32 Tage Juli - Christoph Schulte-Richtering - E-Book

32 Tage Juli E-Book

Christoph Schulte-Richtering

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Beschreibung

Zwei Freunde, der Atlantik und eine Mutprobe: ein charmanter, mitreißender Roman über Aufbruch, Zusammenhalt und das Ende der Unschuld Zwei Männer wiederholen eine Reise, die sie vor dreißig Jahren schon einmal gemacht haben, damals, im heißen Abi-Sommer, in dem Jayjay und Tiggy zum ersten Mal allein losfuhren: Es war ein Aufbruch in die ganz, ganz großen Ferien und in das Chaos, das zum Erwachsenwerden dazugehört. An der gleißenden Küste Portugals tappten die beiden von einem Sonnenölnäpfchen ins nächste. Aber sie entdeckten auch die Freiheit und die Liebe samt ihren Gefahren. Nach einer überstürzten Abreise nahmen sie ein dunkles Geheimnis mit: Erst ging es nur um die schöne Luisa, doch dann ließen sie sich auf diese dumme Mutprobe ein … Jetzt, viele Jahre später, spüren Jonas und Christian die kleinen Krisen, die Männer mit Ende vierzig so befallen. Mit neu erwachtem Abenteuergeist wollen sie sie bekämpfen – und endlich die offenen Fragen beantworten. Die Suche nach Luisa und einem Motorrad im blaugrünen Atlantik entführt die beiden auf eine Zeitreise, zurück in jenen verzauberten Sommer. Mitreißend und charmant erzählt Schulte-Richtering von Aufbruch und Freundschaft, vom Ende der Unschuld – sowie von der Freiheit und den anderen Dingen des Lebens, die man erst richtig begreift, wenn sie vorüber sind.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Christoph Schulte-Richtering

32 Tage Juli

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Zwei Freunde, der Atlantik und eine Mutprobe: ein charmanter, mitreißender Roman über Aufbruch, Zusammenhalt und das Ende der Unschuld

 

Zwei Männer wiederholen eine Reise, die sie vor dreißig Jahren schon einmal gemacht haben, damals, im heißen Abi-Sommer, in dem Jayjay und Tiggy zum ersten Mal allein losfuhren: Es war ein Aufbruch in die ganz, ganz großen Ferien und in das Chaos, das zum Erwachsenwerden dazugehört. An der gleißenden Küste Portugals tappten die beiden von einem Sonnenölnäpfchen ins nächste. Aber sie entdeckten auch die Freiheit und die Liebe samt ihren Gefahren. Nach einer überstürzten Abreise nahmen sie ein dunkles Geheimnis mit: Erst ging es nur um die schöne Luisa, doch dann ließen sie sich auf diese dumme Mutprobe ein … Jetzt, viele Jahre später, spüren Jonas und Christian die kleinen Krisen, die Männer mit Ende vierzig so befallen. Mit neu erwachtem Abenteuergeist wollen sie sie bekämpfen – und endlich die offenen Fragen beantworten. Die Suche nach Luisa und einem Motorrad im blaugrünen Atlantik entführt die beiden auf eine Zeitreise, zurück in jenen verzauberten Sommer.

Mitreißend und charmant erzählt Schulte-Richtering von Aufbruch und Freundschaft, vom Ende der Unschuld – sowie von der Freiheit und den anderen Dingen des Lebens, die man erst richtig begreift, wenn sie vorüber sind.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Jitalia17/Getty Images

ISBN 978-3-644-12411-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

32 Tage Juli

Prolog

«Fledermäuse am Meer sind doch auch nicht viel mehr als betrunkene Möwen», murmelte Tiggy und drückte sich an der goldgelb beleuchteten Promenade vorbei, um die Treppe zum Strand hinab ins Dunkel zu steigen. Und in der Tat: Unmengen von Fledermäusen torkelten um die Laternen, waren kurz sichtbar, drehten sofort wieder ab und verschwanden in der Nacht, um wenige Sekunden später zurückzukehren und das für menschliche Ohren stumme Spiel zu wiederholen.

Das war hier um vier Uhr morgens die einzige hektische Bewegung. Ansonsten platschten nur die schwarzen Wellen sanft an den Strand, und von der Felswand wehte ein Hauch, der die immer noch warme Luft angenehm kühlte. Der Atlantik aber, der war in der Nacht eisekalt und abweisend. Hier an der Algarve, so sagen die Fischer, stürzt Europa sich ins Meer. Wo es sonst Sonne, Sand, Sardinen satt gibt, wo vom frühen Morgen an die Souvenirhändler Cristiano-Ronaldo-Trikots anpreisen, wo ein Liliputaner im rosa Hasenkostüm gegen Trinkgeld Kapriolen macht und wo die Speisekarten seit ein paar Jahren sechssprachig sind: Hier, unterhalb der nächtlichen Promenade verschluckt die Weite des Atlantiks den letzten Sound des portugiesischen Touristenstädtchens. Der Strand schläft.

Wer jetzt die beiden Männer beobachtet hätte, die im Dunkel des Ufers leise fluchend eine große, reifenförmige Schwimmente und eine bunte Luftmatratze aufbliesen, der hätte sie vielleicht für betrunken gehalten. Wer zusätzlich noch die Plastiktüte mit Taucherbrillen, Flossen, Seil und Unterwasserscheinwerfer sowie den halben Eimer stinkender Fischabfälle bemerkt hätte, dem wäre womöglich der Verdacht gekommen, es mit zwei verrückten Anglern zu tun zu haben, die eventuell auf der Jagd nach Espadas waren, den Degenfischen, die die Fischer hier vor der Küste aus der tiefen See holen. Aber erstens war kein Neugieriger in der Nähe, der sie hätte beobachten können – und zweitens waren die beiden Herren nichts dergleichen: weder betrunken noch verrückt. Die Männer waren stocknüchtern und ganz bei sich, denn sie hatten einen Plan: Sie waren auf der Suche nach einer Leiche und wussten, wo sie suchen mussten.

Die beiden Männer kickten die Adiletten von den Füßen, zogen ihre Klamotten aus und versteckten sie gut unter einem Felsvorsprung. Der eine begann umständlich, sich die mittlerweile aufgeblasene Schwimmente anzuziehen: Genau genommen war es keine Ente, sondern eine Giraffe, aber das tut nicht viel zur Sache. Erst stieg er von oben in den Ring des Gummitiers rein, bis der Bauchansatz die Giraffe stoppte. Damit war er unzufrieden. Er stieg wieder heraus, um sie anschließend über den Kopf zu ziehen, bis wiederum der Bauchansatz die Aktion stoppte, diesmal von unten her. Schließlich entschloss der Mann sich seufzend, die Giraffe als Luftmatratze zu verwenden, und legte sich im Sand probeweise auf sie drauf. Seine kleine Wampe passte genau in die wie dafür vorgesehene Höhlung des Rings. Ein etwas kompliziertes Szenario, das als «lächerlich» zu bezeichnen der Erzähler keine Sekunde zögern würde – wenn die Sache nicht einen kleinen Haken hätte: Der Mann auf der Giraffe war ich.

Mein Name ist Jonas Jenkner, von Freunden werde ich trotz meines Alters von mittlerweile siebenundvierzig Jahren immer noch Jayjay genannt. Ja, ein kleines Bäuchlein gibt es, aber das ist nichts im Vergleich zu der ansehnlichen Biertonne meines Freundes Tiggy, die erstaunlicherweise von zwei dürren, zerbrechlichen, porzellanfarbenen Beinen getragen wird. Tiggy ist zwar einen Kopf kleiner als ich, wiegt aber zehn Kilogramm mehr: Tiggy, mein ältester Freund, seit über dreißig Jahren. Tiggy heißt eigentlich Christian Strohm und ist beruflich so eine Art Heuschrecke für die Übernahme von Fernsehproduktionsfirmen. Tiggy, der Sammler: Früher sammelte er Schlümpfe und Fantasy-Figuren, dann Aufkleber aller Art. Dann – noch mit Mitte dreißig – Pokémons. Und natürlich Frauen! Tiggy ist der lebende Beweis dafür, dass man nicht gut aussehen muss, um einen Ruf als veritabler Casanova zu genießen. Woran das liegt? Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht an seiner Art des beherzten Zugriffs auf Dinge und Menschen. Er fackelt nicht lange, ohne dabei je aufdringlich oder unangenehm zu wirken. Er weiß, was er will – und das hilft ihm. Auch beruflich sammelt er nach wie vor: Firmen in Europa und Übersee, die er tauscht, kauft und verkauft, als seien es die Schlümpfe von damals, obwohl er dabei statt mit Pfennigbeträgen mit Millionensummen jongliert.

Das sah man ihm in dem Moment allerdings nicht an, weil er gerade mit zugehaltener Nase einen Eimer mit Makrelen-Innereien durch die Gegend trug. Der Letzte, der Tiggy nicht Tiggy oder «Herr Strohm», sondern «Christian» genannt hatte, war unser säuerlicher Schuldirektor, Pater Volkwin, als er uns 1987 die äußerst ruhmlosen Abizeugnisse übergab. Im selben Jahr sind wir dann schon einmal hier in Portugal gewesen, neunzehnjährig, ohne Schwimmgiraffe, ohne Fischabfälle und ohne Adiletten.

Der Zeitpunkt unseres nächtlichen Ausflugs war sorgfältig gewählt – um drei Uhr morgens schlossen die Bars in Lagos, und kurze Zeit später war das Partyvolk am Stadtstrand vorbeigezogen, in Richtung der Hotels, Ferienwohnungen oder Youth Hostels. Bald nach Sonnenaufgang allerdings brachen aus dem nahegelegenen Yachthafen bereits wieder die ersten Boote auf, um mit der Sonne im Rücken in Richtung des Cabo São Vicente zu segeln, des südwestlichsten Punkts von Europa. Und die mussten genau an der Stelle vorbei, wo wir mit unserer Schwimmgiraffe standen. Ungünstig. Das gab uns also ein Zeitfenster von etwa zwei Stunden, in dem wir voraussichtlich ungestört unsere Angelegenheit erledigen konnten. Die Fischabfälle hatten wir in der Markthalle besorgt, für den Fall, dass es sich ein Liebespaar in Ermangelung eines geeigneten Hotelzimmers zwischen den Felsen unseres Ausgangshafens gemütlich gemacht hatte. Dann hätten wir die Turteltäubchen mit einem kräftigen Eimerguss von der oberhalb gelegenen Strandpromenade kurzerhand verscheucht. Zum Glück war die Luft rein, sodass Tiggy das Fischgekröse mit zugehaltener Nase ein paar Meter weiter im Meer verklappen konnte, um den Eimer sofort wieder zu füllen, und zwar mit am Strand gesammelten, großen Kieselsteinen.

Unter Beobachtung Fremder hätte ich mich jetzt sicher zügig und mannhaft ins Meer gestürzt – aber vor Tiggy als einzigem Augenzeugen hatte ich keine Scheu, mich zu zieren: Ich wagte mich nur zentimeterweise und auf den Zehenspitzen vor, die Arme mit der Giraffe in die Luft gestreckt. Und während ich mit einem leisen «Uh-uh-uh» versuchte, mich an die Kälte des Wassers zu gewöhnen, quiekte Tiggy mit seiner Luftmatratze wie ein ausgebüxtes Ferkel, bis wir beide endlich drin waren.

«Weißt du noch, damals? Als meine Mutter immer sagte, man kriegt einen Herzschlag bei so kaltem Wasser?», rief ich Tiggy leise zu.

«Klar, sie hat damals aber auch gesagt, dass wir das gekaufte Mineralwasser aus Flaschen abkochen sollen, bevor wir es trinken», keuchte Tiggy. «Und wir hätten es beinahe auch gemacht!»

«Woah, ist das kalt! Ich nehm’s als Kneippkur, ist sicher gut für den Kreislauf …»

«Ich hab eher Angst, dass uns der Böse Watz von unten die Eier abbeißt!»

Wir plantschten los, prust und ächz, nur ein paar hundert Meter lang war unsere Strecke. Zu Fuß wären es wenige Minuten, aber im frostigen Wasser besteht für einen Siebenundvierzigjährigen schon Wadenkrampfgefahr. Wir schwammen vom Stadtstrand Richtung Westen, vorbei an den berühmten Postkartenmotiven der Algarve. Hier wärmt in den lauen Abendstunden die Sonne die roten Felsen. Dann schrauben die Hobbyfotografen mit der Sonne im Rücken an ihren Stativen rum, und die Touristen versauen ihre iPhone-Fotos mit Selfie-Stick und Instagramfilter. Aber im nächtlichen Schwarz hat die sonst liebliche Felsenküste der Algarve etwas durchaus Bedrohliches. Zitternd paddelten wir vorbei an den bei Tageslicht malerischen Buchten in Richtung des Leuchtturms von Ponta da Piedade, vorbei an der prachtvollen Casa do Pinhão, die jetzt dort auf den Klippen thront, wo früher das Haus des alten Gonçalo stand. Wir trieben mit der Strömung durch natürliche Torbogen hindurch, die die Brandung in Jahrtausenden aus dem Fels gehöhlt hatte. Den bizarren Formationen hatten die Kapitäne der Sightseeingboote schillernde Namen wie «George Washington» oder «Elefant» gegeben, um den Touristen auf den zweistündigen Grottenfahrten ein paar Pointen bieten zu können. Ich kannte die Strecke sehr gut, es ging am «Gorilla» vorbei, dann hieß es Kurs auf «Laurel und Hardy» nehmen. Wir kamen langsam voran – das lag an Tiggy, der mit seinem Eimer voller Kieselsteine auf der Luftmatratze die Arschkarte gezogen hatte: Die Matratze hing in der Mitte ziemlich durch. Kurz hinter den «Daltons», vier nebeneinanderstehenden, nach hinten kleiner werdenden Felsen, die die Alten hier «Die vier Brüder» nennen, bogen die Schwimmgiraffe und die Luftmatratze schließlich in eine kleine Bucht ab. Von hier konnte man schon das schwache, regelmäßig aufscheinende Licht des Leuchtturms sehen. Wir hielten direkt vor dem kleinsten «Dalton», der anders als die anderen frei im Wasser stehenden drei Felsen mit der Steilküste noch über eine natürliche Brücke verbunden war, unter der seit Jahrtausenden das Meer wogte.

Hierher kamen die Touristen nicht: Mit den Ausflugsbooten fuhren sie in einiger Entfernung vorbei, und auch mit Kajaks oder Tauchausrüstung verirrte sich nie jemand an diese Stelle – allzu versteckt lag sie zwischen den Klippen, die Schönheiten der anderen Buchten dieser Felsenküste waren viel leichter erreichbar. Am dunklen Ufer schwieg uns ein etwa hundert Meter langer Strand an, der vom Land aus unzugänglich zu sein schien, heute wie vor dreißig Jahren: Er war umschlossen von hohen Felsen, auf denen nichts wuchs als stacheliges Gestrüpp und Macchiagebüsch. Aus den Steilhängen wuchsen ein paar knorrige Feigenbäume, deren Duft sich mit dem des Salzwassers mischte. Der Mond beleuchtete in der Mitte des Hangs auch den Erdbeerbaum, der ja irgendwie schuld an allem war.

Wer hierher wollte, brauchte ein Boot oder musste schwimmen. Die Praia Estrela war einst der Ort meines ersten Glücks, der Ort meiner Sehnsucht ist er seit jeher geblieben. Ich war nie mehr hier gewesen, seit jener Nacht mit Luisa, Alex und den anderen. Die Erinnerung an das Lagerfeuer, an den Rubin und an Luisa selbst traf mich wie ein Schlag – dass ich einmal schwer schlucken musste, lag nicht nur am Meerwasser. Tiggy guckte auch ein bisschen betreten, ihm ging es wohl ähnlich. Wir waren am Ziel unserer kühlen Reise.

Tiggy band den Kieselsteineimer mit dem Seil an die Luftmatratze, schnürte auch die Giraffe daran fest und ließ den Eimer auf den Grund sinken. Diese Konstruktion sollte uns als Anker und als Boje dienen. Wir nahmen Taucherbrille und Flossen aus der Tüte und machten den Scheinwerfer klar. Das Meer schwappte ruhig gegen die Felsen und gluckerte freundlich wieder zurück. Am Horizont kündigte ein leises Grau die Dämmerung an – nicht mehr lange, und die Sonne würde aufgehen.

«Boah, mir fällt gleich was ab vor Kälte», bibberte Tiggy.

«Vielleicht hätten wir uns besser ein Kajak mieten sollen», sagte ich.

«Riesenidee», Tiggy schaltete den Scheinwerfer ein und leuchtete auf die nur drei Meter entfernte Felswand, «über Nacht ein Kajak mieten, da fragt sich der Vermieter doch sofort: ‹Was wollen die hier nachts mit einem Kajak – außer Drogen schmuggeln oder Leichen entsorgen?› Da hättest du gleich deine Adresse und deine Telefonnummer bei der Polizei hinterlegen können.»

«Dann fuchtle du mal nicht so mit dem Licht rum, das ist nicht weniger auffällig», murrte ich und nahm ihm den Scheinwerfer ab. «Hilft ja jetzt nichts. Glaubst du, wir finden ihn überhaupt?»

«Keine Ahnung – aber länger als eine halbe Stunde halte ich das hier drin eh nicht aus.»

«Also los – Petri Heil», murmelte ich, nahm den Schnorchel in den Mund und tauchte ab.

Das Meer war hier zwar nur etwa drei Meter tief, aber der Lichtkegel meines Scheinwerfers beleuchtete immer nur ein paar Quadratmeter. Große Algenwiesen wiegten hin und her. Fische waren kaum zu sehen – hier und da ein verhuschter, silberner, na, ich sag mal, Seebarsch, ansonsten eine Menge Winzfische in kleinen Schwärmen. Auf den Felsen knabberten dunkelgrüne Taschenkrebse an glibberigem Seetang und ließen sich von unserem Geleuchte nicht im mindesten beeindrucken. Alle paar Meter gammelte auf den Algenwiesen eine grünbraune Seegurke rum, die aussah wie ein großer Hundehaufen. Sonst – nichts. Ich tauchte auf, Tiggy kam prustend nach.

«Das wird nichts – ohne den Scheinwerfer sieht man ja kaum was! Und bis wir mit dem alles abgesucht haben …»

«Hatte ich mir auch leichter vorgestellt», keuchte ich, während ich mit den Flossen paddelnd versuchte, mich über Wasser zu halten, und Tiggy den Scheinwerfer herüberreichte. Wir schwammen zu unserer Giraffenmatratze, für die ich jetzt sehr dankbar war.

«Lass uns mal da hinten nachschauen, zwischen den beiden letzten ‹Daltons›. Vom Gefühl her kommt das hin.» Tiggy stellte den Scheinwerfer auf einen weiteren Fokus.

«Okay – und wenn wir noch etwas warten, geht die Sonne auf, ist bald so weit. Vielleicht hilft das.»

«Lass uns lieber schnell machen. Ich hab keinen Bock, dass uns nachher auf dem Rückweg alle paar Minuten die bescheuerten Segler zuwinken. Das wird auch bald losgehen.»

Er verschwand im Wasser – ich konnte ihn anhand seines Schnorchels und des schwach leuchtenden Lichtkegels verfolgen und ihm dann dabei zusehen, wie er zwischen den beiden Felsen suchte.

So schnauften wir etwa eine halbe Stunde erfolglos im Wasser rum. Meine Beine konnten kaum noch einen vernünftigen Flossenschlag machen, wegen der Kälte, nachlassender Kraft, vermutlich beides. Die Sonne hatte den Himmel mittlerweile rosé gefärbt, und auch das Meer war nicht mehr ganz so tiefschwarz wie noch vor wenigen Minuten. Sogar ohne Scheinwerfer konnte man schon ein bisschen was erkennen, sodass Tiggy und ich begannen, verschiedene Stellen zu durchkämmen.

Ich hatte eben eine kurze Giraffenpause eingelegt und wollte gerade wieder meine Brille aufsetzen, um in Tiggys Richtung zu schwimmen, da tauchte er prustend auf. Durch Taucherbrillen hindurch sehen Augen immer irgendwie aufgerissen aus, aber so weit ich das erkennen konnte, war Tiggy regelrecht entsetzt. Zuerst rief er durch den Schnorchel «Hmhm, hm hmmmhmm!», dann spuckte er den Schnorchel aus und hustete: «Jayjay – ich hab ihn.»

«Fuck», sagte ich, zog die Brille über den Kopf, griff hektisch nach meinem Schnorchel, nahm meine Kräfte zusammen und schwamm mit einigen Zügen zu Tiggy. Er hielt den Scheinwerfer genau zwischen die Felsen.

«Da runter. Du siehst ihn sofort.»

Ich ging unter Wasser. Das Morgenlicht ließ das Meer grünblau glänzen und erleichterte die Sicht. Tiggy hatte recht, ich musste nicht suchen: Das völlig verrostete Motorrad stand samt seinem Seitenwagen aufrecht im Wasser zwischen zwei kleinen Felsbrocken. Daneben lagen menschliche Knochen, fast weiß, die aussahen, als ob Fische sie regelmäßig sauber abnagen würden. Nur an einigen Stellen waren sie mit kleinen Algen bewachsen. Der Fels hinderte die in der Bucht ohnehin geringe Strömung daran, die Knochen fortzuspülen. Durch den Brustkorb tanzten kleine Fische. Ich schwamm näher ran. Der Schädel lag gleich neben dem Motorrad. Er schaute mich mit seinen hohlen Augen direkt an, und wie damals trug er eine prächtige goldene Krone, besetzt mit Amethysten und Saphiren. Die Steine funkelten in den ersten Sonnenstrahlen, die sich genau in diesem Moment ihren Weg durch das flache Wasser brachen. Die acht Bügel der Krone wurden oben von einer Kugel aus Lapislazuli zusammengehalten, auf dieser Kugel stand ein kleines Diamantkreuz mit vier Rubinen an den Stellen, wo Jesus ans Kreuz genagelt war. Der größte Rubin aber fehlte: der in der Mitte des Kreuzes.

Ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte, nach all dieser Zeit. Wie das Kreuz auf der Krone hatte auch ich dreißig Jahre lang mit einem Loch an der Stelle meines Herzens gelebt. Aber jetzt hatte die Zeit des Grübelns ein Ende, jetzt hatte ich Gewissheit: Alles stimmte, alles war wahr, ein Stückchen meines Lebens hatte sich geklärt. Und so war das alles gekommen …

I.

1.

Am Morgen des 30. Juni 1987, dem Tag unserer geplanten Abreise, klebte da dieser handgeschriebene Zettel außen an meiner Jugendzimmertür: «Knopf im Ohr, welch ein Tor!», selbstgereimt von meinem entsetzten Vater, der es nicht fassen konnte, dass sein Sohn nun plötzlich einen Ohrring trug. Tiggy und ich hatten uns nämlich, immerhin bereits neunzehn, noch am Nachmittag zuvor für die Reise Ohrlöcher stechen lassen. Natürlich aus Coolnessgründen und nach langen Diskussionen darüber, ob es jetzt ein Ring im linken oder im rechten Ohr sei, der den anderen signalisierte, dass man schwul sei. Tiggy kam irgendwann zu dem Schluss, dass das eigentlich egal sei – wenn wir den Geheimcode nicht kennen, dann würden andere ebenso wenig in der Lage sein, die Bedeutung des Ohrrings zu knacken. Mir aber war es nicht wurscht, also recherchierte ich. Schließlich entschieden wir uns für das linke Ohr als Heterosignal – auf dem Cover eines meiner Wham-Alben trug nämlich George Michael einen Ring genau dort, und George Michael war ja auf keinen Fall schwul; im Video von «Last Christmas» war er zum Beispiel in die Dunkelhaarige mit der kecken Frisur verliebt, die dann aber mit Andrew Ridgeley abgezogen war.

Wobei, ganz so lässig wie George Michael und Andrew Ridgeley waren wir natürlich nicht. Wir gingen das Ohrringthema systematisch an und schlugen die coolste Möglichkeit gleich aus: Wir hätten in das einschlägige Piercing- und Tattoostudio gehen können, das es auch damals schon gab und in dem Tiggy hin und wieder seine Fantasy-Sammlung um eine Figur erweiterte. Mich faszinierte das Studio mit der lebensgroßen Merlin-Schaufensterpuppe, die in ihrer Hand eine Kugel hielt, aus der ein rätselhafter Nebel quoll. «Trockeneis», bemerkte Tiggy abschätzig, um den Nebel zu entzaubern – als ob das irgendetwas erklärt hätte. Statt im Tattoostudio also hatten wir uns – brave, wohlerzogene Jungs – aus «hygienischen Gründen», wie Tiggy sagte, die Löcher in der Rathaus-Apotheke stechen lassen. Und selbst das galt in einer Stadt wie Münster in den Achtzigern als äußerst anrüchig oder zumindest als zweifelhaft. Gelbsucht! Tetanus! Was da alles passieren kann! Um die Befürchtungen meiner Eltern zu verdeutlichen, sollte ich vielleicht erwähnen, dass es mir als kleinem Jungen verboten war, zur Abwechslung mit dem Kopf am Fußende meines Kinderbetts zu schlafen, weil das als Vorstufe zu Anarchie und Punk-Revolution galt. Ohrstecker bei Jungs, egal, ob rechts oder links, waren dann wohl ein ernstzunehmendes Zeichen dafür, dass das Ende der Welt nahe war.

Den ganzen Nachmittag über wurde ich bekniet, belabert, beschimpft – aber ich wusste: Keine vierundzwanzig Stunden mehr, und ich war frei. Die letzte Attacke hatte mein Vater am Tag unserer geplanten Abreise in Gestalt ebenjenes Zettels an meiner Tür geritten. Aber ich würde nicht nachgeben! Nie im Leben!

Und nun standen wir also da, auf Gleis 4b am Bahnhof von Münster, kaum einen Pfennig in der Tasche. Als «Belohnung» fürs Abi hatten uns unsere Eltern widerwillig gerade mal die Interrailtickets bezahlt – aber erst, nachdem meine Mutter ihrer Angst vor Raubmord, Drogen, Vergewaltigung, Aids aus dem Bierglas, Fleckfieber und vor der Welt im Allgemeinen nachdrücklich und einprägsam Ausdruck verliehen hatte.

Für vierhundertzwanzig D-Mark vier Wochen lang quer durch Europa fahren! Wobei rechts, nach Osten hin, natürlich noch eine fette Mauer stand, die uns daran hinderte, trostlose Länder zu besuchen, wo graue Menschen mit Hornbrillen lebten, die sich ausschließlich von Kleiebrot ernährten und zur Musik der Puhdys abgemagerte Yaks durch die Steppe trieben. So jedenfalls stellten wir uns damals die Welt östlich von Helmstedt vor.

Also blieben die anderen drei Himmelsrichtungen. Sogar Marokko war im Preis mit drin, aber nach Marokko wollten wir nicht – erstens schien uns die Alkoholversorgung nicht hinreichend gewährleistet, und zweitens hätten wir uns die ganze Prozedur mit den Ohrringen sparen können. In Marokko wurden die Mädchen bekanntlich verhüllt und weggesperrt, es sei denn, man würde sie heiraten. Außerdem hatten Tiggys Eltern für ihn eine Europa-Auslandskrankenversicherung abgeschlossen, und die galt dort nicht. Die Costa Brava oder die Adria waren uns zu unoriginell, also hatte Tiggy Lagos, Algarve, Portugal, als unser Reiseziel angegeben. Tiggy dachte hier schon wie der raffinierte Geschäftsmann, der er mal werden sollte: Es war die weiteste Strecke fürs Geld, denn in Lagos endete die Bahnlinie. Portugal war 1987 noch hinreichend exotisch und versprach, ein billiges Urlaubsland zu sein – und wenn wir dort nach ein, zwei Tagen genug gesehen haben würden, sollte es – Tiggy hatte die Reise gut durchdacht – über Spanien, Frankreich und Italien weitergehen nach Griechenland, denn auch die Fährfahrt zwischen Brindisi und Patras war inklusive. Flatrate-Bahnfahren, zwanzig Jahre, bevor dieser Begriff überhaupt aufkam. Vier Wochen auf den Schienen war der Plan, more bang for the buck.

Tiggy hatte in seinem Zimmer eine Weltkarte hängen, auf der diejenigen Länder grün ausgemalt waren, die er schon bereist hatte, also Holland, Dänemark und Österreich. Wobei er bei Dänemark ganz Grönland mit grün gemacht hatte, obwohl er während eines Urlaubs mit seinen Eltern auf Fehmarn nur mal für einen Tag in Nykøbing gewesen war. Und jetzt ärgerte er sich, dass man auch Portugal kaum erkennen konnte. «Wir müssen nächstes Jahr in die Sowjetunion: Einmal Moskau – und die halbe Welt ist grün!»

Verdient hatten wir die Reise als Belohnung fürs Abi beide nicht, denn das war natürlich insgesamt beschissen gelaufen, was die ganze Zukunftsplanung aber auch irgendwie erleichterte: Hochfliegende Studiengänge wie Medizin, Kunstgeschichte oder Atomphysik konnte ich mir so direkt von der Backe kratzen. Hauptsache bestanden, zwar nur mit 3,5 – aber drauf gepfiffen.

«Abigator ’87» hatte Tiggy auf die Heckscheibe seines uralten Polos geklebt, aber Tiggy war von seinen Eltern ja auch nicht die Hölle heißgemacht worden; er war in einer Familie von Arbeitern und Beamten der Erste mit Abi, da war seine 3,4 schon eine Auszeichnung, die es zu feiern galt. Aber bei mir, huiuiui, Vater Lehrer, Mutter Lehrerin – ich war der fleischgewordene Totalausfall. Dass ich in der aktuellen Hörzu eine Statistik entdeckt hatte, nach der Schüler mit einem Dreierschnitt im späteren Berufsleben diejenigen mit dem größten Erfolg seien, interessierte sie nicht. Aber immerhin hatten meine Eltern ein paar Jahre Zeit gehabt, ihre Erwartungen herunterzuschrauben, von Zeugnis zu Zeugnis, sodass sie am Ende fast froh waren, dass ich überhaupt einigermaßen über die Runden gekommen war; das heißt, ohne Sitzenbleiben, was auf der elterlichen Skala der möglichen Vergehen nicht weit vor dem Drogenstrich und dem Urinieren aufs Kruzifix gestanden hätte. Immerhin darauf hatte ich geachtet, also aufs Versetztwerden jetzt – nicht wegen meiner Eltern, sondern weil ich keine Lust hatte, noch ein Jahr länger Klosterschüler zu sein, montägliche Gottesdienste zu schwänzen und vor der Tafel mit dem Periodensystem zu stehen wie vor einem finnischen Film mit bulgarischen Untertiteln.

Das Gefühl, nach der Rückgabe der Klausur auf die letzte Seite zu blättern und dort rot auf weiß zu sehen, was man schon die ganze Zeit befürchtet hatte: noch ausreichend. Mangelhaft. Ungenügend. Die Gardinenpredigt zu Hause. So Zögling-Törleß-mäßig, Fänger-im-Roggen-Style, Schüler-Gerber-like, der Unterm-Rad-Way. Damit sollte jetzt Schluss sein, ein für alle Mal: Auf mich wartete ein Leben voller Abenteuer, selbstbestimmt und mannhaft, eine rosige Zukunft, die genau heute, genau jetzt, um 11:04 Uhr auf Gleis 4b des Münsteraner Hauptbahnhofs ihren gloriosen Anfang nehmen sollte. So wie die Helden und Entdecker Portugals, die von fernen Ländern träumten und die gewohnte Welt hinter sich ließen, um auf der Suche nach einer neuen Welt Prüfungen zu bestehen, die die alte Welt und einen selbst reicher machten.

Die Buchung der Reise war meine Aufgabe gewesen – mit Details befasste Tiggy sich nicht. Und weil man innerhalb Deutschlands mit dem Interrailticket noch die Hälfte des Fahrpreises zahlen musste, galt es, so schnell wie möglich raus aus Deutschland zu kommen. Der Weg nach Portugal sollte uns über Amsterdam, Paris und Madrid führen – und die erste Station war Bad Bentheim.

Um 11:05 Uhr aber war mir klar: Die Demütigungen sollten nicht abreißen, nicht jetzt – und vermutlich auch den Rest meines Lebens nicht. Es würde nie aufhören, das Leben würde ein ewiger Kampf um Selbstbestimmung und Würde bleiben, in dem Scheitern und Versagen eher der Normalfall als die Ausnahme waren. Unser Zug nach Amsterdam fuhr heute nicht.

Wir wollten zunächst montags aufbrechen, und für den Montag hatte ich in der Woche zuvor unsere Route am Schalter zusammen mit einer hilfsbereiten Mitarbeiterin geplant. Dann aber lag am Samstag vor der Abreise Tiggys Auslandskrankenversicherungsschein nicht im Briefkasten, sodass wir noch die Montagspost abwarten mussten. Für mich kein Problem: Ein Zug, der montags fährt, würde wohl auch dienstags fahren – und trotz der wiederholten Nachfragen meines Vaters sah ich keinerlei Veranlassung, erneut zu recherchieren. Aber ich hatte mich getäuscht. Erste Zweifel keimten in dem Moment, an dem wir den Bahnsteig erreichten und offenbar die einzigen Gestalten waren, die in Richtung Bad Bentheim unterwegs waren: Tiggy und ich mit unseren überdimensionierten Rucksäcken, unsere vier Eltern und meine Schwester, alleine auf einem toten Bahnsteig. Keine Anzeige, nirgends.

Mein Vater setzte sich die Brille mit der Kordel und der über den Daumen gepeilten Dioptrienzahl auf, die er sich vor einigen Wochen im Drogeriemarkt gekauft hatte. Praktischerweise teilte er sich die Brille immer mit meiner Mutter. Dann studierte er den Abfahrtsplan.

«11:04 Uhr, Richtung Bentheim, zwei gekreuzte Hämmer, werktags außer Zwei. Eine eingekreiste Zwei heißt, Moment, ‹werktags außer dienstags›», verkündete mein Vater. «Heute ist Dienstag. Euer Zug fährt nicht. Die Reise fällt wohl ins Wasser.» Und damit schob er sich die Brille zurück auf die Stirn.

Trockene Häme: Das alte Bahnhofsgebäude aus dickem Stein hätte gerne einstürzen können. Die Schadenfreude meines Vaters. Die vorwurfsvollen Blicke meiner Mutter. Meine kichernde Schwester. Der ratlose Tiggy, dem das nie passiert wäre. Die Zweifel in den Augen seiner Eltern, mit was für einer Flitzpiepe ihr Sohn da in den Urlaub fährt. Natürlich wusste ich, dass die Katastrophe eingetreten war, aber wie in einer Übersprungshandlung schaute ich mit gespielter Hoffnung auf die Uhr, blickte das Gleis suchend entlang in die Richtung, aus der der Zug hätte kommen sollen, und überprüfte schließlich mit blindem Blick den orangefarbenen Fahrplan auf Gleis 4b, bis die längst feststehende Niederlage nicht mehr länger zu leugnen war: Ich hatte versagt. Wir standen noch ein paar Minuten verloren auf dem Bahnsteig herum, bis wir unsere Abreise auf den nächsten Tag verschoben und die ganze Prozession sich zurück zu ihren Autos bewegte.

Zu Hause pfefferte ich unser Zelt scheppernd vor die Kellertreppe. Überhaupt das Zelt! Es war ein Dreimannzelt mit daumendicken Stangen zum Zusammenstecken. Mein Vater besaß es seit seiner Jugend und hatte es vermutlich bereits von älteren Generationen geerbt. Es wog etwa zehn Kilogramm und hatte sämtliche Outdoor-Entwicklungen der achtziger Jahre, Jack Wolfskin und Globetrotter natürlich noch nicht mitgemacht. Seine Herkunft aus der Wandervogelbewegung des frühen 20. Jahrhunderts war unübersehbar: solide, aber zementschwer.

Brot, Wurst, Silberzwiebeln, Tagesschau. Doch anders als sonst verlief das Abendessen nicht schweigsam. Meine Mutter nutzte die Chance, um ihren ohnehin angezählten Sohn noch einmal in Sachen Ohrstecker zu bearbeiten. Medizinische, ästhetische, moralische, ja religiöse Gründe wurden angeführt – man konnte meinen, dass mit meinem kleinen Ohrstecker für 4,99 DM das Abendland unwiderruflich zugrunde ging.

Eine kurze Verschnaufpause verschaffte mir mein Vater, allerdings ungewollt. Er zündete sich ein Zigarillo an, was meine Mutter aus gesundheitlichen Gründen ebenfalls nicht gutzuheißen vermochte. Bizarrerweise zog sie dabei ihrerseits an einer Zigarette.

«Musst du schon wieder rauchen?», fragte sie meinen Vater erbost.

«Du rauchst doch selbst! Außerdem ist das mein erster Zigarillo diese Woche», log er.

«Das sind Lord extra, da ist fast gar kein Nikotin drin!», blaffte sie zurück. «Und ich paffe nur.»

«Ich paffe auch nur.»

«Aber bei Zigarillos wird das Nikotin über die Blutbahn aufgenommen. Das ist die Hauptursache für Lungenkrebs!»

«Sagt die Frau, die selbst eine Zigarette in der Hand hält …»

«Ja, aber ich paffe nur! Und du nimm endlich den Ohrring raus – wir wären alle entspannter, wenn du besser auf deine Eltern hören würdest!»

«Ich paffe auch nur! Mit dem Ohrring hat die Mama aber recht.»

Den Stecker habe ich dann also doch noch rausgenommen und später in einer Seitentasche des Rucksacks an meinen Eltern vorbeigeschleust – ich war mürbe. Anstatt mir allerdings wenigstens die Würde zu lassen und ihren Triumph in stiller Genugtuung zu feiern, versuchte meine Mutter, mich zu trösten, mit den Worten: «Sieht doch auch viel besser aus so, sag doch selbst!» Darüber ärgere ich mich noch heute.

Natürlich musste ich hier raus, keine Frage, es war an der Zeit. Allzu eng wurde die Wohnung, allzu frostig der Ton zwischen meinen Eltern und mir, allzu belastet war jedes Möbelstück mit unguten Erinnerungen: die Stehlampe, seit Jahren von einem Sprung verunstaltet, weil ich sie umgeschmissen hatte, das aber bis heute leugnete. Die Hausbar in Globus-Form, die am Äquator zu öffnen war und aus der ich Apfelkorn, zuckerverklebten Blue Curaçao oder Portwein geklaut und mit zugehaltener Nase pur getrunken hatte, um vor dem freitäglichen Ausgehen mit den Jungs schon ein wenig vorzuglühen. Der Mülleimer, aus dem unser blöder Köter meine heimlich weggeworfenen Schulbrote ergattert hatte, die er dann unter dem Esstisch geifernd und mit gebleckten Zähnen verteidigte.

Ich stand auf, steckte mir ein Silberzwiebelchen in den Mund und verschwand in mein Zimmer, in dem noch Relikte der Kindheit standen: «Das Rätsel von Burg Schreckenstein» im Bücherregal oder eine seit Jahren unberührte Kiste voller Legosteine, einige davon mit steinalter Yogurette verdreckt. Das Kinderbett, in dem ich die Windpocken hatte, mit schlechtem Gewissen, denn wenn ich krank war, ging es nicht mir am schlechtesten, sondern meiner Mutter.

Aber in meinem Zimmer standen auch schon Insignien des Erwachsenenlebens – oder das, was ich dafür hielt: meine Sammlung von Miniflaschen mit bunten Likören, von denen ich meiner Mutter versprochen hatte, sie nur zu Dekorationszwecken ins Regal zu stellen; doch mit Wasser und Lebensmittelfarbe ließen sich nahezu alle Liköre nach Genuss optisch täuschend echt imitieren. Oder das riesige City-Light-Poster mit dem Nivea-Mädchen, in das ich so verliebt gewesen war, dass ich mich überwunden und bei der Agentur geklingelt hatte, die für das Aufhängen der Plakate in der Innenstadt zuständig war. Nachdem ich zur zuständigen Sachbearbeiterin vorgelassen worden war, fragte ich verschüchtert, ob man so ein Plakat kaufen könne. Die kicherte, fand mein Ansinnen aber so «süß», dass sie mir das Plakat sogar schenkte. Und jetzt hing es halt über meinem Bett.

Ich hörte, wie mein Vater seine aktuelle Lieblingsplatte auflegte: «Wohlauf in Gottes schöne Welt» von der Albrecht-Familie, deren Oberhaupt Ernst damals amtierender Ministerpräsident von Niedersachsen war; gemeinsam mit seiner Frau und einer Gitarre im Arm lächelte er gütig vom Plattencover. Noch einmal weitere zwölf Stunden.

Um der Musik meines Vaters nicht ausgeliefert zu sein, legte ich die Vinyl-Single «China in Your Hand» von T’Pau auf den WEGA-Plattenspieler, den sich meine Eltern zu ihrer Heirat gekauft hatten und der seit der Anschaffung einer neuen Stereoanlage zur Petersilienhochzeit nun mir gehörte. Als Zubehör gab es eine Wechselachse, also einen Stift, den man in das Loch der Platte steckte und auf den man mehrere Platten legen konnte, die ebenjener Stift dann nach dem Abspielen der aktuellen Scheibe freigab, sodass sie auf den Plattenteller fielen und nacheinander abgespielt wurden, ohne dass man aufstehen und händisch eine neue auflegen musste.

Die Musik brachte mich zum Nachdenken. In das Aufbruchsfieber mischte sich die Angst vor dem Unbekannten. Morgen also. Unsere Karavelle war geladen, Tiggy und ich hatten Fässer voll mit Bohnen, Reis und Rum, wir hatten Pökelfleisch und Zwieback, wir hatten kleine Glöckchen und bunte Glasperlen für die Wilden; wir hatten uns Mut angetrunken und uns selbst in einer Hafenspelunke shanghait. Doch jetzt bekam ich Angst. Wer nicht einmal in der Lage war, einen Zugfahrplan zu lesen, wer schon an Gleis 4b der Heimatstadt scheiterte, wer es nicht einmal schaffte, ohne Hilfe eine Bahnfahrt in einen siebzig Kilometer entfernten Ort zu buchen, wer – seien wir ehrlich – statt Pökelfleisch und Glasperlen lediglich ein paar von Mama hartgekochte Eier im Rucksack und einige Travellerschecks im Brustbeutel dabeihatte: Wie weit sollte der kommen? Welche Kontinente sollte der erobern, welche Wilden bekehren und welche Entdeckungen machen? Was, wenn meine Träume zu gewagt waren, nur china in my hand, Porzellan in meiner Hand, das bei der kleinsten Bewegung herunterfallen und zerbrechen konnte, so wie in diesem Song?

Aber das andere Gefühl war stärker: Es gab ja keine Alternative, keinen Weg zurück – ich würde sicher nicht die nächsten Jahre in diesem Zimmer wohnen und Zeuge werden, wie meine Eltern sich gegenseitig zerfleischen und mich damit ebenfalls in ein trübes Leben treiben. Was sollte da draußen schon Entsetzliches auf mich lauern? Anders als meine Mutter hatte ich keine Angst davor, dass auf unserer Reise etwas Schlimmes passieren würde. Was mir Angst einjagte, war bloß, nicht zu wissen, was passieren würde. Und diese Angst galt es jetzt zu überwinden. Es ging weniger darum, die Welt zu entdecken, als vielmehr mich selbst: Ich wollte mit jemandem lachen, knutschen und tanzen, zum Beispiel mit einem Mädchen, das war wie Whitney Houston, die – so versicherte sie mir zumindest in dem Song, den der Stiftpinöckel des Plattenspielers jetzt freigegeben hatte – ebenfalls auf der Suche war nach jemandem, mit dem sie tanzen und mit dem sie die Hitze fühlen konnte, mit einem, der sie liebte. Wieso schien die keine Probleme zu haben? Wieso verstand die sich so gut mit ihrer Mutter Cissy und ihrer Cousine Dionne Warwick? Wer so in der Familie aufgehoben war und ein so strahlendes, offenes Lachen hatte wie Whitney, dem konnte in Zukunft ja gar nichts passieren, dem stand die Welt offen, eine Welt voller Liebe, Erfolg und Glück. Die musste sich nicht heimlich am Blue Curaçao aus der Hausbar ihrer Eltern vergreifen. So eine Welt wie die von Whitney Houston wollte ich auch: gesunden, sauberen Spaß – ohne Drogen, übermäßigen Alkoholgenuss oder Gewalt.

Ich musste raus, ich hatte Sehnsucht, nach was auch immer. Schnell nahm ich die nächste Single vom Stift, bevor sie runterplumpste und Purple Schulz anfing zu jammern, denn so weinerlich wollte ich dann doch nicht sein. Nein, ich wollte Pionier meines eigenen Lebens werden, Entdecker meiner Welt in Raum und Zeit, auf der Suche nach den Gewürzinseln, auf der Suche nach Safran, Pfeffer, Nelken und Zimt.

Und so ließ ich am nächsten Morgen die letzten Rituale über mich ergehen: die Übergabe der hartgekochten Eier, des Viererpacks Sunkist und der zwei Flaschen Gatorade, die meine Mutter mir als Proviant zusteckte, genau wie die Antibiotika, die ich nehmen sollte, falls ich Fieber bekäme. Den Lederbeutel, dessen Schlaufe ich um den Gürtel zu ziehen und dann in die Hose zu stecken hatte, denn die (für uns nicht weniger uncoolen) Brustbeutel würden einem heutzutage von «Kriminellen auf der Vespa» einfach vom Hals gerissen. Die erneute Fahrt zum Bahnhof mit letzten Mahnungen, Warnungen. Den spöttischen Blick meines Vaters, der nichts anderes besagte als «in ein paar Tagen sind die eh wieder da» sowie als abschließende Amtshandlung am Bahnsteig, vor dem gerade der Zug zum Stehen kam, das kleine Kreuzzeichen, das meine Mutter mir mit Tränen in den Augen auf die Stirn zeichnete. Mit den Worten «Passt du mir auch gut auf dich auf, mein Junge?» versuchte sie, ihrem neunzehnjährigen Sohn noch einen Kuss auf den Mund abzuringen, den ich im letzten Moment durch Wegdrehen des Kopfes in einen Wangenkuss umwandeln konnte.

«Ja, Mama», sagte ich und blickte gequält zu Tiggy, dessen Eltern den Abschied wesentlich pragmatischer und undramatischer gestalteten. Der Schaffner pfiff, wir sprangen in den Zug, samt der viel zu schweren Rucksäcke und dem Dreimannzelt mit dem Gewicht eines Kastens Bier. Die Türen schlossen, der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und pflichtbewusst winkten wir den Gestalten zu, die am Bahnsteig zurückblieben. Und jetzt war sie auch ganz physisch zu spüren, die wachsende Entfernung, die kleiner werdenden Eltern, denen wir schließlich den Rücken kehrten, auf dem Weg in eine unbekannte und aufregende Welt.

2.

Mehr als drei hartgekochte Eier kann man nicht essen – Tiggy hat es getestet, ich schaffte nur zwei, und uns war schlecht bis hinter Brüssel. Meine Mutter hatte mir einen ganzen Sechserkarton Eier mitgegeben, etwas Salz in Alufolie gewickelt und mit in den Karton gelegt. Beim Auspacken fielen mir noch ein Rosenkranz und eine Christophorus-Plakette auf den Schoß, die sie heimlich im Rucksack verstaut hatte. Tja, und jetzt waren wir unterwegs und nuckelten mit dem Strohhalm eine Pyramide Sunkist