21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläft - Doris Lerche - E-Book

21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläft E-Book

Doris Lerche

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Beschreibung

Erotische Grotesken und frivole Tragödien um Lust und Leistungsdruck, Liebe und eheliche Langeweile: ganz wie im richtigen Leben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Doris Lerche

21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläft

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläftDas BettRoswithaPost aus ThailandMeine Schwester NadinePetite fleurBodystockingFrau ohne FührerscheinNirwanaUnter den PlatanenEin Tanz im MaiDie OperDoktorspielVon Möbeln und MösenLiebesmüh

21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläft

 – weil er ihr leid tut

 – weil es dazugehört

 – weil er ein berühmter Verleger ist

 – weil sie sich rächen will

 – weil er so süß verklemmt ist

 – weil sie eine emanzipierte Frau ist

 – weil er sie schon sechsmal zum Essen eingeladen hat

 – damit er keine andere vögelt

 – weil nur ein einziges Bett vorhanden ist

 – damit er nicht denkt, sie sei frigide

 – weil die letzte Straßenbahn weggefahren ist

 – damit er sie nicht verläßt

 – weil sie Angst vor ihm hat

 – weil sie Geld braucht

 – damit er endlich Ruhe gibt

 – weil ihr eine Freundin gesagt hat, daß er gut vögelt

 – weil man sich nicht mit ihm unterhalten kann

 – damit er glaubt, er sei ein guter Liebhaber

 – weil sie testen will, ob er wirklich schwul ist

 – weil ihr kein Argument dagegen einfällt

21.

 – weil sie Lust auf ihn hat

Das Bett

Sie hätte nicht zu ihm ziehen sollen. Dieses Schlafzimmer nahm ein Drittel seiner Wohnung ein und das ausladende Bett die Hälfte des Schlafzimmers. Ein Meter achtzig mal zwei Meter. Ein Ungetüm.

Aber nun kannten sie sich sechs Jahre, und Hubert war nicht der Mann, der sich’s auf Dauer im Provisorischen gemütlich einrichtete. Immer wieder beklagte er die doppelten Mietkosten, die umständliche und zeitraubende Hin- und Herfahrerei und daß er sich als Besuch in der fremden Wohnung nie heimisch fühle. Die Verabrederei ging ihm auf die Nerven, er hätte es gerne natürlicher und selbstverständlicher gehabt.

»Ich denke, du bist meine Lebensgefährtin«, sagte er manchmal. Es sollte ironisch klingen. »Dabei sehe ich meine Arbeitskollegen öfter als dich.«

An ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag sann Jasmin darüber nach, daß Hubert mit seinen einundfünfzig Jahren noch immer ein attraktiver Mann war und, ihres Zögerns müde, sich eines Tages in eine Zwanzigjährige verlieben und mit ihr eine Familie gründen würde.

So gab sie sich einen Ruck und teilte ihm mit, sie werde jetzt den von ihm gewünschten Schritt tun und den Alltag mit ihm teilen. Um die Sache endgültig zu machen und nicht mehr zurückzukönnen, kündigte sie umgehend ihr kleines Appartement, das sie nach dem Auszug der Kinder gemietet hatte, und setzte einen Teil ihrer Möbel zum Verkauf in die Zeitung. Sie vermied es, darüber nachzudenken, wie ein Leben mit Hubert aussehen würde, und füllte ihre Freizeit mit emsigen Tätigkeiten. Sie ließen die Wände streichen, hängten neue Lampen und Gardinen auf, rissen den alten Teppichboden heraus und verlegten Fertigparkett aus rosigem Ahorn, das die ganze Wohnung sonniger machte.

Das riesige altmodische Doppelbett, ein Relikt aus Huberts Ehe, wurde verkauft. Doch so rasch sie sich bei allen anderen Entscheidungen einig wurden, so schwierig gestaltete sich die Wahl des neuen Bettes. Sie wälzten Kataloge, betrachteten die bunten Reklamebeilagen der Tageszeitungen, durchforsteten Möbelgeschäfte und Kaufhäuser. Schon bei der Auswahl der Matratze begannen sie zu streiten. Jasmin schlief gern hart, Hubert bekam von harten Matratzen Rückenverspannungen wie damals auf den unbequemen Pritschen seiner Militärzeit. Jasmin wollte eine Federkernmatratze mit beidseitiger Kamelhaarauflage. Hubert hielt das für unnötigen Luxus, statt Kamelhaar könne man ebensogut Baumwolle nehmen, auch ein Naturprodukt. Und wozu einen Lattenrost mit verstellbarem Kopf- und Fußteil? Wichtiger fand Hubert eine Zusatzverstärkung des mittleren Lattenbereiches, der ja besonders strapaziert werde.

Nachdem sie für Matratze und Rost einen Kompromiß gefunden hatten, der beide unbefriedigt ließ, ging es mit dem Bettgestell von vorne los. Hubert hätte gern etwas Gemütliches aus Holz gehabt. Jasmin warnte vor giftigem Leim und Holzschutzmitteln, vor denen man nie sicher sei, und schlug ein Metallgestell vor, das Hubert gräßlich nüchtern erschien. Die Holzschutzmittel gaben den Ausschlag, und Hubert versuchte, das sachliche Metallgestänge durch die Wahl des Bettüberwurfs wettzumachen. Alles Gesteppte und Gerüschte begeisterte ihn und löste Jasmins Widerwillen aus: In einem Spießer-Bett, so wie ihre Eltern eins hatten, wolle sie nicht schlafen. Energisch verteidigte Hubert das elterliche Bett. Mit zwei Kopfpolstern, zwei Nackenrollen, zwei Nachttischchen, zwei Leselämpchen war es einfach unglaublich praktisch. Der kargen Matratzenzeit der siebziger Jahre hatte er nie etwas abgewinnen können. Für ihn war das traditionelle Ehebett der Inbegriff des gemeinsamen Glücks. Er strahlte, als das mächtige Möbelstück zusammengeschraubt und an seinen Platz gestellt wurde, während Jasmin sich beklommen in die frisch gekachelte Küche verdrückte.

Nicht, daß sie Hubert nicht liebte. Im Gegenteil, er war eine echte Erholung nach Götz, ihrem geschiedenen Mann. Wie sie selbst unternahm Hubert ausgedehnte Wanderungen, schätzte harmonische Abende vorm Fernseher, ging mehrmals die Woche in gepflegter Kleidung gepflegt essen, hörte gern klassische Musik, bereiste mit Vorliebe ferne Länder, um fremde Kulturen kennenzulernen – kurzum, sie stimmten in den wesentlichen Dingen des Lebens überein. Hinzu kam, daß er kein Hausmütterchen wollte, das ihn bediente, so wie Götz es von ihr verlangt hatte. Götz, erfolgreicher Immobilienmakler, immer in Eile, immer überarbeitet, war überzeugt gewesen, ihr Job als Gymnasiallehrerin bestehe vor allem aus Schulferien. Als die beiden Kinder aus dem Haus waren, trennten sie sich endlich, und er heiratete umgehend seine junge Kollegin, die bereit war, sich seinen Wünschen zu fügen.

 

Hubert zu lieben war eine Freude. Trotz seines aufreibenden Berufes – er war Ingenieur für Fernseh- und Medientechnik – nahm er sich Zeit für sie. »Ich habe aus meiner mißlungenen Ehe gelernt«, sagte er. »Ich bin bereit, mich für die Beziehung zu dir zu engagieren.«

Was konnte sie mehr verlangen von einem Mann?

Wenn doch nur das Bett nicht wäre. Mit Götz war dieser Bereich angenehm unkompliziert gewesen. Zwei-, dreimal pro Jahr gelüstete es ihn, mit ihr zu schlafen, ansonsten befriedigte er sich auswärts – falls er überhaupt noch ein Verlangen nach Weib hatte. Hubert konnte täglich, und nicht nur einmal. »Herrlich, unsere Spielwiese!« seufzte er, als sie sich zusammen auf der neuen Matratze wälzten, auf dem doppelt verstärkten Lattenrost, und er ihr leidenschaftlich das Nachtkleid aus roséfarbenem Seidensatin über den Kopf zog. An ihre Orgasmusprobleme hatte er sich gewöhnt. Nur wenn er sich allzu wohlwollend abmühte, um ihr doch noch eine Gefühlssteigerung abzugewinnen, schenkte sie ihm, um der Sache ein Ende zu bereiten, den Anschein eines Höhepunktes. Am meisten quälte Jasmin seine Arglosigkeit. Er glaubte fest daran, er tue ihr mit dem Sex etwas Gutes. Selbstbewußt präsentierte er ihr sein immer wieder anschwellendes Geschlecht, das sie nicht zurückzuweisen wagte. Wie sehnte sie sich nach ihrem Bett in der alten Wohnung, das auf keinen Partner eingerichtet gewesen war: knappe neunzig Zentimeter Breite. Immer, wenn sie die Nacht allein verbringen wollte, war die Ausrede leicht gewesen: Eins ihrer Kinder sei zu Besuch, sie habe noch aufzuräumen, eine schwierige Unterrichtsstunde vorzubereiten, sei erkältet, erschöpft, habe schlecht geschlafen … Doch jetzt gab es keine Möglichkeit mehr zu flüchten. Huberts kontrollierender Blick würde sich nicht mehr täuschen lassen. Sie mußte so lange mit ihm in dem breiten Lotterlager ausharren, bis er irgendwann eine frische, junge, sinnliche Frau fand, die ihn erotisch zufriedenstellte. So muß sich ein zum Tode Verurteilter fühlen, der den Termin seiner Hinrichtung nicht kennt, dachte Jasmin. Das Bett ist mein Schafott.

Die sparsamen Zärtlichkeiten außerhalb des Bettes konnte Jasmin genießen. Doch sobald Hubert nach dem Abendessen seine Krawatte lockerte, erfaßte sie Panik: Dann gruselte es sie vor seinem schwarzen Henkersbart, vor seinem schwarzen Bauchfell, vor seinem schwarzbepelzten Hintern. Wie ein Affe, dachte sie schaudernd. Wie konnte man nur einen so haarigen Hintern haben. Und dann diese Füße. Riesige Füße voller schwarzer Haare. Ihr war, als werde Hubert – kaum überschritten sie die Schwelle zum Schlafzimmer, kaum hatte er seine Armani-Jacke über die Stuhllehne gehängt, sein Hemd von Seidensticker zusammengelegt, die Schießer-Unterwäsche abgestreift – zum wilden Tier. Nicht, daß er brutal war. Ganz und gar nicht. Dann hätte sie einen Grund gehabt, sich gegen ihn zu wehren. Jede andere Frau, dachte sie bekümmert, wäre zerschmolzen in seinen Armen. Wie kalt ich bin. Wie unweiblich. Er hat schon recht, daß er mich bald verläßt.

Von Nacht zu Nacht gelang es ihr immer weniger, erotische Begeisterung zu heucheln. Ihr war, als werde sie, kaum berührte ihr Körper die schreckliche Matratze, von einer Lähmung ergriffen. Immer schwerer fielen ihr die Liebkosungen, die Hubert unbefangen von ihr forderte.

Morgens hielt es sie nicht lange im Bett. Bevor sie richtig wach war, sprang sie schon hinaus. Vorm Wochenende graute ihr. Hubert wollte gerade am Wochenende Stunden im Bett verbummeln, Jasmin gab vor, sich um die Unterrichtsvorbereitungen ihres Englisch-Referendars kümmern zu müssen, eines völlig verklemmten Burschen ohne jede pädagogische Begabung. Als seine Mentorin habe sie eine gewisse Verantwortung für ihn. Hubert freute das nicht. Aber für Arbeit hatte er mehr Verständnis als für Lustlosigkeit.

Ab und zu, wenn seine Laune gar zu schlecht wurde, gab Jasmin doch wieder nach, hoffend, das werde jetzt für ein paar Tage vorhalten.

Aber schon am Abend darauf spürte sie an der Art, wie er sie begrüßte – drängend, begehrlich, erwartungsvoll –, daß er schon wieder bereit war.

Schuldbewußt bemühte sie sich, tagsüber wiedergutzumachen, was sie nachts verweigerte. Sie trug ihm den Kaffee ans Bett, versorgte ihn mit seinen Lieblingsspeisen und kaufte ihm neue Socken, neue Unterhemden, neue Krawatten – aber nichts freute ihn. Er lief mit mürrisch gebogenem Mund herum und ließ sie spüren, wie unzufrieden er mit ihr war.

Und irgendwann – sie steht gerade vor dem Badezimmerspiegel und zupft ihre Augenbrauen – sagt er den tödlichen Satz: »Du bist wohl frigide.«

Sie antwortet nicht, sondern fährt fort, ihre Brauenhärchen zu zupfen, ganze Bündel nimmt sie zwischen ihre Pinzette und rupft und rupft, den Mund konzentriert gespitzt.

Kurz darauf hört sie die Wohnungstür klappen.

Es ist das erste Mal, daß er nachts nicht nach Hause kommt.

Sie liegt auf der breiten Matratze, hat den Kopfteil des Lattenrostes hochgestellt und versucht zu lesen. Aber es ist wie ein Staubgeflimmer vor ihren Augen, sie kann ihren Verstand auf keines dieser gedruckten Wörter konzentrieren. Sie legt das Buch beiseite und starrt in den Kleiderschrankspiegel am Fußende des Bettes. Ein grüblerisches Gesicht schaut sie an, blaß, mit kurzen dunklen Haaren, zwei kräftige Arme liegen brav über dem großen Deckbett. Es ist nicht einfach, ihren Atem an der Oberfläche zu halten, irgend etwas will unbedingt in die Tiefe, wo das Grauen sitzt. Nichts denken, nichts fühlen, ganz reglos bleiben, bis alles vorüber ist. Mutter, denkt sie, hilf mir, Mutter, und sie sieht ihre Mutter durch den Raum schweben, groß und stattlich, in hochgeschlossenem Festtagskleid, und sie neigt sich über das Bett, lächelnd wie eine sanfte Wolke, und neigt sich tiefer und wird dunkel und schwer und breitet sich auf ihrer Brust aus wie ein Alp.

 

Am Morgen, noch vor dem Frühstück, kommt Hubert. Seine Miene ist halb trotzig, halb schuldbewußt. Jasmin hat sich vorgenommen, ihm keine Szene zu machen. Doch kaum betritt er die Küche, bricht sie in Tränen aus. »Wie alt ist sie? Ist sie hübsch? Wie ist sie im Bett? Gefällt sie dir besser als ich?« All diese selbstmörderischen Fragen.

Miriam heiße sie, gibt er zu, gerade zwanzig und hübsch und vor allem offen für alle Varianten des körperlichen Glücks.

»Verläßt du mich jetzt?« weint sie.

»Warum?« sagt er bedächtig. »Dich liebe ich. Mit dir möchte ich mein Leben teilen.«

Als er sie um die Taille greift, wehrt sie sich nicht. Sie nimmt all ihre Kräfte zusammen, um ihm einen vollendeten Liebesakt zu bereiten, gewagter als jede Miriam.

Wie fremd er ihr war. Wie sie ihn haßte.

Aber hatte er nicht recht? Warum sollte er sich an ihrer Seite quälen?

Eine gesunde, normale, emanzipierte Frau – und natürlich hielt sich Jasmin für emanzipiert – ist eine sinnliche Frau mit einem gesunden Appetit auf Sex.

Irgend etwas stimmte nicht mit ihr, daß sie so gar kein Verlangen hatte nach dem Mann, den sie liebte.

Eigentlich ist dieser Sex nur dazu da, Kinder zu zeugen und Männer zu erfreuen, dachte sie. Ich bin schon genauso wie meine Mutter, der das männliche Verlangen ihr Leben lang eine Plage war. Ach, wie gut hatten es meine Mutter und meine Großmutter, die durften sich wenigstens ohne Schuldgefühle eingestehen, daß Sex nichts für sie war. Die hatten Pfarrer, Priester, Bischöfe und die ganze heilige Kirche hinter sich, während ich allein dastehe auf der Welt. Sie konnten stolz auf sich sein und auf ihr fehlendes Verlangen. Je selbstloser sie sich opferten für Ehemann, Kinder, Familie, um so mehr waren sie Frau.

Auch ich habe der Welt unter Qualen bewiesen: Ich bin imstande, mich fortzupflanzen, bin keine taube Nuß, kein Blindgänger, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Doch was nutzt es mir? Fruchtbar zu sein reicht heutzutage nicht mehr aus. Die Kinder sind fort, was habe ich noch zu bieten?

Einen durch zwei Schwangerschaften verunstalteten Körper, Hämorrhoiden, Tränensäcke, aus dem Kinn sprießende Hexenhaare. Seltsam, daß Hubert mich begehrt, vielleicht hat er mich nie genau angeschaut mit seinem unermüdlichen Trieb, der immer direkt in mein Innerstes will, der sich tief in mir einnistet, um sich dort wohl zu fühlen, um für immer drinnen zu bleiben, ihn interessiert meine Haut nicht, ihn reizen nur die Einstülpungen, die Stellen, wo ich nach innen wachse, meine Eingeweide, dort, wo es gefährlich wird, dort richtet er es sich gemütlich ein. Ich möchte mich abschließen, keinen hineinlassen in mich, gruselig war’s mir, als die beiden fremden Tierchen in mir wuchsen, sich von mir ernährten, von meinem Blut, Frühgeburten waren sie beide, ich wollte sie loswerden, aber sie ließen sich nicht so einfach abschieben, sie krallten sich fest in mir, und wir kämpften, unter Blut und Geschrei trennten sie sich von mir. Ich war nur noch ein lappigleerer Sack. Was ist da mit meinem Körper, daß er für andere so heimelig ist? Mir ist er eher eine Last mit seinen Monatswehwehchen, mit seinen Blasenentzündungen, mit seinen Verspannungen, mit seinem Hang zum Dickwerden. Im Bett, beim gnadenlosen Schein der Halogenlampe, zeigt sich mein Körper in seiner ganzen Mangelhaftigkeit, das Bett ist ein Ort der Prüfung, der schlechten Noten, des peinlichen Mißlingens, der tödlichen Einsamkeit.

Aber in der Schule, dachte sie, fühle ich mich wohl. Die Schule ist ein Bereich, wo ich mich entfalten kann. Die Schüler halten Disziplin, ohne daß ich schreien muß.

Wie unbeholfen war dagegen Donald Hartfeger, ihr Englisch-Referendar. Von der letzten Bankreihe aus konnte sie ihn in Ruhe beobachten, eine überlange Gestalt mit knochigen Händen, die er unentwegt knetete vor lauter Nervosität. Den dürren Hals reckte er, als sei ihm der Kragen zu eng, alle paar Sekunden nach oben. Beim Sprechen zuckte und vibrierte sein großer hervortretender Adamsapfel. Wenn ihn die pubertierenden Schüler mit Schlüpfrigkeiten provozierten, geriet er gleich ins Stottern. Grausam, dachte Jasmin, wie ich hier sitze und ihn zappeln lasse und auf Fehler lauere.

Als sie ihn in der Pause auf seine Unsicherheit ansprach, erzählte er ihr treuherzig, er sei schon enorm locker geworden. Als Junge habe er jahrelang kein Wort geredet. Je mehr man ihn in der Schule unter Druck setzte, um so sturer wurde er. Im Schriftlichen sei er gut gewesen, so konnten sie ihn die Klasse nicht wiederholen lassen, obwohl sie es gern getan hätten.

Sein plötzliches Vertrauen störte Jasmin. Ich sollte Abstand zu ihm halten, dachte sie, ich werde Ärger kriegen, wenn ich zu nachsichtig mit ihm bin.

»Sie wirken«, sagte sie, »wie ein verklemmter Streber aus kleinbürgerlicher Familie.«

Er errötete.

»Die Schüler äffen Sie schon nach«, fügte sie boshaft hinzu.

»Schüler merken jede Schwäche«, murmelte er.

»Ich auch«, sagte sie streng. Er schaute sie schräg von unten her an, als erwartete er eine Ohrfeige.

»Möchten Sie meinen Kommentar zu Ihrem Unterricht hören?« Er nickte zerknirscht.

»Dann lassen Sie uns essen gehen«, sagte sie fröhlich, »da können wir in Ruhe diskutieren.«

Sie habe einen Thailänder entdeckt, der seine Speisen mittags zum halben Preis anbiete. Als Referendar habe er sicher nicht viel Geld.

Donald war einverstanden.

Sie hielt ihm einen kleinen Vortrag über seine didaktischen Fehler: Er komme oft vom Eigentlichen ab, habe die Stunde nicht im Griff, lasse sich zu sehr von den Schülern dirigieren. Dabei sei es seine Aufgabe, sie zu bestimmten Lernzielen hinzuführen. Er hörte ihr demütig zu und widersprach nicht. Um ihm aus seiner Zaghaftigkeit herauszuhelfen, erzählte sie ihm von ihrer eigenen Referendarzeit, die zwanzig Jahre zurückliege, von ihren Schwierigkeiten mit Lehrstoff und Disziplin und wie man allmählich Routine bekomme.

»Darf ich rauchen?« fragte er.

»Wenn es sein muß.«

»Ich beherrsche mich schon die ganze Zeit.«

Verächtlich betrachtete sie ihn, wie er mit seinen langen knochigen Fingern die Zigarettenpackung aufriß, eine Zigarette herauszog, mit dem einen Ende auf den Tisch klopfte und sie zwischen die schmaler werdenden Lippen schob.

»Blasen Sie mich nicht an«, mahnte sie, »dann tränen mir gleich die Augen.«

Er beobachtete, wohin der Rauch zog. Sie mußten die Plätze tauschen.

»Ich weiß«, murmelte er, »ich habe zum Lehrerberuf kein Talent. Es macht mir nicht die mindeste Freude, vorn am Pult zu stehen und den Schülern Dinge einzubleuen, für die sie sich nicht interessieren.«

»Das habe ich nicht gehört«, rügte sie. »Ich bin Ihre Mentorin, nicht Ihre Therapeutin. Machen Sie mir bitte keine weiteren Geständnisse dieser Art.«

Er sah sie hilflos an. »Aber Sie wirken so wohlwollend, bei aller Selbstsicherheit, die Sie ausstrahlen.«

Sie versuchte zu verbergen, wie sehr sie dieses Kompliment freute.

»Aber manchmal«, fuhr er fort, »fürchte ich Sie auch. Wie Sie stumm dahinten sitzen mit Ihrem rabenschwarzen Haar.«

»Ich habe es gefärbt«, sagte sie ruhig. »Von Natur bin ich schon lange grau.«

Jetzt kam natürlich, was kommen mußte: »Sie sehen noch so jung aus.«

»Ich bin noch jung«, sagte sie trocken. »Im übrigen sollten Sie sich auf den Unterricht konzentrieren und nicht auf meine Haare.«

Er rauchte ein paar heftige Züge, drückte die Zigarette aus und schob den Aschenbecher aus Jasmins Reichweite.

Das Essen war gut und reichlich.

»Essen Sie nicht so schnell«, mahnte sie. »Genießen Sie.«

»Ich bin nervös«, sagte er.

»Was macht Sie nervös?«

Er lachte kurz auf, ohne zu antworten, und stopfte sich den Mund übervoll.

»Sie schieben schon den nächsten Bissen nach, wenn Sie den ersten noch nicht runtergeschluckt haben«, stellte sie fest.

»Beim bloßen Zuschauen vergeht mir der Appetit.«

Er legte das Besteck an den Tellerrand.

»Sie sind unmöglich gekleidet«, fuhr sie fort.

Welcher Teufel reitet mich, dachte sie, mit ihm wie mit einem Kind zu reden.

»Dieses beige-braunkarierte Hemd, grauenhaft, und dazu die blaue Konfirmandenhose. Sie sehen wie eine Karikatur aus, wenn Sie wenigstens eine kleidsamere Brille …« Welcher Teufel reitet mich … Seltsames mittelalterliches Bild, das man so arglos gebraucht, dachte sie, der Teufel reitet mich, ein Bild dämonisierter Sexualität aus den Zeiten der Hexenverfolgung.

»Ich bin in modischen Dingen ungeschickt«, er wand sich verlegen. »Diesen Anzug hat mir vor Ewigkeiten meine Mutter gekauft. Die Brille trage ich seit über zehn Jahren.«

»So sieht sie auch aus«, sagte sie erbarmungslos. »Sie brauchen kräftige Farben. Ihre ganze Erscheinung ist zu bläßlich.«

»Ich lasse mich gern von Ihnen beraten«, murmelte er, »Brille und Hemd könnte ich mir diesen Monat noch leisten.«

»Und passende Socken«, sagte sie.

»Gut, und Socken.«

Warum eigentlich nicht? Für Hubert Kleidung zu kaufen machte keine Freude. Zu ausgeprägt war sein Geschmack, als daß er sich von ihr in diesen persönlichen Dingen beeinflussen ließe. Sie schaute auf die Uhr. Zwei Stunden hatte sie noch Zeit, dann kam Hubert nach Hause.

 

Sie begannen mit der Brille. Blind und zwinkernd probierte er ein Gestell nach dem anderen. Jasmin suchte ein rauchgraues Modell aus, passend zu seinen Augen. Er vertraute sich ihr völlig an, ihrem Geschmack, ihrem Urteil. Schade nur, daß er die Brille erst fünf Tage später abholen konnte.

Danach besuchten sie Oliver, Jasmins schwulen Friseur, den besten des ganzen Stadtviertels. Er bediente Männer und Frauen gleichermaßen und hatte lange Wartelisten, denn für jeden Kunden nahm er sich Zeit. Billig war er nicht. Aber dafür wurde man mit Sekt und Kaffee und Tratschgeschichten verwöhnt.

Oliver, der gerade dabei war, Lockenwickler festzustecken, hob die Brauen: »Wer hat denn an Ihren Haaren herumgepfuscht?«

»Schlimm, nicht?« Jasmin reckte sich hoch und fuhr mit der Hand in Donalds dicken Haarschopf, wie man in eine Ware greift, um sie vorzuführen. »So kann man ihn doch nicht herumlaufen lassen!«

Oliver stülpte die Trockenhaube über den Kopf seiner Kundin. »Kommt nach Feierabend vorbei!«

Nun war das Hemd an der Reihe. Jasmin führte ihren Referendar in die noble Herrenboutique, in der Hubert gerne einkaufte. Sie lüpfte den Vorhang der Umkleidekabine, um Donald ein halbes Dutzend Seidenhemden zu reichen, und erhaschte einen Blick auf sein biederes weißes Rippunterhemd. Nachdem sie Donald Hemden in Petrolgrün und Rostrot – »das sind genau Ihre Farben« – ausgesucht hatte, gemustert wie abstrakte Gemälde, kam sie mit einem Stapel Jeans und drängte ihn zur Anprobe. »Ich strecke Ihnen das Geld vor«, sagte sie, als er zögerte. »Sie sind ein Jeans-Typ«, behauptete sie dann. »Alles andere sieht spießig an Ihnen aus.«

»Sie reden, als kriegten Sie Provision«, sagte er.

Tatsächlich standen ihm die engen anthrazitfarbenen Jeans, die sie ihm aussuchte, hervorragend.

»Die können Sie sogar im Unterricht tragen«, sagte sie. »Die Schüler werden begeistert sein.« Sie nahm die Plastiktüten an sich und setzte hinzu: »Besonders die Schülerinnen.«

Passende petrolfarbene Socken waren kein Problem. Aber nun hatte es Jasmin auf seine weiße Rippunterwäsche abgesehen. Diesmal machte sie keine Umstände und schlüpfte wie selbstverständlich zu ihm in die Kabine, um ihn vom Nacken bis zum Schenkel mit fachmännischem Blick zu mustern.

»Warum tragen Sie diese abstoßende Unterwäsche?«

»Sie ist bequem«, stammelte er. »Ich habe mir noch nie Gedanken um meine Unterwäsche gemacht.«

»Und Ihre Freundin?«

»Ich habe keine Freundin.«

Sie ging hinaus, durchwühlte die Angebote und reichte Donald ein Bündel Slips und Hemden durch den Vorhang.

Er zeigte sich ihr in jedem neuen Set.

»Boxershorts«, sagte sie befriedigt. »Ich wußte es. Nehmen Sie gleich vier Paar zum Wechseln.«

Trotz seines Protestes zahlte sie.

Nachdem er neu eingekleidet war, führte sie ihn zurück zum Friseur. Sie schaute zu, wie Oliver das Haar anfeuchtete, es nach hinten kämmte, mit Schere und Rasierapparat bearbeitete und schließlich trockenfönte.

Wohlgefällig betrachtete sie das Ergebnis: Aus einem englischen Internatsschüler war ein modischer Dandy geworden.

 

Zu Hause wartete Hubert schon auf sie. Er war nicht gewöhnt, daß sie fort war, wenn er kam. Sie sagte beiläufig: »Ich war noch in der Stadt mit einer Kollegin«, seltsam, wie wohltuend ihr die Lüge über die Lippen ging, »sie ist so ungeschickt im Auswählen von Kleidung und bat mich, ihr zu helfen.«

Er schien zufrieden.

Jasmin und Donald gewöhnten sich an, mittags nach dem Unterricht aufeinander zu warten und beim Thailänder zu essen. Sie zeigte ihm, wie man mit Stäbchen ißt. »Das zwingt zum Langsam-Essen«, sagte sie lächelnd, legte die Stäbchen in seine Hände, die kaum merklich zitterten, spürte seinen verhaltenen Atem an ihrer Schläfe.

Als er eines Tages feststellte, die täglichen Restaurantbesuche gingen zu sehr ins Geld, und zugleich ablehnte, sich von ihr einladen zu lassen, schlug sie rasch vor: »Dann kaufen wir Gemüse und Fleisch und essen bei Ihnen zu Hause.«

Er schien erschrocken, fügte sich aber und murmelte: »Ich hab’ nicht aufgeräumt.«

Sie mußten bis unter die Dachschräge hinaufsteigen, Jasmin keuchte, als sie endlich oben waren. Umständlich kramte er nach dem Schlüssel. Drinnen riß sie alle Fenster auf, so muffig roch es.

»Nicht in die Küche!« warnte er. Da stand sie auch schon vor einem Stilleben von Mülltüten, Flaschen, zerbröselten Keksen, Tabakresten, verfaulten Tomaten, zerknüllten Briefumschlägen.

»Nicht sehr einladend«, sagte sie kühl.

»Setzen Sie sich«, flehte er und holte den Mülleimer. Mit dem Unterarm fegte er den Abfall zur Tischkante hin und ließ ihn vorsichtig in den Eimer gleiten. Nachdem er die Tischplatte saubergewischt hatte, nahm Jasmin Platz.

»Ich habe nie Besuch«, entschuldigte er sich und begann, das schmutzige Geschirr ins Waschbecken zu stapeln. »Da verwahrlost man.«

Fasziniert und angewidert beobachtete sie ihn. Wie er sie so steif dasitzen sah, rief er: »Sie machen mich ganz verlegen, gehen Sie rüber ins andere Zimmer.«

Sie schlendert durch die Wohnung, weit und breit kein Bett. Oder zumindest kein erwartungsvoll aufgeklapptes, das gleich zuschnappen würde wie eine Falle. Nur ein kleines Sofa mit abnehmbaren Polstern. Sehr schmal zum Schlafen und sehr kurz, sie stellt sich vor, wie seine Füße nachts über den Rand hängen. »Ist das Bettsofa nicht ein bißchen klein?« schreit sie durch die offene Küchentür. Er stottert: »Für eine Person reicht es.« – »Ich meine doch, in der Länge«, schreit sie. – »Ich schlafe immer mit angezogenen Beinen«, stottert er.

Als die Küche halbwegs sauber ist, breitet sie die gekauften Lebensmittel aus: Gemüse, Seelachsfilet, Kartoffeln. Sie kocht gern, wenn sie es nicht jeden Tag muß.

Sie gibt Anweisungen. Hubert mag nicht, wenn sie ihm befiehlt. Er ist beleidigt, wenn sie in seine Tätigkeiten eingreift, wenn sie andere Vorstellungen hat als er. Schnell glaubt er sich kritisiert und in Frage gestellt. Donald aber schneidet brav die Zwiebeln in kleine Stückchen, fragt, ob sie klein genug sind, fragt, welchen Topf er nehmen solle und wie viele Kartoffeln und wieviel Wasser für die Kartoffeln. Jasmin fühlt sich verwöhnt von ihm, obwohl sie ja diejenige ist, die kocht.

Nach dem Essen nehmen sie einen Drink, er hat schottischen Whisky da, sie sitzt auf seiner Couch mit den Polstern, er sitzt auf einem harten Stuhl, dessen aufrechte Lehne ihn zu aufrechtem Sitzen zwingt. Plötzlich hat sie den Wunsch, daß er die steife Haltung aufgibt, daß er sich neben sie hinräkelt. Nicht ganz dicht, aber doch näher als jetzt, keinen Tisch zwischen sich, sondern Luft, die man verringern oder erweitern kann, je nach Bedarf. Aber wie soll sie ihn dazu bringen, sich zu ihr auf die Couch zu setzen? Sie hat Angst, daß er glaubt, sie wolle ihn zum Geschlechtsakt einladen. Daß sie Erwartungen weckt, denen sie gerade zu entkommen sucht. Daß sie einen Hubert aus ihm macht, der gleich zugreift, der nicht warten kann, der sich keine Gelegenheit entgehen läßt.