20XY - Francy Klose - E-Book

20XY E-Book

Francy Klose

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, beginnt bereits in den 2020er Jahren. Bis wir im Jahre 2058 auf Noah treffen, geschehen Dinge, die zugleich unglaublich und gar nicht so weit hergeholt sind. Wir begleiten unseren Protagonisten und seinen tierischen Freund Sem durch eine Welt der Widersprüche, durch Zerstörung und Moderne, und fragen uns mit ihm: gibt es noch andere? Haben wir eine Zukunft? Sollten wir überhaupt eine zweite Chance bekommen? In 20XY - WOLFSSPUREN wird uns die Welt in den Jahren nach dem Untergang der Zivilisation aus drei Perspektiven erzählt. Wir erfahren, wie Noah, Rahel und Michail zueinanderfinden und was ihnen in dieser Welt des Überlebens des Stärkeren widerfahren musste, als sie noch Kinder waren. In einem Bonuskapitel kommt Noah noch ein zweites Mal zu Wort und es lüften sich auch die letzten Geheimnisse um seine Vergangenheit ... unsere Zukunft?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



20XY

Wolfsspuren

 

Francy Klose

 

 

20XY

Wolfsspuren

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Francy Klose

Lektorat: S. RosenowKorrektorat: S. RosenowCover-Design: Brittany Wilson

Zierden: F. Schneider

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 978-3-7562-1446-4

Francy Schneider

Nußweg 1

15232 Frankfurt (Oder)

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Louis und Fabian

 

 

 

 

 

Vorwort

 

Du hältst ein Buch in den Händen, das für mich etwas ganz Besonderes ist. Was mit einem Gedanken begann, einem Bild in meinem Kopf von einem einsamen jungen Mann in der Zukunft, das wurde so viel mehr. Irgendwann reihte sich ein zweiter Gedanke in die Planung ein. Noah brauchte einen Komplizen. Ziemlich schnell war mir klar, dass es ein Wolf sein musste, steht dieser doch symbolisch genau für das, was auch Noah und das bestimmende Feeling der Geschichte ausmacht: Einsamkeit. Und obwohl sich auch Rahel und Michail in die Erzählung mit einfinden, bleibt es dabei. Die Einsamkeit bestimmt sie alle. Eine Einsamkeit, die sich falsch anfühlt, sind doch Mensch wie Wolf eigentlich Rudeltiere.

Warum habe ich mich für dieses Szenario entschieden? Warum beschreibe ich eine Welt, die uns allen eigentlich Angst macht? Warum male ich so einsame Charaktere?

Gern würde ich jetzt mit einer schlauen Antwort aufwarten, die Wahrheit ist jedoch, dass das alles ein Selbstläufer war. Es gab 7 Seiten, die fühlten sich nicht ausreichend an. Ich war auch mit 11 Seiten nicht zufrieden, dabei stand eine Dystopie nie wirklich auf dem Plan, hat mich ganz eigentlich nicht einmal interessiert.

Aber wie das so ist mit Selbstläufern, sie kommen ans Tageslicht, ob man will oder nicht. Sie gefallen den Lesern, sie eignen sich für das Premade-Cover, das man zufällig entdeckt … sie lassen einen schlicht nicht in Frieden!

Selbst jetzt, da ich fertig bin, will mich dieser Dämon nicht loslassen. Meine Leser sind daran nicht ganz unschuldig.

Die Frage: wie geht es weiter?

Und dann dreht sich das Rad … was wäre, wenn … wie wird sich diese fiktive Welt entwickeln, was wird aus den Protagonisten?

Ich glaube, es ist eben genau das Szenario, was uns dazu veranlasst, immer weiter zu fragen. Irgendwie ertragen wir es nicht, das etwas, was in einer möglichen Zukunft spielt, offen oder gar schlecht endet. Hier brauchen wir mehr denn je das Happy End.

So gern ich meinen Lesern dieses allumfassende und abschließende Happy End auch geben möchte, ich werde es ihnen wohl schuldig bleiben. Denn natürlich weiß auch ich nicht, wohin die Reise gehen wird. Weder in der Realität noch in meinen Büchern. Ich sträube mich sogar gegen einen Satz wie: und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Das würde auch gar nicht passen.

Und vielleicht findet sich in Zukunft die Gelegenheit, noch etwas weiter zu gehen. Hier und jetzt jedoch endet die Geschichte unserer drei Protagonisten, oder zumindest das, was ich dir von ihnen erzähle.

Ich hoffe, du kannst aus meinen Erzählungen etwas mitnehmen, für dich, für dein Leben, für die Zukunft.

 

 

 

 

 

Trigger-Warnung

 

Als Dystopie behandelt diese Geschichte natürlich eine Welt nach dem Höhepunkt der menschlichen Zivilisation, eine Zeit, in der Werte und Moral an Bedeutung verlieren neben dem Willen, zu überleben.

Diese Welt ist geprägt von Tod, Gewalt und Einsamkeit sowie von den schweren klimatischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen vergangener Fehler.

Solche Szenarien können uns Angst machen. Auch und gerade, weil sie teilweise nicht allzu weit hergeholt sind.

Gleichzeitig will und muss ich an dieser Stelle betonen, dass es sich um Fantasie handelt. Das, was hier geschieht, ist fiktiv.

 

Solltest du bemerken, dass du dich beim Lesen nicht wohlfühlst, mach am besten eine Pause und sprich mit jemandem über deine Gefühle.

 

Vergiss nicht: es ist keine Schande, ein Buch nicht zu lesen oder es abzubrechen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Trigger sind unter anderem:

 

- Psychische und physische Gewalt (Drohungen, Erpressung, Verlassenwerden, Entführung, Eingesperrtsein, Androhung sexueller Gewalt, versuchte Vergewaltigung, Vergewaltigung, Mord, Zwangsimpfung)
- Selbstmordversuch und Depressionen
- Panikattacken
- Schwangerschaft und komplizierte Geburt
- Betrug und Fremdgehen
- Waffen und ihr Gebrauch
- Hunger und Durst
- Gefährliche Tiere wie Spinnen, Wölfe, Bären
- Feuer, Wasser und Ertrinken
- Blut

 

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit!

 

 

Die Geschichte eines Wolfes ist immer auch die Geschichte seines Rudels. Ein Wolf ohne ein Rudel ist stets nur ein einsamer Wanderer. Das Attribut der Einsamkeit ist in der Sprache der Menschen seltsamerweise eng an den Wolf geknüpft. Vielleicht genau deshalb, weil der einsame Wolf eine besondere Bürde trägt. Weil er weitermacht, obwohl das Rudel längst fort ist. Er lebt und er jagt, ohne zu wissen, wofür. Er streift umher, ohne eine Ahnung vom Ziel. Von der Zukunft, die möglicherweise auf ihn wartet. Oder auch nicht. Er streift durch die Wälder, getrieben von einer stummen Hoffnung, die er niemals genau bestimmen kann.

Dies hier ist die Geschichte eines Wolfes. Die Geschichte seines Rudels, seines Lebens. Eine Geschichte ohne Gewissheit, ohne ein Morgen oder gar ein Danach. Eine Geschichte voller Vielleicht, voller Gestern und voller Was-wäre-wenn.

Stell dir nur einmal vor: was wäre denn, wenn … ?

 

 

Prolog

 

Es ist das Jahr 2058 nach Christi. August, der wievielte auch immer.

Könnte ich in eine Zeitmaschine steigen und zu einem beliebigen Punkt in der Geschichte zurückreisen, würde ich vermutlich das Jahr 2021 wählen. Ich würde zu den Menschen gehen, zu Ihnen, die mit hängenden Schultern und entweder zu viel oder gar keiner Arbeit belastet sind. Sie, die nicht weiter wissen als die nächsten drei oder vier Wochen und sich beständig wünschen und noch ein Stück weit davon auch ausgehen, dass bald alles wieder normal sein wird.

Ich würde zu Ihnen sagen: Welche Hoffnungen auch immer Sie für die Zukunft hegen, sie werden sich nicht erfüllen!

 

Die Welt hat sich seit den beginnenden 2020er Jahren drastisch verändert. Aus den blühenden Metropolen zu Beginn des Jahrhunderts sind binnen kürzester Zeit Geisterstädte geworden. Die Winter blieben aus und die Sommer wurden immer länger. Auf dem Festland ließen sich die meisten Getreidesorten nicht mehr anbauen, und was noch wuchs, wurde in guter Regelmäßigkeit von kilometerlangen Heuschreckenschwärmen vernichtet. Ehemalige Wälder wurden zu tödlichen Brandherden, während prosperierende Flusslandschaften allmählich versiegten.

 

Das alles geschah binnen weniger Jahrzehnte. Sie fragen sich vielleicht, was aus den Menschen wurde, die hier lebten. Die meisten von ihnen haben diese klimatisch bedingte Aneinanderreihung von Katastrophen nicht überlebt. Jetzt fragen Sie vielleicht noch: Die meisten? Ich sage Ihnen, vermutlich alle! Bis auf mich.

 

Die Geschichte, die ich heute erzählen werde, richtet sich nicht an diejenigen nach mir, denn es ist nicht sicher, ob es nach mir noch Menschen geben wird. Sie richtet sich an jene vor mir, die noch so etwas wie eine Vorstellung von Zukunft hatten. Jene, die von Hoffnungen geprägt waren und ihren Untergang haben kommen sehen, ohne ihm entgegenzuwirken. Sie richtet sich an Sie, die Menschen der Jahrtausendwende, der zwanziger und vielleicht auch der dreißiger Jahre.

 

Mein Name ist Noah. Ich bin der vermutlich letzte Mensch auf der Welt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

2058

 

Das Thermometer zeigte 46°C an. Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, als sich eine riesige, rötliche Wolke vor sie schob und alles unter sich verschlang. Ein Sandsturm fegte durch die Straßen der Stadt, die vor hunderten von Jahren erbaut worden war und ihren Glanz längst verloren hatte. Sie grenzte an einen inzwischen ausgetrockneten Fluss mit dem Namen Rhein. Es war ein Sturm, wie sie zu dieser Jahreszeit üblich zu werden begannen. Bis in den späten Herbst hinein tobten die tödlichen Winde durch das Land und rissen alles aus den Angeln, was nicht schon von früheren Stürmen zerstört worden war.

Das Werden und Vergehen mag eins der wichtigsten Naturgesetze sein. Doch was wie ein Kreislauf auszusehen scheint, ist in Wahrheit etwas völlig anderes. Die Zeit dreht sich nicht im Kreis. Was einmal war und vergangen ist, das kommt nicht wieder. Man kann Geschehenes nicht rückgängig machen und Vergangenes nicht, auch nicht künstlich, wiederbeleben. Eine Stadt wie diese ist ein gutes Beispiel für dieses allumfassende Prinzip. Doch nicht nur dafür. Auch ein anderes Gesetz der Natur lässt sich vor allem in ihrem Verfall erkennen. Das Werden und das Vergehen sind zwei vollkommen unterschiedliche Vorgänge. Das Eine ist nicht bloß die Umkehr des Anderen.

Wenn etwas vergeht, verliert es oftmals seine Würde. Wenn etwas, oder jemand, seine Zeit überdauert hat, wird diese Tatsache oft lange Zeit verleugnet. Eine erste Phase des Erkennens beinhaltet auch das Schönreden. Die eigentliche Reife sei nun eingetreten, der wahre Glanz. Letztlich wird der tatsächlichen Akzeptanz des nahen Endes kaum genügend Zeit zuteil. Verzweiflung und Chaos sind die Folge anstatt friedlicher Stille. So ergeht es einer Stadt, die stirbt, so erging es der Menschheit.

Im Jahre 2058 kannte ich es so. Die Menschen, die zuvor in einer weitgehend funktionierenden Gemeinschaft miteinander gelebt hatten, waren zu Feinden geworden im erbitterten Kampf um Wasser und Nahrung, zuletzt um die letzten Plätze in den Zügen, die sie an einen vermeintlich besseren Ort bringen sollten. Nun, da diese Stadt tot war, herrschte wieder Frieden.

Ich setzte das klobige Fernglas ab und blinzelte in das herannahende Treiben. Schweiß tropfte mir am Kinn herunter und ich spürte, wie die Haut an meinen Händen schmerzhaft zu ziehen begann. Natürlich wusste ich, dass es unklug war, in der Mittagshitze auf dem Dach eines Hochhauses zu liegen und sich von der Sonne braten zu lassen. Doch dieser Sturm hatte mich seit dem Morgen in seinem Bann gehalten, als er noch viele Kilometer entfernt gewesen war.

Nun aber gab es nichts mehr zu sehen. Eilig verließ ich meinen Posten, um ein sicheres Versteck aufzusuchen, ehe mich die launenhaften Winde erfassten.

Stürme wie diesen zu beobachten, erzeugte eine seltsame Neugier in mir. Jedes Mal, wenn ich einen sah, fragte ich mich, wie es sich wohl anfühlte, von ihnen erfasst zu werden.

Ich stellte mir gern vor, wie es hier aussehen würde, gäbe es in der Stadt außer mir noch Menschen. Würden sie durch die Straßen fliehen und einer nach dem anderen den Boden unter den Füßen verlieren, oder hätten sie sich bereits seit Stunden in ihren Häusern und Wohnungen verschanzt, um den Sturm dort auszusitzen?

Menschen, dachte ich so bei mir, als ich mich an den langen Abstieg machte. Wie lange hatte ich schon keine mehr gesehen? Fünf Jahre? Sechs?

Die Menschheit war nicht für Außerplanmäßiges gemacht. Deshalb gab es sie auch nicht mehr. Ich war, soweit ich wusste, der Letzte.

Sie fragen sich vielleicht, wie das in so einer Stadt nach sechs Jahren quasi ohne den Menschen aussehen mag … erstaunlich paradox, würde ich meinen. Sehen Sie, die meisten Gebäude und Geräte sind noch intakt. Doch defekte Stromleitungen, die nicht repariert, und wetterbedingte Schäden, die nicht ausgebessert werden, verursachen Brände, die niemand löscht, und einsturzgefährdete Bereiche, die niemand absichert. Roboter mit langlebigen Chips wachen immer mal wieder auf, wenn ihre überhitzten Prozessoren noch nicht zu schmelzen begonnen haben.

Meine Welt bestand aus modernster Technik, zusammengebrochen aufgrund fehlender menschlicher Fürsorge. Sie bestand aus Müll und Schrott und Sand, aus einem sich an jeder Ecke aufdrängenden Widerspruch.

So besaß das ehemalige Luxushotel einen Aufzug, der bis vor ein paar Jahren zuverlässig funktioniert hatte. Vielleicht funktionierte er noch immer, könnte man meinen, denn die Stromversorgung der Stadt basierte beinahe flächendeckend auf sogenannten alternativen Energien und war damit weitgehend autark aufgestellt. Die Solarplatten auf dem Dach waren jedoch durch all die Stürme stark beschädigt worden, sie lieferten kaum Strom, und niemand nutzte ihn. Die ausbleibende Wartung jeglicher Technik hatte ihre Spuren hinterlassen. Es gab also keine Garantie, aus einem Fahrstuhl, in den man einstieg, auch wieder herauszukommen.

Ich war mir sicher, die letzten Überlebenden der Stadt seien einer dieser blinden alltäglichen Gewohnheiten zum Opfer gefallen. Für meinen Teil hatte ich jedenfalls wenig Interesse daran, nachzusehen, und entschied mich lieber für die Treppe.

Das Treppenhaus war dunkel. Nur ab und an flackerte ein Notstromaggregat auf und verschreckte die Fledermäuse, die sich seit dem Verschwinden der Menschen besonders gern in Hotels wie diesem hier einquartiert hatten. Vermutlich würden die Tiere in spätestens einem Jahr endgültig Ruhe vor derartigen Störungen haben.

Ich erreichte das Erdgeschoss, als das ächzende Gebäude längst vom Sandsturm eingeschlossen war. Es war nachtdunkel in der Lobby. Meine Taschenlampe half mir aus und führte mich unfallfrei vorbei an Tischen und Stühlen. Die Batterien hatte ich erst kürzlich gewechselt. Sie funktionierten einwandfrei. Ich hatte sie aus einem Lager einige Kilometer von hier mitgenommen. Man musste genau hinschauen, nach welcher Sorte man griff. Die meisten funktionierten schon nicht mehr. Nur die hochwertigen Batterien besaßen eine Lebensdauer von etwa zehn Jahren. Ich hoffte, ich würde mit ein wenig Glück noch länger davon profitieren können.

Der Sandsturm prasselte mit einer unüberhörbaren Lautstärke an die Scheiben. Es hatte keinen Sinn, jetzt rauszugehen, also machte ich es mir auf einem der Sofas gemütlich, nachdem ich eine hundsgroße Ratte erlegt hatte.

Die Nager waren zu meinen ärgsten Fressfeinden mutiert. Alles, was die Stadt noch an konservierter Nahrung zu bieten hatte, fiel ihnen zum Opfer. Doch da auch ich nicht wählerisch war, wilderte ich regelmäßig eines dieser pummeligen Tiere.

Ich kannte mich gut aus. Zwar war die Welt noch vor meinem dritten Geburtstag aus den Fugen geraten, doch Solaranlage sei Dank lebte ich in dem ehemaligen Haus meiner Großeltern unabhängig von allem um mich herum. Ich hatte Strom, wenn auch nicht viel. Er reichte für den alten Kühlschrank, etwas Licht in allen Räumen und für den Fernseher. Oma und Opa hatten eine schier endlose Sammlung an DVDs auf dem Dachboden gelagert. Immer wenn sie keine Nerven oder einfach keine Kraft mehr hatten, mich zu beschäftigen, setzten sie mich vor einen dieser beinahe fünfzig Jahre alten Filme. Ich verlor mich noch heute gern in meiner Vergangenheitsblase, allerdings nutzte ich lieber die diversen noch immer verfügbaren Streamingdienste. Ich hatte sonst nichts, um mich aus der bitteren Realität zu flüchten, die mich viel zu früh in meinem Leben eingeholt hatte.

Ich musste etwa elf Jahre alt gewesen sein, als ich meine Großeltern an den langen Sommer verlor. Eigentlich war es eine glückliche Zeit gewesen. Die Menschen atmeten wieder auf, denn es schien sich nach jahrelangen, verlustreichen Strapazen endlich alles wieder zum Guten zu wenden. Doch dann kam die Hitze, kam die Dürre, und kamen die Heuschrecken. Die Lebensmittelknappheit führte nur deshalb nicht zu einem Bürgerkrieg, weil man glaubte, mit dem Jahresende und dem darauffolgenden Frühling würde das Hungern ein Ende nehmen.

Ich lag auf diesem noblen Sofa und wippte unruhig mit dem Bein. Ich hasste dieses Warten. So ein Sandsturm konnte für Stunden anhalten. Ich erinnerte mich an diesen Sommer der Ernteausfälle. Ihm folgte ein Herbst, der dem Sommer glich, und darauf folgte ein Winter, der keiner war. Kurz gesagt: der erlösende Frühling blieb aus. Für drei lange Jahre. Doch so lange brauchte es gar nicht dauern, um aus einhunderttausend Menschen zehntausend Menschen zu machen und aus zehntausend Menschen einhundert Menschen. Hier auf dem Sofa fühlte sich die Erinnerung an wie ein böser Traum.

 

Gegen Abend lichteten sich die Straßen wieder und ich trat meinen Heimweg an. Es war schwer genug, denn die Stadt hatte einmal mehr ihr Gesicht geändert. Irgendwann würde sie einer Ruinenstadt gleichen und ich fragte mich, ob in einigen hundert Jahren jemand hier Ausgrabungen machen würde. Vermutlich nicht.

Die Zeit, in der die Menschen nach und nach verschwanden, war eine seltsame Zeit. Man begegnete einander immer seltener, die Begegnungen wurden aggressiver. Als Kind brauchte ich mir keine Illusionen machen. Wo ich konnte, mied ich den Kontakt zu anderen Menschen. Sah es zunächst so aus, als würden einige Schlaue einen Weg finden, die Dürre zu überstehen und sich zu einer neuen Gesellschaft zu formieren, machte auch hier das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Ich war zwölf oder vielleicht bereits dreizehn Jahre alt, als es geschah. Einer von ihnen drehte durch und erschoss die meisten anderen, bevor er sich selbst richtete. Falls außer mir jemand fliehen konnte, kam er vermutlich nicht weit. In der Stadt gab es nichts mehr zu holen und außerhalb entstand inzwischen eine riesige Wüste, die weder Wasser noch Nahrung bereithielt. Was sich dahinter verbarg, war vermutlich nicht besser dran als meine Heimat. Nachdem ich nun also mindestens fünf Jahre lang niemandem mehr begegnet war, ging ich ziemlich sicher davon aus, dass ich der Letzte sein musste.

Ich fand mein Haus nach einem längeren Fußmarsch wieder und war froh, zu sehen, dass es größtenteils verschont geblieben war. Lediglich das Dach und der schmale Vorgarten waren mit rötlichem Sand berieselt worden.

Von drinnen schabte es wild an der Haustür.

„Ist gut“, raunte ich beruhigend und schloss auf. Mir sprang ein hochgewachsener grauer Wolf entgegen und warf mich beinahe um. „Sem, ist gut“, wiederholte ich die Beschwichtigung lachend. Das Tier winselte vor Freude über meine Rückkehr.

Das war Sem. Sem war ein Wolf. Und er war mein einziger und bester Freund.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Das Haus meiner Großeltern war gegen Ende des alten Jahrtausends entstanden. Noch immer zeugte dieser wunderschöne kleine Wohnsitz in der Vorstadt von seiner einstigen Schönheit. Dunkelgrüne Dachziegel und eine weiße mit verdorrtem Efeu bewachsene Fassade, natursteinerne Treppenstufen vor einer anthrazitfarbenen Haustür.

Bis auf die Solaranlage, die in den 2010ern installiert worden war, hatte das Haus seither keine nennenswerten Erneuerungen gesehen. Das musste laut den Erzählungen meiner Großmutter vor allem am Wirtschaftskollaps in den 20er Jahren gelegen haben, als die Sorgen der Menschen nicht zuletzt dem simplen Überleben gegolten hatten.

 

Meine Oma war eine liebe und tüchtige Frau. Sie wurde Anfang der 1990er Jahre in Berlin geboren, kurz nach dem Fall der deutsch-deutschen Mauer. Als Einzelkind fehlte es ihr nie an etwas, von einem Spielkameraden einmal abgesehen. So hatte sie in jungen Jahren beinahe die halbe Welt bereisen und sehen können, war in Afrika, in Indien, in den USA. Dort lernte sie schließlich meinen Opa kennen, mit dem sie in eine gut situierte Wohngegend einer lebendigen Stadt am Rhein in ein kleines Haus zog.

Sie hatte immer viele Kinder gewollt, doch nach drei Fehlgeburten blieb meine Mutter der letzte Versuch, eine Familie zu gründen. Opa war ein pragmatischer, stiller Mann, der oftmals bis in die Nacht arbeitete. Er kannte meine Mutter daher kaum, als sie mit dem Wunsch, zu heiraten, auf ihn zukam.

Der Mann ihrer Träume war als Kind aus Syrien geflohen, hatte Krieg und Elend gesehen und überlebt. Etwas, das meine Großeltern nur aus Erzählungen kannten. Er war depressiv, von Panikattacken geplagt und meine Großeltern wussten lange nicht, ob dieser Mann der richtige für seine lebensfrohe Tochter war. Aber mein Vater blühte mit ihr auf. Sie wurden ein Ehepaar, erwarteten ein Kind. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen. Meine Mutter starb nur kurze Zeit nach der Geburt, und das Kind schrie nur in seiner trauernden Umarmung. Meine Großeltern wurden schließlich zu den Sorgeberechtigten eines Waisenkindes.

 

Das kleine Haus hatte all dies überdauert. Lange Zeit hatte mein Opa es sorgfältig in Schuss gehalten. Viele Kleinigkeiten konnte er selbst übernehmen, wenngleich größere Neuerungen ausblieben. Mit Kindern konnte er nicht viel anfangen, doch das Haus war seine Mission. Bis vor sieben Jahren der Beginn des langen Sommers seinem Leben ein jähes Ende bereitete.

 

Was denkt man sich schon, wenn im August und September die Hitzewelle vom Juli noch kein Ende finden will? Wenn im Oktober und November noch von einem verzögerten Winter ausgegangen wird, der im Dezember noch immer nicht eingetroffen ist?

Ich war damals noch ein Kind. Ich schaute nicht auf den Kalender. Für mich war einfach Sommer. Ich wusste nicht, dass das Grundwasser verschwand. Ich wusste nur, dass wir nicht mehr baden und irgendwann auch nicht mehr duschen konnten. Ich bekam mit, dass die Leute sich im Supermarkt um Essen und Trinken stritten und dass irgendwann Soldaten kamen und für Ordnung in der Stadt sorgten.

Viele Leute zogen damals fort, noch viel mehr starben.

Mein Opa hatte nicht lange leiden müssen. Sein schwaches Herz hatte die erste größere Hitzewelle nicht überstanden. Er starb zu einer Zeit, als Beerdigungen noch stattfanden.

Oma hatte es dagegen schon schwerer. Nach Opas Tod begab sie sich in eine unablässige Tüchtigkeit und lehrte mich allerhand sinnvolle, wie auch unnütze Sachen, die sie sich zum größten Teil selbst oder mit Hilfe von Internetvideos beigebracht hatte.

Ich lernte also, Ziegen und Kaninchen zu schlachten und ihr Fleisch schmackhaft zuzubereiten. Lernte, es lange haltbar zu machen und gut zu verstecken. Sie brachte mir auch bei, wie man aus beinahe nichts noch immer irgendetwas zaubern konnte.

Oma verfolgte stets akribisch die abendlichen Nachrichten, infolgedessen sie sich in ihr einsames Schlafzimmer zurückzog. Vielleicht ahnte sie, was auf uns zukam.

 

 

2051

 

Es war der Abend, bevor der letzte Zug die Stadt verlassen sollte. Seit Wochen verließen täglich immer mehr Menschen die Stadt, um anderswo ihr Glück zu suchen. Von nun an würde es still werden in den einst so belebten Straßen. Oma wirkte an diesem Abend besonders traurig und legte sich, als ich schlafen gehen sollte, mit zu mir ins Bett. Trotz meiner elf Jahre liebte ich solche Momente. Fest zog sie mich zu sich heran.

„Mein Lieber“, sagte sie mit schwacher Stimme. Ich kuschelte mich in ihre Umarmung ein und lachte.

„Oma?“, fragte ich. Sie machte ein leises Geräusch, das mir ihre Aufmerksamkeit verriet. „Ich kann die Sterne heute gar nicht sehen.“

Oma strich mir sanft über die Wange. Sie wusste, was ich sagen wollte, denn jeden Abend hatte sie mir von Opa erzählt, der auf einem der Sterne saß und auf uns schaute.

„Da sind ein paar Wolken am Himmel“, erklärte sie mir. „Doch das macht nichts. Opa kann uns trotzdem sehen.“

„Glaubst du, er hat uns vergessen?“, fragte ich traurig. „Ich erinnere mich kaum noch an sein Gesicht.“

„Er wird uns niemals vergessen, hörst du?“, sagte sie und ihre Stimme wurde brüchig. „Opa wacht über uns.“

„Aber er kann uns doch gar nicht sehen“, protestierte ich. „Wie soll er da über uns wachen?“

„Er muss uns nicht sehen, um über uns zu wachen.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Eines Tages wirst du es verstehen, Noah.“

Ich schwieg eine Weile. Etwas anderes drängte sich an die Oberfläche meiner Gedanken.

„Wohin gehen all die Leute, Oma? All unsere Nachbarn sind schon fort. Sollten wir nicht auch woanders hingehen?“

„Die Menschen machen einen Fehler“, antwortete sie ruhig. „Sie werden es an einem anderen Ort nicht besser haben als hier, denn hier sind sie zu Hause. Sie haben ein Dach über dem Kopf. Anderswo sind sie Fremde, und für Fremde gibt es nirgendwo auf der Welt ausreichend Platz.“

„Aber wenn wir hier nicht mehr leben können, müssen wir doch fortgehen, oder nicht?“, wollte ich wissen. Oma schwieg eine Weile, bevor sie antwortete.

„Die Leute machen einen großen Fehler. Dessen bin ich mir sicher.“

Sie streichelte meine Wange, küsste meine Stirn und sagte mir, wie stolz sie auf mich war. Ich genoss ihre mütterliche Nähe und schlief bald friedlich ein. Es war das letzte Mal für eine lange, lange Zeit.

Am nächsten Morgen wurde ich von dicken Regentropfen geweckt, die auf die Fensterscheibe einschlugen. Aufgeregt tastete ich nach Oma, doch das Bett war leer. Daher rief ich nach ihr, wollte die frohe Botschaft herausschreien. Doch als sie auch darauf nicht reagierte, stand ich auf, um nach ihr zu suchen. Noch einmal rief ich nach ihr, doch noch immer antwortete sie mir nicht. Einzig der Regen prasselte lautstark an die Fenster.

Ich schaute im Badezimmer nach, im Wohnzimmer und schließlich in der Küche. Oma war spurlos verschwunden. Erst beim zweiten Blick auf den Küchentisch fiel mir das leere Weinglas ins Auge, neben dem ein Brief lag. Eine böse Vorahnung schlich sich in mein Herz, doch ich drängte sie beiseite. Zögerlich nahm ich den Brief, der in Omas schnörkeliger Handschrift geschrieben war, in die Hand und begann zu lesen.

 

Noah, mein Herz, mein Ein und Alles!

 

Die Zeit ist gekommen, da ich dich verlassen muss. Das Wasser ist knapper denn je, und auch unsere Nahrungsquellen versiegen. Du bist noch ein Kind, und es fällt mir unendlich schwer, doch sollst du wissen, dass ich dich beschützen muss. Ich habe dir alles beigebracht. Nun stehe ich dir im Weg. Das Leben wird nun von Tag zu Tag härter. Du darfst niemandem vertrauen! Der Sommer ist noch lang nicht vorbei und du wirst dich fragen, ob er je wieder endet.

Mein Schatz, das wird er! Vertraue darauf und gib niemals auf. Es wird der Tag kommen, an dem der Regen zurückkommt, der Schnee und mit ihnen das Leben.

Du bist alles, was ich noch habe. In dir leben wir weiter. Dein Vater und deine Mutter, selbst Opa und ich, wir alle sind in deinem Herzen und werden dich begleiten, wenn du dich einmal einsam fühlst, aber auch, wenn dir eines Tages Glück widerfahren mag.

Vergiss das niemals, hörst du? Ich liebe dich! Du bist unsere Zukunft.

 

Damals wollte ich nicht verstehen, was sie damit meinte. Ich ließ den Brief fallen und rannte hinaus auf die Straße. In meinem Bauch tat sich ein Loch auf, dessen Leere ich noch lange fühlen würde. Mit Tränen in den Augen rief ich nach ihr. Die wenigen Menschen, denen ich in der Stadt noch begegnete, wandten sich ab oder wollten sie nicht gesehen haben.

„Sie hat bestimmt den letzten Zug genommen und ist abgehauen, Junge. Hier gibt es keine Zukunft mehr“, sagte ein zynischer älterer Herr, nachdem er mich eine Weile beobachtet hatte. „In diesen Zeiten vergessen die Leute, wer einmal Freund und Bruder war.“

„Das glaube ich nicht“, schrie ich ihn wütend an. „Meine Oma würde mich nicht im Stich lassen.“

Der Mann nickte nur mitleidig und wandte sich zum Gehen. Nach einigen Schritten blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu mir um.

„Du tust gut daran, nicht weiter nach ihr zu suchen, Junge“, sagte er auf einmal. „Was du auch vorfinden magst, du wirst dir wünschen, du hättest deine Suche eingestellt.“

Lange sah ich ihm nach und fragte mich, was er damit wohl gemeint haben konnte.

Doch ich stellte die Suche nicht ein. Mein nächstes Ziel war der Bahnhof. Was ich dort zu finden hoffte, wusste ich nicht. Inzwischen hatte der Regen mein Haar und meine Kleidung vollkommen durchtränkt, doch mein wildes Herz brauchte eine Erklärung. Ich wollte es nicht wahrhaben, doch natürlich fürchtete ich, dass der zynische Mann Recht behalten würde. Dass Oma ohne mich in eine bessere Welt aufgebrochen war.

Auf dem Bahnsteig tummelten sich trotz des prasselnden Regens unzählige Menschen. Sie machten einen ohrenbetäubenden Lärm, den ich nach diesem Tag nie wieder hören sollte. Hektisch drängten sie aneinander vorbei, schimpften und schnatterten und machten mich ganz verrückt.

Dann sah ich den Zug. Er war noch da. Und er war in diesem Moment gleichbedeutend mit der Hoffnung, Oma hier zu finden und mit ihr fortzugehen, so wie alle anderen es taten. Vielleicht war es tatsächlich so. Ich war jedenfalls davon überzeugt. Sie musste verstanden haben, dass sie sich geirrt hatte. Wir sollten hier nicht bleiben, in dieser elenden Stadt an einem Fluss, den es nicht mehr gab. Sie war hier, ich spürte es.

Leuchtende Farben zogen an mir vorbei. Menschen schrien, andere riefen sich nervös etwas zu. Jemand zog mich zur Seite. Es war eine Frau mit einem Kind auf dem Arm.

Ich liebe dich, hörte ich meine Oma sagen. Es waren die Worte aus ihrem Brief von heute Morgen. Verwirrt entriss ich mich dem Griff der Fremden und sah mich um. Oma musste hier sein.

Die Türen des Zuges waren verschlossen. Drinnen standen die Leute dicht gedrängt, von draußen kam niemand mehr rein.

Vor der Spitze des ersten Waggons mit der Schaffnerkabine liefen Menschen in grellem Gelb und Orange umher und hielten die aufgeregten Leute von den Gleisen fern. Auf mich achteten sie nicht. Schnell rannte ich an ihnen vorbei, um einen Blick auf die Gleise zu werfen und das, was sie dort trieben.

Die Zeit ist gekommen, da ich dich verlassen muss. Die Menschen machen einen Fehler!

Der Anblick, der sich mir bot, brannte sich tief in mein Bewusstsein ein. Das Gesicht der Toten gehörte zu ihr. Sie hatte den Zug aufgehalten.

Die dunkle Erkenntnis legte sich wie ein Schatten über mein Herz: Oma war fort. Von nun an war ich für immer allein.

 

 

 

Kapitel 3

 

Es wird der Tag kommen, an dem der Regen zurückkommt, der Schnee und mit ihnen das Leben.

 

Fünf Jahre lang brannte dieser Satz in meinem Herzen. Fünf lange, lange Jahre, in denen ich irgendwie weiterlebte. Die Menschen verschwanden aus der Stadt, niemand kam je zurück, doch ich blieb und wuchs in stiller Einsamkeit heran. Alles, woran ich mich klammern konnte, war der Abschiedsbrief meiner lieben Oma mit seiner hoffnungsvollen Verheißung, eines Tages würde sich alles zum Guten wenden.

Der lange Sommer endete tatsächlich. Einen dritten ausbleibenden Winter hätte wohl auch ich nicht überstanden. Es kam Regen, es kam Abkühlung, doch der Schnee blieb aus.

Mehr als nur einmal dachte ich darüber nach, die Stadt zu verlassen. Das günstige Klima würde mir bei der Durchquerung der Wüste einen Vorteil verschaffen. Doch zu sehr hing ich fest an meinen Erinnerungen, zu sehr fürchtete ich das, was geschehen könnte.

So blieb ich in der Stadt, und ich blieb allein. Bis vor etwa zwei Jahren.

 

 

 

2056

 

Es war ein windiger und außergewöhnlich kalter Tag. Das Thermometer am Haus zeigte nur etwa zehn Grad Celsius an. Ich musste zweimal hinsehen, um es zu glauben. So kalt war es in den letzten Wintern nie gewesen. Sollte das etwa der Anfang sein? Kam der Frost endlich zurück? Die Vorstellung ließ mich vor Freude lächeln. Das war eine ungewohnte Mimik, über die ich mich selbst ein wenig wunderte.

Wie jeden Morgen kniete ich mich vor die kleine steinerne Engelsskulptur in meinem Vorgarten und begann zu beten. Für den nächsten Regen, für etwas zu Essen, solche Dinge eben. Es war der einzige Moment am Tag, an dem ich sprach. Doch dieses Mal war mein Gebet etwas ambitionierter.

„Hallo liebe Oma, guten Morgen! Du wirst dich freuen, zu hören, dass es heute nur zehn Grad sind! … Ich weiß, so kalt war es schon lang nicht mehr. Ich muss zugeben, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gefröstelt habe! … Ich wünsche mir so sehr den Schnee herbei, Oma. Kannst du da nichts machen? … Ich weiß, es ist viel verlangt, doch vielleicht … kannst du mir ein Zeichen geben … Falls die Zeit noch nicht gekommen ist … weißt du, ich bin sehr einsam …“

So viele Worte. Traurig senkte ich den Blick. Zu viele Worte für die Toten. Sie hatten sicher genug.

Also stand ich mit einem Kloß im Hals auf und machte mich an die Arbeit. Mein häuslicher Kräutergarten brauchte dringend Wasser. Eine Aufgabe, der ich normalerweise stolz und mit Bedacht nachging. Es half, in dieser Ödnis meines Lebens nicht verrückt zu werden.

Ich baute nicht nur verschiedene Kräuter im Inneren des Hauses an, jagte in der Stadt nach Mäusen, Tauben und Ratten, um ihr Fleisch haltbar zu machen. Regelmäßig klapperte ich außerdem verlassene Wohnungen und Häuser ab, um wertvolle Schätze zu finden wie Pflaster, Zahnbürsten oder Nahrungsmittel. Letzteres wurde immer seltener. Was die Menschen hiergelassen hatten, war meist verderblich und bei seiner Entdeckung oftmals nicht mehr genießbar.

Ich interessierte mich aber auch für Werkzeug, Papier und Stifte. Alles, was mir vielleicht einmal nützlich sein könnte, fand Einzug in das kleine Haus meiner Großeltern. Ich selbst brauchte schließlich nicht viel Platz.

Wenn das Wetter draußen unerträglich wurde, schaltete ich den Fernseher an. Erstaunlicherweise funktionierte das Internet noch weitestgehend. Ich konnte sogar die Nachrichten verfolgen, die bis ins Jahr 2051 hinein ausgestrahlt wurden. Allerdings machte mich das Fernsehen immer etwas traurig. Zwar lernte ich viel von der Welt, wie sie früher einmal gewesen war, doch ich empfand mich mehr und mehr selbst wie ein vergessenes Überbleibsel. Die Gegenwart, meine Realität, war für mich zu einer Art Nachwelt geworden. Ich lebte jenseits der Vorstellungskraft meiner Vorfahren. Ich war Teil einer Fiktion, die niemand hatte wahrhaben wollen, einer Zukunft, die viel zu weit entfernt und die nicht präsent gewesen war in den Köpfen der Menschen, die dort im Fernsehen miteinander stritten und lachten und weinten. Ich war der surreale Film auf der anderen Seite des Bildschirms, doch niemand hatte je hingesehen.

 

Bis zu jenem kalten Dezembertag im Jahre 2056 war ich drauf und dran gewesen, in meiner Einsamkeit zu ertrinken. Die Kälte hatte mich nach draußen gelockt, denn ich wollte auf das Dach meines Lieblingshochhauses steigen, um zu sehen, ob möglicherweise eine Regenfront nahte. Mit meinem Fernrohr bewaffnet zog ich durch die verlassenen Straßen, deren Asphalt bereits große Risse bekam.

Mein Weg führte mich vorbei an dem ehemaligen Bahnhof, von dem aus damals der letzte Zug die letzten Flüchtlinge mitgenommen hatte, nachdem Oma zu Tode gekommen war.

Nur ungern näherte ich mich diesem unglückseligen Ort, dessen Bahnsteig ich seither nicht mehr betreten hatte.

Plötzlich drangen seltsame Geräusche an meine Ohren. Zunächst hielt ich sie für Einbildung, doch immer deutlicher wurde nun, dass dort jemand, oder wahrscheinlicher Etwas war. Schon oft hatte ich zugesehen, wie ein Schwarm Tauben über eine tote Ratte hergefallen war. Meine Bereitschaft, nachzusehen, was da oben auf dem Bahnsteig so einen Lärm machte, hielt sich also in Grenzen.

Doch dieses Geräusch ließ mich nicht los, und tief in mir sehnte ich mich danach, dass etwas geschah. Etwas Neues, das mein Leben veränderte. Natürlich war diese Hoffnung mehr als hoch gegriffen, aber ich wollte nicht weitergehen, ohne wenigstens nachgesehen zu haben, so schwer es mir an diesem Ort auch fallen mochte.

Auf dem Bahnsteig angekommen entdeckte ich die Ursache des Lärms sofort. Ein Tier steckte mit dem Kopf in einer Blechdose und schabte damit über den Boden. Im ersten Moment hielt ich es für eine kräftige, weiße Ratte. Schnell zog ich ein Taschenmesser aus meiner Hose und näherte mich dem schmächtigen Tier mit Bedacht. Ich war geübt darin, Ratten zu töten, und ich war schnell. Diese hier würde heute mein Abendmahl sein. Doch je näher ich kam, desto deutlicher erkannte ich, dass es sich gar nicht um eine Ratte handelte.

Mein erster Gedanke war, einem seltsamen Fuchs oder einem seltenen Hasen begegnet zu sein, doch dann zog das Tier den Kopf aus der Dose und offenbarte seine wahre Identität. Vor mir kauerte ein schneeweißes Wolfsjunges.

Eine Weile starrten wir einander an, ungläubig, den jeweils anderen wirklich wahrzunehmen. Was machte ein Wolfsjunges hier?

Nervös sah ich mich um, hatte ich doch in Dokumentationen gesehen, dass Wölfe ausgesprochen gute Jäger und vor allem Rudeltiere waren. Doch außer uns beiden war niemand hier.

 

Tage später sollte ich das leblose Muttertier des Kleinen in einer engen Gasse entdecken, völlig ausgezehrt. Doch da hatte ich mich bereits entschieden, den kleinen weißen Welpen aufzunehmen. Milch bekam er bei mir nicht mehr, denn so etwas hatte ich hier nicht. Doch er begnügte sich mit jeder Menge Trockenfleisch und Wasser, sodass er mit der Zeit nicht nur zu meinem treuen Begleiter, sondern zu einem stattlichen Wolf heranwuchs.

Es war dieser Begegnung zu verschulden, dass ich wieder zu sprechen begann. Mein neuer Zuhörer ließ sich an den Namen „Sem“ gewöhnen und freute sich genauso über einen neuen Kumpan, wie ich es tat.

Wir wurden als Team unschlagbar, jagten zusammen, aßen zusammen, streunten gemeinsam durch die Straßen und schliefen beide, wie ich es aus dem Fernsehen kannte, in dem großen Bett meiner Großeltern.

Sem brachte mir neuen Mut, und er ließ mich träumen. Von einem Leben, in dem ich nie wieder einsam sein musste.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

2058

 

Von mir aus hätte es für immer so bleiben können. Der Wolf war zu meiner neuen Familie geworden. Wir waren die Herrscher über die ganze Stadt. Alles gehörte uns.

Doch der Morgen meines, wie ich dann erfuhr, achtzehnten Geburtstages sollte alles verändern. Ich hatte schon öfters Drohnen gesehen. In meiner frühen Kindheit waren sie regelmäßig am Horizont zu entdecken gewesen, doch mit dem Verschwinden der Menschen verschwanden offenbar auch die Drohnen. Ich weiß nicht, wie viele dumme Zufälle zusammenspielen mussten, um zu ermöglichen, dass an diesem Morgen eine kleine schwarze Drohne über dem Haus meiner Großeltern schwebte. Ihr monotones Surren weckte zuerst Sem, dessen Geheul schließlich auch mich hochschrecken ließ.

Da ich beim Blick aus dem Fenster nichts erkennen konnte, liefen wir nach draußen. Die Sonne an ihrem wolkenlosen Himmel brannte bereits auf der Haut, obwohl es noch lang nicht Mittag war. Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich den Himmel ab.

Da schwirrte tatsächlich eine intakte Drohne über unseren Köpfen. Ich spürte mein Herz lauter schlagen bei ihrem Anblick. Sie war vollkommen intakt. Staubig, aber intakt.

Als sie in mir eine menschliche Lebensform erkannte, setzte sie gekonnt zum Sinkflug an und ließ aus ihrem Bauch heraus ein kleines Päckchen fallen. Ich wagte nicht, es aufzuheben, ehe die Drohne sich wieder erhob und davonrauschte.

In einem ersten Impuls wollte ich ihr folgen. Sem jaulte verwirrt, doch ich musste die Verfolgungsjagd verschieben. Die schwüle Hitze war bereits jetzt am frühen Morgen kaum erträglich. Wir sollten nichts riskieren und auf den Abend warten.

Also prägte ich mir die Flugrichtung der Drohne genau ein und hob daraufhin neugierig das kleine Päckchen auf. Eifrig suchte ich nach einer Aufschrift. Einen Absender fand ich nicht, nur meinen Namen und die Adresse des Hauses in geschwungener Handschrift konnte ich mühsam entziffern. Ich las gern, doch kannte ich fast ausschließlich die gedruckten Buchstaben aus Büchern. Schreiben konnte ich nur rudimentär. Meine Hand war darin mangels Anlasses zum Schreiben schlicht nicht geübt.

„Komm, Sem“, sagte ich zu meinem tierischen Freund und ging wieder ins Haus. Schweiß tropfte mir bereits von der Stirn. Im Haus war es wesentlich angenehmer. Die meisten Rollos hatte ich bereits am Abend heruntergelassen, nachdem ich einmal großzügig durchgelüftet hatte. Ich ließ mich auf der durchgesessenen Couch vor dem Fernseher nieder und betrachtete das seltsame bräunliche Päckchen.

„Wollen wir mal schauen, was da drin ist?“, fragte ich Sem, der einen ungeduldigen Laut von sich gab. Also riss ich das dicke Papier auf und entblößte ein kleines Buch, auf dem ein zusammengefalteter Brief lag.

Für einen Moment hielt ich die Luft an. Ganz tief in mir wollte ich wissen, was in dem Brief stand. Ich wollte nachsehen, was das für ein Buch war. Ich wollte wissen, wer mir dieses Päckchen geschickt hatte, wo er oder sie sich aufhielt und woher er von mir wusste. Ich wollte an ein Wunder glauben.

Doch eine eigentümliche Angst hielt mich zurück. Der letzte Brief, den ich bekommen hatte, war der Beginn des schlimmsten Tages in meinem Leben gewesen. Wollte ich wirklich nachsehen, was man mir hier hatte zukommen lassen?

Zwiegespalten sah ich zu Sem, als könnte er mir diese Entscheidung abnehmen. Sein Schwanz wischte aufgeregt über den Boden. Wenn es nach ihm ginge, wäre das Rätsel längst gelöst.

Also gut, dachte ich mir und seufzte, bevor ich zuerst das Buch aufklappte. Dabei handelte es sich jedoch weniger um ein echtes Buch als um ein Fotoalbum. Erstaunt blätterte ich ein wenig darin. Wer waren diese Leute? Ich erkannte das Haus wieder, ich meinte auch, Oma und Opa auf dem einen oder anderen vergilbten Foto wiederzuerkennen.

Die Antwort, wer die anderen Personen waren, musste in dem Brief stehen. Mich entmutigte auf den ersten Blick bereits die neuerliche Handschrift. Mit pochendem Herzen riss ich ihn dennoch auf und faltete ihn vorsichtig auseinander.

 

Alles Gute zu deinem achtzehnten Geburtstag, mein lieber Noah.

 

Es war Omas Handschrift, wie mir nun klarwurde. Diese Erkenntnis versetzte meinem Herzen einen unerwarteten Stich. Mit einem Mal war ihr Verlust wieder zum Greifen nahe. Die Verzweiflung, die Panik, die ich verspürt hatte am Tag ihres Fortgangs.

Ich wollte den Brief schon zerreißen, da hielt mich die Erinnerung an unsere letzten gemeinsamen Stunden zurück. Die Liebe, mit der sie mich umsorgt hatte. Sie hatte ihren Tod selbst bestimmt. Sie wusste, was sie am kommenden Morgen tun würde, und sie wollte, dass ich mich ein letztes Mal geborgen fühlen konnte. Offenbar hatte sie außerdem dafür gesorgt, dass ich heute diesen Brief bekam. Mit einem Herzen, schwer wie Blei, las ich weiter.

 

Dass du diesen Brief liest, macht mich unheimlich stolz. Du hast es geschafft, bis heute zu überleben. Ich bin mir sicher, dass du, wie auch immer die Welt da draußen nun aussehen mag, auch weiterhin überleben wirst. Das ist bereits mehr, als ich mir zu wünschen gewagt habe.

Ich weiß, es muss schwer für dich gewesen sein, mein Verschwinden zu akzeptieren, doch es musste sein, da ich dir die wenigen Ressourcen, die noch blieben, nicht stehlen durfte.

 

Dicke Tränen rannen mir über das Gesicht. In all den Jahren hatte ich nie wirklich verstanden, weshalb sie gegangen war. Manchmal hatte ich sogar geglaubt, der Mann, dem ich an diesem Tag begegnet war, hätte Recht gehabt, und sie wollte sich wie alle anderen mit dem letzten Zug absetzen.

Ich hatte diese Wut gebraucht, von ihr zurückgelassen worden zu sein, denn sie half mir, die unendliche Trauer, um sie zu überwinden.

Doch die Wahrheit war, dass sie sich für mich geopfert hatte. Sie hatte noch gelebt, als sie diesen Brief geschrieben hatte, doch er las sich, als würde ihr Geist mit mir sprechen.

 

Ich möchte dir mit diesem Brief etwas auf den Weg geben. Das beiliegende Fotoalbum zeigt unsere Familie in Zeiten, die sicherlich auch schon düster waren, doch hinter dem, was mit Beginn der 2050er Jahre geschah, weit zurückstehen.

Das Baby auf diesen Bildern, das bist du, mein lieber Noah. Und das junge glückliche Paar, das dich hält, das sind deine Eltern. Ich weiß, wir haben dir nur wenig von ihnen erzählt. Ihr Verlust hat uns schwer getroffen und wir wollten stark sein für dich, unseren einzigen Enkel.

 

Deine Mutter ist im Jahre 2015 auf die Welt gekommen. Ein Jahr, in dem viel Aufruhr in Europa herrschte. Große Flüchtlingsströme kamen nach Europa, verfolgt von Krieg und Hunger und wirtschaftlichen Nöten. Sie kamen aus Vorderasien und aus vielen Teilen Afrikas. Mit ihnen kam damals ein kleiner Junge von sechs Jahren, dein Vater.

 

Als deine Mutter gerade fünf Jahre alt war, brach eine Krankheit über uns herein, die eine weltweite Pandemie auslöste. Viele Menschen verloren in den darauffolgenden Jahren ihr Leben. Etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung starben, vielleicht waren es auch mehr. In Europa traf es uns hart, doch am schlimmsten war es in ärmeren, bevölkerungsreichen Ländern. Wer nicht an der Krankheit verstarb, verhungerte oder wurde Opfer von schrecklichen Bürger- und später grausamen Bandenkriegen.

Die Gesetzlosigkeit breitete sich zunehmend aus, auch hier in Deutschland. Was folgte, war eine schwere Weltwirtschaftskrise, von der sich die Gesellschaft erst Mitte der dreißiger Jahre allmählich erholte.

 

Deine Eltern lernten sich während dem Studium kennen. Deine Mutter wollte Gynäkologin, also Frauenärztin werden, dein Vater war drauf und dran, sich als Schlossermeister etwas aufzubauen. Sie waren so glücklich miteinander.

Dann wurde deine Mutter schwanger, und wir glaubten schon, dass das Leben endlich und auf lange Sicht gut werden würde.

Leider überlebte deine Mutter die Folgen ihres Kaiserschnitts nicht. Sie hatte sich während der OP mit einem multiresistenten Keim angesteckt, der sich schleichend und zunächst unbemerkt durch ihre Organe fraß.

 

Als du etwa sechs Monate alt warst, starb sie an den Folgen. Dein Vater, seit seiner Flucht vor dem Krieg als Kind von Alpträumen und Depressionen geplagt, ertrug ihren leidvollen Tod nicht und nahm sich nur wenige Monate später selbst das Leben.

 

Das Leben ist nicht fair, mein Junge, das weiß ich, seit ich dich zu mir genommen habe. Du hattest mehr verdient. Eine glückliche Kindheit zusammen mit deinen Eltern. Überhaupt eine Kindheit.

Stattdessen bist du bei deinen trauernden Großeltern aufgewachsen und das in einer sich allzu rasant verändernden Welt.

Was ich dir nun mitgeben möchte, an deinem achtzehnten Geburtstag, ist Vertrauen. Hab Vertrauen in die Zukunft. Schau nach vorn und mache etwas aus deinem Leben! Was gestern war, ist heute nicht mehr und wird morgen vergessen sein.

Sei nicht traurig über das, was du nicht haben konntest. Je weniger du heute hast, desto mehr liegt vor dir!

Vertrau mir, vertrau auf dich… vertrau auf deine Zukunft!

 

In ewiger Liebe,

deine Oma

 

Mein erster Versuch, das Fotoalbum anzusehen, misslang wegen der Tränen, die keinen Halt finden wollten. Ich weinte alles heraus, was sich in mir angestaut hatte.

Sem kannte diese Tränen nicht. Er setzte sich auf und schleckte mir freundschaftlich das Gesicht ab. Nachdem ich mich wieder ein wenig gefangen hatte, zeigte ich ihm das Fotoalbum und blätterte darin, als würden wir uns beide dafür interessieren. Es war das erste Mal, dass ich Bilder von meinen Eltern sah. Oma und Opa hatten immer versucht, alles von mir fernzuhalten, das wehtun könnte. Nun sah ich die Gesichter und ich erkannte einen Teil von mir in jedem von ihnen.

Da waren auch ältere Bilder von vor meiner Zeit. Bilder, die laut Datum im alten Jahrtausend entstanden sein müssen. Bilder von meiner kindlichen Oma im Schnee. Mehr als alles andere verspürte ich beim Anblick dieser Bilder eine Sehnsucht, die mit jeder Sekunde zu wachsen begann.

Mache etwas aus deinem Leben! Ich konnte es Oma beinahe sagen hören. Meterhoher Schnee, Eiszapfen an den Dächern, all das kannte ich nicht. Aus den Büchern und Filmen der Vergangenheit wusste ich, dass es schon immer Orte gegeben hatte, an denen es nie schneite, und andere, an denen der Schnee normal war. Was, fragte ich mich, wenn ich genau dorthin gehen würde?

Doch ich verwarf diesen abstrusen Gedanken sofort wieder. Er scheiterte an der Durchführbarkeit. Niemand hatte diese Stadt verlassen und war jemals zurückgekehrt. Es gab keinerlei Lebenszeichen von anderswo auf der Welt. Was auch immer mit der Menschheit geschehen war, hier war ich sicher. Hier hatte ich mir mein Leben aufgebaut und hier verbrachte ich es mit Sem. Das alles aufs Spiel zu setzen wäre doch töricht.

 

Nach dem Einbruch der Dunkelheit machten Sem und ich uns auf den Weg, die Drohne wiederzufinden. Es war immer noch schwül, und ich hoffte fest, dass bald ein erlösendes Gewitter heraufziehen würde. Mein Plan war, in die Richtung zu laufen, in welche die Drohne geflogen war, und dort dann eine der ehemaligen Postfilialen auf den Kopf zu stellen. Möglicherweise gab es dort noch weitere Drohnen, die auf irgendein Zustellungsdatum programmiert waren. Hatte Oma noch mehr Briefe an mich geschrieben?

 

Eine Postfiliale entdeckte ich nicht. Dafür standen wir nach einem längeren Marsch vor einem größeren Postzentrum. Ich war begeistert. Bis hierhin hatten meine Füße mich noch nie getragen.

Äußerlich machte das Postzentrum den Anschein, als könnte es noch immer in Betrieb sein. Natürlich hatte die Fassade gelitten, doch an der üblichen Zerstörung mangelte es hier. Wie es wohl drinnen aussah?

Da die Türen wie erwartet verschlossen waren, musste die Axt zum Einsatz kommen, die ich vorsichtshalber mitgenommen hatte. Es dauerte einen Moment und Sem jaulte eifrig, um mich anzufeuern, doch dann war es geschafft. Mit einer guten Taschenlampe, die ebenfalls zu meiner über die Jahre zusammengesuchten Ausrüstung gehörte, leuchtete ich uns den Weg. Man konnte vieles über die Vergangenheit sagen, aber an Güterknappheit hatten die Menschen nicht gelitten.

Und genau diesen Eindruck bestätigte mir das Postzentrum. Es schien kein Tag vergangen zu sein, seit diese Arbeitsstätte aufgegeben worden war. Zwar lag auf allem eine dicke Staubschicht, doch hier hatte in den letzten Jahren niemand geplündert oder randaliert, geschweige denn gehaust. Offenbar hatte man diesen Ort von einem Moment zum nächsten einfach vergessen.

Fasziniert ging ich durch die große Halle. Auf einmal blitzte etwas auf, und noch ehe ich es mich versah, war ich umgeben von einem riesigen Spinnennetz. Mühsam und angeekelt kämpfte ich mich frei und leuchtete meine direkte Umgebung ab. Plötzlich sah ich sie.

Spinnen!

Von überall her krabbelten sie auf uns zu, riesige, monströse Ungetüme. Ich schätzte die Kleinsten auf mindestens vierzig Zentimeter inklusive der Beine.

„Sem, hierher“, rief ich angewidert und nahm fix Reißaus. Der Wolf folgte mir. Je schneller wir liefen, desto panischer wurde ich und umso langsamer rückte der rettende Ausgang näher. Ich hörte ein aufgeregtes Krabbeln hinter uns und betete, dass wir schneller waren. Ich wollte nicht zum lang ersehnten Festmahl einer gigantischen Spinnenhorde werden.

 

Als wir an der frischen Luft ankamen, prasselte schwerer Regen auf uns hernieder. Die Luft hatte sich deutlich abgekühlt und mit Schrecken nahm ich die zuckenden Blitze am Himmel wahr. Sie entluden sich über der Stadt. Ich hörte es krachen und wusste sofort, dass sie irgendwo eingeschlagen waren.

Eilig liefen wir zurück zum Haus meiner Großeltern und ich hoffte, dass die Flammen, die sich vor uns ausbreiteten und trotz Regen immer höherschlugen, nicht aus meiner Straße kamen.

Doch je näher wir kamen, desto realer wurde meine Befürchtung. Der Blitz hatte in dem großen Baum neben dem Haus eingeschlagen. Die trockenen Äste waren auf das Dach gefallen und von dort aus brannte das komplette Gebäude aus.

„Nein“, schrie ich verzweifelt und versuchte noch, durch die Tür ins Haus zu gelangen, um wenigstens das Fotoalbum noch zu retten, welches ich auf dem Wohnzimmertisch liegen gelassen hatte. Ein herabstürzender Balken versperrte mir jedoch den Weg. Hilflos musste ich zusehen, wie der gesamte Dachstuhl in sich zusammenfiel und mit einem Mal alles, was ich hatte, alles, woran ich noch festhielt, zerstört wurde.

Wäre die Drohne bloß nicht aufgetaucht, dachte ich, während ich vor dem flammenden Inferno stand, das einmal mein Zuhause gewesen war.

In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mit meiner Vergangenheit darin zu verbrennen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5

 

Feuer hat etwas Magisches an sich. Es lässt sich nicht fassen, lässt sich nicht einfangen. Es ist flüchtig wie der Wind, und nimmt man ihm seinen Grund, erlischt es unwiederbringlich.

---ENDE DER LESEPROBE---