2048: Die Macht des Sturms - Lorena Christ - E-Book

2048: Die Macht des Sturms E-Book

Lorena Christ

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2048, Strom ist Mangelware und ein Großteil der Welt ist unbewohnbar. Eigentlich wollte Caitlin nur in ein Sommercamp für Problemkinder fahren. Doch als im Wald ein verheerender Sturm losbricht, entwickeln sie und vier weitere Jugendliche unberechenbare Kräfte. Caitlins Haare verwandeln sich phasenweise in scharfes Metall und Darren entfaltet elektrisierende Fähigkeiten. Nun von ihren Familien gefürchtet, verbünden sich die begabten Jugendlichen miteinander. Was Caitlin zunächst als Fluch empfindet, wandelt sich langsam zu einem Segen. Aber damit, dass mit den neuen Fähigkeiten eine Verantwortung einhergeht und die fünf Freunde eine Mission zu erfüllen haben, hat Caitlin nicht gerechnet. Und bald wird klar, dass andere Personen ihre besonderen Gaben begehren… Gelingt es ihnen, die Kräfte rechtzeitig zu beherrschen, bevor die Vergangenheit sie einholt?

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Seitenzahl: 625

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Danksagung

Prolog

Dezember 2030.

Die Technologie hat sich so schnell weiterentwickelt wie noch nie zuvor. Das selbstfahrende Auto hat sich weltweit durchgesetzt. Südamerika holt in Sachen Energie und Elektrizität und dem Bau von Atomkraftwerken rasant auf. In Afrika nimmt der Hungerindex stetig ab und das Bildungs- und Gesundheitswesen verbessern sich auf dem ganzen Kontinent.

Dezember 2034.

Die Technologie schreitet weiterhin voran. Das Smartphone wurde revolutioniert, Atomkraftwerke sind nun in praktisch allen westlichen und östlichen Ländern Stromproduzent Nummer 1. In Asien ist die Zahl am größten. Das Kontingent an Atombomben wächst ebenso.

Dezember 2035.

In Asien sind große Gebiete aufgrund Radioaktivität unbewohnbar; zusammengerechnet ergeben sie die Fläche von China und Taiwan zusammen. Ärzte sprechen von einer Verdopplung der Fehlbildungen bei Neugeborenen.

Dezember 2040.

Unfälle in AKWs nehmen in besorgniserregendem Maße zu. Weite Landstriche in Asien, Nord- und Südamerika sowie Osteuropa sind aufgrund solcher Unfälle oder aufgrund des Abfeuerns kleinerer Atombomben ausgelöscht und/oder unbewohnbar.

Dezember 2043.

Die Technik hat ihre Hochzeit endgültig hinter sich, Fortschritte bleiben aus.

Dezember 2045.

5. Dezember, Gray Tuesday. Die Natur- und Atomkraftwerkkatastrophe in Amerika und Asien beginnt. Fast ganz Amerika und Asien sind vernichtet, die größten Teile der Kontinente sind unbewohnbar. Immer mehr Flüchtlinge aus Asien erreichen uns. Osteuropa ist im selben Monat aufgrund eines internen Atomkrieges fast vollständig ausgelöscht worden, heute wurde die offizielle Niederlegung der Waffen angekündigt.

In Mitteleuropa hat ein Erdbeben der Stärke 9 ebenfalls im Dezember mehrere Dutzend Atomkraftwerke explodieren lassen; riesige Flächen sind unbewohnbar, die Einwohnerzahl drastisch dezimiert. Wir nennen es The Gray Month. Monat der Katastrophe.

Januar 2048.

Das Graue Zeitalter ist angebrochen.

Kapitel 1

Es war finstere Nacht. Der Zug schien sich in dem heftigen Wind und Regen kaum vorwärtszubewegen.

Dabei hatte es Caitlin mehr als eilig, endlich aus dem regnerischen Südengland herauszukommen – und vor allem, das plappernde kleine Mädchen neben ihr loszuwerden. Julia hieß es, und es hatte viele Geschwister, deren Namen Caitlin bereits vergessen hatte.

„Tut mir leid, aber bei solch starken Gewittern hab’ ich immer schrecklich Angst“, entschuldigte sie sich nun. Caitlin lächelte schwach, nur noch mit Mühe die Augen offenhaltend.

„Ich verkrieche mich dann immer in mein Zimmer und presse meinen Kopf in das Kissen, und manchmal, wenn mein Bruder nicht da ist, nehme ich sein Kissen, das ist wärmer …“

Nach einem Streit am Tag zuvor, einem hektisch gepackten Koffer und vier Stunden Schlaf, auf dem Weg in ein Sommercamp, auf welches sie so ziemlich überhaupt keine Lust hatte, sollte es doch eigentlich möglich sein, dass sie in dieser sechsstündigen Zugfahrt mindestens eine Stunde Ruhe und Schlaf abbekommen konnte.

Und eigentlich hatte sie nichts gegen den Sturm – irgendwie beruhigten sie der Regen und das gleichmäßige Prasseln auf dem Fensterglas. Schon lehnte Caitlin ihren Kopf gegen die kalte Scheibe, als der Zug plötzlich ruckelte und sie sich ihre Nase schmerzhaft an dem Glas anstieß.

„Ach, verdammt …!“

Nun eindeutig genervt, setzte sie sich kerzengerade hin.

Wieso mussten sie auch in einem solch alten, schrottplatzwürdigen Zug aus dem Jahre zweitausendachtzehn reisen?

„Hast du dir wehgetan?“

Überrascht drehte sich Caitlin herum.

„Nein, nein.“ Sie holte tief Luft; ein Versuch, ein wenig wacher zu werden. „Diese Scheiben sind ja nicht so dick“, fügte sie nun mit einem halbherzigen Grinsen hinzu.

„Ja, die sehen aus wie aus einem alten Film, zweitausendsechzehn oder so, und wenn jemand mit schweren Schritten durchs Zimmer geht, dann vibrieren sie ganz fest.“ Julia lachte auf; für einen Moment schien ihre Beunruhigung vergessen. Ihre Beine baumelten jedoch weiter hin und her. Caitlin unterdrückte den Impuls, die Beine festzuhalten und sie wieder gerade hinzusetzen, sodass sie nicht bei jedem Steinchen, das dem Zug im Weg lag, praktisch vom Sitz geworfen wurde.

In diesem Moment hörte Julia auf, ihre Beine zu bewegen. „Denkst du nicht, dass die Scheiben vielleicht einkrachen könnten, bei dem Gewitter?“ Der Zug machte einen leichten Ruck, und die Scheiben vibrierten mehr als zuvor, als würden sie das verängstigte Mädchen auslachen.

„Nein, keine Sorge. Es passiert schon nichts.“ Was sollte denn an diesem Gewitter so ungewöhnlich sein? Julia schaute sie nun mit bemitleidenswert weit aufgerissenen Augen an, und ihr Mundwinkel zuckte. Offenbar war Caitlin nicht sonderlich überzeugend. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, in der Hoffnung, mehr Verständnis, Einsicht, oder was es sonst noch brauchte, zu erlangen.

„Es wird bald vorbeiziehen, das Gewitter …“ Ihre Stimme klang so schlapp wie ihr Argument.

Julia blinzelte. „Denkst du?“

Caitlins Blick huschte zu Julias erneut nervös zuckenden Beinen.

„Ja, ich bin überzeugt. Keine Sorge.“ Sie registrierte, dass ihre Stimme einen ähnlichen Ton wie bei Gesprächen mit ihrer kleinen Schwester angenommen hatte. Julias Beine schwangen ein bisschen weniger hin und her, und Caitlin entwich ein Lächeln.

Helles Licht drang durch ihr Fenster. Ihre Köpfe fuhren herum.

„War das ein Blitz?“ Sofort klang Julias Stimme höher.

„Es scheint so, aber er ist weit weg.“ Caitlin spähte hinauf zum Himmel, zu dem Punkt, an dem sie den Ursprung des eben aufgeleuchteten Strahles vermutete. Ja, sie mochte den Regen, den Wind, der verzweifelt an den Blättern und Ästen der Bäume rüttelte, aber gegen diese gigantischen Errichtungen der Natur nicht ankam. Doch Blitze mochte sie nicht, Blitze hatten etwas Kaltes, Zerstörerisches an sich.

Ein Ruck fuhr durch Caitlin, und der Zug hielt quietschend.

„Sind wir da?“

Caitlin starrte wieder hinaus, während der Zug holprig zum Stehen kam. Der Himmel wurde stetig schwärzer, und statt der grünen Ebene, die sie vorhin durch die Regenströme erkannt hatte, entdeckte sie nun ein kleines Dorf mit ein paar wenigen Hochhäusern. Gleich daneben befand sich eine kleine Anlage von CO2-Bäumen. Die dunklen, langen Röhren, die das CO2 aus der Atmosphäre saugten, schienen noch schwärzer als der Himmel und verschluckten fast jedes Licht. Der Zug stand noch immer still. Eine Durchsage ertönte. Erleichtert stellte Caitlin fest, dass sie bereits mehr als die Hälfte der Reise hinter sich hatten.

„Nein, aber es geht nicht mehr lange“, antwortete sie Julia auf ihre Frage und lugte wieder durch die Scheibe. Wieso die Bahn jedoch in diesem kleinen Dörfchen hielt, war ihr unerklärlich.

Ein zweiter Blitz erhellte den Himmel. Ausnahmsweise blieb Julia ruhig gegen Caitlin gelehnt, während diese den Kopf in den Nacken legte und angestrengt ins Dunkle starrte.

„Ich verpasse die Blitze immer!“

„Schau ganz fest raus“, ermutigte Caitlin sie und konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Ihre Angst war schnell verpufft.

Julia riss neben ihr die Augen auf. „Schon wieder! Wow, das ist ja nah!“

Tatsächlich zuckten die Blitze immer stärker und in auffallend hoher Frequenz über den Himmel. Verwundert rückte Caitlin näher an die Scheibe. Doch in diesem Moment ruckelte der Zug und ratterte mühsam, es kam wieder Bewegung in die alten Räder.

„Weißt du, mein Bruder sagt, er beneidet mich. Er würde auch gerne in einem alten Zug fahren. Ich habe ihm gesagt, dann soll doch er gehen, und ich bleibe zu Hause. Aber Mama fand das gar nicht lustig …“

Julia hielt inne und sog die Luft durch den aufgerissenen Mund, als sich der Himmel wieder erhellte, der Blitz einen gezackten Lichtstrahl in den Zug warf und kurz darauf ein Donnern ertönte.

„Jetzt war es wirklich nah!“

Auch Caitlin musste sich eingestehen, dass sie bei dem lauten Donner kurz aufgeschrocken war. Sie wusste, dass die Unwetter in England in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hatten, ebenso ihre Zerstörungskräfte. Doch gefährliche, weitflächige Unwetter konnte man normalerweise gut voraussehen und die Bevölkerung wurde stets frühzeitig gewarnt.

Julias Nägel bohrten sich in ihre Jacke.

„Das Gewitter kommt näher!“ Ihre Stimme klang fast schon weinerlich. Aber sie hatte recht: Der Wind blies stärker und ließ den Regen aggressiv auf den Oberflächen auftreffen, während weitere Blitze die dunklen Wolken kurz beleuchteten und gespenstige, lange Schatten auf die CO2-Bäume warfen.

„Keine Sorge, Kleines …“ Caitlin drückte das Mädchen an sich. Der altersschwache Zug quälte sich ermüdend langsam voran.

„Wenn du zu Hause bist, gibt es genau dieselben Gewitter. Nur hörst du es nicht so stark, weil du neuere Fenster hast.“

Julia schaute zu ihr hoch und blickte sie aus großen Augen an. „Und diese Fenster hier halten das Gewitter nicht aus?“

Ups.

„Doch, doch, keine Sorge …“ Der Zug ächzte. Zum ersten Mal bei dieser Fahrt fühlte auch Caitlin eine leichte Beunruhigung. Oder hatte das Mädchen sie bloß mit seiner Angst angesteckt?

Sie lehnte sich vor und spähte angestrengt hinaus ins Freie. Der Himmel wirkte durch die sich verdichtende Wolkendecke fast schwarz, und soweit sie ihre Umgebung überhaupt noch erkennen konnte, waren sie wieder aus dem Dorf hinaus in den Wald gefahren. Auch die CO2-Baumanlage war verschwunden und machte echten Bäumen Platz.

„Schau, wir sind schon sehr weit. Die Fahrt wird nicht mehr lange gehen“, versuchte Caitlin ein paar ermutigende Worte. Sie lächelte Julia unsicher an; im selben Moment schrie ein Kleinkind hinter ihnen.

Julias Beine schwangen schneller.

„Weißt du, meine Schwester sagte, sie sei auch schon in so einem alten Zug gefahren. Sie ist schon groß. Meine Mutter meinte sogar, sie sei schon hundert Mal so gefahren, und ich solle mich nicht so anstellen. Aber meine Schwester sagte, diese alten Wagen seien gefährlich … und … mein Bruder …“

Der Zug vibrierte und stockte, und mit einem ohrenbetäubenden Quietschen kam das alte Gefährt zum Stehen.

„Liebe Fahrgäste, bitte keine Panik! Es liegt ein kleiner Schaden am hinteren Wagon vor. Alle Fahrgäste des hinteren Wagens, bitte steigen Sie aus und verteilen Sie sich in den restlichen Wagen. Auch das Belegen von Erste-Klasse-Abteilen ohne korrespondierendes Ticket ist möglich. Bitte keine Panik und steigen Sie ruhig aus …“

Es wurde still im Abteil. Nun war auch Caitlin wieder hellwach: Sie befanden sich im hinteren Wagen. Sie schaute sich alarmiert um, während ihr Herz so laut klopfte, dass es in der Stille vermutlich im ganzen Wagon zu hören war. Für einen Moment bewegte sich keiner; nicht einmal Julia. Da erhob sich urplötzlich ein Mann mit einem kleinen Kind in den Armen und forderte seine Frau laut auf, ihm zu folgen. Das brach den Bann. Innerhalb einer Millisekunde waren alle aufgesprungen und rannten Richtung Ausgang; Frauen mit Kindern in den Armen, eine Gruppe von Jugendlichen, die offenbar auch das Sommercamp besuchen wollten, ein paar ältere Ehepaare und zum Schluss Caitlin, das verängstigte Mädchen hinter sich herziehend wie einen bockigen Stier.

„C… Caitlin … Caitlin …“

„Komm jetzt, es passiert schon nichts!"

Doch auch ihre Stimme klang unsicher. Ein weiteres Mal tauchte ein Blitz den Zug in grelles Licht, und ein paar Kinder weinten. Alle drückten ungeduldig nach vorn, Eltern schoben sich zwischen anderen Familien hindurch versuchten, ihre Kinder zu beruhigen.

„Liebe Fahrgäste, bitte keine Panik! Bitte begeben Sie sich ruhig in die vorderen vier Wagons. Der hintere Wagen wird nun langsam abgelöst."

Das waren die falschen Worte. Der Lautstärkepegel hob sich gefühlt auf einhundertzwanzig Dezibel, sodass Julias Gewimmer unterging und nur noch panisches Geschrei und empörte Ausrufe zu hören waren. Hatten sie wirklich vor, den Wagen abzukoppeln, während sich noch so viele Menschen darin befanden?

Verärgert packte Caitlin Julias Hand fester und kämpfte sich nach vorn. Ein Mann hinter ihr drückte so stark, dass Caitlin gegen den Jungen vor ihr gepresst wurde und sie Angst hatte, jeden Moment keine Luft mehr zu bekommen. Doch langsam realisierte sie, dass sie bereits im Gang stand, und ihr Griff um Julias Hand lockerte sich ein wenig.

„Caitlin!"

Sie drehte sich um, und plötzlich ging alles ganz schnell.

Der Wagen machte einen Satz, als er vom restlichen Zug abgelöst wurde, Caitlins Füße schlitterten hart über den Boden und Julias Finger rutschten ab.

„Caitlin!"

Doch sie wurde unweigerlich von dem wogenden Menschenstrom weitergezogen, und schon nach ein, zwei Sekunden konnte sie Julias dunklen Lockenschopf nicht mehr in der Menge ausmachen.

„Mädchen!" Plötzlich kam ihr der Name nicht mehr in den Sinn. Aber sie konnte dieses arme Kind doch nicht alleinlassen!

„Kleine!" Panisch versuchte sie, sich an der Tür festzuhalten, doch ein älterer Mann stieß sie grob an.

„Was tust du denn? Wir möchten alle auch noch hinaus!"

Caitlin drehte sich um und wollte protestieren, doch sie rutschte auf dem glatten Boden aus. Haltsuchend warf sie die Arme nach hinten und einen kurzen Moment hielt alles an. Ihr Herzschlag schien auszusetzen, ihr Atem stoppte und sogar die Menschenmenge vor ihr wurde stumm. Doch dann spürte sie einen Luftzug, und ihre Füße knallten schmerzhaft gegen die harte Treppenstufe. Verzweifelt streckte Caitlin die Hände aus, aber ihre Finger rutschten am nassen Metall an der Außenseite des Zuges ab.

Ein kurzer, erstickter Laut entwich ihrer Kehle, dann spürte sie auf einmal mehrere, starke Hände an ihrem Rücken. Jemand stolperte, fing sich wieder und stellte Caitlin dann mit Mühe zurück auf die Beine. Sofort sanken ihre Füße in den schlammigen Grund ein und kalter Regen prasselte auf ihr Gesicht.

„Du machst aber Sachen." Der blonde Junge vor ihr balancierte auf den parallelverlaufenden Gleisen der Gegenrichtung und rieb sich energisch eine gerötete Stelle am Kopf – vermutlich die Stelle, auf die ihr Hinterkopf geprallt war.

„Tut mir leid …" Unruhig tippelte Caitlin von einem Bein aufs andere – ihre leichten Halbschuhe waren bereits durchnässt.

„Sag lieber danke." Nun sah er auf und betrachtete sie durch nasse, blonde Haarsträhnen. Obwohl Caitlin klar war, dass er nicht wirklich sauer war, bedankte sie sich rasch. Dabei fiel ihr auf, dass ihre Stimme leicht zitterte.

Doch bevor der Junge antworten konnte, wurde die dunkle Nacht durch einen weiteren Blitz durchbrochen, und alle zuckten bang zusammen, den Blick gen Himmel gerichtet. Nun kam die Angst erneut in Caitlin auf und schnürte ihr regelrecht die Kehle zu. Sie schaute sich um, und ihr Augen verharrten auf dem Zug zu ihrer Rechten. Ein Donnergrollen ertönte, begleitet vom unerbittlichen Prasseln des Regens auf dem Dach des Ungetüms. Irgendwie hatte der Zug etwas Bedrohliches an sich, wie er seelenruhig dastand, ohne sich einen einzigen Zentimeter zu bewegen, während alles um ihn herum in heller Aufregung stand.

„Was stehst du denn da rum?“

Caitlin schreckte auf und sah den blonden Jungen auf halber Strecke zum vierten Wagon stehen. Energisch winkte er sie herbei. Sie wollte zu ihm rennen, sie wollte sich retten, doch irgendwas hielt sie davon ab. Sie lugte zurück zu Wagon fünf – Er war vollständig abgetrennt und ein Abholdienst befand sich vermutlich schon auf dem Weg.

Aber wo war das Mädchen? Caitlin ließ den Blick über den kleinen, von hohen Bäumen gesäumten Platz neben den doppelspurigen Gleisen gleiten. Die Lichtung hatte sich schon fast geleert. Gerade kamen die letzten paar Jugendlichen aus dem Zug heraus; offenbar die, die ebenfalls in der für das Sommercamp reservierten Sektion gesessen hatten. Das kleine Mädchen musste doch auch bei ihnen sein …

Nun bewegten sich Caitlins Beine wie automatisch und schlitternd kam sie vor den Jugendlichen zum Stehen, welche sie mit einer Mischung aus Irritation und Verärgerung anschauten.

„Habt ihr … habt ihr ein kleines, verängstigtes Mädchen mit ganz vielen Locken gesehen?“

„Kann schon sein …“, erwiderte ein Junge mit roten Haaren langsam.

„Ich meine es ernst!“, schrie Caitlin, und ihre Worte hallten in der Stille wider. Ein weiterer Blitz zuckte durch den Wald, doch Caitlin schenkte ihm längst keine Beachtung mehr.

„Keine Ahnung, Mann!“, schrie der Junge, ganz offensichtlich auch selbst leicht panisch, zurück. Er schrie noch mehr, doch seine Worte gingen in einem lauten Knall unter. Dem Knall folgte ein Beben, das Caitlin beinahe auf den Boden geworfen hätte, und dann ertönte ein Knirschen. Zweige flogen auf den Boden und fielen auf die Köpfe der Jugendlichen. Caitlin duckte sich instinktiv, was aber die Zweige nicht davon abhielt, weiter auf sie niederzustürzen.

„Woher kommt dieses Geräusch?“

Das fragte sich auch Caitlin. Sie drehte sich um und erkannte mit Grauen, wie der riesige Baum, der dem fünften Wagon am nächsten stand, sich bedrohlich neigte. Langsam, viel zu langsam, drehte sich ihr Kopf, und ihr Blick traf schlussendlich auf ein großes Mädchen, das noch immer vor dem Wagon stand.

„Pass auf!“

Die Warnung wäre gar nicht mehr nötig gewesen. Das Knirschen verwandelte sich in ein markerschütterndes Krachen und Knacken, sodass Caitlin der Donner nur noch wie das leise Knurren eines Hundes vorkam. Das Mädchen rannte, rutschte aus, schlitterte ein Stück, stand wieder auf und rannte weiter, während sich der gigantische Baumstamm immer weiter über ihr neigte wie ein sich ausstreckender Arm eines Riesen.

„Schneller!“

Obwohl ihnen allen klar war, dass das Mädchen so schnell rannte, wie es irgend konnte, wussten sie in diesem Moment nichts Besseres zu sagen. Schwer atmend, als wäre sie diejenige, die rannte, wagte Caitlin einen erneuten Blick nach oben. Es donnerte erneut. Die Krone des Baumes streifte die Äste und Blätter anderer Bäume und riss sie erbarmungslos herunter, sodass sie auf die Teenager hinabprasselten. Die letzten paar verirrten Vögel flogen erschrocken auf, zwitscherten empört und kämpften gegen die Böen an, im Versuch, diesem unheimlichen Geschehen zu entfliehen.

Caitlins Kopf flog in einer plötzlichen, erschreckenden Erkenntnis auf die andere Seite. Der Zug. Der Baum würde den Zug treffen.

Ein peitschender Wind kam auf und verbog die Zweige des gigantischen Baums gefährlich nach vorne.

„Komm!“

Caitlins Schrei glich einem Kreischen, so hoch, dass das Mädchen es wahrscheinlich gar nicht hörte. Ihr Atem ging schnaufend und sie registrierte, wie sie trotz der regnerischen Atmosphäre schwitzte.

Das Mädchen machte einen letzten Satz. Der Baum fiel.

Eine Sekunde später erschütterte der Boden wie bei einem gewaltigen Erdbeben. Metall flog, Dolchen gleich, durch die Luft.

Jemand zog Caitlin zu Boden, sie traf hart mit dem Kinn auf, während ein Schwall dreckigen Wassers in ihr Gesicht platschte. Hustend und prustend stemmte sie sich etwas hoch, doch das war ein Fehler.

Ein länglicher Metallsplitter, vermutlich vom Türhebel, traf in rasantem Tempo ihre Stirn. Caitlin kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen.

„Au…“

Der Schmerzenslaut kam ihr nur schwer über die Lippen und sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen.

Langsam hoben nun auch die anderen ihre Köpfe, und alle starrten in der Dunkelheit Richtung Baum – und in Richtung des funktionstüchtigen Zuges. Caitlin blinzelte die Tränen aus ihren Augen, bis sie den Zug besser erkennen konnte. Ein seltsam kaltes Gefühl schlich sich in ihre Magengegend. Schnell sprang sie auf.

„Nicht wegfahren!“

Sie hörte knapp, dass im Inneren ein paar Leute ausriefen, und dann ging die Tür des Lokomotivführers auf.

„Ich sehe nicht über den Baum!“, schrie er. Offenbar war er nicht allein draußen.

„Es ist keiner mehr da! Lass uns endlich abfahren, verdammt! Wir haben schon reichlich Verspätung!“

Das war ein zweiter Mann.

Panik kam in Caitlin auf und vernebelte ihr die Sicht. Vage registrierte sie ein paar andere Teenager neben sich, die ebenfalls zu schreien schienen. „Hier! Wir sind noch hier!“ Doch der Regen übertönte ihre schon heiser gewordenen Stimmen.

Caitlin rannte los, aber etwa zwei Meter vor dem abgetrennten Baumstamm rutschte sie erneut aus und flog nach hinten auf den Rücken. Die Luft wurde schmerzhaft aus ihren Lungen gedrückt. Ihr Oberkörper bäumte sich auf und sie öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus und auch kein einziges Luftpartikel schien ihre Lungen zu erreichen. Da hörte sie einen lauten Knall und die Zugtür fiel zu.

Das große Mädchen von vorhin rannte zu ihr und kniete sich nieder. Caitlin spürte weiche Haare auf ihrem Gesicht.

„Alles okay?“

Sie blinzelte und nickte. Endlich schaffte sie es, mit kleinen, schnellen Atemzügen Luft einzuatmen.

„Komm, ich helf’ dir.“

Das Mädchen griff ihr unter die Arme und zog sie hoch. Es war erstaunlich stark.

„Danke“, krächzte Caitlin. Sie näherten sich der restlichen Gruppe.

„Der Donner.“

Caitlin schaute den Sprecher – der Junge, der sie bei ihrem Sturz aufgefangen hatte – mit großen Augen an.

Der Donner … Irgendwie konnte ihr Gehirn nichts mit dieser Information anfangen.

„Der Donner hat unsere Stimmen übertönt.“

Nun kam die Information schnell wie der Blitz an und bohrte sich schmerzlich in ihr Bewusstsein. Noch während sie starrte, hörte sie das typische Geräusch eines abfahrenden Zuges.

Alle blickten nur reglos und starr vor Schreck nach vorn.

„Verdammte Scheiße!“

Caitlin schrak zusammen. Der blonde Junge kickte energisch einen Zweig aus dem Weg und durch die Erregung wurde sein Gesicht knallrot.

„Verdammt nochmal! Das darf doch nicht wahr sein!“

Mit zwei langen Schritten war er beim fünften Wagon und hämmerte mit den Fäusten gegen das Metall.

„Scheißverdammter Drecksmist!“

Er holte aus und zersplitterte mit der Faust das Glas eines Wagonfensters. Seine Haare flogen nach vorn und hingen ihm nun wirr ins Gesicht. Das Glas zerbarst und ein Splitterregen prasselte auf den Jugendlichen hinab, doch keiner machte Anstalten, ihn zu stoppen. Vermutlich war er nicht der Einzige mit dem Bedürfnis, auf irgendwas einzuschlagen.

Mit einem Ruck hielt der Junge mitten in der Bewegung inne. Alarmiert runzelte Caitlin die Stirn.

„Was ist?“

Sie trat zu ihm ans Fenster.

„Caitlin?“, wisperte da eine dünne Stimme aus dem Inneren des Wagons.

„Julia!“

Eine Welle der Erleichterung überkam Caitlin und sie schloss für einen Moment die Augen.

Gott sei Dank.

„Julia, komm her.“

Sie streckte bereits die Arme aus und drängte den Jungen weg. Julia stand auf einem Sitz direkt vor dem demolierten Fenster und war den Tränen nahe. Ihre Lippen zitterten erbärmlich, während Caitlin sie mithilfe des blonden Jungen hinaushob und behutsam wieder neben sich absetzte.

„Alles gut … alles gut … Hast du dir wehgetan?"

Mit bebenden Händen strich Caitlin ihr über den Rücken. Julia, sich fest an Caitlin pressend, schüttelte den Kopf.

„Ist das deine Schwester?", fragte der Blonde und holte die beiden in die Gegenwart zurück.

Caitlin wandte sich ruckartig ihm zu. „Nein. Ich kenne sie erst seit zwei Stunden.“

„Haha“, machte er. Caitlin runzelte die Stirn und wollte sagen, dass sie es ernst meinte, doch sie hatte einfach zu wenig Energie dafür. Ihre Sorgen kreisten momentan um anderes.

„Wo ist der Zug?“, fragte Julia stockend und blickte Caitlin ängstlich an.

Caitlin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Augen wanderten zu den anderen Jugendlichen, welche mittlerweile einen Kreis um sie gebildet hatten und bei Julias Worten unbehaglich und leicht betreten nach unten schauten.

„Was nun?“

Das war die Stimme des Mädchens, welches ihr aufgeholfen hatte. Caitlin versuchte, in der Dunkelheit mehr von ihr zu erkennen. Offensichtlich war ihr kalt, denn sie hatte die schlanken Arme fest um sich geschlungen.

„Es sollte bald ein Abholdienst kommen. Der wird sicher auf uns aufmerksam“, mischte sich der blonde Junge ein. Er wollte wohl gelassen klingen, doch Caitlin hörte seiner Stimme die Furcht an. Sie klang zittrig wie der Wind.

Caitlin drehte sich ruckartig herum und stapfte durch den Regen zu den Gleisen, begleitet von einem grässlichen Donnern. Als der Donner verklungen war, hörte sie, dass die anderen ihr offensichtlich folgten. Ein erneuter Blitz zuckte über den Himmel und beleuchtete die eisernen Gleise gespenstisch. Caitlin schluckte und spürte gleichzeitig, wie feine, kleine Finger ihre Hand umschlossen. Sie musste lächeln. Die Hand war kalt und nass, und eigentlich konnte Julia nicht Caitlin beschützen, sondern sie musste auf Julia achtgeben, doch irgendwie beruhigte sie diese Berührung.

Sie blieb stehen.

„Wie viele sind wir?“, schrie sie, um gegen den Wind und das Getöse des Regens anzukommen.

„Fünf!“, rief jemand zurück. Caitlin nickte, während sich wieder alle um sie versammelten und der Wind noch stärker wurde. Ihre langen, schwarzen Haare, die mittlerweile in nassen und schweren Strähnen an ihr herunterhingen, wurden vom Wind aufgewirbelt und in ihr Gesicht geschleudert; als wollten sie verhindern, dass sie sich nach einem rettenden Haus oder einem Auto umsehen konnte. Doch die schwarze Leere, die sich vor ihr erstreckte, konnte sie nicht ihren Haaren zuschreiben.

„Hier ist nichts.“

Die Stimme klang dumpf und niedergeschlagen. Caitlin drehte sich zu ihrer Quelle um.

„Es wird ganz sicher jemand kommen, um den Wagon abzutransportieren“, fauchte sie, von einer plötzlichen Wut ergriffen. Der rothaarige Junge fixierte sie mit ungläubigen Augen.

„Schau!“ Das kleine Mädchen zog sie an der Hand. Genau in diesem Moment erschien ein weiterer Blitz am Horizont, und der Donner folgte gleich darauf. Voller Schrecken blickte Caitlin die Gruppe an. „Das Gewitter kommt zu uns.“

Beunruhigt schossen die Köpfe nach oben.

„Lass uns reingehen“, schlug das große Mädchen panisch vor.

„In den Wagon?“, meldete sich der blonde Junge wieder zu Wort.

„Das geht doch gar nicht. Der Baum versperrt die Tür …!“, rief jemand dazwischen. Ein erneutes Grollen ertönte, und die Panik griff wie ein Fieber um sich.

„Probieren wir’s“, widersprach Caitlin atemlos und setzte sich in Bewegung.

Innerhalb einer Sekunde liefen und rannten sie alle zusammen zum Wagon zurück, während der Regen ihnen, vom Wind gekrümmt, ins Gesicht peitschte und die Sicht verschlechterte.

„Verdammt!“

Jemand rutschte aus. Caitlin sprang nach vorn und hielt die Person, ohne überhaupt zu erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war, mit der freien Hand fest. Lange Haare schlugen ihr ins Gesicht – es war dasselbe Mädchen, welches ihr ebenfalls geholfen hatte. Sie zog es wieder hoch, sodass sie sich dicht gegenüberstanden, beide mittlerweile zitternd wie Espenlaub.

„Alles okay?“

Das Mädchen nickte bloß und wischte sich den Dreck an den Hosen ab. Plötzlich stockte es. „Du blutest …“

Es hob langsam einen Finger und berührte Caitlins Stirn. Erst jetzt bemerkte diese, wie neben dem kalten Regen auch noch etwas Warmes ihr Gesicht hinunterfloss. Bei der Berührung zuckte sie zusammen.

„Ja, vermutlich von meinem Sturz vorhin …“

Schnell strich sie mit der Hand darüber.

„Komm“, sie nahm die andere bei der linken Hand, mit der rechten zog sie noch immer Julia hinter sich her, und rannte die letzten Meter zum Wagon. Davor angekommen erkannte sie, wie der blonde Junge zusammen mit dem rothaarigen gegen die halb versperrte, zusammengestauchte Tür drückte. Beide gaben grunzende Laute der Anstrengung und Frustration von sich.

„Der Baum ist noch ein Stück gerutscht … Die Tür geht nicht mehr auf …“, keuchte der Blondschopf durch zusammengebissene Zähne.

Caitlin raufte sich verzweifelt die Haare.

„Ihr müsst es schaffen …“

Ihre Stimme klang so hoch und jämmerlich wie die eines Kleinkindes. Der Blonde hob kurz den Kopf. Ohne eine Antwort ging er ein paar Schritte zurück, holte aus und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Etwas barst, doch die Tür gab nicht nach.

„Verdammt!“

Der Junge kniff die Augen zusammen, hielt sich den Fuß und stolperte über das Nachbargleis zum Wagen.

„Shit“, machte Caitlin und lief zu ihm. „Lass es.“

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und du auch, Kleiner! Das bringt nichts, du vergeudest deine Kraft.“

Erschlagen löste sich der Junge von der Tür und schlurfte schließlich zu den freiliegenden Gleisen.

Alle blickte sich eine Weile stumm an, nur der Regen war zu hören, wie er erbarmungslos auf sie herabprasselte. Auf dem Boden erinnerte der Klang an einen Trommelwirbel, an die Schritte einer ganzen Armee, an ein Vorzeichen, eine leise, hämische Warnung eines nahenden Unglücks.

Caitlin erschauderte.

Der Himmel wurde erneut in gleißendes Licht getaucht. Eine Sekunde später krachte der Donner – nun noch viel näher als vorhin.

Plötzlich war das große Mädchen neben ihr regelrecht erstarrt.

„Wir müssen hier weg.“

Ihre Stimme klang atemlos, die Angst verwandelte ihre Worte in ein leises Hauchen. „Der nächste Blitz schlägt in die Leitung ein.“

Der blonde Junge gab ein ungläubiges Schnauben von sich und der rothaarige ließ seinen Kopf panisch gen Himmel schnellen, während Caitlin zu einem Protest ansetzte. Doch da durchschnitt ein greller, weißer Lichtstrahl, einem Messer gleich, den Horizont in zwei gezackte, tobende Hälften. Plötzlich erschien Caitlin alles wie in Zeitlupe.

Sie stieß Julia von den Gleisen weg und diese landete just einen Meter daneben im Gras, während sie selbst versuchte, sich durch das Durcheinander einen Weg auf die sichere Lichtung zu bahnen. Jemand drängte sich nach vorn, ein fremder Arm landete in ihrem Gesicht und schließlich rutschte sie auf den Gleisen aus, schlitterte gefährlich und schlug auf dem Gras auf, mit dem Kopf furchteinflößend nahe am Gleis.

Das Ganze dauerte nur eine Sekunde. Sie sah, durch das Gras und die eigenen Haare, dass die letzte Person den Fuß von den Gleisen hob, da ertönte ein erstes, ohrenbetäubendes Grollen des Donners. Sie kniff die Augen zusammen und riss reflexartig die Arme hoch, doch genauso gut hätte sie ein Blatt Papier an ihr Ohr pressen können.

Der Boden erschütterte, genau wie vorhin, als der Baum umgestürzt war, und ein langer Riss bildete sich in der Erde.

Caitlin durchliefen die Angstschauer so rasant wie das Blut ihren Körper. Bei jedem Herzschlag schien eine neue Welle Adrenalin freigesetzt zu werden, so stark, dass es fast schon weh tat.

„Feuer!“

Der Schrei glich einem Kreischen. Die Stimme überschlug sich fast.

Der Schock erfasste Caitlin, stoppte die Adrenalinschauer und ließ auch ihr Herz für einen Moment stehenbleiben. Mit einem Satz war sie auf den Beinen.

Hitze schwallte ihr entgegen. Sie sah zum ersten Mal die Gesichter der anderen, doch sie nahm sich nicht die Zeit, sie näher zu betrachten.

Ihre Aufmerksamkeit galt einzig der gigantischen, heiß lodernden Lichtquelle vor ihr.

Der gesamte Wagon fünf stand in Flammen.

Das Feuer züngelte aus den Fenstern empor und erreichten den Stamm des umgefallenen Baumes. Es knisterte und knackte, als die dünnen Äste und Blätter langsam in Flammen aufgingen. Caitlin drehte sich auf dem Absatz um und wollte alle wegdrängen, den Gleisen entlang nach hinten, so weit weg wie möglich, vielleicht sogar bis zur Haltestelle zurück. Doch da erblickten ihre Augen ein weißes, grelles Licht – und diesmal war es kein Blitz.

Es waren die Scheinwerfer eines riesigen, robusten Transportwagens.

Das Auto kam rasant näher, jemand sprang heraus, kaum hatte es die Geschwindigkeit verringert.

„Einsteigen!“

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Mit dem Knistern des Feuers und dem leiser werdenden Prasseln des Regens im Hintergrund, strömten alle fünf so schnell wie möglich ins Innere. Die Tür ging zu und das Auto fuhr sofort los. Alle setzten sich hin, stumm, nass und zitternd, und warfen einen letzten Blick nach draußen. Aus der Ferne hörte Caitlin bereits die Sirenen eines Feuerwehrautos. Sie zitterte noch immer, doch hinter den dicken Wänden des Gefährts fühlte sie sich endlich sicher und ihr Herz pochte weniger schmerzhaft in ihrer Brust.

Kurz streiften ihre Augen über die Gruppe. Der blonde Junge saß ihr schräg gegenüber, die Hände gegeneinander reibend und in gebeugter Haltung. Julia war neben ihr, hielt ihre Hand und starrte ins Leere. Im anderen Abteil versteckte sich der rothaarige Junge, vollkommen in sich zusammengekauert und laut schnaufend – vermutlich darum bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Er tat Caitlin leid.

Sie wandte sich ab und musterte schließlich die Person vor sich; das Mädchen, das ihr geholfen hatte. Ihr Blick war starr nach außen gerichtet, und im Braun ihrer Augen spiegelte sich das Feuer, das sich gemächlich, aber unaufhaltsam durch den Wald fraß. Caitlin schluckte und schaute schließlich auf den Boden.

Gedämpft unterhielten sich die zwei Männer, die vorne, hinter einer Absperrung, das Auto lenkten.

„Ist mit ihnen alles in Ordnung?“

„Ich weiß es nicht. Wir müssen uns später darum kümmern.“

Doch Caitlin wollte gar nicht, dass sich irgendwer um sie kümmerte. Sie musste sich zuerst einmal selbst darüber klar werden, was eben passiert war.

Ein Rascheln erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah gerade noch, wie sich das Mädchen vor ihr rasch über die Augen wischte. Die Unterlippe des Mädchens bebte, und es presste den Mund fester zusammen. Caitlin wollte die Hand ausstrecken, es berühren oder irgendwas sagen, doch sie konnte nicht. Sie verstand nur zu gut, wieso das Mädchen weinte: Nachdem der erste Schock vorüber ist, brechen die angestauten Gefühle für gewöhnlich viel intensiver über einen herein.

Erst jetzt realisierte Caitlin wirklich, wie nahe sie dem Tod gewesen waren; wie wenig gefehlt hätte, damit nicht nur der Wagen, sondern auch sie in Flammen gestanden hätten. Zum zweiten Mal in ihrem Leben musste sie mitansehen, wie etwas verdorben und zerstört wurde – ein Ort, der doch so schön sein konnte, und der sich plötzlich in einen Ort der Verwüstung und des Schreckens verwandelte.

Caitlin drehte sich unruhig auf dem Bett um, wobei die Decke zu Boden fiel. Erschöpft und mutlos setzte sie sich auf. Es war der erste Tag, an dem sie wieder in ihrem eigenen Bett schlafen konnte. Davor war sie zwei Tage im Spital gewesen, im Zimmer direkt neben dem des blonden Jungen, der Darren hieß, wie sie nun wusste. Diesen hatte sie jedoch nur für ein paar Stunden gesehen, denn das erste Krankenhaus behandelte nur ambulant und sie mussten Caitlin in der Nacht in ein anderes verlegen.

Sie selbst hatte die Verbrennungen an ihren Armen gar nicht bemerkt, aber offenbar hatte man sich darum kümmern müssen, weil sonst eine erhöhte Gefahr für eine Blutvergiftung oder Hautkrebs bestanden hätte. Zudem hatte man die Wunde an ihrer Stirn genäht, doch die verheilte schnell.

Seit dem Unfall wachte sie pro Nacht mindestens dreimal auf, jedes Mal schweißdurchtränkt. Eigentlich hatte sie beschlossen, die Decke von Anfang an auf Seite zu legen, aber das entsprach einfach nicht ihren Gewohnheiten. Nun hob sie die Decke wieder auf und knüllte sie am Fußende zusammen, dann steckte sie sich die schwarzen, langen Haare hoch.

Es regnete. Schon wieder. Caitlin fuhr es kalt den Rücken hinunter. Die Tropfen liefen langsam am Fensterglas hinunter, wie Tränen – und genau wie damals im Zug, als das kleine Mädchen auf sie wie ein Wasserfall eingeredet hatte. Plötzlich empfand Caitlin die nächtliche Stille als unangenehm und bedrohlich. Sie wünschte sich fast, dass das Mädchen sie wieder vollquasseln würde. Schnell stand sie auf und schüttelte den Kopf, um die ungewollten Gedanken zu verdrängen. Danach schloss sie die Gardinen und sperrte den Regen endgültig aus. Vielleicht konnte sie so besser schlafen.

Caitlin stand vor ihrem Haus im Regen. Sie war bereits bis auf die Knochen nass und versuchte, sich unter dem kleinen Hausvorsprung vor der Nässe zu schützen. Sie hämmerte gegen die Tür.

„Macht auf! Bitte!“

Ihre kleine Schwester, mit ihren fünfzehn Jahren nur zwei Jahre jünger als sie, streckte den Kopf aus dem Fenster und gestikulierte wild, doch Caitlin begriff nichts. Hatte ihr Vater einen seiner Wutanfälle? Doch sie hörte kein Gebrüll. Sie hörte nichts außer den Regen und das Zimmerfenster ihrer Schwester, das wieder zugestoßen wurde. Sie gab ein verzweifeltes Wimmern von sich und rüttelte an der Tür. Doch gegen das massive Schloss hatte sie keine Chance. Wie so oft in ihrem Leben fühlte sie sich vollkommen machtlos. Erst jetzt hörte sie ihren Vater im Inneren brüllen. Ein unangenehmer Schauer durchfuhr sie. Sie hatte keine Chance gegen die Tür, und ebenso wenig kam sie gegen ihren Vater an. Mutlos ließ sie ihre Fäuste sinken und starrte den Türrahmen reglos an. Sie hasste dieses Gefühl der Machtlosigkeit so sehr!

Da ging die Tür ruckartig auf, so schnell, dass Caitlins Kopf von der Kante getroffen wurde und sie nach hinten auf die Treppe fiel. Im Durchgang stand ihre Mutter mit dem vertrauten Blick, der sowohl Besorgtheit und Wärme als auch einen Hauch von Strenge zeigte.

„Liebling!“ Ihre Mutter schaute sie auffordernd an. „Liebling, du musst aufstehen!“

Caitlin schlug die Augen auf. Ihr Blick traf direkt auf ein besorgtes Gesicht über ihr – ihre Mutter.

„Mama …“ Verstört setzte sie sich auf. „Wieso weckst du mich denn … es sind doch Ferien …“

Caitlin und vermutlich auch die anderen Jugendlichen, die in dasselbe Sommercamp gefahren wären, waren nun alle doch zu Hause. Sie wusste nicht recht, ob sie dies positiv oder negativ finden sollte. Wie sie im Internet herausgefunden hatte, wäre es anscheinend ein Ferienaufenthalt für Problemkinder gewesen. Das hatten sie und ihre Mutter bei der Buchung nicht bemerkt und Caitlin hatte auch keine Lust gehabt, es ihr unter die Nase zu reiben.

„Ich weiß“, sagte ihre Mutter. „Aber heute ist der Kontrolltermin beim Arzt. Den Arzt, den du nicht magst – der nebenbei auch noch alternative Medizin betreibt. Aber danach hast du Ruhe.“

Caitlin ließ ein lautes Grummeln ertönen und erhob sich schließlich. Als sie sich im Spiegel sah, traf sie fast der Schlag. Ihre sonst so glatten schwarzen Haare waren zerknittert und hingen in langen Strähnen an ihr herab, die bis zur Brust reichten. Ihre Augen wirkten wie zwei kleine Punkte in ihrem Gesicht, aus denen sie müde hervorblinzelte. Eigentlich hatte sie ovale, leicht schrägliegende Augen, die groß waren im Vergleich zu denen ihrer japanischen Mutter und denen ihrer Schwester. Während ihre Mutter eine schöne, gebräunte Hautfarbe aufwies, war Caitlin ziemlich weiß. Und irgendwie wirkte sie jetzt noch blasser.

Sie wandte sich abrupt von ihrem Spiegelbild ab und zog sich an. Viel hatte sie nicht zur Auswahl; das hatte eigentlich niemand. Die Kleider, die Übersee in Lateinamerika produziert wurden, waren sehr teuer geworden und nicht mehr auf Kosten von Billigarbeitern zu den Spottpreisen erhältlich wie in der Jugendzeit ihrer Eltern. Nach den weltweiten Billigarbeiter-Protesten vor etwa zehn Jahren waren die Preise von eigentlich fast allem rasant in die Höhe geschossen. Die meisten Sachen kaufte Caitlin in Second-Hand Läden, so auch die einfarbige, weit geschnittene Jeans, die sie sich nun hastig überzog. Sie besaß nur eine neuwertige Jeans, die aus weißer, nicht gefärbter Baumwolle bestand und direkt in England auf einer Baumwollfarm produziert worden war. Auf die war sie jedoch sehr stolz und sie zog sie daher nur selten an. Als Nächstes schnappte sie sich ein grünes unifarbenes T-Shirt und stieg in ihre Turnschuhe. Alle ihre T-Shirts waren unifarben, denn Aufschriften oder Bilder aufzudrucken, wie man es früher gemacht hatte, war viel zu aufwendig und umweltschädlich, und zudem machte es das Recycling der Stoffe unmöglich. Caitlin erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sie als Kind ausgeschimpft hatte, als sie ihr T-Shirt mit Filzstift verschönern wollte, weil sie es in einem Film gesehen hatte. Mit diesem Gedanken stieg Caitlin schnell die Treppe hinunter und traf auf ihre wartende Mutter.

Eine Stunde später saßen sie zu zweit im Wartezimmer und schwiegen. Caitlin war einfach zu müde, um zu reden.

„Morgen kommt Leonie aus dem Camp, das weißt du noch, oder?“

Caitlin blickte ihre Mutter einen Moment desorientiert an. Der Name ihrer Schwester hatte die Erinnerung an den seltsamen Traum heraufbeschworen, bei dem sie aus dem Fenster gelehnt hatte.

„Stimmt“, erwiderte sie dann hastig.

„Bei ihr hat’s geklappt …“

„Ja. Ich habe natürlich trotzdem Angst, dass noch etwas bei der Rückreise passiert …“

Ihre Mutter schaute beunruhigt aus dem Fenster und begutachtete den Himmel.

„Sie sitzt aber auch nicht in einem extrateuren spezial-antikem Zug aus dem Jahre 2015. Ist ja klar, dass so ein altes Ding nicht zuverlässig ist“, murmelte Caitlin leise, doch sie wollte es ihrer Mutter nicht an den Kopf werfen – schließlich hatte sie ihr diese Extrafahrt angeraten. Wie in ihrer Jugend in Japan, hatte sie gesagt. Ihre Mutter besaß noch viele uralte Kleider, eine klassische Zifferblattuhr und keinerlei smarte Gegenstände. Als ihre Mutter mit der vierjährigen Version von Caitlin als junge Frau nach England zu ihrem Mann gekommen war, hatte sie zuerst einmal die Atomkraftwerkkatastrophe und die Misere verdauen müssen, welcher sie in Japan ausgesetzt gewesen war. Da hatte sie wohl keine Lust gehabt, sich an noch mehr neue Sachen gewöhnen zu müssen.

Ebenfalls mit einem leicht unwohlen Gefühl stand jetzt auch Caitlin auf und folgte ihrer Mutter ans Fenster, doch sie hatte keine Zeit mehr, den Himmel zu inspizieren. Im gleichen Moment kam der Arzt herein und bat die beiden, mitzukommen.

„Ich hab’ sie bloß mit dem Fahrrad begleitet, ich muss nicht unbedingt dabei sein …“, widersprach ihre Mutter. Caitlin musste lächeln – sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie mit dreizehn Jahren um jeden Preis allein zum Arzt gewollt hatte, um selbstständig und groß zu wirken. Als sie jedoch nach Hause gekommen war, hatte sie die komplizierten lateinischen Wörter längst wieder vergessen, sowie den Namen des Medikamentes, und ihre Mutter hatte noch einmal beim Arzt anrufen müssen, um nachzufragen.

„Nein, kommen Sie lieber mit.“

Caitlin runzelte die Stirn. Sein Tonfall ließ nichts Gutes verheißen. Ebenfalls irritiert folgte ihre Mutter ihnen.

Der Arzt, Dr. Bailey, lief in seiner gewohnt gebeugten Haltung bis zum allerletzten Zimmer und öffnete dort mit einem seltsamen Blick in Richtung Caitlin die Tür. Zum Schluss schlüpfte auch er selbst hinein und zog direkt hinter sich zu, als hätte er Angst, jemand würde sich noch dazwischendrängen. Dann nahm er seine feine, runde Brille ab und fuhr sich durch die wenigen, grauen Haare, die er noch besaß. Caitlin schluckte nervös.

„Also“, begann er. „Wir haben einen Bluttest mit Ihnen gemacht, Caitlin, richtig?“

Seine braunen Augen musterten sie noch immer mit diesem seltsamen Ausdruck, weswegen Caitlin bloß stumm nickte. Aufgeschreckt lief er hastig zu seinem Schreibtisch, auf dem ein Computer, mehrere Gefäße und ein Mikroskop standen. Er blickte auf den Computer und stockte, dann wandte er sich sichtlich verwirrt dem Mikroskop zu und bemerkte, dass sich nichts darunter befand. Caitlins Mundwinkel hoben sich amüsiert.

„Also“, wiederholte er und setzte die Brille wieder auf.

„Bei dem Bluttest … ist etwas Komisches herausgekommen. Das Ergebnis habe ich so noch nie mit eigenen Augen gesehen. Es ist … unerklärbar.“

Caitlins Glieder froren ein. Ihre Mutter stellte sich kerzengerade hin – trotzdem war diese noch etwa einen Kopf kleiner als sie selbst.

„Was meinen Sie mit unerklärbar? Das kann doch nicht sein! Ein Bluttest ergibt doch immer irgendein Ergebnis. Ich gebe mich nicht mit unerklärbar zufrieden.“

Der Doktor blickte sie ruhig an und nickte langsam, als wäre das, was Caitlins Mutter gesagt hat, etwas Trauriges, und nicht, als hätte sie ihn etwas gefragt. Doch dann widmete er sich wieder seinem Computer und nahm erneut die Brille ab. Caitlins Schock wich langsam, doch sie blieb noch immer stumm und hörte gebannt zu.

„Ihre Tochter ist nicht mehr so wie Sie, Mrs. Hammingson. Sie ist … anders. Sie hat sich verändert. Die anderen Ärzte haben es nicht gesehen, aber ihr Blut zeigt seltsame Partikel auf, aufgeregte Partikel … Sie zeugen von … von …“

Caitlin runzelte die Stirn und spürte die Augen ihrer Mutter auf sich. Sie warf ihr einen hastigen Blick zu und sah, dass diese den gleichen Verdacht hegte wie sie.

„Ah, die anderen Ärzte haben es nicht gesehen?“, fragte Caitlins Mutter.

Dr. Bailey stockte, irritiert, dass jemand ihn unterbrach, und nickte darauf bestätigend. Caitlin und sie wechselten erneut einen kurzen Blick.

„Und Caitlin ist jetzt verzaubert?“

Der Arzt stockte erneut und fragte sich wohl, ob Caitlins Mutter sich über ihn lustig machte.

„Naja … ja, gewissermaßen …“, hastig und mit zitternden Fingern setzte er die Brille wieder auf. „Sie müssen wissen …“

Er ging wieder zum Mikroskop und schaute hindurch, danach beäugte er eines der Gefäße.

„Sie müssen wissen …“

Caitlins Mutter räusperte sich und verzog das Gesicht.

„Ähm, ja. Wir wissen schon alles. Vielen, vielen Dank.“

Sie packte Caitlins Arm und zog sie zum Ausgang und stieß die Tür auf. Verwirrt sah der Doktor auf.

„W… warten Sie!“ Er streckte eine Hand aus. Als Caitlin ihn so verloren dort stehen sah, hatte sie fast Mitleid mit ihm.

„Wir wissen alles! Sie ist verzaubert …“ Ihre Mutter hob theatralisch die Stimme.

„Mama …“, zischte Caitlin warnend.

„Lass uns gehen. Wehe, er stellt das auf die Rechnung.“

Caitlin musste unwillkürlich lachen.

„Du fühlst dich gut, oder?“, fragte ihre Mutter schließlich, als sie wieder aufs Fahrrad stiegen. Das Rad war das übliche Verkehrsmittel in England; nur Unternehmen hatten noch eigene Autos, die normale Bevölkerung lieh Autos aus Umwelt-, Ressourcen- und Finanzgründen bloß nach Bedarf aus.

Auf dem ganzen Weg zum Vorplatz hatte Caitlins Mutter durchgehend den Kopf geschüttelt und leise jetzt ist er übergeschnappt … das ist ja unglaublich … gemurmelt, sodass man ebenso gut hätte denken können, sie sei die Verrückte.

„Ja, mir geht’s gut“, erwiderte Caitlin ehrlich.

„Oder, warte … Ich spüre … Magie!“ Ihre Mutter lachte.

Zu Hause angekommen empfing ihr Vater sie mit besorgter Miene.

Caitlin grinste unwillkürlich und schüttelte den Kopf, als Zeichen, dass alles gut war.

„Der Arzt ist übergeschnappt“, erklärte sie sogleich. Ihre Mutter stapfte in ihren Regenstiefeln hinter ihr her und nickte so vehement, dass ihr die schwarzen Haare ins Gesicht fielen.

Ihr Vater hob die Augenbrauen. „Okay …“

Caitlin schob sich neben ihrem irritierten Vater rein ins Trockene. Dieser verwirrte, hilflose Ausdruck, den er so oft an den Tag legte, brachte sie immer auf die Palme. Es passte nicht zu seiner anderen, aufbrausenden Seite. Sie hörte vage, wie ihre Mutter ihrem Vater erklärte, was beim Arzt passiert war, während sie langsam hinauf in ihr Zimmer ging. Anders als vorher beim Arzt sprach ihre Mutter nun leise und ruhig. In der Gegenwart ihres Mannes schien sie sich stets zurückzunehmen, was Caitlin stören würde, wüsste sie nicht, dass die beiden sich wirklich liebten und schätzten.

Caitlin schloss die Tür ihres schmalen Zimmers hinter sich und lehnte sich kurz gegen die Wand. Nicht einmal für ihr Gemüse im Garten, das sie im Rahmen eines Nachhaltigkeitsprojekts angepflanzt hatte und eigentlich akribisch umsorgte, hatte sie noch genügend Energie. Sie schwitzte und fühlte sich ausgelaugt, doch das wollte sie auf keinen Fall zugeben.

Caitlins Familie lebte in der untersten Wohnung auf zwei Stockwerken; die maximale Anzahl an Etagen pro Familie. Das Mehrfamilienhaus, welches dreißig Familien beherbergte, war jedoch sehr schmal gebaut und nutzte die maximal erlaubte Breite pro Grundstück bei weitem nicht aus. Aufgrund dieser speziellen Bauweise und der engen Zimmer waren die Wohnungen einigermaßen erschwinglich.

Statt zu schlafen, durchquerte Caitlin mit zwei großen Schritten ihr Zimmer und warf einen kurzen Blick auf ihr iPhone XX. Niemand hatte geschrieben – alle waren in den Ferien. Rasch schaltete sie das Handy wieder aus und legte es auf den Fenstersims, sodass die eingebauten Sonnenkollektoren auf dessen Rückseite mehr Licht einfangen konnten. Eigentlich sollten sie nur nachmittags ihr Handy benutzen, wenn am meisten Licht einfiel. Seit kurzem hatte auch die Regierung Englands – weit nach allen anderen – wegen der Energiekrise ein strenges Stromlimit für jeden Haushalt eingeführt. Heizen durfte man im Winter nur bis neunzehn Grad Celsius. Begrenzt war auch bereits seit längerem der Wasserverbrauch: Duschen durfte man nur kalt und während zehn Minuten, moderne Duschen stellten sich nach dieser Zeit selbst aus.

Caitlin schaltete die Lüftungsanlage an und setzte sich unter die Öffnung, um sich ein wenig abzukühlen. Der Verbrauch der Klima- und Lüftungsanlage wurde zum Glück anders verrechnet und der Strom separat produziert, weil das zum Notbedarf eines jeden Menschen gehört. Die Luft draußen hatte mittlerweile auch in England den Stand ungesund erreicht. Der Notbedarf an Energie wurde allen Haushalten über den nationalen Zentralstrom zugeführt. Der weitere Strom sollte, so gut es ging, über gemeinsame und private Sonnenkollektoren gedeckt werden: Haushalte, denen die eigenen Kollektoren nicht ausreichten, um ihren ihnen zustehenden Zusatzstrom zu decken, wurden durch weiteren Zentralstrom oder der überschüssigen Energie anderer Kollektoren kreuzversorgt. Gründe dafür waren oft eine fehlende direkte Sonneneinstrahlung und eine kleine Dachfläche im Vergleich zur Höhe und Größe des Mehrfamilienhauses. Caitlins Familie konnte jedoch einen relativ großen Dachabschnitt des Gebäudes pachten und hatte zudem Sonnenkollektoren in ihrem kleinen Gartenabteil platziert, direkt neben Caitlins Gemüseanbau mit eigenem dynamischen Solardach. So konnte sie im Sommer mit dem eigenproduzierten Strom sicher achtzig Prozent ihres Zusatzbedarfs decken.

Caitlin wusste nicht mehr, wann oder wie sie eingeschlafen und in ihr Bett gelangt war. Hatte sie sich überhaupt die Zähne geputzt? Benommen richtete sie sich auf und hörte von unten wirre Stimmen, darunter auch die von Leonie. Schlagartig war sie wach und hastete die Treppe hinunter, dann wuschelte sie ihrer Schwester durch die Haare. Ohne es bewusst bemerkt zu haben, hatte sie sich doch Sorgen um sie und ihre Reise gemacht.

„Wie geht es dir?“, fragte Leonie sogleich. „Dieses blöde Stromgesetz hat mich daran gehindert, dir zu schreiben. Wir haben nun mal in England nicht genügend Sonne für Kollektoren!“ Erbost strich sie sich die schwarzen Haare nach hinten.

„Mir geht’s gut“, lächelte Caitlin.

„Gut.“

Ihre Schwester lächelte sie ebenfalls an und machte sich dann daran, ihren Koffer durch den Gang zu schleifen.

„Was hast du denn da alles mitgenommen, um Himmels Willen!“, empörte sich Caitlin, während sich ihr Vater in die Küche begab und ihre Mutter in der Waschküche verschwand.

„Naja, es waren zwei Wochen“, keuchte Leonie, als sie versuchte, den Koffer die Treppe heraufzuziehen. „Papa! Kannst du mir kurz helfen?“

„Warte kurz, Schatz, sonst brennt es an …“

Leonie seufzte auf und wuchtete den Koffer mit einem Ruck die zweite Stufe hoch. Etwas zersprang, und dann fielen weiße kleine Splitter klirrend auf den Boden. Caitlin und Leonie schauten sich bestürzt an und schlugen wie in Zeitlupe die Hand vor den Mund. Das war eine der teuersten Vasen, die sie besaßen, und zudem ein Erbstück.

„Was war das?“

„Äh …“

Ihr Vater hastete nun sofort in den Gang und erkannte die Situation auf Anhieb. „Diese Vase …“, begann er und raufte sich die grau melierten Haare.

Caitlin wusste, was jetzt passieren würde.

„Tut mir leid …“, flüsterte Leonie. Das war noch nie ein guter Satz gewesen.

Ihr Vater lief knallrot an. „Es tut dir leid? Die Vase war ein Erbstück!“, schrie er. „Von meinem Vater und dessen Vater und dessen Vater!“

Leonie presste die Lippen zusammen und nickte schnell, während ihr Vater tief Luft holte.

„Hausarrest. Drei Tage“, brachte er schließlich mit bebender Stimme hervor. Seine Halsschlagader pulsierte gefährlich.

„Was?“ Leonie erstarrte.

Caitlin blickte ihre Schwester mitleidig an, blieb jedoch stumm, die Fäuste geballt. Sie wusste, sie würde nicht gegen ihren Vater ankommen. Würde sie ihn anschreien, würde er lediglich lauter schreien. Würde sie wütend aufstampfen, würde er nur noch wütender aufstampfen. Sie hatte nie eine Chance gegen ihn, genauso wenig wie Leonie.

„Aber … es sind Ferien … und ich treffe mich in einer viertel Stunde mit Katie …“, erwiderte Leonie mit schwacher Stimme.

Die Halsschlagader pulsierte noch mehr.

„Dann verschieb es.“

Noch während er die Worte aussprach, hörte Caitlin, wie sich jemand der Haustür näherte. Ihre Augen weiteten sich, doch bevor sie auch nur eine Silbe herausbringen konnte, klingelte es.

„Das … ist Katie.“ Leonie lächelte schwach. Ihr Vater fixierte sie stumm, sein Kopf wurde noch roter.

„Ich werde ihr kurz …“ Leonie machte einen Schritt zur Tür. Ihr Vater hielt ihren Arm fest. „Du wirst nicht. Ich erklär’s ihr.“

Caitlins Augen weiteten sich. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater, hochrot und mit gepresster Stimme, Katie erklärte, dass sie für die nächsten drei Tage nicht zu kommen brauchte, und dies in einem giftigen, bedrohlichen Tonfall. Ein säuerliches Gefühl stieg in ihrem Mund auf. Bevor sie es sich richtig überlegt hatte, stellte sie sich vor die Tür.

„Papa, warte …“

Es klingelte ein zweites Mal. Caitlin fühlte ein heißes Kribbeln in ihrem ganzen Körper, während sie standhaft zu bleiben versuchte und bocksteif vor der Tür stehenblieb.

„Jetzt hab ein wenig Geduld!“, schrie ihr Vater so laut, dass selbst Caitlin zusammenzuckte. Katie hatte dies hundertprozentig gehört.

„Papa!“, kreischte Leonie vorwurfsvoll und riss sich los.

„Bleib hier! Ich klär das“, donnerte er, drehte sich zu seiner zweiten Tochter um und schob sie zur Seite. Caitlin stolperte und fühlte Wut in sich aufkochen. Vermutlich war ihr Gesicht jetzt ähnlich rot wie das ihres Vaters. Sie drehte sich blitzschnell zu ihm herum, der Schwung ließ ihre langen, schwarzen Haare nach vorn schwenken. Nun ging alles wie in Zeitlupe. Ihre Haare wehten ihr vors Gesicht, und urplötzlich waren sie schwer und hart und leuchteten wie Eisen in der Sonne. Sie schwangen weiter und streiften ihren Vater. Caitlin konnte nichts sehen außer ihre weiß blendenden Strähnen, doch sie hörte ihn augenblicklich aufschreien. Ihre Haare verloren den Schwung und senkten sich wieder ab, so leicht und weich und schwarz wie immer. Sie führte hektisch eine Hand zu ihren Haaren und strich darüber, aber nichts hatte sich verändert.

Sie hob den Blick und sah in das entsetzte Gesicht ihrer Schwester, dann in die geschockten, fast schon verängstigten Augen ihres Vaters. Seine Hand lag auf seiner Wange und als er sie langsam senkte, sah Caitlin mehrere rote, leicht blutende Kratzer auf seinem Gesicht, die sich fast bis zu seiner Lippe erstreckten. Sie öffnete den Mund, doch ihr Hirn schien wie leer. Sie brachte keinen einzigen Ton heraus. Ihr Vater machte einen langsamen Schritt zurück, worauf Caitlin zusammenzuckte. Er hatte Angst vor ihr.

„Ich … ich weiß nicht, was …“

Ihre Stimme war lediglich ein dünnes Piepsen.

Ihr Vater hatte Angst vor ihr.

„Leonie? Caitlin? Was ist denn los?“

Caitlin fuhr herum und entdeckte ihre Mutter am Treppenrand. Auch ihr Vater drehte sich um, und mit einem Mal kam wieder Bewegung in ihn.

„Du …“, raunte er in Caitlins Richtung und streckte langsam einen Finger aus. „Du bist nicht Caitlin. Du bist nicht meine Tochter!“

Caitlin keuchte verzweifelt und Tränen schossen ihr in die Augen. Die Worte fühlten sich an wie eine Hand, die ihr Herz zusammenquetschte.

„Ich …“

Was war das gewesen?

„Caitlin …“ Das war Leonie. Sie hatte nun ebenfalls Tränen in den Augen.

„Sie hat mir das hier zugefügt! Das ist nicht Caitlin!“

Ihr Vater wandte sich seiner Frau zu, die mit offenem Mund auf das Szenario vor ihr starrte und sich keinen Zentimeter bewegte.

„Caitlin … der Arzt hatte vielleicht recht …“, flüsterte sie und blickte ihre Tochter direkt an. Sie hatte keine Angst. Sie war bloß besorgt. Und traurig. Caitlins ´Sicht verschwamm. Sie schüttelte heftig den Kopf, sodass die Tränenschleier verschwanden.

„Nein“, widersprach sie mit weinerlicher Stimme.

„Du!“ Ihr Vater packte sie an den Armen und schüttelte sie. „Gib mir meine Tochter zurück!“

Caitlin sah durch die wieder aufkommenden Tränen zu ihm auf, doch sie konnte sein Gesicht durch den Schleier aus Tränen und schwarzen Haaren, die ihr ins Gesicht fielen, nicht erkennen.

„Papa, lass sie in Ruhe!“, schrie Leonie, doch ihr Vater beachtete sie nicht.

Erneut spürte Caitlin Wut wie kochendes Wasser in ihr aufbrodeln. Sie wollte den Kopf drehen und Leonie etwas sagen, irgendwas – doch wieder waren ihre Haare ungewöhnlich schwer und behinderten die Bewegung. Diesmal hörte sie ihren Vater schreien, bevor sie ihre Haare aufblitzen sah, als sie langsam an seiner Brust entlangglitten und danach wieder wie gewohnt hinter ihren Schultern den Rücken herabfielen. All dies nahm sie in einer einzigen Millisekunde wahr. Noch im selben Moment drehte sie den Kopf und erblickte das Blut, das durch das aufgerissene Hemd ihres Vaters sickerte. Ihre Mutter stieß einen kurzen Schrei aus, Leonie wimmerte und Caitlin selbst schlug sich unwillkürlich die Hand vor den Mund. Ihr Vater krachte nach hinten gegen die Kommode und stöhnte auf, doch Caitlin konnte nichts mehr von alledem hören. Es schien, als hätten ihre Ohren vor Schreck beschlossen, fortan nichts mehr durchdringen zu lassen.

Ein Luftzug streifte ihre Wange und Caitlin realisierte, wie ihre Mutter nach vorn stürmte und sich neben ihren Mann kniete. Ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein ihm, nur ihm. Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, seine Brust vom Hemd zu befreien. Es war inzwischen rot verfärbt.

Caitlin versuchte, zu atmen, doch es fiel ihr schwer. Fast so, als wäre sie diejenige, die verletzt war.

Papa …

Ihre Worte erreichten die Umwelt nicht.

Doch die Worte, die nun aus dem Munde ihres Vaters drangen, würde sie ihr Leben lang sehr genau in Erinnerung behalten.

„Du bist nicht meine Tochter … Du bist ein M… ein Monster …“

Leonie wimmerte erneut und nun stürzte auch sie, bereits das Handy in der Hand, um den Notruf zu wählen, zu ihrem Vater vor.

Caitlin stand noch immer bloß da.

Es tut mir leid …

Ihr Atem beschleunigte sich; ein kläglicher Versuch ihres Körpers, die Tränen zurückzuhalten. Ihr Sichtfeld verzerrte sich. Sie schwang herum, stolperte über ihre eigenen Füße, riss die Tür auf und rannte.

Kapitel 2

Noch immer kam Caitlin alles so unwirklich vor.

Das Garagentor öffnete sich erneut und wieder erschien Darren, der blonde Junge. „Meine Eltern kommen erst in zwei Wochen. Keine Bange.“

Seine Stimme klang sanft, aber auch dies konnte Caitlin momentan nicht beruhigen. Ihr Blick driftete ab und sie nickte.

„Danke.“

Noch immer fragte sie sich, wie sie dieses Viertel überhaupt so schnell erreicht hatte. Als sie circa eineinhalb Stunden zuvor aus ihrer Wohnung gestürmt war, war sie so lange gerannt, bis sie gleichzeitig von einem Auto, einer Straßenlaterne und Darren gestoppt worden war. Das Auto hätte sie gestoppt, wäre da nicht die Laterne gewesen, die ihr den Weg zur Straße versperrt hätte, und die Laterne hätte sie gestoppt, wäre Darren nicht neben ihr aufgetaucht und hätte sie auf Seite gerissen. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie einander erkannt hatten. Darren war etwa gleichermaßen aufgewühlt wie sie gewesen, doch im Gegensatz zu ihr hatten sich auf seinem Gesicht nicht solch unattraktive Tränen- und Rotzspuren abgezeichnet.

„Caitlin … das kleine Mädchen, das kanntest du doch, oder?“

Caitlin schreckte aus der Erinnerung hoch und starrte den Jungen für eine Sekunde perplex an. Er hatte sich neben sie auf den Boden gesetzt.

Sie räusperte sich und schüttelte vehement den Kopf.

„Ich hab’ mich mit ihr während der Fahrt unterhalten, aber das ist alles …“

Darren nickte langsam. Caitlin kam endlich wieder in der Realität an und sie musterte den Blondschopf genauer. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

„Dein Bruder … ist aber unversehrt, oder?“

Er blickte sie an. Seine blauen Augen fixierten ihr Gesicht, doch Caitlin konnte kaum eine Regung darin erkennen. Zuvor hatte Darren ihr erklärt, dass ihm urplötzlich grelle, pulsierende Strahlen aus den Augen geschossen waren. Das klang fast noch furchterregender, als das, was mit Caitlin passiert war – von den verheerenden Folgen einmal abgesehen.

„Es sind zwei. Aber ja. Bloß das Spielzeugauto ist … es ist …“

Er hob die Hände und fuchtelte hilflos mit ihnen herum, doch eine passende Beschreibung schien ihm noch immer nicht einzufallen.

„Elektrisiert?“

Er schaute sie erneut an.

„Mutmaßlich ja … Wie dem auch sei, mein jüngerer Bruder traut sich natürlich nicht mehr in die Nähe davon.“

Caitlin nickte verständnisvoll und öffnete den Mund.

Haben deine Brüder nun auch Angst vor dir? Der Gedanke lag ihr auf der Zunge, aber sie sprach ihn nicht aus.

„Und nun sind die beiden einfach allein da oben?“

Er zuckte die Schultern und betrachtete seine offensichtlich ziemlich teuren, neuwertigen Schuhe.

„Das wären sie ja auch gewesen, wenn das Lager tatsächlich stattgefunden hätte. Und mein anderer Bruder ist neunzehn und am Studieren, also … Das sollte kein Problem sein.“

Er scharrte mit den Füßen auf dem Boden rum, sodass sich der Dreck auf den Schuhen sammelte und braune Flecken bildete.

Caitlin wandte den Blick irritiert ab. Eine Weile blieb es still.

„Ich will schlafen“, platzte es aus ihr heraus und sie fühlte sich gleich darauf ziemlich dämlich.

Doch Darren schaute sie lediglich an und nickte. Seine Augen schienen noch immer stumpf, und Caitlin wunderte sich fast, dass er überhaupt mitbekommen hatte, was sie gesagt hatte.

„Leg dich auf mich“, seine Stimme klang sanft, und was er sagte, erschien ihm wie selbstverständlich.

Caitlin schaute ihn einen Moment perplex an. „Ähm, was?“

Er sah ihr in die Augen und nun endlich konnte sie so etwas wie Amüsement erkennen.

„Meine Güte, jetzt mach schon. Das gehört sich so – ich fühl‘ mich eh schon miserabel, weil ich dich nicht in unserer Wohnung empfange, sondern dich in dieser ungemütlichen Garage ohne Luftfilter verstecke.“

„Ach was, ich bin froh über diese ungemütliche Garage“, meinte Caitlin mit einem schwachen Lächeln und musterte seinen Körper. Wie genau sollte sie sich denn auf ihn legen?

Er setzte sich ebenfalls anders hin, sodass sich seine Beine kreuzten und sein Oberkörper gegen die Wand gelehnt war, wodurch Caitlin die Entscheidung vereinfacht wurde. Ein bisschen weniger nervös lehnte sie ihren Kopf gegen seine Beine.

„Und abgesehen davon“, ertönte nun seine Stimme von oben, „will und kann ich gar nicht schlafen.“

Caitlin lächelte schwach und nickte, die Augen bereits geschlossen. Ein paar Minuten später war sie auch schon weggedämmert.

Darren hörte ein Knarren, gefolgt von leisen Stimmen. Sie schienen von oben zu kommen. Seine Brüder? Darrens Familie wohnte in der untersten der vierzig Wohnungen, gleich neben der Garage. Seine Augenlider flatterten, als überlegten sie, ob sie ihn nun zum Schlafen zwingen oder ihn lauschen lassen sollten. Doch sie entschieden sich gegen Darrens Willen, und die Stimmen verstummten.

Stattdessen befand er sich nun in seinem alten Zimmer. Seine Mutter stand am anderen Ende und blickte ihn an. Ein Muskel in ihrem Gesicht zuckte, doch sie gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben.

Einerseits tat sie ihm leid. Doch andererseits konnte er nicht verhindern, dass ihre Ruhe ihn noch mehr in Rage brachte. Seine Hand donnerte erneut gegen die Wand. Er spürte den Schmerz kaum, doch hörte den Schlag, den seine Hand erzeugt hatte, in seinen Ohren widerhallen.

Beruhige dich.

Doch es fiel ihm schwer. Die Wut beherrschte ihn – und die Tatsache, dass sie ihn beherrschte, wühlte ihn noch zusätzlich auf.

Er stieß sich kraftvoll von der Wand ab und tigerte unruhig im Zimmer herum.

Du regst dich unnötig auf. Hör auf.

Er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch lautlos wieder und beschränkte sich darauf, weiterhin mit geballten Fäusten durch das Zimmer zu laufen.

Jetzt komm schon. Beruhige dich.