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New York 1921: Keiner der vier Menschen, die sich zufällig begegnen, ahnt, mit wem sie es aufnehmen müssen. Doch ehe sie sich versehen, sind ihre Schicksale nicht nur in Leidenschaft, sondern auf Leben und Tod miteinander verbunden. Harold Jordan, ein Journalist, überlebte die Schrecken des I. Weltkrieges, kehrte nach Manhattan zurück und stand vor dem Nichts, weil seine junge Ehefrau Esther bestialisch ermordet wurde, während er im deutschen Kugelhagel lag. Von Schmerz und Kriegstrauma gebrochen, zieht er als Nomade durch die Bars von Manhattan, ständig im Rausch auf der Flucht vor dem Elend seiner Existenz. Jordan wird von Garçonne aufgelesen, der Chefin einer Girl-Gang, die sich im harten Gangstermilieu als Alkoholschmugglerin in der Zeit der Prohibition behauptet. Sie entdeckt den entscheidenden Hinweis auf die Mörder von Harolds Frau. Der Veteran erwacht daraufhin aus seiner Lethargie, jedoch einzig mit dem Vorsatz, Rache zu üben. Schnell wird klar, dass er sich mit keinem gewöhnlichen Gangster anlegt, sondern mit den Schergen des Ku Klux Klan. Als sich das Schicksal von Harold, Garçonne, der reizenden Broadwaytänzerin Cynthia und der sphinxhaften Malerin Tajana verknüpft, geht es längst nicht mehr um Rache, sondern um ihr Überleben und den Kampf gegen den Klan, dem sie bei der Invasion New Yorks in die Quere kommen. Der Roman erzählt aus vier verschiedenen Blickwinkeln, ebenso charismatisch wie charakteristisch, eine spannende Geschichte von Rache, Freundschaft, Liebe und Hass, die z.B. bei den Themen Rassismus und organisiertem Verbrechen noch heute so aktuell ist wie damals, als diese blutigen Kapitel der amerikanischen Geschichte geschrieben wurden.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2015
www.tredition.de
Sidney Rose
4 gegen den Klan
Twenties-Saga 1921
www.tredition.de
© 2015 Sidney Rose
Umschlag, Illustration: Sidney Rose unter Verwendung einer Lizenz von shutterstock.com
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-0083-1
Hardcover:
978-3-7345-0084-8
e-Book:
978-3-7345-0085-5
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Copright-Hinweise
Danksagung
Harold Jordan: Prolog zwischen Blut und Broadway
Garçonne: Ein heldenhaftes Häufchen Elend
Harold Jordan: Eine Kindheit im Süden
Harold Jordan: Esther
Harold Jordan: Ausflug nach Hell’s Kitchen
Harold Jordan: Im Zeichen des Bösen
Harold Jordan: Liebes-Rausch
Garçonne: Zwischen zwei Welten
Harold Jordan: Besuch aus der Hölle
Harold Jordan: Das Versprechen
Tajana: Ein Vorspiel in Paris
Cynthia: Zärtliche Entführung
Harold Jordan: Der Krieg beginnt
Cynthia: Die Einladung
Harold Jordan: Ein Winterspaziergang
Harold Jordan: Familientreffen
Cynthia: Heißer Schnee
Tajana: Dekadenz des Verbrechens
Harold Jordan: Der mörderische Mäzen
Cynthia: Ein teuflischer Plan
Cynthia: Eingesperrt
Harold Jordan: Feuer und Hass
Harold Jordan: Ausbruch des Bösen
Cynthia: Dem Teufel ausgeliefert
Harold Jordan: Am Ende der Rache
Epilog
Glossar
Literatur
Copright-Hinweise
Cover und Kapitelüberschriften unter Verwendung einer Lizenz von shutterstock.com; Covergestaltung, Grafiken, Montagen von Sidney Rose.
Cover:
Häuser: Library of Congress, Reproduction Number: LC-DIG-det-4a22977,»No known restrictions on publication.«
Klansmen: Library of Congress, Reproduction Number: LC-DIG-npcc-30454, » No known restrictions on publication. «
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Personen: bearbeitet unter Verwendung einer Lizenz von shutterstock.com : Stokkete / shutterstock.com Bildnr. 246824338, Olena Zaskochenko / shutterstock.com Bildnr. 132911828, magicinfoto / shutterstock.com Bildnr. 34763107, Olena Zaskochenko / shutterstock.com Bildnr. 133934231 (von oben nach unten)
Kapitel-Illustrationen:
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Unterer Abschluss je: tanais / Shutterstock.com Bildnr.
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Illustration Harold Jordan: Stokkete / Shutterstock.com Bildnr.
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Illustration Garçonne: Olena Zaskochenko / Shutterstock.com
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Illustration Cynthia: Olena Zaskochenko / Shutterstock.com
Bildnr.133934222
Illustration Tajana: magicinfoto / Shutterstock.com
Bildnr.34763107
Danksagung
Kein Sinnesorgan ist trügerischer als das Auge des Autors, das auf die eigenen Texte gerichtet ist. Deshalb gilt drei fleißigen Korrekturleserinnen großer Dank:
Bri, Elisa und Marlies kämpften sich tapfer durch den Text und wurden nicht müde, Fehler und Unlogisches aufzuspüren. Beim Umfang dieses Buches eine enorme Leistung!
Harold Jordan: Prolog zwischen Blut und Broadway
Eine widerspenstige, blonde Haarlocke fällt Esther in die Stirn und kitzelt meine Nase, während sie mir mit einem Kuss ihrer süßen Lippen beinahe die Luft raubt.
»Hal, ich werde warten! Pass auf dich auf, ich liebe dich!«
Ihre blauen Augen schimmern verdächtig, aber sie ist ein tapferes Mädchen. Wir haben beide schon viel durchgemacht, da werden wir auch den Krieg überstehen.
»Mein Darling, ich verspreche: Ich kehre zurück!«
Ich ziehe Esther fester in meinen Arm, atme ihren betörenden Veilchenduft und spüre den ungestümen Rhythmus ihres Herzschlages.
»Frisch verliebt, was?«, scherzt einer der anderen Soldaten der New Yorker Liberty-Division.
»Nein«, entgegnet Esther, »verheiratet, seit über einem Jahr!«
Ich muss lächeln, denn wir lieben uns wie am ersten Tag.
~
»Granate, Captain!«
Ich werfe mich nieder. Nasser Boden prasselt herab. Ich habe jedes Mal Angst davor, verschüttet zu werden und dadurch ein qualvolles Ende zu finden. Die deutschen Geschütze feuern aus allen Rohren. Der Soldat neben mir hat es nicht geschafft. Ich greife nach ihm und wühle in heißer Erde. Ein kleiner Fetzen eines Fotos schwebt herab: Er zeigt das lächelnde Antlitz einer hübschen Frau, die noch nicht weiß, dass sie ihren Soldaten nie mehr wiedersehen wird.
Schwarzes Dickicht der Argonnen, rot durchtränkt von den dampfenden Gedärmen unserer zerfetzten Jungs – den doughboys– wie man uns amerikanische Infanteriesoldaten nennt. Spätsommer 1918, Frankreich, unser Vormarsch gegen die schwerste Verteidigungslinie der Hunnen. Wobei das die harmlosere Bezeichnung für die deutschen Soldaten ist. Beim Anblick der Überreste der New Yorker, mit denen wir vor Monaten die lange Überfahrt von Camp Upton in dieses Land unternahmen, nennen wir sie Boche – Scheißdeutsche.
Viele von uns werden niemals nach New York zurückkehren. Die große Winterparade am Geburtstag von George Washington stellte für die Gefallenen nun ein Lebewohl dar. Der Schnee, der damals auf unseren stolz glühenden Gesichtern dahinschmolz, ist für diese Soldaten zu Abschiedstränen geworden. Ich bin ihr Captain und konnte meine Jungs trotzdem nicht vor ihrem grausamen Tod bewahren.
Die Luft scheint noch immer vom deutschen Geschützfeuer und der Explosion von Granaten zu vibrieren. Nach ihrem jüngsten Angriff gelang es uns, das letzte feindliche MG-Nest auszulöschen. Wir waten knöcheltief im hunnischen Blut, das sich in den Gräben sammelt.
Die harten Kerle aus der Lower East Side sind gemeinsam mit den Bubis aus Upper Manhattan gegen das mörderische Feuer angestürmt: rennend, schießend, sich in den Schlamm werfend, sterbend. Wer nicht in Stücke gerissen wurde, stürzte sich in die Verschanzung und feuerte so lange, bis von den deutschen Schützen nur noch ein zuckender Haufen blutender Leiber übrig blieb. Kein Boche, der nicht mindestens fünfzig amerikanische oder französische Kugeln im Körper hat.
Niemand von uns spricht ein Wort. Wir stechen die Bajonette in Herzen, Köpfe und Hälse der umherliegenden Hunnen und ich führe die kleine Einheit des 306. Infanteriebataillons über den Berg, der nach vielen Jahren deutscher Besetzung in unsere Hände gefallen ist. Die anderen dieser Brigade operieren an derselben Linie und hatten offensichtlich ebenfalls Erfolg, denn auch von dort ist kein feindliches Feuer mehr zu hören.
Wir rutschen den Hang hinunter, halten uns schussbereit und decken unseren Abstieg, denn keiner weiß, ob irgendwo noch mehr Truppen lauern. Doch niemand greift an. Hier unten ist es beinahe windstill, einzelne Vögel lassen ihr Lied erklingen.
Staunend stehen wir vor den deutschen Verschanzungen, die wohl über zwanzig Fuß tief in den Hang getrieben und an drei Seiten mit Baumstämmen verbaut sind. Die Vorderseiten ähneln gewöhnlichen, schmucken Holzhäusern mit Säulen und Geländern. Auf großen, geschnitzten Tafeln lesen wir die Namen ›Siegfrieds Ruh‹, ›Kriemhilds Heim‹, ›Waldhaus Martha‹.
Das Waldhaus war ein Biergarten. Halbgefüllte Gläser und nicht geleerte Teller stehen auf den Tischen. Die Notwendigkeit zur Flucht hatte die Hunnen wie ein Blitzschlag ereilt. Jahrelang haben sie hier gehaust und ihre Kampflinie ausgebaut.
Ich entdecke sogar eine Bibliothek. Diese künstliche Idylle, erschaffen aus dem Wunsch, auch im Krieg ein weitgehend ›normales‹ Leben führen zu können, wirkt gespenstisch. Die Sonnenstrahlen tasten sich bis weit in den Berg hinein und die kunstvollen Buchrücken schimmern mit goldenen Lettern. Hier gibt es nicht nur deutsche Klassiker, sondern darüber hinaus Bücher von englischen Autoren.
Eine zusammengesunkene Gestalt an einem der Tische wird von Fliegen umschwirrt. Der zerlöcherte Kopf liegt mit der Stirn auf ein Buch geneigt.
»Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate! – Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!«, steht am oberen Ende der aufgeschlagenen Seite.
Das getrocknete Blut verdeckt die folgenden Verse. Der rechte Arm mit der Waffe in der Hand ruht auf dem Tisch. Dieser Offizier konnte nicht damit weiterleben, dass seine Zeit vorbei war – und richtete sich offensichtlich selbst.
Ja, wir treffen uns alle vor dem Höllentor wieder, ob Boche oder doughboy. Denn was wir getan haben, verwehrt uns den Eintritt in den Himmel. Ich las einmal irgendwo, dass am jüngsten Tag nur die Taten zählen werden, und die unterscheiden uns nicht von denen unserer Feinde.
~
»Captain Harold Jordan, bevor Sie die 153. Infanteriebrigade im Rahmen der Ausmusterung der 77. Division verlassen, müssen wir Ihnen eine furchtbare Nachricht überbringen. Ihre Ehefrau fiel gestern Nacht einem Gewaltverbrechen zum Opfer.«
Ein Rauschen überflutet meine Sinne wie eine riesige Ozeanwoge. Ich taumle gegen die Wand des Stabsoffice. Da habe ich die Hölle der Westfront überlebt, weil ich nur an mein Versprechen dachte, dass ich zu meiner geliebten Esther zurückkehren würde, und nun soll sie tot sein? Ermordet, mitten im Frieden?
Die Worte über Ehre und Heldenmut ziehen bedeutungslos an mir vorbei. Schweigend nehme ich ein paar Orden in Empfang, finde kaum Kraft, die mir entgegengestreckte Hand zu drücken.
~
Ich laufe wie hypnotisiert zu unserem Appartement in der 34sten Straße. Ein Stück Treppengeländer ist herausgebrochen, die Tür eingetreten. Auf dem Boden liegt einer der langen, etwa armdicken Pfosten, der anscheinend von aufgesogenem Blut dunkel gefärbt ist.
Die gesamte Wohnung wurde verwüstet, unsere Sachen liegen zertrampelt und zerschlagen überall verstreut. Ich will mich nach einem Foto bücken, auf dem ein schönes, glückliches Hochzeitspaar zu sehen ist, aber ich kann die unsichtbare Wand vor dieser vergangenen, verlorenen Welt nicht durchbrechen.
Mitten auf dem Teppich im Schlafzimmer ist alles voller angetrocknetem Blut. Hier muss es passiert sein. Die kleinen Kristalle ihrer zerrissenen Halskette funkeln wie verlorene Sterne aus dem widerlichen Dunkel der verkrusteten Flecken. Ich nehme nichts aus der Wohnung mit. Jeder Gegenstand, der ihr gehörte oder dem glücklichen Paar, das hier vor dem Krieg gelebt hat, würde mich nur aufs Neue in ein bodenloses Loch stürzen. Ich schleppe mich aus der Wohnung, sinke auf die Stufen und erstarre in Verzweiflung.
~
Wie viele Jahre sind vergangen?
Ich weiß es nicht.
Woher kenne ich dieses verrückte Mädchen, das sich mit ihrem bleichgepuderten Gesicht, den schwarzen Augen und dem tiefroten Mund in meine wenigen klaren Momente drängt?
Ich habe es vergessen.
Irgendwann werden meine Pausen zwischen Alkohol- und Kokainrausch länger. Ich erinnere mich jetzt, dass mich das Mädchen im Swift feet aufgelesen hatte, dem Lokal, wo ich immer noch abhänge. Ich war damals mitten im Gastraum zusammengebrochen. Sie warf mich nicht hinaus in den Schnee, sondern gewährte mir Asyl. Garçonne ist ein Gangster-Girl, Boss einer Mädchen-Gang, die geschmuggelten Alkohol – den bootleg liquor – liefert.
Sie lässt mich im kleinen Hinterzimmer des Lokals schlafen. Ich kann dem Wirt bei seiner Arbeit nicht helfen. Zum Ausschenken fehlt mir das Talent. Stattdessen sitze ich auf der Seite, die bedient wird. Ich gab Garçonne meine letzten Ersparnisse. Das wird reichen oder auch nicht.
Ich schlage den Kragen hoch und laufe draußen herum, zwischen Menschen, die ich nicht verstehe und die mir fern sind. Nach dem Krieg ist mir alles fremd geworden. Meine Kameraden sind entweder tot oder siechen in Sanatorien dahin. Einige leben in Dreckslöchern irgendwo im Bauche von New York – des Molochs Gotham. Wenige sind zu ihren Familien zurückgekehrt und die versuchen, alles möglichst schnell zu vergessen. Da will ich ihnen ganz gewiss nicht unter die Augen kommen, um alte Erinnerungen heraufzubeschwören.
So, wie die Sache aussieht, bleibe ich besser allein. Als ich die Tür zum Swift feet aufstoße, um meinen widerlich-nüchternen Zustand zu beenden, pralle ich mit ›Teddy Forth‹ zusammen. Er ist ein alter Freund aus meinem vorherigen Leben, als ich noch glücklich verheiratet war und als Rechtsberater und Spezialjournalist beim New York Herald gearbeitet hatte.
Der Junge hat es geschafft, den Krieg zu überstehen, ohne nur einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Als seine Einheit vom Einschiffungshafen in Brooklyn – dem NYPOE – abgehen sollte, wurde das Kriegsende verkündet. Teddys Timing war schon immer perfekt.
Ich weiß nicht warum, aber er will mich nicht aufgeben. Jede Woche bringt er mir etwas Material, zu dem ich recherchieren und dann einen kleinen Artikel schreiben soll. Oft bin ich nach einer Woche längst nicht fertig.
Ich versacke im Brandy, im Koks oder in beidem, liege berauscht im miefigen Dunkel des Hinterzimmers. Meine eigenen Versuche, die genauen Umstände des Mordes an meiner Frau in Erfahrung zu bringen, waren vollständig fehlgeschlagen. Alle offiziellen Anzeichen deuten auf einen Raubmord hin. In unserem Appartement gab es jedoch nichts zu holen. Vermutlich wurde deshalb aus Wut alles verwüstet, Esther vergewaltigt und getötet.
Der Täter stand fest: Der aus der Wohnung flüchtende Schwarze, der trotz Aufforderung nicht stehen geblieben und erschossen worden war, hatte das Blut meiner Frau an Kleidung und Händen. Es konnte nicht festgestellt werden, wer die Polizei verständigte. Je öfter ich über dieses Unglück nachdenke, desto mehr festigt sich mein Gefühl, dass hier eine riesige Schweinerei vertuscht werden soll. Der Schwarze war nämlich nicht irgendein bekannter Ganove, sondern der unbescholtene Sohn eines Chef-Aktivisten, der sich für die Rechte der Farbigen einsetzt – Clarence Ross!
Nachdem die offiziellen Ermittlungen eingestellt worden waren, suchte ich auf eigene Faust nach Spuren, hörte mich um. Aber nichts – gar nichts! Ab diesem Zeitpunkt gab es keinen Grund mehr für mich, meinen freien Fall länger hinauszuzögern.
Dieses Mal ist der Kokainrausch schmerzhaft. Ich habe Visionen vom Krieg, wie die Granaten neben mir einschlagen und diese verdammten Splitter ins Bein brennen. Was soll das? Ich will von Esther träumen, entfliehen in eine glückliche, verlorene Zeit!
Meine Finger tasten am Hosenbein entlang und fassen in etwas Warmes, Dickflüssiges. Dieser Traum gefällt mir nicht, er ist zu real. Ich stöhne und verliere das Bewusstsein.
»Doktor, seine Wunden sind aufgebrochen! Machen Sie doch was!«
Ich höre Garçonnes Stimme merkwürdig hohl und wie aus weiter Ferne. Ich werde auf eine Trage gehoben.
»Hey, Writer, mach bloß nicht schlapp! Du kommst jetzt in ein Hospital! Ich bin da, wenn du wach wirst!«
Ich spüre ihre Hand auf meiner heißen Wange, dann falle ich erneut in ein tiefes, schwarzes Loch.
Garçonne: Ein heldenhaftes Häufchen Elend
Ein Mann lag vor mir auf dem Holzboden der Kneipe. Ich war im Stress, hatte selbst den Schmuggel-Alkohol geliefert und wollte nur mit dem Wirt den hooch so schnell wie möglich vom Truck laden.
Deshalb stieß ich dem Knaben derb meine Stiefelspitze in die Rippen.
»Der wollte gehen, kippte dann einfach um. Ich hab ihn erstmal liegen gelassen«, brummte der Wirt.
Als sich der Typ nicht regte, packten wir an und zogen ihn aus dem Weg an die Wand. Es klimperte und ein Haufen glänzendes Blech fiel aus seiner Manteltasche.
Der Wirt besah sich das Zeug und nickte anerkennend.
»Da haben wir ja einen richtigen Helden vor uns!«
Ein Held? Ja, genauso hab ich mir einen Helden auch immer vorgestellt: total zugedröhnt und stinkend, als hätte er meinen gesamten Brandybestand ausgesoffen. Was ist das für ein Kerl? Ich brachte es aus irgendeinem Grunde nicht über mein dunkles Herz, unseren ›Helden‹ draußen im Schnee abzuladen. Stattdessen schleppten wir ihn ins Hinterzimmer und schmissen ihn auf die Pritsche.
»Lass ihn liegen und sich auspennen! Wenn er wach wird, gib mir Bescheid!«
Der Wirt nickte und reichte mir schäbiges Gepäck.
»Das muss von unserem Helden sein, stand noch unter dem Tisch, an dem er die ganze Nacht verbracht hat!«
Ich ließ mich neben dem Typen auf die Bettkante fallen und öffnete die große Tasche. Verdammt, es sah so aus, als ob der Krieger hier kein Dach über dem Kopf gehabt hätte und mit seinem erbärmlichen Haufen Zeug durch die Kneipen zog.
Im kleineren der beiden Koffer verbarg sich – eine schmucke Schreibmaschine: Remington Typewriter. Das passte gar nicht ins Bild. Ein Veteran, der völlig fertig war und seine Annalen schrieb? Ich zog ihm seinen Mantel aus und entdeckte darin ein Pappkärtchen mit seinem Bild.
›Harold Jordan – New York Herald‹ stand dort aufgedruckt. Ich erkannte ihn kaum wieder. Der Kerl sah tatsächlich einmal aus wie ein normaler Mensch. Ein Journalist? Ich habe eine Schwäche für alle, denen das Schicksal so richtig in den Arsch gefickt hat. Das liegt vielleicht daran, dass es mich nicht besser erwischt hatte. Auch meine Girls in der Gang könnten solche Geschichten erzählen, denn wir alle sind irgendwann mit der Wurzel ausgerissen und auf den Müll geworfen worden.
In der Innentasche steckte ein abgegriffenes Foto. Auf dem Stempelabdruck der Rückseite erkannte ich die Jahreszahl 1917. Ich blickte in das lächelnde Frauengesicht auf dem Bild. Sie sah verdammt hübsch aus – und glücklich. Aber ich fühlte es, dass dieses Glück erloschen war. Es ging nicht einfach aus wie eine runterbrennende Kerze, sondern wurde brutal erstickt. Ein Schauer durchfuhr mich.
Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht. Ich fand einen kleinen, zerknitterten Zeitungsartikel. Nur ein paar Zeilen war sie wert: »Brutaler Raubmord in der 34sten Straße … Eine junge Frau wurde wegen ein paar Dollars und etwas Schmuck von einem Schwarzen vergewaltigt und starb noch in der Wohnung an ihren schweren Verletzungen. Der mutmaßliche Täter wurde von der Polizei erschossen, als er vom Tatort flüchten wollte.«
Ich schluckte einen bitteren Kloß herunter und wusste jetzt, was hier passiert war. Obwohl ich Kerle nicht ausstehen kann, habe ich bei diesem Mister Jordan eine Ausnahme gemacht.
Harold Jordan: Eine Kindheit im Süden
Die weit aufgerissenen Augen in Jims schwarzem Gesicht musterten mich mit schreckhaft aufblendendem Weiß, während hellrotes, dünnflüssiges Blut von der Klinge seiner Machete auf den spiegelnden Parkettboden tropfte.
Ich hatte meine kleine Schwester Emmy greinen hören und mich eilig zum Altan begeben. Als ich dort anlangte, war das feine Stimmchen verstummt. Aus dem Korbgeflecht ihrer kleinen Wiege fielen rote Tropfen herab. Die Sterne und Streifen der Confederate flag, mit der sie unsere Eltern als stolze Südstaatler zuzudecken pflegten, waren bis über das Kopfende gezogen.
Bevor sich Jim einen weiteren Schritt auf mich zu bewegte, lud ich die Winchester durch, so wie es mir mein Vater vor ein paar Monaten beigebracht hatte. Ich wusste nicht, was mich dazu veranlasste, die Waffe von der Wand genommen zu haben und damit beinahe lautlos die Treppe heraufzusteigen. Vielleicht lag es daran, dass Emmys Weinen so verängstigt, ja schrecklich geklungen hatte. Jim war schweißüberströmt und starrte mir in die Augen. Weder er noch ich glaubten daran, dass ich den Abzug betätigen würde.
Bei der nächsten Vorwärtsbewegung seines Fußes drückte ich jedoch ab. Ich erschrak vor der Lautstärke des Knalls, der im Haus viel stärker war als bei den Schießübungen im Wald. Ich zuckte vom Rückstoß zusammen, von den heißen Blutspritzern, die mir auf die Wangen prasselten, und schloss die Augen vor dem Grauen, das ich angerichtet hatte.
Aber die Angst, dass sich Jim noch immer mit der Machete auf mich stürzen könnte, war stärker als die Furcht vor dem Elend meiner Tat. Ich riss die Augen auf. Jim war bis zum Fenster zurückgeschleudert worden und hielt sich dort taumelnd auf den Beinen. Im Gesicht klaffte ein großes Loch. Krampfhaft umfasste seine herabhängende rechte Hand die Machete.
Ich zitterte, meine Knie wurden weich und ich sank an die Wand gepresst herab. Endlich fiel die Klinge polternd auf das Parkett. Jims schwerer Körper schwankte stärker, er kippte nach vorn und schlug mit dem Kopf kurz vor mir auf den Boden. Entsetzt drängte ich mich zurück, bis mein Rücken schmerzte.
Ich starrte auf Jim, der röchelnd im Sterben lag. Aus seinem Kopf strömte unglaublich viel Blut. Es kam rasch näher. Meine nackten Füße in den offenen Schuhen standen bald in einem See von Blut. Ich traute mich nicht, die Zehe oder gar die Beine zu bewegen. Die rote Lache erschien mir als etwas Lebendiges, das nur darauf wartete, mich in die Tiefe zu reißen.
Verzweifelt blickte ich zum Fenster, wo kein Geräusch mehr aus der Wiege drang, keine Bewegung zu erkennen war, bis auf das lautlose Herabfallen der kleinen Blutstropfen, die sich durch die Strohrauten zwängten.
Irgendwann kam mein Vater nach Hause. Er war oft unterwegs als ein Anführer der Red Shirts – der waffenstarrenden Ehemänner, Väter, Großväter und jungen Kerle – die kompromisslos die schwarze Mehrheit im Staate mit allen Mitteln bekämpfte.
Er stapfte die Treppe herauf und fand mich. Ich musste stundenlang regungslos neben der Leiche auf dem Boden gesessen haben.
Mein Vater tat etwas, woran ich nur noch verschwommene Erinnerungen aus Babytagen in mir trug: Er hob mich hoch auf seine Arme.
»Du bist ein tapferer Junge! Hättest du den Nigger nicht erschossen, wäre jetzt nicht nur meine Tochter, sondern auch du tot. Ich habe mich jahrelang in dir getäuscht, mein Sohn. Das war ein Fehler.«
Er war das erste Mal stolz auf mich und dieser Stolz gab ihm die Kraft, die Überreste meiner kleinen Schwester in die Confederate flag zu hüllen. Ich durfte Emmy nicht noch einmal sehen.
~
»Mister Jordan, bleiben Sie unten!«
Ich will meinen Oberkörper aufrichten, werde aber gewaltsam zurück auf das Laken gepresst.
»Verdammt, Schwester, die Narkose war nicht stark genug!«
Mein Bein tut höllisch weh und ich sehe, wie sich der Arzt mit seinem kleinen Messer in meinem Fleisch zu schaffen macht. In einer Metallschale ballt sich ein Haufen zerknüllter, blutdurchtränkter Tücher. Ich will etwas sagen, bekomme jedoch kein Wort heraus. Meine Kehle ist staubtrocken und brennt wie Feuer. Da spüre ich den Einstich der Injektion im Arm. Sofort werde ich von lähmender Schwere niedergedrückt und versinke erneut im Albtraum meiner Kindheit, North Carolina 1898 …
~
Vater sagte, Emmy sei direkt zu den kleinen, lachenden Engeln in den Himmel gefahren, mit denen sie nun spielen könnte und von oben auf uns herabschauen würde.
Meine Mutter schleppte sich weinend mit gekrümmtem Körper durch das Haus. Sie war nicht stolz auf mich, sondern kannte nur die Trauer um das Baby und den verlorenen Sohn, der zu einem Mörder geworden war.
Die Beerdigung der kleinen Emmy wurde von den Red Shirts erbarmungslos für ihre Propaganda missbraucht. Zwischen zahllosen Musketen mit aufgepflanzten Bajonetten trugen sie den kleinen Sarg, bedeckt von der Confederate flag, in einem Meer von roten Blumen.
Niemand sprach von der grausamen Hetzjagd, mit der die Plantagenarbeiter monatelang in Todesangst versetzt worden waren. Beinahe jede Woche gab es ein blutiges Opfer unter ihnen. Als Jim die Ermordung seiner Frau angekündigt worden war, drehte er durch. Er nahm sich eine Machete, ging ins Farmhaus, und wollte uns alle töten, bevor wir seiner Familie etwas antun würden. Das grausame Schicksal wollte es so, dass er zuerst auf die hilflose Emmy traf. Seine verzweifelte Wut ließ ihn das Unentschuldbare tun, das über seiner Sippe das Todesurteil verhängte.
Am Abend der Beerdigung richtete mein Vater auf seiner Farm ein gewaltiges Barbecue aus. Alle Red Shirts aus der Umgebung waren mit ihren Familien eingeladen. Sie sangen Lieder, spielten Mundharmonika und niemand hätte diese Männer für Schläger, Entführer und Killer gehalten.
Das heiße Fett der Steaks tropfte in ein prasselndes Feuer. In den zischenden Flammen verbrannte die armselige Habe von Jims ermordeter Familie. Mein Vater, der von allen nur Big Red genannt wurde, und seine Kumpane waren mit Gewehren in die ehemaligen Sklavenhütten gegangen, in denen die Arbeiter auf der Baumwollplantage wohnten, und hatten die Rache vollstreckt.
Ich lernte, diesen Begriff, der von den erwachsenen Männern hier täglich gebraucht wurde, mit schrecklichen Bildern zu füllen. Ich ahnte nicht, dass ich mein späteres Leben damit zerstören würde.
Während das Barbecue die Formen eines Familienfestes annahm, überkam mich wiederholt Übelkeit. Ich konnte nichts essen. Die Hände zitterten und brannten. Mein Kopf wurde von Erinnerungen überschwemmt.
Ich dachte daran, wie ich noch vor Kurzem meine kleine Schwester im Arm hielt, in die Wiege legte, mir Jim mit lachendem Gesicht fröhliche Lieder vorgesungen und auf seinen kleinen Trommeln, den Bongos, etwas vorgespielt hatte. Mein Vater verprügelte mich jedes Mal, wenn er mich mit Jim zusammen erwischte. Nun war mein heimlicher Freund aus dem Sklavenhaus durch meine Hand zu Tode gekommen und ich saß an einem Feuer, in dem die Bongos verbrannten.
Es wurde keine Trauer um meine kleine Schwester geduldet, sondern nur das Feiern der schrecklichen Rache. Trauer bedeutete Schwäche und ein weißer, freier, protestantischer Amerikaner durfte niemals schwach sein. Meine Mutter war schon längst ins Haus gegangen. Ich hatte sie keine Träne mehr vergießen sehen.
In den Flammen erkannte ich den kleinen, verkohlten Arm einer Puppe, der sich vor Hitze krümmte. Ich wendete mich ab, übergab mich und wurde unverzüglich von Big Red zum Feuer zurückgedreht.
»Siehst du, mein Junge: Es ist genauso gekommen, wie ich es dir immer gesagt habe. Sie sind Raubtiere, die nur auf ihre Chance warten, uns zu zerreißen. Wer die Zügel schleifen lässt oder sogar Vertrauen zu ihnen hat, wird hinterrücks zerfleischt. Daran wird sich niemals etwas ändern, auch wenn die Neunmalklugen glauben, durch die Abschaffung der Sklaverei sei alles zum Besseren gewendet worden!«
Seit diesem Tage war ich nicht mehr der ungeschickte, dumme Junge für ihn, sondern sein größter Held in diesem ganzen verfluchten North Carolina. Die zahlreichen Wunden auf Rücken und Gesäß, die er mir im Laufe der Jahre mit seinem Ledergürtel eingeprügelt hatte, begannen langsam zu verheilen. Mein Vater schleppte mich zu seinen Clantreffen. Dort klopften mir die schwerbewaffneten Männer mit den brutalen Gesichtern anerkennend auf die Schultern, weil ich einen ›Nigger plattgemacht‹ hatte.
Ich begriff meist nicht, worüber sie redeten. Sie waren laut und tranken viel. Auch das Wort Rache wurde regelmäßig genannt. Aber jetzt sprachen die Männer von einem Mädchen: Rachel. Ich kannte sie. Rachel war fast zehn Jahre älter als ich, hatte zu Zöpfen geflochtenes, dickes schwarzes Haar und einen unübersehbaren Busen.
Niemand durfte wissen, dass ich heimlich in sie verliebt war, so wie es ein Siebenjähriger nur sein konnte. Ich hütete mein Geheimnis, ging stolz mit der Winchester an ihr vorüber, wenn sie draußen vor dem Haus saß, um eine Geste von ihr zu erhaschen. Doch nun hatte sie einen Freund und beachtete mich nicht mehr.
Ihr Freund war schwarz. Das schien ihre katholischen Eltern nicht zu stören. Dafür störte es die Red Shirts umso mehr. Sie wollten die selbsternannte Ordnung wiederherstellen.
Ein paar Tage später trafen Rachels Freund und ich aufeinander. Er grüßte und schaute mich mit diesem überlegenen, mitleidigen Ausdruck an, mit dem Erwachsene so oft auf Kinder herabsehen. Ich blickte schweigend zu Boden und verspürte die sengende Hitze einer niederträchtigen Schadenfreude in mir aufsteigen, weil ich wusste, was ihn bald ereilen würde.
Wenig später war er tot. So war es nicht geplant gewesen. Eigentlich wollten sie ihn lediglich demütigen, nackt ausziehen, mit Teer beschmieren und in Federn wälzen. Aber irgendjemand hatte ihn dann angezündet.
Seine Schreie hallten lange durch die Nacht, als er sich wie eine menschliche Fackel unter entsetzlichen Schmerzen von Baum zu Baum warf. Rachels Eltern fanden ihn im Wald, doch es war längst zu spät.
Ich spürte das Böse in mir wachsen, denn ich freute mich darüber, dass er fort war. Rachel schien gebrochen, vergoss nur noch Tränen und hatte keinen Blick, keine Geste für mich übrig. Sie tat mir leid und nachts betete ich heimlich für die Seele ihres getöteten Freundes und bat den lieben Gott um Vergebung für meine schändlichen Gedanken.
Ich verbrachte jetzt viel Zeit zusammen mit meinem Vater. Er ließ mich auf Büchsen schießen, das Lasso werfen und schnelle Messerangriffe üben. Obwohl ich mit ihm nicht darüber reden konnte, was in meinem verwirrten Kopf vor sich ging, genoss ich es, erstmals seiner Aufmerksamkeit würdig geworden zu sein.
Meine Mutter dagegen entfernte sich zusehends von mir. Sie sprach kein Wort und vermied es, meinem Vater und mir in die Augen zu sehen. Geräuschlos und bleich schlich sie durch die Zimmer wie ein Gespinst, das sich von Tag zu Tag mehr aufzulösen schien.
Ihr Lächeln war bereits vor Jahren gestorben, denn ich vermochte mich nicht zu erinnern, sie jemals fröhlich oder gar glücklich gesehen zu haben. Nicht einmal mein dralles, plapperndes Geschwisterchen konnte ihr damals ein mütterliches Schmunzeln entlocken. Erst lange Zeit später erfuhr ich, dass die Kleine die schmerzvolle Frucht monatelanger, brutaler Vergewaltigungen durch meinen Vater war …
~
»Ich habe auch dieses Mal nicht alle Splitter herausbekommen.«
Der Doktor steht mit ernstem Gesichtsausdruck an meinem Krankenbett. Ich bin froh aufzuwachen und zunächst den erschreckend lebendigen Erinnerungen meiner Südstaaten-Kindheit entronnen zu sein, auch wenn die Wirklichkeit nicht unbedingt viel besser ist. Ich will etwas erwidern, aber meiner schmerzenden Kehle entfliehen lediglich ein paar armselige Krächzer.
Die Schwester eilt herbei und stützt meinen Kopf. Vorsichtig flößt sie mir etwas Wasser ein.
»Mister, Sie haben hohes Fieber. Wir müssen Sie hier behalten und versuchen alles, um Ihre Körpertemperatur zu senken!«
Die junge Frau sieht mich besorgt an. Ihre Gesichtszüge verschwimmen und werden zu denen meiner Frau. Esther! Verlass mich nicht, nicht schon wieder! Nein, du darfst nicht tot sein, dazu haben wir uns viel zu sehr geliebt!
Das Fieber zwingt mich, die Augen zu schließen. Jetzt bloß nicht erneut einschlafen: Die Albträume verwandeln sich in Visionen, zu schrecklichen Zerrbildern. Ich werde es nicht überleben, dort in dieser zitternd-heißen Glut einer trügerischen Welt meiner geliebten Frau zu begegnen, nur um sie nochmals zu verlieren! Mein Herz rast, ich schließe die bleischweren Lider und falle in bodenlose Tiefe …
Der Herr der Wahnvorstellungen hat vorerst Gnade mit mir. Ich lande erneut auf der Farm in meiner Kindheit, als ob ich unbedingt den Grund meiner verletzten Seele berühren sollte …
~
Eines Tages setzte sich Big Red mit besorgtem Gesicht neben mich auf die hölzerne Treppe zum Haus.
»Junge, es ist etwas Grauenhaftes geschehen. Etwas, das gegen alle heiligen Gesetze von Freiheit und Moral verstößt und alle ehrlichen Amerikaner in diesem Staat auf das Widerwärtigste bedroht!«
Mein Vater legte seinen Arm um mich. Mit der anderen Hand reichte er mir einen blitzenden, silberfarbenen 45er-Peacemaker.
»Und wir werden dagegen ankämpfen, koste es, was es wolle!«
Zögernd schloss ich meine kleine Hand um den kalten Perlmuttgriff. Der starke Whiskeygeruch, der meinem Vater aus jeder Pore zu dringen pflegte, hüllte mich in die erstickende Aura seiner unerbittlichen, gnadenlosen Männlichkeit. Gemeinsam luden wir den Revolver mit fünf Schuss. Liebevoll berührten seine schwieligen Finger die Patronen.
»Die sechste Kammer lässt du leer und stellst den Hahn darauf ein – so! Schließlich sollst du andere damit töten und nicht dich selbst.«
In Wilmington hatten die Republikaner die Wahl gewonnen und einen Stadtrat aus Weißen und Schwarzen aufgestellt. Das war die Bedrohung, die nun alle Red Shirts im Staate mobilisierte. Mein Vater als lokaler Anführer Big Red durfte bei der Verteidigung der uramerikanischen Werte freilich nicht fehlen.
Nach meinem Mord an Jim war es für ihn selbstverständlich, dass ich ihm folgen und dort meine Feuerprobe bestehen sollte. Er beauftragte seinen Bruder, mit ein paar Schützenkumpanen in der Zwischenzeit die Farm zu verteidigen.
Zwei Wochen später kehrten wir von diesem zweifelhaften Feldzug zurück. Ich war monatelang paralysiert und versank am helllichten Tage in finsteren Visionen von Tod und Gewalt, die fieberheiß hinter meiner Stirn kochten und mir schmerzhaft die Augenlider zudrückten.
Erst viele Jahre später konnte ich verstehen, was sich in diesen Wochen voller Blut und Flammen dort abgespielt hatte: Es war ein Putsch. Tausende Weiße kamen auf Trucks oder zu Pferde, alle bewaffnet, als gelte es, in die Schlacht zu ziehen. Die WLI – Wilmington Light Infantry – veranstaltete schließlich gemeinsam mit den Trupps der Red Shirts einen Krieg.
Ganze Siedlungen, Geschäfte und Druckereien der Schwarzen wurden zerstört und niedergebrannt. In ein paar Wochen war die schwarze Mehrheit ermordet oder vertrieben worden. Die Bewaffneten wateten durch Senken von Blut, die sich auf den Straßen gebildet hatten. Sie erschossen jeden Schwarzen, der sich noch regte, oder erschlugen ihn mit Knüppeln und Nagelbrettern. Überall war das grauenhafte Geschrei der sterbenden Männer, Frauen und Kinder zu hören.
Währenddessen hatte ich den Peacemaker nicht ein einziges Mal in die Hand genommen. Hier ging es nicht um die Verteidigung des eigenen Lebens, sondern um Mord. Meine Kraft, Jim zu erschießen, erwuchs nur aus der Angst, dass er mich genauso töten würde wie meine hilflose Schwester, wenn ich nicht handelte.
Im Chaos der Gewalt verkroch ich mich weinend in einem großen Wandschrank im schäbigen Hotel, wo mein Vater mit einigen Männern aus unserem Dorf logierte. Sie sahen ein, dass es zu viel für ein Kind war, ließen mich in Ruhe und die Feuertaufe fiel ins Wasser.
Nach ein paar Tagen war die Stadt weiß, auferstanden aus dem vergossenen Blut der Opfer und den roten Hemden der Sieger. Die Demokraten übernahmen das Ruder und dachten sich Zusatzfloskeln aus, die das generell geltende Stimmrecht der männlichen, schwarzen Bevölkerung auf null reduzierte. Amerikas Freiheit und Reinheit schienen gerettet …
Meine kindliche Seele dagegen war zersprungen. Ein paar Wochen nach unserer Rückkehr aus diesem unwirklichen Inferno fand ich meine Mutter tot in der Badewanne. Ihre dünnen, blassen Arme hingen mit aufgeschlitzten Adern über den Wannenrand. Das Blut sickerte tief in die Dielenritzen, wo es unauslöschliche, dunkle Schatten hinterließ. Die Spuren ihrer Verzweiflungstat waren noch Jahre später auffälliger, als sie es selbst zu Lebzeiten jemals vermocht hatte.
Mein Vater barg den Leichnam, warf sich den toten Körper wie einen Sack Baumwolle über die Schulter und knurrte:
»Deine Mutter war schwach. Sie konnte nicht verkraften, dass ihr tapferer Sohn schon so früh zum Manne herangereift war. Nun ist sie vereint mit all den anderen, die nicht dazu in der Lage waren, das Leben in seiner urgewaltigen Kraft und Konsequenz zu ertragen.«
Es gab kein heroisches, kein patriotisches Begräbnis.
Kurze Zeit später begann der Umbau des Farmhauses. Die hölzernen, gerissenen Stämme mit der abblätternden weißen Farbe wurden durch gleißend helle Marmorsäulen ersetzt, die sich vom Fuße der neu errichteten Freitreppe bis über das erste Geschoss und den Balkon der dreieckigen Mittelfassade der Frontseite erstreckten. Vor dem Haus wurde ein großzügiges Rondell aus strahlend weißem Kies angelegt mit einem hohen Fahnenmast auf jeder Seite. Links wehte der blaue Union mit den rot-weißen Balken und rechts die Confederate flag.
Big Red war in der Hierarchie aufgestiegen. Anstatt mit dem Gewehr im Anschlag vom Geländewagen aus Jagd auf Schwarze zu machen und mehrmals in der Woche in einer aufwendigen Prozedur das viele Blut unter seinen Fingernägeln abzuwaschen, saß er nun wie ein kleiner Gouverneur an seinem neuen Schreibtisch. Er trank feinsten Brandy, rauchte teure Zigarren und lief mit rotem Hemd und weißem Anzug umher. Das Land hatte er verpachtet und war nur noch damit beschäftigt, Geld zu kassieren, merkwürdige Leute zu empfangen oder lange Besprechungen abzuhalten.
Inzwischen tobte in meinem Inneren ein Krieg. Es ging um nichts Geringeres als mein Leben, da mich die seelischen Wunden in die Dunkelheit zu reißen drohten. Ich stürzte mich mit Feuereifer auf alles Neue in der Schule und entwickelte eine krankhafte Wissbegierde. Wer mich einen Streber nannte, bekam binnen Sekunden meine Faust ins Gesicht. Ich wurde gefürchtet und geachtet.
Jeder schien zu wissen, dass ich bereits als Siebenjähriger in Notwehr einen Mann erschossen hatte. Selbst sprach ich niemals darüber. Ich verschwieg zudem die zahllosen anderen Gewalttaten, die ich mitangesehen hatte und deren Schatten immer wieder ihre eisigen Finger nach mir ausstreckten. Es war stets ein einsamer Kampf, denn ich blieb verdammt, allein zu sein.
Mit sechzehn Jahren hatte ich noch immer keine Freundin. Während andere Jungen nach der Schule den Mädchen hinterherrannten, ging ich auf die Farm eines alten Bürgerkriegsveteranen, der Schießübungen an sämtlichen verfügbaren Waffen und Nahkampf trainierte.
Ich hatte dabei das gute Gefühl, nicht nur mich selbst, sondern auch meine Ängste, Aggressionen und Schuldgefühle plötzlich kontrollieren zu können. Ich verpackte alles in einer Patrone, einem Schlag und wenn ich abdrückte oder meinen Gegner niederstreckte, war es ein Sieg über mich selbst.
Doch einer Lehrerin gelang es, sich in mein Vertrauen zu schleichen. Sie entdeckte ein kleines Gedicht, das ich hinten in mein Heft gekritzelt hatte. Es handelte von Schuld, Sühne und Gott. Ich musste nach der Schule zu ihr nach Hause kommen. Als sie mir die Tür öffnete, war sie nackt. Sofort zog sie mich ins Bett und zeigte mir, wie ein Mann sie glücklich machen konnte.
Nach diesem Ereignis beschrieb ich jede Nacht im Kerzenschein viele Blätter Papier, um den in mir wogenden Kampf zu bewältigen. Es standen sich einerseits die bewaffnete Kaltblütigkeit, mit deren Hilfe ich die traumatischen Ereignisse überlebt hatte, andererseits die Sehnsucht nach Vertrauen und Liebe gegenüber.
Die Lehrerin las meine Texte, redete über mein tiefes Gefühl und einen Hang zur Romantik. Sie bestellte mich noch ein paar Mal, um mir Dinge beizubringen, die sie die höchsten Lustschreie ausstoßen ließ. Dann lernte sie einen älteren, wohlhabenden Mann kennen und schob mich ab. Ich verbrannte alle Texte und schwor, nie wieder solchen Unsinn zu dichten.
Mein Vater förderte meinen Bildungshunger. Keine Schule war ihm zu teuer. Als ich so weit herangewachsen war, dass ich mir Gedanken über ein Studium machen konnte, nahm er mich beiseite.
»Junge, dein Vater ist stets ein einfacher Farmer gewesen. Mit Schläue, Prinzipien und politischen Ambitionen freilich, aber ich werde aus diesem Provinznest niemals herauskommen und nur innerhalb der Organisation etwas zu sagen haben.«
Er roch mittlerweile nicht mehr nach billigem Whiskey, sondern nach würzigen Zigarren und edlem Bourbon.
»Studiere eine der ältesten Wissenschaften der Welt und du machst dich frei, frei von all den Lügnern, Betrügern und Klugscheißern! Was mir täglich fehlt, wirst du haben und es weiter bringen, als es dein alter Vater jemals vermocht hat!«
So kam es, dass ich nach Virginia ging, auf die University School of Law, gegründet von einem der Väter unserer Unabhängigkeitserklärung. Dort lehrte ein Professor, der seine an sich trockenen juristischen Exempel überaus lebendig und beinahe literarisch präsentierte. Es muss wahrlich ein Fluidum existieren, das es Gleichgesinnten ermöglicht, sich rasch und ohne Umwege zu erkennen. Er blickte nur in mein vor erstaunter Begeisterung glänzendes Gesicht und noch am selben Abend brachte er mich zu den Flaming Hearts, einer Studentenvereinigung junger Poeten.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht mehr einsam. Ich fand Freunde, wie es sie in North Carolina nie für mich gegeben hatte. Die neue Macht war stärker als Gewalt und Patronen und konnte meine dunkle Seite verdrängen. So war es nicht verwunderlich, dass ich nach dem Abschluss meines Studiums kein Anwalt wurde, sondern als Rechtsexperte beim New York Herald anfing.
Big Red hätte es lieber gesehen, wenn ich nach North Carolina zurückgekehrt wäre, um meine eigene Kanzlei zu eröffnen, aber eine gut bezahlte Anstellung bei der renommiertesten Zeitung New Yorks fand nach einigem Zaudern doch seinen Beifall.
Dagegen wäre er vermutlich kollabiert, wenn er etwas von meinen Plänen gewusst hätte, die ich im Laufe der Zeit geschickt umzusetzen wusste. Um meiner Neigung zum Schreiben nachgehen zu können, näherte ich mich aus meiner Rechtsexpertenposition immer mehr den journalistischen Gefilden. Ich pflegte noch Kontakte zu einigen alten Freunden von den Flaming Hearts und schrieb kleine Gedichte auf Notizblätter, die ich spätestens am nächsten Tag zerknüllt in den Müll warf.
Ich erledigte nebenbei kleinere Rechtsangelegenheiten für meinen Vater, bis er eines Tages mit einer größeren Sache auf mich zukam. Ein entfernter Verwandter, ein ehemaliges Red-Shirts-Mitglied, hatte eine Schwarze vergewaltigt und ihren Mann erschossen, als dieser überraschend hinzukam. Er brauchte dringend einen guten Anwalt.
Ich redete mich damit heraus, dass ich nicht als Anwalt tätig sei. Big Red blieb hartnäckig und nötigte mich, auf die Farm zu kommen.
»Verdammt, Junge, das kannst du mir nicht antun! Es geht dabei um mich. Verstehst du das? Dem Alten würden ein paar Jahre Knast nicht schlecht bekommen, aber wie stünde ich denn da? Die Red Shirts waren einmal, jetzt sind wir alle im auferstandenen Ku Klux Klan, Harold, im KKK! Ich bin hier der Kleagle – der Chef im Distrikt – und trage Verantwortung!«
Er stand atemlos vor mir und sah mich erwartungsvoll an.
»Vater, ich bin deiner Meinung. Es ist allein deine Aufgabe und der wirst du dich stellen müssen und nicht dein Sohn!«
Bevor ich mit ansehen musste, wie sein zerfurchtes Gesicht entgleiste und ihm der Zorn aus den Augen sprühte, verließ ich sein Arbeitszimmer. Vom Altan brüllte er mir wutentbrannt hinterher:
»Junge, du lässt mich im Stich, obwohl ich allzeit an dich geglaubt habe? Lauf nur davon, aber den Klansmen entkommst du ebenso wenig, wie deinem Schicksal, denn du bist ein Killer! Schon bald wirst du losziehen und das tun, wozu ich dich erzogen habe!«
Meine Schritte wurden schneller, mein Herz raste. Die dunkle Seite in mir bäumte sich auf und längst verdrängt geglaubte Bilder überfluteten den schutzlosen Schöngeist, der in den letzten Jahren so selbstbewusst in mir herangewachsen war.
Harold Jordan: Esther
»Hey, alter Knabe, was hängst du immer noch in diesem verfluchten Hospital hier ab?«
Ich schrecke aus meinen fiebrigen Träumen und hebe mühsam den Kopf. Am Bett steht Garçonne, die zierliche, freche Flapperin, die ihre Mädchengang voll im Griff hat. Sie setzt sich zu mir und blickt mich aus ihren großen, schwarzumrandeten Augen im gnadenlos überschminkten Gesicht an. Ihr kurzes Kleid schiebt sich weit nach oben und entblößt ihren seidenbestrumpften Schenkel.
»Wie kommt es, dass du viel bleicher bist als ich?«, versuche ich einen Scherz.
»Hal, wenn es dir nicht so dreckig gehen würde, hättest du jetzt meinen Ellenbogen zwischen den Rippen!«
»Nenn mich nicht Hal. Der ist gestorben, als seine Frau Esther ermordet wurde. Nur hatte er es damals nicht bemerkt, weil er in einem verfluchten, französischen Wald mit hunnischen Granaten beschossen worden war!«
Sie fasst meine Hand.
»Alles klar, Mister Writer, nimm erst mal einen Schluck hooch!«
Garçonne reicht mir ihren glänzenden Hipp-Flask-Flachmann. Gierig trinke ich. Wie soll man in diesem Haus gesund werden, wenn es hier keinen Alkohol gibt? Sie wirft mir eine Zigarette rüber, während sie sich selbst eine in ihr Mundstück zwischen die blutroten Lippen steckt. Das goldene Feuerzeug spuckt eine kerzengerade, gleichmäßige Flamme und die Flapperin entzündet unsere Kippen. Genussvoll nehme ich einen tiefen Zug.
»Ich hab was von einem Spitzel erfahren. Nachdem ich ihm ein paar Kisten bootleg liquor vor die Füße geknallt hatte, wurde er gesprächig. Er kennt einen der Typen, der deine Frau …«
Garçonne steht hastig auf und geht zum Fenster. In meinem heißen Kopf wirbelt alles durcheinander.
»Was sagst du da? Der wahre Mörder von Esther? Wissen die Cops davon?«
Sie schüttelt die kurze Bobfrisur. Ihr schwarzes Haar glänzt wie das Gefieder eines Raben.
»Alles deutet darauf hin, dass der Typ mit dabei war und der Schwarze tatsächlich nur den Sündenbock abgeben musste, wie du es vermutet hast! Der Fall ist offiziell abgeschlossen, kein Cop wird nur einen Gedanken daran verschwenden.«
Ich versuche, mich aufzustützen, breche jedoch augenblicklich zusammen.
»Verdammt, ich muss hier raus! Dieser dämliche Doktor schneidet mir jedes Jahr das Bein auf und schafft es nie, alle Splitter zu erwischen! Das Dreckszeug wandert in meinem Körper und irgendwann kommt es mir aus dem Arsch!«
»Das wäre das Beste. Dann wärst du das Zeug endlich los. War es überhaupt erlaubt, vom Feind etwas mit in die Heimat zu nehmen?«
Ich seufze, hebe die Arme und lasse sie hilflos sinken. Da draußen läuft der Mörder meiner Frau herum und mich fesselt das Fieber ans Bett! Wieso bin ich krank und der ist gesund?
Garçonne kommt zu mir.
»Mach dir keine Sorgen, Writer! Ich passe auf den Kerl auf. Er wird mir nicht entwischen. Kriegerehrenwort! Aber du musst gesund werden, ruh dich aus und in einer Woche bist du zurück im Swift feet, okay?«
Ich nicke, reiche ihr meine Kippe – den dincher – und spüre, wie das Fieber schon wieder steigt.
»Zum Donnerwetter noch mal, raus mit Ihnen! Im Hospital ist das Rauchen strengstens untersagt!«
Eine kräftige Schwester hat die Tür aufgerissen und brüllt Garçonne an.
»Wollen Sie den armen Mister hier etwa umbringen?«
»Nein, Miss Dumbdora-Dummkopf, ich habe ihm etwas Medizin gebracht, damit er in dieser trostlosen Bude nicht draufgeht!«, faucht die Flapperin und stößt die rundliche Frau im Hinausgehen mit einer explosiven Bewegung beiseite.
Ich verberge rasch die Hipp-Flask unter der Bettdecke. Die Schwester knallt hinter Garçonne die Tür zu, öffnet das Fenster und tauscht die herrliche, verqualmte Luft gegen die Schweinekälte des erbarmungslosen New Yorker Winters. Sie legt die Hand auf meine Stirn.
»Nicht einmal hier sind Sie sicher vor solchen unmöglichen, schamlosen Frauen! Ich werde künftig besser auf Sie achtgeben!«
Ihr Versprechen höre ich wie aus weiter Ferne, denn der Fieberkrake streckt gierig seine glühenden Fangarme nach mir aus. Dieses Mal wird es keine Gnade mehr geben, denn am anderen Ende wartet sie schon auf mich – meine geliebte Frau Esther – nur, um mir erneut so grausam genommen zu werden …
~
»Hi Harold, danke für die Einladung!«
Esther schlug mit einem bezaubernden Lächeln die Augen nieder. Der leichte Schneefall hatte ihr blondes Haar, das lockig an den Rändern des Cloches hervordrängte, mit kleinen Kristallflocken verziert. Sie war dezent geschminkt und ihre Wangen färbten sich mit reizender Röte, die nicht allein von der kalten Luft herzurühren schien.
Ich war sehr nervös. Immerhin war ich schon Mitte zwanzig und hatte mit Frauen – abgesehen von der liebestollen Südstaaten-Lehrerin – keinerlei Erfahrungen.
»Sehr gerne«, räusperte ich mich, »Es ist mir eine Ehre, dass Sie meine Einladung zum Dinner angenommen haben!«
Seit beinahe einem Jahr hatte ich mit mir gerungen, bis ich endlich den Mut aufbringen konnte, dieses selbstbewusste, hübsche Mädchen aus der Lektorenabteilung des Herald anzusprechen.
Ich wusste, dass sie gerade erst neunzehn Jahre alt war und alleine in einer kleinen Wohnung in der 6. Avenue in der Nähe des Herald Square wohnte. Eine unabhängige, moderne junge Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand.
Es gab immer Männer beim Herald, die ihr den Hof machten, aber soweit ich es mitbekommen hatte, war es niemandem gelungen, sein Ziel zu erreichen. Es wühlte mich jedes Mal ungeheuer auf, wenn sich ein neuer Bewerber um sie bemühte. Ewig hätte ich sicher nicht mehr abwarten dürfen.
Esther hatte eine sehr offene, freundliche Art, die in schwierigen Situationen regelrecht entwaffnend wirken konnte. Dadurch gelang es ihr, die abgewiesenen Herren nicht gegen sich aufzubringen. Im Verlag musste alles sehr diskret gehandhabt werden, weil es von den Chefs nicht geduldet wurde, wenn sich Mitarbeiter während der Arbeit emotional und damit ›unprofessionell‹ verhielten.
Wir schlugen den Weg in die 34ste Straße ein, gingen in ein Mittelklasse-Restaurant und ich half ihr, den hellen Wollmantel abzulegen. Sie trug einen grauen Business-Dress, korrekt, mit ausreichend Stoff unterhalb der Knie. Nein, sie wollte nicht provozieren, nicht unnötig auffallen. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie deshalb ein braves Mädchen sein würde.
Nach dem Essen duzten wir uns. Esthers Blicke waren weniger scheu, sie genoss es, mich mit humorvollen Fragen in Verlegenheit zu bringen, und belohnte mich mit ihrem natürlichen Lachen.
Als wir uns an diesem Abend verabschiedeten, glühte mein Herz und sprang vor Freude in meiner Brust. Ich war glücklich und wusste, dass wir einander gefunden hatten.
Stießen wir während der Arbeit aufeinander, warfen wir uns verliebte Blicke zu und tauschten lediglich einen unverfänglichen Gruß aus. Nach Feierabend trafen wir uns dagegen offen und ›unverschämt‹ vor den Arkaden des Herald Buildings, wenn die anderen aus dem Verlagshaus strömten und uns mit erstaunten oder wissenden Gesichtern musterten.
Alle sollten es sehen, dass Esther nun vergeben war. Auch die Statue der Minerva, die so pompös über der Südfassade krönte, um sich pünktlich von ihren Glöcknern Stuff und Guff die Stunde schlagen zu lassen. Dann glotzten die großen Bronze-Eulen vom Dach und die Vogelfiguren blitzten mit ihren schaurig-grünen Glasaugen.
Esther war überhaupt nicht brav. Nach dem Verlassen des Lichtspielhauses, in dem wir einen romantischen Film geschaut hatten, zog sie mich plötzlich in den Schatten einer zurückspringenden Fassade und überfiel mich mit einem narkotisierenden Kuss.
Sie merkte sofort, dass sie es bei weitem mit keinem Ladykiller zu tun hatte, schwieg über ihre Entdeckung und nahm mich eine Woche später mit in ihre kleine Wohnung. Während sogar nachts das Dröhnen und Rumpeln der Harlem-Railroad und der Trams, die direkt vorm Haus entlangfuhren, durch die dünnen Glasscheiben der Fenster drangen, riss sie mir die Sachen vom Körper und tobte über mich hinweg wie ein Wirbelsturm.
Im flackernden Licht der Leuchtreklame, das in ihr dunkles Zimmer drang, wurden wir von der hemmungslosen Explosion unserer Leidenschaft fortgerissen, die wir den ganzen Winter zurückgehalten hatten. Erst als der Sonnenaufgang mit seinem Frühlingslicht nach unseren schwitzenden Leibern tastete, fielen wir in einen kurzen, tiefen Schlaf.
Wir sahen uns nun täglich, verbrachten unsere Zeit miteinander und kamen monatelang kaum zum Schlafen. Schließlich planten wir zusammenzuziehen. Ich war mir unterdessen ganz sicher, dass ich Esther unbedingt zu meiner Frau machen musste. Ja, ich wollte mein Leben mit ihr verbringen!
Mein Heiratsantrag hätte mich um ein Haar den gut bezahlten Job gekostet, wenn die ernsten, biederen Herren der Chefetage nicht ebenfalls von meiner verrückten Aktion gerührt gewesen wären. Ich bestach unseren Hausmeister mit ein paar Flaschen besten, geschmuggelten Whiskeys right off the boat und erhielt Zugang aufs Dach.
Unten stand mein befreundeter Journalist ›Teddy‹ Forth, und gab mir ein Zeichen, als Esther aus den Arkaden auf den Platz trat. Genau vor den gewaltigen Statuen der riesigen, mechanischen Uhr streute ich säckeweise Rosenblüten aus, für die ich ein kleines Vermögen bezahlt hatte. Einen Moment lang stand sie völlig fassungslos in diesem wundersamen Regen und als sie zu mir aufschaute, brüllte ich die Frage der Fragen herab.
Sie winkte und rief: ›Ja, ich will!‹, was zu einem minutenlangen Jubel auf dem Herald Square führte. Ich musste mich beeilen, meinen luftigen Platz schleunigst zu verlassen, denn die volle Stunde nahte. Gerne verzichtete ich darauf, die gigantischen Glöckner aus unmittelbarer Nähe zu erleben. Mir kamen schon die vier Fuß hohen Eulen äußerst beängstigend vor.
Doch plötzlich sehe ich deren schaurige Bronzegesichter direkt vor mir, ihre Köpfe verdrehen sich und auch die riesigen Glasaugenvögel starren mich an. Der Platz wird von einer gewaltigen Woge Blut überschwemmt. Ich höre Esther schreien und stürze mich vom Dach …
~
»Mister Jordan, kommen Sie zu sich!«
Ich starre in das Gesicht von Miss Dumbdora. Hat sie mir etwa soeben eine Backpfeife gegeben? Hinter ihren breiten Schultern erkenne ich verschwommen den Doktor:
»Sie waren kurzzeitig weggetreten und wir mussten bereits mit der Wiederbelebung beginnen. Wenn wir Ihr Fieber nicht in ein paar Tagen in den Griff bekommen, sind wir gezwungen, uns für das Bein eine endgültige Lösung einfallen zu lassen!«
Aha, einfach wunderbar! Soll ich beim Absägen vielleicht noch behilflich sein? Ich lache verzweifelt in mich hinein und werde von einem Hustenanfall geschüttelt. Schon wieder kann ich kein einziges Wort hervorbringen. Bilder von der Westfront drängen sich in meine flammende Fantasie: junge Männer ohne Arme und Beine, abgenommen wie im Schlachthaus, höllisch gequält und dennoch elend gestorben.
»Der Doktor gibt Ihnen jetzt eine fiebersenkende Spritze und Sie können ruhig schlafen, einverstanden?«
Nein, ich bin überhaupt nicht einverstanden, zappele herum, wehre mich dagegen, erneut in die schreckliche Traumwelt meiner Vergangenheit geschickt zu werden. Ich will weder zurück in den Schützengraben noch in jene schönen, unwiederbringlichen Jahre, deren Erinnerungen mich mehr foltern als die Schrecken des Krieges.
Es ist zu spät, schon stürze ich durch die Zeit und gelange zu einem der schlimmsten Fehler, die ich in meinem unwürdigen Leben beging …
~
Nachdem ich auch offiziell bei Esthers Eltern in Kentucky um ihre Hand angehalten hatte, drängte sie mich, meine Familie kennenlernen zu dürfen. Sofort sah ich den Schatten meiner Mutter vor mir, wie dieser geisterhaft durch die Zimmer des großen Farmhauses schlich, dann ihre über den Wannenrand hängenden, merkwürdig gekrümmten Arme, die still und rasch ausbluteten.
Ich dachte daran, wie Big Red mit ihrem Leichnam über der Schulter beim Hinausgehen den Kopf meiner Mutter gegen den Türrahmen prallen ließ. Das Geräusch werde ich niemals vergessen können.
»Nein, Darling, ich habe nur noch meinen alten Vater und der ist mit den Jahren sonderlich geworden.«, versuchte ich einzuwenden und verdrängte die grauenhaften Erinnerungen, die sich nun nach langer Zeit erneut schmerzhaft hinter meine Stirne drängten.
Sie lachte und schmiegte sich eng an mich.
»Hal, bitte lass mich sehen, woher du kommst. Ich platze vor Neugierde, wo ein so wunderbarer Mensch wie du aufgewachsen ist!«
Nichts ist schlimmer, als in eine Vergangenheit zurückkehren zu müssen, die man vollständig hinter sich gelassen hatte, um ein neuer Mensch zu werden. Ich wollte Esther weder etwas verheimlichen noch vorenthalten. Ich hielt es für überflüssig, ja gefährlich, mit dem Glück meines Lebens an einen Ort zu gehen, an dem die düstersten Kapitel meines bisherigen Daseins geschrieben worden waren.
Meine liebe, ehrliche Esther ließ nicht locker. Mit ihrem ungetrübten, fröhlichen Gemüt war es ihr unvorstellbar, sich auf dem direkten Weg in einen fürchterlichen Albtraum zu befinden. Da ich keine Ahnung hatte, ob die Gegend in meiner alten Heimat mit Telefonanschlüssen versorgt worden war und ich ohnehin keine Lust verspürte, die Stimme meines Vaters hören zu müssen, schrieb ich eine Karte an ihn. Ich nannte das übernächste Wochenende als voraussichtlichen Besuchstermin und kündigte uns an, ohne jegliche Rückfrage vorzusehen. Entweder würde er da sein oder auch nicht.
Mein Vater hatte inzwischen ein Telefon im Haus und keine Mühe gescheut, meine Nummer in New York herauszufinden. Ein paar Tage später ließ mich plötzlich das Läuten des Telefons erschauern, als ob ich ahnte, dass ich am anderen Ende der Leitung erbarmungslos mit meiner Vergangenheit konfrontiert werden würde. Seine Stimme erklang wie aus dem Jenseits und die Freude über unseren Besuch jagte mir kalte Schauer über den Rücken.
~
Wir fuhren mit der Eisenbahn. Big Red ließ es sich nicht nehmen, uns in seinem Schlacht-Dodge vom Bahnhof abzuholen. Mit weißem Anzug und über der Brust weit geöffnetem, rotem Hemd begann er eine Tour des Schreckens. Lässig fasste er mit einer Hand das Steuer, während er mit der anderen eine seiner dicken Zigarren rauchte.
»Wissen Sie, Lady, mein Junge ist ein harter Brocken. Auch wenn er nicht so hart aussieht wie sein alter Herr, dürfen Sie sich nicht in ihm täuschen. In Wahrheit ist er sogar der Härteste in unserer ganzen Familie, obwohl er das Beste noch vor sich hat.«
Mir wurde bei diesen Worten ungeachtet der heißen Frühsommersonne eiskalt. Esther nahm meine Hand und sah mich mit einem fragenden Lächeln an. Ich konnte weder etwas sagen noch hatte ich die Kraft, ihre Blicke zu erwidern.
Wir fuhren am Haus von Rachel vorbei. Alles war verfallen und es schien, als wäre die Farm bereits vor vielen Jahren verlassen worden.
»Hier wohnte damals ein schönes Mädchen, auf das mein kleiner Harold schon als Bürschchen ein Auge geworfen hatte! Aber das arme Kind litt unter dem großen Pech, von Katholiken aufgezogen zu werden, die ausgerechnet in unser schönes North Carolina kommen mussten.«
Verflucht, nichts war ihm verborgen geblieben! Es gab keine Geheimnisse der Kindheit. Sicher hatte er alles