214. Liebe vollbringt Wunder - Barbara Cartland - E-Book

214. Liebe vollbringt Wunder E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Larina Milton, eine sehr junge und hübsche Arzttochter findet sich allein in London wieder, nachdem zuerst ihr Vater und dann ihre Mutter an Schwindsucht gestorben sind. Während der Zeit in der sie die Mutter in der Schweiz pflegte lernte sie den Amerikaner Elvin Vanderfeld kennen, der auch aufgrund seiner Krankheit im Sanatorium war. Nach dem Tod der Mutter kehrt Larina nach London zurück und sucht auf Anraten des Schweizer Arztes den königlichen Leibarzt auf, um sich auf Schwindsucht testen zu lasten. Dieser behauptet nun, dass Larina nur noch 21 Tage zu leben hat, da sie angeblich an einer Herzschwäche leidet. In ihrer Not schreibt sie Elvin, da dieser ihr versprochen hatte, ihr im Falle des Todes Beistand zu leisten. Elvin's Familie erhält Larina's Nachricht am Tage von Elvins Beerdigung. Die Familie ist sehr wohlhabend und fürchtet nun, dass Larina Elvin erpressen möchte. Sie senden Elvin's Bruder Wynstan nach Italien, so dass dieser Larina dort treffen und den Grund herausfinden kann, warum sie Elvin dringend sehen will. Nachdem sie ihr letztes Geld ausgibt, reist Larina nach Italien, das sie schon seit langem sehen wollte und trifft dort in einer Villa, die die Familie Vanderfeld besitzt Wynstan; dieser teilt ihr jedoch nichts vom Tode des Bruders mit und versucht während einiger Ausflüge den Grund herauszufinden, warum Larina seinen Bruder sprechen will. Wird Wystan seine Aphrodite, die Göttin der Schönheit und Liebe finden? Wird Larina noch genügend Zeit haben, sich trotz ihrer angelblichen Krankheit der aufrichtigen Liebe zu erfreuen und ihren Apollo treffen?

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De Hauptpersonen Dieses Romans

Larina Milton

Verwaiste Arzttochter. Ein Scharlatan hat ihr einen frühen Tod prophezeit.

Elvin Vanderfeld

Junger amerikanischer Millionenerbe. Er reist unter einem falschen Namen nach Europa und lernt Larina Milton kennen. Mit ihr schließt er einen Herzens-Pakt.

Sir John Coleridge

Wahnsinniger Arzt, lässt sich durch einen Trick in der Praxis des königlichen Leibarztes nieder, der im Ausland Urlaub macht.

Wynstan Vanderfeld

Elvins Bruder, ein Weltenbummler, hat in der Liebe genauso viel Glück wie beim Polo oder Pferderennen.

 

Die Autorin über diesen Roman

Es wird Sie sicher wundern, dass unser Held, Wynstan Vanderfeld, Anfang des Jahrhunderts den Atlantik ausgerechnet auf dem deutschen Passagierdampfer ‚Kaiser Wilhelm der Große‘ überquert hat.

Aber es gab doch gar keinen Kaiser Wilhelm den Großen werden Sie sagen. Es kann doch nur Friedrich der Große heißen. Irrtum! Der Dampfer wurde tatsächlich auf diesen Namen getauft. Schon 1897 überquerte er auf seiner Jungfernfahrt von Bremerhaven nach New York den Atlantik in einer Rekordzeit von fünf Tagen, 22 Stunden und 20 Minuten. Damit errang zum ersten Mal ein deutsches Passagierschiff das ‚Blaue Band‘.

Drei Jahre später entging der Luxusdampfer mit 2000 Passagieren an Bord im letzten Moment einer Katastrophe: Brennender Whisky hatte sich nach einer Lagerhausexplosion im Hafenbecken ausgebreitet und das Schiff in Brand gesetzt.

Erstes Kapitel ~ 1904

Als Larina Milton die Wimpole Street hinunterging, fiel ihr ein, dass vor einem halben Jahrhundert die Dichterin Elizabeth Barrett hier gelebt hatte. In ihrer Fantasie sah Larina das triste Krankenzimmer vor sich, in dem die schöne Elizabeth Barrett Jahr um Jahr in dem Glauben gelegen hatte, unheilbar krank zu sein. Bis eines Tages der große Dichter Robert Browning in ihr Leben getreten war und sich alles verändert hatte.

Larina dachte an die gefühlsstarken Verse, die Elizabeth ihrem geliebten Robert gewidmet hatte, und sie fragte sich, ob sie selbst jemals fähig wäre, so intensiv für einen Mann zu empfinden.

Angenommen, in diesem Moment würde ein Mann wie Robert Browning vor mir auftauchen und mich bitten, mit ihm nach Italien zu fahren - würde ich ihm folgen?

Larina musste lachen. Nein, niemals brächte sie den Mut auf, den Elizabeth Barrett gezeigt hatte.

Sie seufzte. Ich brauche gar nicht auf einen Robert Browning zu warten, sagte sie sich. Für mich kommt es jetzt einzig darauf an, endlich praktisch zu denken und eine Arbeit zu finden.

Wie oft hatte ihre Mutter sie dafür gescholten, dass sie ständig Tagträumen nachhing, auf den Flügeln ihrer Fantasie einfach aus der Realität in eine Traumwelt floh, in der sie alles andere vergessen konnte.

Arbeit, Arbeit. Das Wort hämmerte unaufhörlich auf sie ein, und sie wusste, es würde schwierig werden. Denn Frauen ihrer sozialen Herkunft arbeiteten nicht; die saßen brav daheim bei ihren Eltern und warteten darauf, geheiratet zu werden. Und dann führten sie das Haus, wobei sie natürlich mehrere Dienstboten hatten. Doch das waren eben Frauen mit Geld.

Eine plötzliche Angst vor der Zukunft überkam Larina. Sie hatte gewusst, dass sie ihr letztes Geld für die Pflege ihrer Mutter ausgegeben hatte, aber das war unwichtig gewesen. Wenn nur die Mutter gesund wurde, allein das zählte. Doch auch das Geld hatte Mrs. Milton nicht retten können. Als sie starb, war es Larina, als bräche eine Welt für sie zusammen.

In den langen Monaten im Sanatorium hatte sie nie darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn sie einmal ganz allein sein sollte. Sie war von der Hoffnung durchdrungen, dass ihre Mutter genesen werde, und überzeugt, dass ihre Gebete erhört würden. Sie hatte voll Zuversicht in die Zukunft geblickt. Doch das war Selbsttäuschung gewesen. Wieder einmal hatte sie sich Wunschträumen hingegeben, denen ein böses Erwachen folgte.

Larina, tief in Gedanken versunken, merkte erst jetzt, dass sie an dem Haus vorübergegangen war, das sie suchte. Sie wollte zu Nummer 55 und war nun schon bei 73.

Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Und abermals fühlte sie sich an Robert Browning erinnert. Wie oft mochte er diesen gleichen Weg gegangen sein! Sicherlich hatte ein Ausdruck freudiger Erregung auf seinem Gesicht gelegen, wenn er sich dem Haus der Geliebten näherte, und er war schneller gegangen, weil er es nicht erwarten konnte, wieder mit ihr zusammen zu sein.

Es waren traurige Gedichte, dachte Larina, die Elizabeth Barrett geschrieben hatte, denn ihr war der Tod immer nahe gewesen. Dennoch war sie auf geheimnisvolle Weise davon überzeugt, dass sie auch nach dem Tod weiterleben würde. Woher hatte sie diese Gewissheit, dass sie, gleich, wo sie sein mochte, weiterhin an Robert denken und ihn lieben würde? Es gab keine Antwort auf diese Frage.

Jetzt hatte Larina das Haus Nummer 55 gefunden und stieg die Treppe mit dem eisernen Geländer hinauf. Die Tür, in einem hässlichen Grün gestrichen, hatte einen schweren Messingklopfer und einen Briefkasten, der einem breiten Mund glich.

Es ist hinausgeworfenes Geld, dachte sie, dass ich hierherkomme. Die Konsultation kostet mindestens eine Guinee, vielleicht sogar zwei, und das kann ich mir eigentlich nicht leisten. Sie zögerte. Sollte sie einfach wieder kehrtmachen?

Sie fühlte sich vollkommen gesund - ausgeschlossen, dass ihr etwas fehlte. Doch sie hatte Dr. Heinrich versprechen müssen, sich einen Monat nach ihrer Rückkehr nach London von Sir John Coleridge, dem Hofarzt der königlichen Familie, untersuchen zu lassen.

„Meiner Meinung nach“, hatte Dr. Heinrich in seinem mühsamen Englisch erklärt, „besteht kein Anlass zu der Befürchtung, dass Sie sich von Ihrer Mutter eine Tuberkulose zugezogen haben könnten. Aber sicher ist sicher.“

„Ich habe mich wirklich an alle Vorsichtsmaßnahmen gehalten“, versicherte Larina. „Mit den übrigen Patienten war ich nur draußen im Freien zusammen, sonst nie.“

„Ja, Sie waren sehr folgsam, Miss Milton“, lobte Dr. Heinrich. „Eine mustergültige Besucherin - ganz im Gegensatz zu den meisten Angehörigen unserer Patienten, die mir meine Arbeit oft sehr erschweren.“

„Ich werde es Ihnen nie vergessen, wie gut Sie zu meiner Mutter waren“, sagte Larina.

„Wenn sie nur früher zu mir gekommen wäre“, meinte Dr. Heinrich mit einem Seufzer. „Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie schlimm es für mich ist, wenn ich einen Patienten verliere. Doch die Krankheit Ihrer Mutter war zu weit fortgeschritten. Da konnte weder meine Behandlung noch die wundertätige Luft der Schweiz helfen.“

„Mama war noch so jung“, sagte Larina, und es war beinahe, als spräche sie mit sich selbst. „Ich dachte, das würde sich zu ihrem Vorteil auswirken.“

„O ja, sicherlich“, bestätigte Dr. Heinrich, „aber sie hätte wenigstens ein Jahr früher zu mir kommen müssen. Da hätte noch Aussicht bestanden, sie am Leben zu erhalten.“ Er machte eine nachdenkliche Pause, dann fügte er hinzu: „Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Miss Milton. Ihre Mutter hat mich nicht in dem Maß unterstützt, wie sie das hätte tun können. Wenn ein Patient den Willen hat zu leben, wenn er eisern am Leben festhält, dann bewirkt das häufig mehr als die besten Medikamente.“

„Meine Mutter fühlte sich sehr verlassen ohne meinen Vater“, sagte Larina. „Die beiden waren sehr glücklich miteinander. Sie hat einmal zu mir gesagt, sein Verlust täte ihr so weh, als hätte sie einen Teil von sich selbst verloren. Sie hatte das Gefühl, ihr Leben hätte keinen Sinn mehr.“ Larinas Stimme zitterte ein wenig.

Der Arzt wechselte das Thema.

„Nun müssen wir aber an Sie denken“, meinte er in verändertem Tonfall. „Wissen Sie schon, was Sie jetzt anfangen werden?“

„Ich gehe nach London zurück. Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter ein kleines Haus in Belgravia gemietet. Wir haben es während unserer Abwesenheit vermietet, aber es ist gerade wieder freigeworden.“

„Es freut mich, das zu hören“, sagte Dr. Heinrich. „Wir alle haben Sie sehr liebgewonnen, Miss Milton. Die Vorstellung, dass Sie jetzt ganz alleinstehen und keinen Menschen haben, an den Sie sich wenden können, hat mir zu schaffen gemacht.“

„Sie brauchen sich wirklich um mich keine Sorgen zu machen“, versicherte Larina mit einem Optimismus, den sie gar nicht empfand.

Bei diesem Gespräch mit dem Arzt hatte sie allerdings noch keine Ahnung gehabt, dass das gesamte Geld, das ihr Vater hinterlassen hatte, verbraucht war. Dieser Schock kam erst, als sie wieder in England war.

„Aber eins müssen Sie mir versprechen“, fuhr Dr. Heinrich fort und hob warnend den Zeigefinger.

„Was denn?“ fragte Larina.

„Einen Monat nach Ihrer Rückkehr nach London suchen Sie meinen Freund und Kollegen Sir John Coleridge auf und lassen sich von ihm gründlich untersuchen. Ich werde hier noch vor Ihrer Abreise alle erforderlichen Untersuchungen vornehmen. Dennoch, wir wollen uns nichts vormachen - Sie haben nahezu zwölf Monate lang unter Menschen gelebt, die alle an einer Krankheit leiden, die heute praktisch noch unheilbar ist.“

„Aber eines Tages wird man doch sicher ein Mittel gegen die Schwindsucht finden!“

„Gewiss, daran wird unablässig gearbeitet“, sagte Dr. Heinrich. „Ich darf ohne Überheblichkeit sagen, dass bisher meine Behandlung am erfolgreichsten ist. Einigen meiner Kollegen, den strengen Schulmedizinern, ist sie zwar ein Dom im Auge, aber eine große Zahl meiner Patienten verlässt das Sanatorium völlig geheilt.“

„Alle Welt spricht ja auch mit größter Bewunderung von Ihnen.“

„Aber ich kann nicht leugnen, dass ich auch Niederlagen hinnehmen muss, und bei Ihrer Mutter haben meine Bemühungen versagt. Deshalb müssen Sie mir versprechen, dass Sie sich untersuchen lassen! Und zwar das erste Mal nach einem Monat und dann nochmals nach weiteren sechs Monaten.“ Mit einem Blick auf Larinas Gesicht fügte er hinzu: „Ich will Ihnen keine Angst machen. Die Möglichkeit, dass Sie sich bei Ihrer Mutter oder einem anderen Patienten hier angesteckt haben, ist fast null, davon bin ich überzeugt. Aber es ist immer besser, vorsichtig zu sein und kein unnötiges Risiko einzugehen.“

„Gut, ich verspreche es Ihnen“, sagte Larina.

„Nach der Untersuchung wird Ihnen Sir John sagen, wann Sie wiederkommen sollen, und Sie müssen sich daranhalten.“

Larina nickte. Es wäre unhöflich und undankbar gewesen, Dr. Heinrich zu widersprechen, nachdem er ihr und ihrer Mutter so viel Güte gezeigt hatte. Weil ihr Vater selbst Arzt gewesen war, hatte Dr. Heinrich sie und ihre Mutter zu sehr günstigen Bedingungen in seinem Sanatorium aufgenommen. Mancher Patient hätte sie sicher darum beneidet.

Doch so gering Dr. Heinrich die Kosten auch angesetzt hatte, es war mehr Geld gewesen, als sie sich leisten konnten. Dennoch hatten sie es auf sich nehmen müssen; denn es war Mrs. Miltons einzige Überlebenschance gewesen.

*

Es kostete Larina Überwindung, den Arm zu dem Klingelknopf neben der Tür zu heben. Gerade, als sie läuten wollte, sah sie ein kleines Schild: „Klingel außer Betrieb - bitte klopfen.“ Sie ließ also den Messingklopfer zweimal gegen die Tür fallen.

Einen Moment lang blieb es still. Dann hörte sie von drinnen hallende Schritte, die wahrscheinlich über einen Marmorboden kamen. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet.

Sie hatte erwartet, einen Dienstboten zu sehen. Stattdessen stand ihr ein Mann in konventionellem schwarzem Gehrock gegenüber. Er trug einen hohen steifen Kragen mit einem elegant gebundenen Plastron, in dem eine große Perle steckte.

„Ich habe einen Termin bei Sir John Coleridge“, sagte Larina etwas nervös.

„Miss Milton? Ich habe Sie schon erwartet. Treten Sie ein.“

„Sind Sie Sir John?“

„Ja, der bin ich!“

Larina trat ins Haus und schloss die Tür hinter sich.

„Meine Sekretärin ist zum Mittagessen gegangen.“ Er spürte wohl, sie fand es etwas ungewöhnlich, dass er ihr selbst geöffnet hatte. „Und die Dienstboten haben die Influenza. Die holt man sich ja leicht um diese Jahreszeit“.

„Ja, natürlich.“

Sir John ging ihr voraus durch das Vestibül in einen Raum, der im rückwärtigen Teil des Hauses lag. Es war das typische Sprechzimmer eines Arztes, Larina nur allzu vertraut.

Hinter dem massigen Schreibtisch mit der Lederauflage stand ein steifer, hochlehniger Stuhl. Die Couch an der Wand war halb verborgen hinter einem Paravent, der Bücherschrank war gefüllt mit medizinischen Fachbüchern. Auf einem Tisch lag ein weißes Tuch mit mehreren blitzenden Instrumenten.

„Nehmen Sie Platz, Miss Milton“, sagte Sir John und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder.

Er klappte einen Hefter auf, der, wie sie sah, einen Brief von Dr. Heinrich enthielt. Dann setzte er sich seinen Kneifer auf die Nase, griff nach dem Brief und las ihn aufmerksam.

„Dr. Heinrich teilt mir mit, dass Ihre Mutter an Tuberkulose gestorben ist“, sagte er schließlich. „Er bittet mich, Sie zu untersuchen, um sicherzustellen, dass Sie sich nicht angesteckt haben.“

„Dr. Heinrich hat mich selbst untersucht, bevor ich aus dem Sanatorium abreiste. Die Ergebnisse waren alle gut.“

„Das schreibt er auch in seinem Brief“, erwiderte Sir John mit einem feinen Unterton des Tadels, als nähme er es ihr übel, dass sie ihm mit dieser Bemerkung zuvorgekommen war.

„Es tut mir aufrichtig leid, dass Dr. Heinrich Ihre Mutter nicht retten konnte“, bemerkte er nach einem Moment des Schweigens.

„Er hat alles getan, was in seiner Macht stand“, erwiderte Larina.

„Und mehr kann man nicht verlangen, selbst von einem Arzt nicht“, meinte Sir John. „Gut, Miss Milton. Jetzt ziehen Sie sich bitte hinter dem Paravent aus. Dort liegt ein Kittel bereit, den Sie überziehen können. Dann legen Sie sich auf die Couch und sagen mir Bescheid, wenn Sie so weit sind.“

Larina zog sich hinter den Paravent zurück und schlüpfte aus dem schlichten Kleid, das sie sich gekauft hatte, ehe sie in die Schweiz gereist war. Sie legte es über einen Stuhl, der neben der Couch stand. Ihre Unterröcke und die Unterwäsche folgten. Rasch zog sie sich das formlose weiße Hemd über, das auf dem Fußende der Couch bereitlag.

„Ich bin fertig“, sagte sie, nachdem sie sich auf der Couch ausgestreckt und den Kopf auf das kleine, harte Kissen gelegt hatte.

Mit schweren Schritten ging Sir John durch das Zimmer und schob den Paravent beiseite.

„Sie sind neunzehn, wenn ich nicht irre, Miss Milton?“

„Fast zwanzig.“

Sir John hatte sein Stethoskop bereits angelegt, so dass er ihre Antwort wahrscheinlich nicht hörte.

Fast zwanzig, dachte Larina. Was habe ich eigentlich bis jetzt in meinem Leben getan? Und besondere Fähigkeiten habe ich überhaupt keine. Das Einzige, was sich zu ihren Gunsten sagen ließ, war, dass sie sehr viel gelesen hatte.

Ihr Vater hatte sie stets ermuntert, die Bücher zu lesen, die ihn interessierten. Größtenteils befassten sie sich mit den Völkern und Kulturen des Altertums, und das Wissen, das sie vermittelten, war, wie ihre Mutter häufig erklärte, nicht viel nütze für das tägliche Leben in der heutigen Welt.

Anstatt mich mit den alten Griechen und Römern zu beschäftigen, dachte Larina, hätte ich Kurzschrift und Maschinenschreiben lernen sollen.

Die riesigen, laut klappernden Schreibmaschinen, die sie in Büros und bei der Sprechstundenhilfe ihres Vaters gesehen hatte, waren ihr ein absolutes Rätsel. Wie kurzsichtig von ihr, nicht wenigstens einen Versuch gemacht zu haben, den Umgang mit so einem Ding zu lernen!

Sie war gerade siebzehn gewesen, als ihr Vater starb, und hatte damals noch täglich Unterricht bei Hauslehrern gehabt.

„Eine Gouvernante möchte ich nicht ständig im Hause haben“, hatte ihr Vater mit Entschiedenheit erklärt, „und ich finde es nicht gut, wenn Mädchen zur Schule gehen. Da werden sie allzu selbständig. Eine Frau gehört ins Haus und in die Familie.“

Dagegen, dachte Larina, wäre nichts einzuwenden gewesen, wenn sie jetzt ein Haus und eine Familie gehabt hätte.

„Drehen Sie sich bitte um“, sagte Sir John.

Sie gehorchte und spürte das kühle Stethoskop auf ihrem Rücken. Ich möchte wissen, was mich das kosten wird, dachte sie. Es war wirklich nur eine Verschwendung von Zeit und Geld.

„Sie können sich jetzt wieder ankleiden, Miss Milton.“

Sir John trat zurück und schob den Paravent wieder an seinen Platz. Larina glitt von der Couch und begann sich anzuziehen.

Sie trug nur ein ganz leichtes Korsett. Sie hatte es nicht nötig, sich zu schnüren. Ihre Taille war auch so schmal genug. Doch sie war sich bewusst, dass sie vom modischen Standpunkt aus viel zu schmal und zu schlank war.

„Du musst mehr essen, Herzchen“, hatte ihre Mutter in der Schweiz oft zu ihr gesagt. „Glaubst du wirklich, diese stundenlangen Spaziergänge tun dir gut?“

„Ich kann nicht immerzu herumsitzen und nichts tun, Mama“, erwiderte Larina. „Und ich wandere so gern. Das Gebirge ist einfach eine Pracht. Ich wünschte nur, du könntest auf diesen Spaziergängen dabei sein. Diese Wälder haben so etwas Geheimnisvolles, weißt du. Da fallen mir immer die Märchen ein, die du mir früher vorgelesen hast.“

„Ja, die Märchen hast du geliebt.“ Mrs. Milton lächelte.

„Einmal hast du mir eine Geschichte von einem Drachen vorgelesen, der tief im Tannenwald hauste“, sagte Larina.

„Ich glaube noch heute an diese Geschichte.“

Ihre Mutter lachte. „Du gehörst ans Meer. Deshalb habe ich dich auch Larina getauft.“

„‘Das Mädchen vom Meer’, vielleicht habe ich wirklich eine Zuneigung zum Meer, ich weiß es nicht. Wir waren ja nie so lange an der See, dass ich es hätte herausfinden können. Hier jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich ins Gebirge gehöre.“

„Wenn es dir nur nicht langweilig ist, mein Liebes“, murmelte Mrs. Milton.

„Ich langweile mich nie“, hatte Larina entgegnet, und es war die Wahrheit gewesen.

Sie setzte ihren Hut auf und steckte ihn mit zwei langen Hutnadeln fest. Dann schob sie den Paravent zur Seite und ging durch das Zimmer zu dem großen Schreibtisch, an dem Sir John saß. Er schrieb etwas auf einen Bogen Papier, auf dem, wie sie sah, oben ihr Name stand.

„Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen“, sagte er, „was Sie, fürchte ich, sehr erschrecken wird.“

„Was denn?“ Larina hatte das Gefühl, als setzte ihr Herz aus. Jeder Nerv war zum Zerreißen gespannt.

„Sie haben sich zwar nicht mit der Krankheit infiziert, an der Ihre Mutter gestorben ist“, sagte er, „dennoch aber haben Sie nur noch drei Wochen zu leben.“

Larina war wie betäubt auf dem Heimweg zu dem kleinen Haus in der Eaton Terrace. Sie konnte es nicht glauben, dass Sir John diese Worte wirklich ausgesprochen hatte. Sie konnte das, was er gesagt hatte, einfach nicht als die Wahrheit annehmen. In der Pferdebahn starrte sie die anderen Fahrgäste an und fragte sich, wie sie wohl reagieren würden, wenn sie ihnen berichtete, dass man soeben das Todesurteil über sie gesprochen hatte.

Nachdem Sir John ihr die schreckliche Eröffnung gemacht hatte, starrte sie ihn aus weit aufgerissenen Augen an, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss“, fügte Sir John hinzu, „aber ich bin mir meines Urteils absolut sicher. Sie leiden an einer Herzkrankheit, die äußerst selten vorkommt, aber ich kenne dieses Leiden, da ich mich seit Jahren damit befasse.“ Er räusperte sich und fuhr fort: „Jeder Arzt, der dieses Leiden bei einem seiner Patienten vermutet, zieht mich hinzu, um die endgültige Diagnose zu stellen. Ich kann Ihnen deshalb nicht einmal raten, noch einen anderen Spezialisten aufzusuchen.“

„Ist es - schmerzhaft?“ stieß Larina mühsam hervor.

„In den meisten Fällen nicht“, antwortete Sir John beschwichtigend. „Ich will Ihnen die klinischen Einzelheiten ersparen - grob ausgedrückt ist es so, dass Ihr Herz plötzlich einfach zu schlagen aufhört. Das kann im Schlaf geschehen oder während eines Spaziergangs, oder während Sie im Sessel sitzen und lesen - kurz, jederzeit.“

„Und - und es gibt - es gibt keine Heilung?“ fragte Larina ungläubig und entsetzt.

„Bisher jedenfalls nicht“, seufzte Sir John. „Ich kann Ihnen nur sagen, dass es sehr schnell geht. Wir wissen, dass der Patient vom Zeitpunkt der Diagnose an im Allgemeinen noch einundzwanzig Tage zu leben hat. Früher lässt sich das Leiden nicht feststellen.“

„Einundzwanzig Tage“, wiederholte Larina wie benommen. Als sie über den Sloane Square zur Eaton Terrace ging, hatte sie den Eindruck, dass der Klang ihrer Schritte auf dem Pflaster ein unaufhörlicher Widerhall dieser Zahl war. Einundzwanzig, einundzwanzig.

Das hieß, rechnete sie sich aus, dass sie am 15. April sterben würde. Zu einer Jahreszeit, dachte sie, die sie immer geliebt hatte. Die Narzissen würden gerade herauskommen, die Bäume im frischen, jungen Grün dastehen, die Kastanien würden Knospen bekommen, und man würde die Wärme des Sonnenscheins genießen, weil man sie den ganzen Winter hatte entbehren müssen.

Am 16. April würde sie tot sein, sich an allem nicht mehr freuen können.

Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Handtasche und sperrte die Tür zu dem kleinen Haus in der Eaton Terrace 68 auf. Als sie in den schmalen Flur trat, wurde sie sich der Stille und der Einsamkeit in dem leeren Haus bedrückend bewusst. Wenn nur jetzt ihre Mutter oben im Wohnzimmer gesessen hätte! Sie könnte zu ihr laufen und ihr erzählen, was geschehen war. Und ihre Mutter hätte sie in die Arme genommen und ganz fest an sich gedrückt.

Aber es war kein Mensch da, der ihr hätte helfen können. Larina legte ihren Hut ab und stieg langsam die Treppe hinauf. Ganz automatisch stellte sie fest, dass der Teppich auf der Treppe sehr abgetreten war; er musste arg strapaziert worden sein, während sie in der Schweiz gewesen waren. Beinahe mit Schärfe hielt sie sich vor, dass das jetzt völlig unwichtig war. In einundzwanzig Tagen schon würde sie nicht mehr in diesem Haus sein, und es würde keine Rolle mehr spielen, dass der Teppich zerschlissen war, die Vorhänge im Wohnzimmer von der Sonne ausgebleicht, dass an dem Messingbett in ihrem Zimmer ein Knopf fehlte.

Einundzwanzig Tage…

Sie stieg noch eine Treppe höher zu ihrem Zimmer hinauf. Das kleine Haus hatte nur zwei Schlafzimmer, abgesehen von dem stickigen, dunklen Raum im Souterrain, der für ein Dienstmädchen gedacht war, das sie sich nicht hatten leisten können. Das vordere Zimmer hatte ihre Mutter bewohnt, das kleinere, nach hinten hinaus gelegene Zimmer war Larinas.

Sie öffnete die Tür und ging hinein, blieb stehen und sah sich langsam um. Hier waren all ihre Besitztümer, all die Dinge, die ihr lieb und teuer waren. Sogar der Teddybär war noch da, den sie als kleines Mädchen immer mit ins Bett genommen hatte, ebenso die Puppe, die die Augen öffnen und schließen konnte, und im Bücherschrank die Bücher, die sie im Laufe der Jahre geschenkt bekommen hatte.

Herzlich wenig eigentlich für ein ganzes Leben, sagte sich Larina.

Plötzlich überschwemmte sie das Entsetzen über das, was sie gerade erst erfahren hatte, wie eine Flutwelle. Sie lief zum Fenster und blieb dort stehen, blickte hinaus auf die grauen Dächer und die Hinterhöfe.

Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Sie war verzweifelt. Und da fiel ihr Elvin ein. Der Gedanke an ihn flog ihr zu wie die Rettungsleine einem Ertrinkenden. Warum hatte sie nicht gleich an ihn gedacht, als Sir John das Todesurteil sprach? Wahrscheinlich hatte der Schock sie betäubt, sie war unfähig, an etwas anderes zu denken als an die Tatsache, dass sie nur noch einundzwanzig Tage zu leben hatte.

Elvin hätte verstanden, was sie empfand; Elvin hätte es fertiggebracht, sie alles in einem anderen Licht sehen zu lassen.

Schon das erste Mal, als sie einander begegnet waren, hatten sie über den Tod gesprochen. Es war ein Tag gewesen, an dem es Mrs. Milton sehr schlecht ging. Larina konnte es Dr. Heinrich am Gesicht ablesen, dass er sich ernste Sorgen machte.

„Sie können jetzt nichts für Ihre Mutter tun“, sagte er zu Larina. „Gehen Sie hinaus an die frische Luft. Setzen Sie sich in den Garten. Ich rufe Sie, wenn sie Sie braucht.“

Larina wusste, was das bedeutete: Sollte Dr. Heinrich sie wirklich rufen, dann würde das heißen, dass das Ende ihrer Mutter nahe war.

Mit tränenblinden Augen wandte sie sich ab und lief in den Park des Sanatoriums hinaus. Zum ersten Mal bemerkte sie nicht die Farbenpracht der Blumen, sah nicht die Schönheit der schneebedeckten Berggipfel, die ihr sonst immer Mut und Zuversicht gegeben hatten. Sie lief von den Klinikgebäuden weg zu einer Stelle, wo unter hohen Tannen eine Bank stand.

Es war sehr einsam hier. Nur das Tosen des Wasserfalls, der sich über die Flanke des Bergs hinunterstürzte, und das Summen der Bienen, die eifrig Honig sammelten, waren zu hören. Hier, wo Larina sich unbeobachtet fühlte, schlug sie die Hände vors Gesicht und ließ den Tränen freien Lauf.

Lange musste sie so gesessen haben, ehe sie neben sich ein Rascheln vernahm und dann die Stimme eines Mannes, die voller Mitgefühl fragte: „Weinen Sie um Ihre Mutter?“

Mit tränennassem Gesicht drehte Larina sich um. Der Mann hatte sich neben sie auf die Bank gesetzt. Es war Elvin Farren, ein Amerikaner, den sie nur vom Sehen kannte. Er hatte ein eigenes kleines Häuschen und kam nie zu den Mahlzeiten in den Speisesaal.

„Meine Mutter ist nicht tot“, sagte Larina leise, „aber ich weiß, Dr. Heinrich fürchtet, sie könnte sterben.“

Sie zog ein Taschentuch heraus und wischte sich beinahe ärgerlich die Tränen aus dem Gesicht. Sie schämte sich, ihrer Angst und ihrem Kummer so widerstandslos nachgegeben zu haben.

„Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie wieder gesund werden wird“, sagte Elvin Farren.

Larina antwortete nicht gleich.

„Ich habe Angst“, sagte sie dann, „aber vor dem Tod hat wahrscheinlich jeder Angst.“

„Vielleicht vor dem Tod anderer, aber nicht vor dem eigenen.“

Larina sah ihn an und erkannte, dass er schwer krank sein musste. Er war völlig ausgezehrt. Seine Haut wirkte beinahe durchsichtig, und die verräterischen roten Flecken auf seinen Wangen sprachen eine deutliche Sprache.

„Sie haben keine Angst?“ fragte sie.

Er lächelte, und dieses Lächeln schien sein ganzes Gesicht zu verwandeln. „Nein.“

„Warum nicht?“

Er sah von ihr weg hinüber zu den Bergen, auf denen blendend hell die Sonne lag.

„Wollen Sie eine ehrliche Antwort“, fragte er nach einem Augenblick des Schweigens, „oder ist Ihnen die konventionelle Antwort lieber?“