf kurzem, frischgrünem Rasen, an einem Sommerabend, an dem die Strahlen der geneigten Sonne den Boden vergoldeten. Die Landschaft, auf die er blickte, tauchte so häufig in seinen Träumen auf, dass er nie ganz sicher war, ob er sie auch in der realen Welt einmal gesehen hatte. In seinen Wachmomenten nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte Wiese voller Kaninchen, die ein Fußweg durchzog und wo hier und da ein Maulwurfshügel lag. In der struppigen Hecke auf der anderen Seite des Felds wankten die Zweige der Ulmen sehr leicht im Wind und ihre Blätter bewegten sich nur alsdichte Masse wie Frauenhaar. An einer nahe gelegenen Stelle, jedoch außer Sichtweite, gab es einen klaren, langsam fließenden Bach, in dem Häslinge in den Becken unter den Weidenbäumen schwammen.