4 Geständnisse aus Little Shine - Maximilian Baumann - E-Book

4 Geständnisse aus Little Shine E-Book

Maximilian Baumann

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Beschreibung

»Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich weiß immerhin auch nicht, wer das hier in die Hände bekommen wird. Aber wenn Sie das lesen, bin ich vermutlich bereits tot.« Eigentlich hätte der Raketenstart das Highlight des Jahres werden sollen. Doch dann verschwindet ein geliebtes Mitglied der Gemeinde unter mysteriösen Umständen, plötzlich tauchen überall kryptische Texte auf, die sich selbst »Die Geständnisse« nennen, und eine alte Frau findet etwas Erschreckendes im großen Stausee. Henry Blooms und Noah Perrys erster gemeinsamer Fall ist schwieriger und komplexer, als sie es jemals hätten ahnen können. Dabei haben doch beide ganz eigene Probleme.

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Prolog – Das erste Geständnis

Die alte Lizzie von der Heartway Lane

Willkommen in Little Shine

Fremde in der Bar

Plastikblumen

Erinnerungen

Der Sheriff und sein nerviges Anhängsel

Die Rosenkunft

Spür die Dornen

Kaffee Arabica

Der Fund

Aufzeichnungen

Schild

Das zweite Geständnis

Jonathan Carves

Corporation

Blackout

Sternenmeer

Aber natürlich

Schaut nach oben

Countdown

XOXO Arschloch

Erde unter ihm

New York

Die Befragung

Haus Ubermount

Das dritte Geständnis

Wahnsinnig

Das letzte Geständnis

Wie einen großen Batzen

Showtime, Baby

Boom

Faules Weib

Epilog – Was die Zukunft bringt

Maximilian Baumann

4 Geständnisse aus Little Shine

Little Shine, Band 1

4 Geständnisse aus Little Shine

Roman

Maximilian Baumann

Impressum

Texte: © Copyright by Maximilian Baumann

Umschlaggestaltung: © Copyright by Maximilian Baumann

Maximilian Baumann

Leitzachwerkstr. 6

83620 Feldkirchen-Westerham

[email protected]: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für meine Mama

DANKSAGUNG

Man glaubt gar nicht, was für eine Arbeit das ist. So ein Buch zu veröffentlichen. Furchtbar aufwendig! Meine Mitmenschen können davon ein Lied singen, immerhin mussten die meine Jammerei ertragen.

Ich möchte meiner Familie und meinen Freunden dafür danken, dass sie immer für mich da waren. Ihr habt mir die richtigen Tritte an der richtigen Stelle gegeben und ohne euch wäre das nie möglich gewesen.

Einen besonderen Dank hat meine Schwester verdient. Deine Geduld, dein Verständnis und deine Ratschläge, meistens konstruktiv, waren von unschätzbarem Wert für mich. Du hast nicht nur an mich geglaubt, sondern auch aktiv dazu beigetragen, dass ich dieses Projekt endlich in die Tat umsetzen konnte. Ohne deine Hilfe hätte ich es nicht geschafft, meinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Danke.

Und natürlich denke ich auch an dich und danke dir, Mama. Ich weiß, du bist stolz auf mich. Das warst du immer.

Prolog – Das erste Geständnis

Little Shine. Eine kleine verschlafene Gemeinde in Texas, in der man meinen könnte, die Zeit sei irgendwann stehen geblieben. Hier werden noch einige Dinge auf die alte Art erledigt. Statt digital wird lieber auf Papier gearbeitet und die beste Möglichkeit, um Neuigkeiten zu erfahren, ist der örtliche Radiosender. Der Glaube ist hier sehr tief in den Menschen und deren Handlungen verwurzelt und manche Personen stehen neuen Sachen äußerst kritisch gegenüber. Wieso sollte man auch etwas ändern, wenn es jetzt auch funktioniert? Never change a running system.

Nichtsdestotrotz ist Little Shine eine herzliche Gemeinde. Jeder kennt jeden und man hilft sich gegenseitig immer wieder aus. Klar gibt es auch schwarze Schafe, wie zum Beispiel die eingebildeten und ekelhaft reichen Schnösel aus dem Sunshine-Anwesen, aber unsere Gemeinde ist abgesehen von denen wie ein großes Familienhaus. Eine große Familie. Meine Familie.

Allerdings gibt es hier nicht viel, höchstens die ganzen Häuser der Ortsansässigen. Uns reicht es. Hier und da ein Geschäft oder ein öffentliches Gebäude, mehr nicht. Eine Bibliothek, eine kleine Polizeistation sowie eine Detektei, einen Arzt und einen relativ kleinen Supermarkt, wo man aber alles bekommt, was die Leute in Little Shine halt so fürs alltägliche Leben benötigen. Spannend wird es aber einmal an der Gemeindegrenze und einmal wenige Meilen östlich von Little Shine:

Hier in der Nähe gibt es ein Pumpspeicherkraftwerk, das Strom für ein paar Countys erzeugt. Der Stausee davon befindet sich genau an der Grenze zu unserer Gemeinde. Um dieses riesige Wasserbecken führt eine Straße und ist besonders bei Touristen und Joggern beliebt. Die täglich wechselnde Wasserhöhe durch das Pumpen des Kraftwerks ist außerdem vor allem für Kinder spannend zu beobachten, die gerne mal den ganzen Tag am Geländer stehen und darauf warten.

Auf der anderen Seite von Little Shine gibt es wie bereits erwähnt auch etwas … Interessantes. Im Osten befindet sich ein Weltraumbahnhof, also eine Zentrale für Raumfahrt. New Infinity Corporation heißt der Konzern, dem der ganze Spaß gehört. Sie sagen, sie forschen hier über alles Mögliche und ihr Plan ist es, dass die Menschheit irgendwann unseren Planeten verlassen kann, um zu neuen Horizonten zu reisen. Sogar eine eigene Weltraumstation haben sie da oben schweben. Es kommt aber noch schlimmer: Bereits jetzt bieten sie einen Flug für bestimmte Testpersonen dorthin an. Zu ihrer dummen Weltraumstation. Im Weltall. Im verdammten Weltall. Wie die Testpersonen ausgewählt werden, fragen Sie sich? Man kann sich bewerben. Jeder normale Mensch kann sich jetzt der Lebensgefahr aussetzen. Ist das nicht toll? Sogar kostenlos! Wenn sie dich denn nehmen. Wenn du den Anforderungen entsprichst, wenn du in ihr System passt.

Auch wenn Little Shine von beiden Anlagen profitiert, steht besonders New Infinity im direkten Kontrast zu dem, was uns so ausmacht. Wie ein Tumor fressen sie sich tief in Little Shine fest und nehmen es von innen auseinander. Bis nichts mehr gesund ist. Wie Sie bestimmt bereits aus diesem Text hier rauslesen können, halte ich von diesen geldgierigen und herzlosen Weißkitteln nicht gerade viel. Ich kann nicht zulassen, dass sie Little Shine zerstören. Es ist perfekt, so wie es ist. Ich werde etwas dagegen unternehmen. Und ich werde vor nichts zurückschrecken und nicht aufhören, bis dieser verdammte Konzern seine Sachen packt und für immer aus meiner wundervollen Gemeinde verschwindet. Das verrate ich aber nur Ihnen, dem Leser oder der Leserin dieses Textes. Sie können damit machen, was Sie wollen. Zur Polizei gehen, es für sich behalten, oder … es anderen anhängen. Es ist mir egal. Das ist nicht mehr mein Bier. Ich wollte es nur festhalten, für den Fall, dass es doch ein jüngstes Gericht gibt. Dann kann ich guten Gewissens sagen, ich habe gestanden. Denn ich war es. Ich war es, was immer Sie in Zukunft in unserer kleinen Zeitung lesen oder im Radio hören werden. Denn vermutlich werden Sie etwas mitbekommen, zum Beispiel von einer verschwundenen Person oder ähnlichen Dingen. Über die Details mache ich mir später Gedanken. Ich, und nur ich alleine werde die Schuld dafür tragen.

Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich weiß immerhin auch nicht, wer das hier in die Hände bekommen wird. Aber wenn Sie das lesen, bin ich vermutlich bereits tot.

Die alte Lizzie von der Heartway Lane

Sie hatte ein Lächeln im Gesicht. Es war immerhin ein ganz normaler Herbsttag für die alte Lizzie Bloom. Normale Tage bringen Ordnung ins Leben. Das mochte sie. Nach einer Handvoll Frühstücksflocken und einer Tasse Tee, bestehend aus frischen Kräutern aus ihrem Garten, fütterte sie ihren kleinen Shih Tzu namens Puffel mit ein paar Brocken Hühnchen. Am Abend davor hatte sich Lizzie extra an den Herd gestellt und für ihren kleinen Schatz etwas Leckeres gezaubert, das für mehrere Tage reichen sollte. Niemals würde sie ihrem Puffel das chemische Fabrikzeug aus dem Supermarkt geben. So etwas würde sie nie.

Lizzie hatte ein typisches Oma-Gesicht. Herzlich. Freundlich. Meistens. Ihre brünetten Haare mit altersbedingten grauen Ansätzen hatte sie am liebsten in einem Dutt zusammengebunden. Kein stereotypischer Dutt, wie Lizzie so gerne sagte. Das Wort Stereotyp hatte sie einst in ihrem Kalender gelernt, der jeden Tag ein neues Wort beinhaltete. Zuvor hatte sie das Wort nämlich noch nie gehört. Nein, es war ein Dutt, der die kleine Frau etwas größer erschienen ließ. Ihr Haar war nicht hinten zusammengebunden, sondern nach oben. Sie kannte diese klassischen Senioren-Verkleidungen zu Halloween nur zu gut, deren strenger Oma-Dutt fast die ganzen Haarwurzeln rausriss. Schrecklich. Ihre Haare saßen locker und ein paar Strähnchen hingen ihr über ihr Gesicht. Sie war ja kein Drill-Sergeant. Auch wenn Lizzie sehr viel Wert auf ein überaus kultiviertes Leben legte, war sie bei ihrer Kleidung komplett anders eingestellt. Nicht nur ihre Haarsträhnen saßen so locker, auch ihr riesiger Morgenmantel mit Blumenmuster strahlte eine gewisse elegante Lässigkeit aus. Die riesigen Ärmel bis zum Anschlag hochgekrempelt und ihr festgeschnürter Gürtel ergaben ein luftiges Outfit, als hätte sie jemand mit Helium aufgepumpt. Sie mochte die Bewegungsfreiheit.

Kaum war der Hund versorgt, begann sie auch schon ihr morgendliches Training mit dem Aerobic-Channel auf dem dritten Programm. Auch wenn sie nicht mehr so beweglich wie früher war und auch nicht mehr ganz so schnell mit den Bewegungen mitkam, machte es ihr bis heute Spaß. Fast so, als hatte sie das Gefühl, damit für immer jung und fit bleiben zu können. Es hatte einfach etwas an sich. Entspannende Musik und fitte Menschen in einer wunderschönen und dennoch gestellten Umgebung. Da fühlte sich das Leben gleich perfekter an. Als wäre sie Teil des Programmes.

War das beendet, machte sie sich in ihrem winzigen Badezimmer frisch. Zumindest bis Puffel einfiel, er könnte ja bellen, wenn ihm etwas nicht passte. Da musste sie natürlich sofort zu ihm sprinten und nach ihrem Baby sehen. Wenn der Hund so früh am Morgen schon kläffte, bedeutete das, dass der Zeitungsjunge mal wieder mit Absicht die Zeitung mit voller Wucht gegen die Haustür gedonnert hatte. Dass die Zeitung bisher nur einmal versehentlich gegen die Tür geknallt war, die Zeitung seitdem die Tür nicht einmal mehr berührt hatte und Puffel dennoch immer wieder bellte, das kam Lizzie gar nicht in den Sinn. Puffel war laut ihr immerhin ein sehr braver Hund und er würde nie ohne Grund bellen. In Wahrheit war er allerdings einfach nicht gut erzogen. Wollte man das aber der alten Lizzie erklären, hielt sie sich wie ein kleines Kind die Ohren zu und suchte das Weite.

Seit dem Tod ihres Mannes und seitdem ihr Sohn das Geschäft von ihm übernommen hatte, war Lizzie oft alleine in ihrem großen Haus. Natürlich wurde sie von ihrem Sohn Henry besucht, doch sie wollte eigentlich immer jemanden um sich herum haben. Irgendwann hatte sie sich deshalb ihren Puffel angeschafft und seitdem war er ihr Liebling. Während Henry als Kind nie auch nur einen Fuß auf das Beet im Garten setzen durfte, war es vollkommen in Ordnung, wenn Puffel dort mal wieder seine fünf Minuten hatte und alles zerstörte, was ihm zwischen die kleinen, aber furchtbar bissigen Zähnchen kam. Ab und an hatte Henry sogar Angst, dass der Hund mehr erben könnte als er selbst. Berechtigte Sorge.

Lizzie war in Little Shine sehr beliebt und angesehen. Jedenfalls dachte sie das. Jeden Mittag traf sie sich mit ihren Freundinnen, spielte mit ihnen Karten und tauschte die neuesten Gerüchte aus der Kleinstadt aus. Meistens fand das Treffen im Obergeschoss der Gärtnerei statt, dort hatten sie ihre Ruhe und von den Fenstern aus hatte man die perfekte Sicht auf das Herz von Little Shine: die große Hauptstraße. Dort waren die meisten Läden der Stadt. Manche Einwohner würden behaupten, der Kartenclub sei besser als jede Überwachungskamera der Welt. Nichts entging diesen alten Augen auf der Hauptstraße.

Auch heute besuchte die alte Bloom wieder die Gärtnerei, um den neuesten Tratsch aufzuschnappen. Puffel durfte oft mitkommen und wenn er durch die Aufregung erst einmal seine paar Runden um den Kartentisch gedreht war und alle Frauen knurrend sowie bellend begrüßt hatte, konnte er sich komplett erschöpft in die Ecke legen und gab dann endlich Ruhe. Dieses Mal hatte es Puffel allerdings eilig, denn er kratzte ungeduldig an der Tür und suggerierte damit, dass er dringend raus musste. Gerade hatte Lizzie mehr über die neueste und heiße Affäre der jungen Gina aus dem Supermarkt und ihrem plötzlichen Tattoo erfahren, doch Puffel war ihr dann doch wichtiger. Sie leinte ihren Hund an, verabschiedete sich von allen und ging mit Puffel eine Runde Gassi. Vielleicht war es auch besser so, sie hätte sowieso nichts Spannendes zu erzählen gehabt. Heute hatte sie einfach nichts, um damit zu prahlen. Es war wenig los. Natürlich bis auf das Raketenprogramm der New Infinity Corporation, aber das interessierte sie nicht großartig. Immerhin suchten sie junge Leute fürs All, keine Senioren. Auch wenn es Lizzie nicht gerne zugeben wollte, sie war in die Jahre gekommen. Das wusste sie selbst und das wusste jeder andere auch. Würde das aber jemand erwähnen, ließ sie es sich nicht nehmen, es als höchste Beleidigung zu verstehen. Niemals würde sie sich eine Gelegenheit entgehen lassen, in der sie eingeschnappt sein durfte.

Lizzie und ihr kleiner Schatz wohnten in der ruhigen Heartway Lane, einer relativ engen Seitenstraße mit Sackgasse am Ende. Hier wohnten hauptsächlich ältere Menschen, die ihr Leben in einer so stillen Gegend genießen möchten. Hier war es aber schwierig mit Puffel spazieren zu gehen, da er jeden anbellte, der auch nur in die Nähe des Hauses kam. Nach Lizzies Meinung wurde Puffel in der gesamten Straße vergöttert, doch natürlich war das nicht der Fall. Wer hatte schon gerne einen aggressiven Kläffer als Nachbar? Puffel, klein, aber gefährlich. Das wusste jeder in der Heartway Lane. Auch wenn Lizzies Wahnvorstellung bei Puffel absolut die Überhand gewann, wollte sie selbst eben auch nicht, dass er nur noch bellte. Wofür er laut ihr natürlich auch jedes Recht hätte, immer und überall. Aber davon bekam sie Ohrenschmerzen. Deshalb fuhr Lizzie mit ihrem braven Engel oft mit dem Auto zum Stausee und ging dort mit ihm ein paar Meter auf und ab. Nicht sehr lange. Gerade so viel, um Puffels tägliche Mindestgrenze an Schritten knapp zu unterbieten.

Um diese Zeit wurde das Wasser aus dem Stausee etwas abgelassen und hoch zum anderen Kraftwerk gepumpt. Laut Besuchern soll der Lärm furchtbar sein, aber das Kraftwerk war schon so lange in Betrieb, dass es nur noch den wenigsten Einwohnern aktiv auffiel. Es war keine Menschenseele unterwegs, das war der alten Lizzie am liebsten. So wurde Puffel nicht von anderen Menschen genervt, wodurch er wieder den Drang gehabt hätte, ununterbrochen zu bellen.

Sie parkte an der Straßenseite in der Nähe des Wasserbeckens und kaum waren die beiden ausgestiegen, zog der Hund sofort auf die gegenüberliegende Seite der Straße, Richtung Stausee. Obwohl Lizzie fast zu Boden fiel, konnte sie ihn gerade noch so festhalten und ließ sich quer über die Straße zerren. Die Frau stand zwar noch auf ihren zwei Beinen, doch sie wurde wie ein Anhängsel mitgeschliffen. Überraschend, da doch ihr Puffel so ein kleiner Hund war. Der Köter hörte einfach nicht auf. Über eine schmale Wiese, nicht länger als Lizzies Auto, zog er die alte Bloom rüber zum hohen Gitter, das die Straße vom Abgrund des Beckens trennte. Kaum konnte Puffel nicht mehr weiter, bellte er in das Becken hinunter.

Viele Meter in der Tiefe konnte man noch ein bisschen Wasser sehen, doch auch das wurde gerade langsam aus dem Becken gepumpt. Zurück blieb nur eine riesige, nasse Decke aus Schmutz und Algen, die einen fürchterlichen Gestank in die Luft setzten. Ähnlich wie ein Moor, nur viel schlimmer.

»Was ist denn heute mit dir los?«, fragte Lizzie und versuchte, ihren Hund unter Kontrolle zu bekommen. Natürlich ohne Erfolg.

Puffel bellte weiterhin und sprang auf und ab, als wollte er am liebsten durch das Gitter brechen. Lizzie fasste ans Gitter und sah in das Wasser hinunter.

Was sie dort zwischen dem stinkenden Dreck zu sehen glaubte, ließ sie so sehr zurückschrecken, dass sie stolperte und letztendlich doch in der Wiese landete. Sie hatte sich zuvor so gut gehalten.

Voller Panik stand sie auf, nahm ihren Hund in die Hände und starrte noch mal in das Wasserbecken, um wirklich sicherzugehen. Insgeheim wusste sie schon, was es war, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Zitternd begab sie sich mit ihrem kläffenden Hund unter der Achsel zurück ins Auto und suchte unter Tränen ihr altes Klapptelefon im Seitenfach. Sie hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben, aber das musste warten.

Eine Sache war sicher, jetzt hatte sie definitiv etwas für das nächste Kartenspiel zu erzählen. Und es hatte ganz sicher nichts mit der langweiligen New Infinity Corporation zu tun.

Willkommen in Little Shine

Zwei Wochen vor Lizzies großer Entdeckung befanden sich ihr Sohn Henry Bloom und sein guter Freund Sam Reconner vor dem Eingang einer kleinen Detektei, etwas abseits von der Hauptstraße in Little Shine. Sam stand auf einer Leiter und war gerade dabei, seiner Arbeit nachzugehen, während Henry ihn glücklich vom sicheren Boden aus beobachtete. Sam war ein relativ groß gewachsener Kerl. Auch wenn er durchaus etwas von Mode verstand, sah man ihn kaum ohne einen Werkzeuggürtel. Er war auch gut gebaut, ganz im Gegensatz zu Henry. Lizzies Sohn hatte eher etwas von einem Kuschelbären. Durch sein Auftreten mochte er vielleicht eher streng wirken, doch wenn man einen Blick auf seine Haare warf, wusste man sofort, dass Klamotten täuschen konnten. Die Haare lagen einfach, wie sie lagen. Und wenn sie nicht lagen, lagen sie nicht. Seine Haare waren eines der wenigen Dinge in Henrys Leben, die ihm egal waren. Sie gefielen ihm, wie auch immer sie gerade aussahen.

»Glaubst du, ich sehe sie noch, bevor ich hier fertig bin? Ich will die Neue nicht erst nach meinem Urlaub kennenlernen. Immerhin will ich sehen, wie sie auf den irren Vogel reagiert, der hier der Chef ist«, lachte Sam fröhlich und hämmerte die letzten Nägel in das neue Schild vor dem Eingang.

»Witzig. Sie müsste gleich da sein. Du kannst gerne hier warten. Aber wenn sie dann da ist, musst du gehen. Ich muss immerhin erst einmal schauen, ob sie überhaupt zu uns passt. Ich bin mir immer noch unsicher bei ihr. Ich habe dir ja erzählt, was Martha rausgefunden hat, oder?«

»Ja, aber mach dir bitte einmal in deinem Leben nicht direkt in die Hose«, antwortete Sam amüsiert. »Wenn ich so darüber nachdenke, könnte so eine ganz gut für dich hier sein.«

Henry schnaufte genervt. »Sicher. Und bevor du es vergisst, Hotel ist schon gebucht?«, fragte er und beobachtete den nickenden Mann, zufrieden mit seinem Werk, von der Leiter steigen.

Sam war jemand, dem man alles anvertrauen konnte. Auch wenn es sein Job war, er half allen und es gab nichts, was er nicht konnte. Außerdem hatte er immer gute Laune und die war fürchterlich ansteckend. Er war einfach ein guter Mensch. Es war kein Wunder, dass er hier in Little Shine so beliebt war. Henry war froh, dass er ihm mit dem neuen Schild für seine Detektei geholfen hatte. Er kannte ihn immerhin auch schon sehr lange und das merkte man auch an ihrer tiefen Freundschaft.

»Entschuldigen Sie, ist hier das Detektivbüro Bloom & Spring?«, unterbrach eine weibliche Stimme seine Gedanken. Vor Henry stand plötzlich eine junge Frau mit langen roten Dreadlocks und einem neonpinken Kaffeebecher in der einen sowie einer riesigen Aktentasche in der anderen Hand. Sie wirkte irgendwie schüchtern, freundlich und einschüchternd sowie ernst zugleich. Zu viele Emotionen auf einmal für Henry.

»Detektei«, antwortete er also knapp.

»Wie bitte?«, fragte die Frau verwirrt.

»Nicht Detektivbüro. Detektei. Ich mag das Wort nicht.«

»Ähm, ja. Genau, hier sind Sie richtig. Detektei Bloom & Spring«, grätschte Sam in das Gespräch und zeigte stolz auf das neue Schild.

»Sehr gut. Ich bin Noah Perry, ich bin die neue Detektivin?« Sie formulierte es wie eine Frage. »Und Sie sind …?«

Plötzlich riss Henry die Augen auf, als wäre er gerade erst wach geworden. »Henry Bloom. Detektiv hier«, antwortete er leicht beschämt. »Es tut mir leid, kaum sind Sie hier, werden Sie schon korrigiert. Ich freue mich, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Das hier ist übrigens Samuel. Er hat gerade unser neues Schild angebracht.« Henry und Noah schauten zu Sam, der fröhlich mit beiden Händen winkte und dann sein Werkzeug einpackte. »Wollen wir reingehen? Dann kann ich Ihnen alles zeigen. Außerdem kann es unsere Sekretärin bestimmt kaum erwarten, Sie endlich in Person zu sehen«, erklärte er in einem netten Ton, in der Hoffnung, dass sie die Sache mit der Korrektur schnell vergessen würde.

»Gerne. Nach Ihnen, Mr. Bloom. Und Ihnen noch einen schönen Tag, Mr. … Samuel.«

Noah gab Sam zum Abschied die Hand und er schrie der neuen Detektivin noch ein fröhliches »Und willkommen in Little Shine!« hinterher, bevor sie zusammen mit Henry durch die Eingangstür der Detektei ging.

Von innen sah die Detektei zwar weniger heruntergekommen aus als von außen, allerdings war der Unterschied nicht allzu groß. Bevor Noah den Sprung ins Ungewisse gewagt hatte und sich hier als Privatdetektivin beworben hatte, war sie eine offizielle Ermittlerin des NYPD gewesen und hatte die Großstadt kaum verlassen. Deshalb war diese eher ländliche Umgebung eine große Umgewöhnung für sie. Die Mauern des Gebäudes bestanden aus Backsteinen, die wohl früher einmal rot gewesen waren, der Holzboden sah so aus, als hätte er schon einiges durchgemacht und die Lampen gaben nur schwaches Licht ab. Bei manchen Lampen war sich Noah nicht einmal sicher, ob sie an- oder ausgeschaltet waren. Außerdem wurde hier wohl noch viel mit Papier gearbeitet. Die New Yorkerin bezweifelte, dass die Digitalisierung in Little Shine überhaupt schon angekommen war. Oder die Einwohner überhaupt davon gehört hatten.

Direkt am Eingang saß eine ältere Frau am Tresen, die damit beschäftigt war, Papierstapel zu sortieren und manches fluchend in den Papierkorb zu donnern. Sie hatte sehr kurze graue Haare und war sehr schlank. Noah fiel bei dieser Frau als Erstes der Ausdruck Strich in der Landschaft ein. Als die Sekretärin sah, dass Bloom und Noah in ihre Richtung kamen, riss sie ihre kleinen Augen auf.

»Ist sie das?«, fragte sie und sah ihren Kollegen fragend an.

»Martha, das ist Noah Perry. Ja, sie ist die Detektivin. Ihr habt ja bereits telefoniert«, erklärte Bloom und Noah streckte ihr die Hand zur Begrüßung hin, doch sie schien das gar nicht zu beachten.

»Noah. Das ist doch ein Jungenname. Finde ich spitze, dass Ihre Eltern sich mal was getraut haben. Endlich geht mal was vorwärts in diesem Land! Martha Wickett. Ich habe Sie dem Bloom vorgeschlagen. Jetzt kenne ich endlich das Gesicht zu dieser Stimme.« Anstatt ihr die Hand zu geben, klatsche die Frau sie einfach ab, als hätte sie nicht gewusst, was Noah vorhatte. »Ich hoffe mal, Sie wissen, wie man Kerle auf Trab hält. Unser Henry hatte schon lange nichts mehr mit einem Weib.«

»Martha!«, schrie Bloom erschrocken und Noah sah, wie sein Gesicht so rot wurde wie der Lippenstift auf Marthas Lippen. Auch sie sah die Frau mit großen Augen an.

»Was denn? Ist doch wahr! Ich verschwende sicher nicht mehr meine Zeit damit, ein Blatt vor dem Mund zu nehmen, dafür bin ich schon zu alt, Schätzchen«, sagte sie zwinkernd und widmete sich wieder ihren Papieren. »Ist echt nett, Sie jetzt bei uns zu haben. Aber ich habe hier noch eine Menge Arbeit. Ihr lieber Partner hat nämlich alle Telefonnummern unserer früheren Kunden neu abgetippt und ungefähr ab der Hälfte ist er in der Zeile verrutscht. Das heißt, ich kann jetzt alle alten Akten durchgehen und sie alle noch mal schön neu rausschreiben. Der Rest kommt in den Müll.«

»Das klingt tatsächlich nach einer Menge Arbeit. Falls Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich, ich helfe gerne«, bot Noah freundlich an. 

»Süße, ich mache diese Drecksarbeit nun schon so viele Jahre. Ich glaube, ich kriege das schon hin. Aber danke für das Angebot. Gewöhnen Sie sich hier erst einmal richtig ein. Wir wollen doch nicht, dass Sie nach dem ersten Tag schon hinschmeißen.«

»Aber natürlich«, sagte Noah formell. »Bloom, könnten Sie mich hier ein bisschen herumführen?« Kaum hatte er genickt, klingelte an einem der Schreibtische das Telefon und der Detektiv lief eilig hin.

»Detektei Bloom & Spring, Bloom am Apparat. Oh, hallo Dewey! Hast du das Kennzeichen schon überprüfen können? Ah, super! Ich wusste doch gleich, dass da was nicht stimmt. Ja, ich komme sofort!«, sprach er freudig ins Telefon und zog sich einen dunkelbraunen Mantel an, der über dem Schreibtischstuhl hing. »Das tut mir jetzt wirklich leid, aber ich bin derzeit an einem Fall und es gibt neue Hinweise, ich muss sofort zur Polizei. Das hier ist Ihr Schreibtisch, gewöhnen Sie sich erst einmal ein und falls Sie Fragen haben, hilft Ihnen Martha sicher gerne. Schönen Tag noch!«, erklärte er und huschte aus dem Gebäude. Nach wenigen Sekunden kam er wieder rein, lief zu seinem eigenen Arbeitsplatz, nickte, und lief wieder hinaus.

»Wundern Sie sich nicht. Bloom hat einige … Dinge. Ja, sagen wir es so. Dinge. Irgendwann bemerkt man das kaum noch«, meinte Martha von der Rezeption aus, während Noah sich fast schon verloren im Gebäude umsah. »Derzeit ist nicht viel los, also ist er als Privatdetektiv für eine Frau tätig, die denkt, ihr Ehemann betrügt sie.«

»Das klingt ja … spannend«, murmelte Noah leise und Martha nickte grinsend. Sie war sich sicher, dass die Sekretärin das eigentlich nicht aus der Entfernung hätte hören können, zumindest nicht in ihrem Alter. »Ist das dort drüben mein Arbeitsplatz? Er hat einen Schreibtisch erwähnt, aber nirgends hingezeigt.« Im Gegensatz zu ihrem neuen Partner, zeigte Noah auf einen leeren Schreibtisch direkt gegenüber dem von Bloom. Er war recht spartanisch dekoriert, nur ein kleiner PC war auf dem sonst leeren Tisch zu sehen. Es gab nicht einmal eine Tastatur.

»Mädchen, hier ist sonst nur ein Schreibtisch. Natürlich gehört der Ihnen. Keine Sorge, so viel können Sie bei uns nicht falsch machen. Kommen Sie mal von Ihrer nervösen Schiene runter. Ja, das ist jetzt Ihr Reich. Auch wenn Ihnen das noch nicht viel helfen wird. Henry hatte es geschafft, zu stolpern und dabei ein fettes Glas mit Orangensaft auf den Tisch mit allen Dingen darauf zu schütten. Da er klebriges Zeug hasst, hat er gleich eine neue Tastatur bestellt und die ist bereits auf dem Weg. Aber das dauert wohl noch etwas, die Post und besonders die Paketboten kommen manchmal nur jeden zweiten Tag. Bis dahin können Sie seinen Computer mitbenutzen«, erklärte die ältere Frau, während sie weiter Blätter in den Müll warf.

»Nur jeden zweiten Tag? Aber was ist mit wichtigen Briefen, wie Rechnungen oder Ähnlichem?«

»In Little Shine sind wir der Ansicht, wenn eine Rechnung nicht einen Tag Verzögerung aushalten kann, dann sollte man sich dringend vom Rechnungssteller distanzieren. Das wirklich wichtige Zeug wie medizinische Befunde oder so Kram, das kommt eh zuerst zur Polizei, die melden sich dann bei uns. Bei denen kommt die Post jeden Tag. Meistens kommt das aber eh digital und die Kollegen dort drucken es extra für uns aus.«

»Aber … das ist doch super umständlich und ineffizient, warum kann die Post nicht jeden Tag kommen? Oder warum muss uns die Polizei das extra ausdrucken? Würde eine Mail an uns nicht reichen?«, fragte Perry und berührte den noch immer etwas klebrigen Schreibtisch vorsichtig mit einem Finger.

»Ich mache die Regeln nicht. So werden die Dinge hier eben gemacht, das war schon immer so. Ich will den ganzen Scheiß schon seit Jahren digitalisieren, aber leider hat da Ihr Partner das letzte Wort. Willkommen in Little Shine.«

»Das höre ich nun schon zum zweiten Mal, aber beim ersten Mal hat es mir deutlich besser gefallen.«

An Noahs erstem Tag war sie eigentlich nur damit beschäftigt, ihren Schreibtisch von den klebrigen Überresten des Saftes zu befreien. Sie hatte so vieles versucht, aber immer, wenn sie den Tisch abtrocknete und ihre Hand als Test auf die Tischplatte legte, blieb sie leicht kleben und ihre Hand fühlte sich danach seltsam an. Es wollte einfach nicht aufhören. Mittlerweile war die Sonne untergegangen und Bloom war immer noch auswärts unterwegs.

Zwischendurch unterhielt sie sich mit Martha über ihre neue Arbeit. So hatte sie zum Beispiel erfahren, dass eigentlich alle in der Detektei immer zusammenarbeiten und es kaum Alleingänge gab. Jeder hätte etwas Nützliches beizusteuern und es würde wohl selten viele Fälle auf einmal geben, wodurch Bloom und ihre Vorgängerin kaum getrennt voneinander arbeiteten. Generell schienen die Beziehungen hier weit über das Verhältnis von Arbeitskollegen hinaus zu gehen, vermutlich da sie nur zu dritt waren. Diese sehr persönliche Nähe zu Kollegen kannte sie aus New York nicht und Noah hatte eigentlich gehofft, dass eine gewisse Anonymität bestehen bleiben würde.

Als sie es ein letztes Mal mit einem Eimer voller Wasser und Seife versuchte, stellte sie ihrer neuen Kollegin eine weitere Frage.

»Wie war sie so? Meine Vorgängerin. Ich muss immerhin wissen, in welche Fußstapfen ich hier zu treten habe«, fragte sie erheitert, als sie mit einem Schwamm mühselig den Tisch schrubbte. Aber kaum bemerkte Noah das leichte Grinsen in ihrem Gesicht, verfinsterte sich ihre Miene schnell. Auch Martha fiel das auf.

»Diese Frau war eine Wucht. Genau wie ich hatte sie keine Angst, zu sagen, was sie dachte. Sie hat einiges von mir gelernt«, erklärte Martha in Erinnerungen schwelgend. »Es gab eigentlich nichts, was sie nicht gebacken bekommen hat. Kein Rätsel war ihr zu knifflig, keine Hantel zu schwer. Sie nahm die Dinge gerne selbst in die Hand. Phoebe, so hieß sie, konnte dadurch unseren Henry oft in den Wahnsinn treiben. Dennoch ist sie die Mutter seines Sohnes.«

»Bloom hat einen Sohn?«, fragte Noah erstaunt. »Tut mir leid. Das ist vermutlich eine zu persönliche Frage, antworten Sie besser nicht.«

»Sohn, ja. Der kleine Jake. Süßer Racker. Geht mir vielleicht erst zur Hüfte, wenn’s hochkommt. Er wohnt mit seinem Vater über der Detektei.« Sie zeigte mit dem Zeigefinger zur Decke. »Als Jake vielleicht drei Jahre alt war, ist Phoebe einfach abgehauen. Henry ist eines Tages aufgewacht und sie und all ihr Zeug waren verschwunden, nur ein Abschiedsbrief an Jake, sonst gar nichts. Dein Kollege macht sich bis heute Vorwürfe dafür, er wäre nicht gut genug für sie gewesen, natürlich völliger Schwachsinn. In der Stadt sagt man, ihr wurde das Familienleben einfach zu viel, aber ich sage, das sieht Phoebe nicht ähnlich. Ich habe jeden Tag mit ihr zusammengearbeitet, ich kannte sie. Keine Ahnung, warum sie Little Shine verlassen hat, aber Henry leidet eben immer noch darunter. Er sagt immer nur, so jemand wie sie kann das Unmögliche nicht möglich machen. Das hat sie wohl oft gesagt. Seitdem hatte er keine Partnerin mehr, Sie sind die Erste seit Jahren. Also bitte reißen Sie keine alten Wunden auf und sprechen Sie Henry nicht darauf an, Jake auch nicht.«

»Versprochen. Vielen Dank für die Info«, antwortete Noah erstaunt. Sie hatte absolut nicht erwartet, gleich an ihrem ersten Tag so ein Trauma vor die Füße geworfen zu bekommen.

»Also!«, meinte Martha, klatschte in die Hände und starrte auf die Wanduhr. »Das war dann wohl Ihr erster Tag. Bestimmt nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben.« Sie stand auf und packte ihre Sachen.

»Ich habe irgendwie mit mehr … Kunden gerechnet. Also klar, das hier ist nur eine Kleinstadt, aber ich dachte schon, dass hier mehr los wäre. Eigentlich habe ich ja nur versucht, meinen Tisch zu säubern.«

»Ich bin sicher, Bloom hätte Sie mitgenommen, wären Sie nicht gerade erst zur Tür rein. Aber hey, immerhin konnten wir beide uns besser kennenlernen. Ist mal schön, sich nicht nur mit Henry unterhalten zu müssen.« Martha zog sich ihre neonfarbene Laufjacke ohne Ärmel an und machte sich bereit, zu gehen. »Wollen Sie mit mir Essen gehen? Nach dem Theater mit diesen dummen Telefonnummern sehe ich nur noch Zahlen. Das kann ein deftiges Bier bei Vince sicher ändern«, lachte sie.

»Vince?«

»Ach so stimmt, Sie hatten sicher noch keine Zeit, die Stadt zu erkunden. Vince ist ein netter Gentleman, der die Straße runter eine Bar hat. Er macht die besten Sloppy Joes in ganz Texas. Sein Gesöff ist zwar schwer runterzukriegen, aber es erfüllt seinen Zweck besser als irgendetwas anderes. Außerdem ist er in meinem Alter«, zwinkerte die Frau schelmisch.

Eigentlich war es Noahs Plan gewesen, bei ihren Kollegen so weit wie möglich auf Abstand zu bleiben, doch sie konnte es sich dieses eine Mal nicht verkneifen. »Also, wenn das so ist, lasse ich Sie da besser alleine.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, bereute sie es wieder und stellte sich wieder gerader hin. »Also: Danke für das Angebot, aber ich sollte heute noch etwas auspacken. Nächstes Mal gerne. Und vielen Dank für die Ratschläge zu meiner neuen Arbeit.« Ihre Schultern entspannten sich wieder, als sie an die letzten angenehmen Stunden dachte. »Ehrlich gesagt, ich hatte anfangs etwas Angst, dass Sie eine schrullige und unhöfliche Frau sind, die alles und jeden hasst«, meinte Noah erleichtert.

»Und was genau lässt Sie jetzt glauben, das sei nicht der Fall?« Die lachende Martha klopfte Noah stark auf die Schulter, die dadurch etwas zuckte. »Dann bis morgen, Perry.«

»Gute Nacht.« Sie biss ihre Lippen zusammen. Sollte sie es sagen? Ging das nicht zu weit? Sie sagte es einfach. »Schnappen Sie ihn sich!«, schrie Noah der inzwischen weggehenden Frau nach, die nach ihrem Kommentar begann, furchtbar laut zu lachen. Dieser Spruch hätte auch richtig schiefgehen können. Warum verließ sie ihre formelle Festung immer wieder? Sie wusste doch, was das letzte Mal passiert war.

Kaum entfernte sich Noah etwas von der Detektei, hielt vor dem Gebäude ein kleines weißes Auto und ein Mann stieg mit einem Kind aus. Bestimmt Bloom und sein Sohn. Die Detektivin drehte also um und ging auf sie zu. Als Bloom seine neue Kollegin bemerkte, machte er ein nervöses Gesicht.

»Oh, Perry. Sie sind noch hier?«, fragte er überrascht und nahm das Kind an die Hand.

»Ja, ich wollte gerade nach Hause. Haben Sie bis jetzt gearbeitet? Und wer ist dieser kleine Kerl?« Noah beugte sich zu dem Kind runter und streckte ihm lachend die Hand entgegen, doch das Kind verschwand ängstlich hinter seinem Vater. 

»Das ist mein Sohn. Jake. Ich habe ihn gerade von einer Übernachtungsparty abgeholt. Frühzeitig. Jake, das ist Noah. Sie arbeitet jetzt mit uns, keine Angst, sie … ist bestimmt nett.« Nun sah Jake interessiert hinter Bloom hervor und betrachtete Noah.

»Hallo«, brachte der kleine Junge schüchtern hervor.

»Schön dich kennenzulernen, Jake«, sagte sie mit einem herzlichen Gesichtsausdruck und wandte sich nun zum Vater. »Er ist entzückend. Und eine reizende Rezeptionistin haben Sie auch noch. Ich glaube, wir haben uns schon gut angefreundet.«

»Das ist schön zu hören«, äußerte er emotionslos. »Wir sehen uns, Perry. Verabschiede dich von der Frau, Jake.«

Der kleine Junge winkte leicht und ging schnell mit seinem Vater in die Detektei, ohne dass sich Noah verabschieden konnte. Kurz danach ging Bloom alleine noch mal aus der Detektei, ohne auf Noah zu achten, und überprüfte, ob sein Auto abgeschlossen war. Er zog bestimmt dreimal am Autogriff, um wirklich sicherzugehen. Danach ging er wortlos wieder rein. Noah machte sich nicht einmal die Mühe, die Sache mit dem Abschied erneut zu versuchen, er würde sowieso nicht darauf achten.

»Das kann ja was werden. Das kann wirklich was werden«, dachte sie sich und brachte ganz schnell Abstand zwischen sich und ihre neue Arbeit.

Fremde in der Bar

Als Noah am nächsten Tag die Detektei betrat, war von Bloom wieder keine Spur zu sehen. Von Martha hatte sie erfahren, dass er schon sehr früh los war, um an seinem Fall weiterzuarbeiten. Jake hatte er ebenfalls mitgenommen, um ihn davor beim Kindergarten abzusetzen. Noah setzte sich deprimiert an ihren Schreibtisch und starrte zu Martha, die immer noch an den Telefonnummern arbeitete.

»Ich hätte eigentlich erwartet, dass er sich mal mit seiner neuen Partnerin befasst. Was soll ich heute machen? Ich kann ja schlecht immer nur meinen Schreibtisch putzen.« Sie fasste ihren Tisch vorsichtig an und sie hatte recht: immer noch klebrig.

»Heute ist Freitag, da kommt fast niemand zu uns. Die meisten kommen immer am Montag. Ich glaube, heute sind wir alleine. Und solange Sie noch keinen offenen Fall haben, können Sie nicht sehr viel machen. Sie könnten mir aber mit den Telefonnummern helfen, wenn Sie möchten. Wenn das Angebot noch steht«, erklärte Martha und schmiss Noah einen kompletten Ordner quer durch den Raum zu.

Noah nickte freundlich und fing den schweren Ordner problemlos auf, was sogar Martha etwas überraschte. Die beiden arbeiteten perfekt zusammen und waren schon nach wenigen Stunden fertig. Martha hatte recht behalten und bis Mittag war niemand gekommen.

»Ich glaube, heute kommt wirklich keiner mehr. Schließen wir einfach und ich zeige Ihnen unsere Stadt. Dann kann ich Sie auch gleich einladen, als Dank für die große Hilfe«, meinte die ältere Frau und machte sich fertig, um zu gehen.

»Aber das ist doch eine Detektei. Bisher habe ich nicht viel davon mitbekommen. Wir schließen also einfach? Dürfen wir das denn?« Noah beobachtete, wie Martha einen Cowboyhut unter dem Tresen hervorholte und ihn mit Stolz auf ihren Kopf presste. Das war also Texas.

»Schätzchen, ich bin in ein paar Jahren schon 70 Jahre alt. Ich mache, was ich will. Wenn das Henry nervt, kann er sich gerne beschweren. Ich Kuchen, er Krümel«, sagte Martha erheitert und machte die Tür auf.

»Wissen Sie, meine Mutter hatte da immer so ein Sprichwort«, erzählte Noah, als sie Marthas fröhliches Gesicht sah. Gegen ihren Entschluss würde sie ja eh nicht ankommen. »Sie sagte, wenn Menschen lächeln, die älter sind als du selbst, dann ist das meistens das Ende einer wunderbaren Geschichte. Oder der Anfang, kommt darauf an.«

»Worauf denn?«

»Weiß ich nicht. Hat sie mir nie verraten. Sie sagte, ich soll das selbst erleben und würde es dann verstehen.«

Martha nickte stolz. »Kluge Worte von Ihrer Alten. Das Weib klingt interessant. Ich stimme ihr zu. Na, dann zaubern sie dieser alten Frau mal ein weiteres Lächeln aufs Gesicht und kommen Sie endlich.«

Die beiden schlenderten durch die Hauptstraße, aber sehr viel los war hier ebenfalls nicht. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei oder man traf andere Fußgänger, aber von lebhaft konnte kaum die Rede sein.

Hier im Herzen der Kleinstadt konnte man in einem kleinen Supermarkt einkaufen gehen, im Fitnessstudio seine Traumfigur erreichen oder sich in der Apotheke seine Medikamente holen. Die meisten Geschäfte, die Little Shine so zu bieten hatte, waren hier angesiedelt. Lediglich die Arztpraxis und die Detektei selbst lagen etwas abseits. Noah war wirklich überrascht, wie klein die ganzen Läden wirkten. New York hatte zwar auch ein paar kleine Geschäfte, doch dafür gab es viel mehr Auswahl. Man konnte sich dort sogar zwischen zwei Bäckereien in derselben Straße entscheiden. Doch hier kannte man diesen Luxus wohl nicht. Selbst der Supermarkt sah von außen nicht gerade groß aus.

»Ist das diese Bar mit dem netten Mann, den Sie so mögen?«, fragte Noah und zeigte auf ein steinernes Gebäude im Herzen der Hauptstraße. Sie versuchte, bei ihrer Frage so höflich und dennoch emotionslos wie möglich zu bleiben. Auf keinen Fall wollte sie ihrer Kollegin zu nahe kommen. Nach zwei Tagen hatte sie zwar schon gelernt, dass Martha einem fast gar nichts übelnahm, aber Vorsicht war immer besser als Nachsicht.

»Genau, das ist die Bar von Vince. Kommen Sie mit, ich habe Hunger!« Martha nahm Noah am Arm und zog sie ins Gebäude.

Die Bar war im Industrial-Stil eingerichtet und eher dunkel, doch das Licht der ganzen Lampen schaffte eine gemütliche Atmosphäre. Es war zwar etwas stickig, doch von allen Seiten kam der Geruch von köstlichem Essen. Zur Mittagszeit war hier viel los, doch Martha und Noah hatten noch einen letzten freien Tisch gefunden, an den sie sich setzen konnten. In dieser einzelnen Bar waren fast mehr Menschen als auf der kompletten Hauptstraße.

Martha schlug ihre Hände auf den Tisch und sah Noah gespannt an. »Und, schon einen gekauft?«

»Einen was?«, fragte Noah verwirrt.

»Was wohl? Einen Hut!«, schrie die alte Texanerin euphorisch.

»Einen Cowboyhut?« Ihre Gesprächspartnerin nickte aufgeregt. »Ich bin nicht so der Typ für solche Dinger, schätze ich.«

»Dann haben Sie nur noch nicht den richtigen Hut gefunden. Das hat ja auch noch Zeit, anderes Thema. Was sagen Sie? Wie finden Sie es hier?«

»Die Bar? Die hat was. Ungewohnt, aber es wirkt sehr einladend«, meinte Noah und schaute sich noch einmal in der Bar um. Ein paar ältere Menschen blickten interessiert zu ihr hinüber, als wäre sie Frischfleisch.

»Doch nicht die Bar! Sind Sie immer so schwer von Begriff? Okay, die Bar natürlich auch, aber ich meine Little Shine!«

»Es ist nicht mein gewöhnliches Umfeld, sagen wir es so. Das ist eine große Umgewöhnung für mich, aber ich werde mich hier schon zurechtfinden, schätze ich. Muss ich ja«, erklärte die Frau freundlich.

»Das kann ich mir vorstellen. Sie sind es bestimmt gewohnt, in einem riesigen Superstore alles zu finden, was sie brauchen. Hier muss man sich mit dem Kram aus Ginas Laden zufriedengeben oder hoffen, dass sie es bestellen kann … und, dass es auch lieferbar ist. Das Leben in Little Shine ist simpler als das in der Stadt, darauf müssen Sie sich auf jeden Fall einstellen. Nicht unbedingt ein einfacheres Leben, aber ein simpleres Leben.«

»Verstehe, also dieser Gina gehört dann bestimmt dieser kleine Laden hier um die Ecke, richtig? Der Supermarkt? Das wird auch eine Umstellung, plötzlich muss ich mir die ganzen Namen der Menschen merken«, lachte Noah.

»Ja, das wäre nicht schlecht. Ich bin übrigens Martha, falls Sie es schon vergessen haben«, meckerte Martha humorvoll, wodurch Noah ihre Mundwinkel leicht nach oben schob.

Nach ein paar Minuten kam ein älterer Mann an den Tisch, der sofort von Martha mit gierigen Augen betrachtet wurde. »So, tut mir leid Martha, etwas stressig heute.« Erst jetzt bemerkte er Noah und schaute sie freudig an. »Oh, hallo. Auch eine Entschuldigung an Sie, ich bin Vince, mir gehört diese Bar hier.« Er streckte ihr die Hand hin.

Noah nahm sie freudig an und schüttelte ihm die Hand. Vince war ein großer älterer Mann mit einer Halbglatze. Unter seiner weißen Schürze trug er ein schwarzes Hemd, das ihn sehr formell wirken ließ. Seine Haltung war etwas gebückt und er hinkte etwas mit dem linken Bein, doch für Noah war er in seinem Alter noch überraschend fit.

»Macht nichts, ich sehe ja auch, wie viel hier los ist. Nett, Sie kennenzulernen, Vince. Ich bin Noah Perry, ich arbeite seit gestern mit der lieben Martha hier.« Kaum hatte Noah das gesagt, wurde Martha ganz rot und schaute den älteren Mann ganz unschuldig an.

»Oh, Sie sind also die neue Ermittlerin! Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Als Entschuldigung für die Verspätung und als Willkommensgeschenk in Little Shine geht euer beider Essen heute auf mich. Also, was soll es sein?«

»Wie geil! Danke! Für deine Lieblingskundin bitte das Übliche, wieder einen deftigen Sloppy Joe!«, meinte Martha und ihr lief beim Aussprechen des Namens schon sichtlich das Wasser im Mund zusammen.

»Ich auch bitte. Und vielleicht kann ich so eine nette Geste irgendwann erwidern«, fügte Noah an. Sie wusste nicht genau, was ein Sloppy Joe war, doch man konnte es ja mal ausprobieren. Neue Stadt, neue Dinge. Sie war viel aufgeschlossener als in ihrer Vorstellung. Das konnte nicht gut ausgehen. Vielleicht sollte sie doch eine andere Sache von der Karte bestellen? Nein, die Bestellung jetzt noch zu ändern, das käme komisch. Pech gehabt.

Vince nickte und ging in die Küche hinter den großen Tresen. Während die beiden Kolleginnen auf das Essen warteten, unterhielten sie sich und hatten bei ihrem Aufenthalt in der Bar viele witzige Momente. Martha hatte eine Art an sich, bei der man einfach immer wieder Gefahr lief, plötzlich loszulachen. Noah hatte noch nie so viel Spaß mit einer Kollegin gehabt. Als es etwas ruhiger wurde, sprach sie endlich etwas an, das sie am liebsten schon heute Morgen erwähnt hätte.

»Darf ich Sie was fragen, Martha? Bessert sich Bloom noch? Ich finde das schon recht unfair und auch ein bisschen respektlos, wenn er mich einfach im Büro zurücklässt und sich nicht mehr als nur einen halben Augenblick mit mir befassen will. Er soll mein Partner sein und ich habe ihn an zwei Arbeitstagen nur fünf Minuten gesehen, wenn es hochkommt. Hätte ich Sie nicht, wäre ich vermutlich schon längst wieder weggezogen.«

»Ich wünschte, ich könnte Sie jetzt anlügen, aber schwindeln kann ich nicht so gut. Was glauben Sie, warum ich sonst immer die Wahrheit einfach so rausposaune, als hätte ich nichts zu verlieren?«, sagte Martha lachend. Aber als sie sah, dass es Noah wirklich ernst war, stellte sie das Lachen ein. »Er braucht vermutlich auch seine Zeit«, versicherte sie herzlich.

»Ich sehe aber nicht ein, ihm diese Zeit zu geben. Martha, Sie sind wirklich nett, aber ich bin nach Little Shine gezogen, um meiner Arbeit nachzugehen. Es kann nicht sein, dass ich für ihn einfach unsichtbar bin, sollte er mich nicht anlernen?«

»Schätzchen, ich weiß, Henry ist sehr, sehr, sehr schwierig. Er kann nicht so gut mit Menschen umgehen und er braucht einfach ein bisschen Zeit und Pflege, aber das ist er wert. Versprochen.«

»Ich wusste gar nicht, dass mein neuer Partner eine Topfpflanze ist«, meinte Noah.

»Ich glaube, es ist kein Zufall, dass sein Nachname Bloom ist.«

Jetzt fingen beide wieder an zu lachen, doch Noah hörte rasch wieder auf.

»Ist alles okay?«, fragte die alte Frau etwas besorgt. Natürlich hatte sie das Verhalten von Noah nur zu gut beobachtet. Sie wäre keine gute Detektivin, wenn ihr das nicht aufgefallen wäre. Auch wenn sie in ihrem Alter eigentlich nur noch Schreibtischdienst hatte, Martha verstand etwas von ihrem Fach.

»Es ist nur seltsam.«

»Was denn?«

»Mit einer Kollegin so lachen zu können. Ich habe mir eigentlich geschworen, in Zukunft keine besondere Bindung in meinem Arbeitsumfeld aufzubauen. Das ist schon einmal nicht gerade … gut ausgegangen. Und wir kennen uns noch nicht so lange und schon passiert es wieder.«

»Ich nehme das Kompliment einfach mal dankend an«, grinste Martha. »Hör mir zu, Liebes. Nichts wird passieren, wenn man nett zu Kollegen ist. Freundschaft tötet nicht.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Hinter diesen Worten versteckt sich bestimmt eine Story, die ich eines Tages gerne mal hören würde. In kompletter Form und dann auch aus Ihrer Sicht.«

»Was meinst du damit?«, fragte Noah erschrocken. Ihr fiel auf, dass sie Martha versehentlich geduzt hatte. Ihre Kollegin schien es aber kein bisschen zu stören.

»Nichts.« Martha grinste wieder. »Ich weiß nur, dass jeder eine zweite Chance verdient.« Sie nahm Noahs Hände. »Aber zurück zum Thema: Ich habe das heute erkannt, also ich habe das in dir gesehen. Du kannst auch witzig sein, wenn du es willst. Oder besser gesagt, wenn du es zulässt. Vielleicht irre ich mich auch, aber du kommst mir nicht so vor wie die formale Anstandsdame, die du vorgibst, zu sein. Vielleicht sind wir noch nicht so gut befreundet, damit ich dir das sagen kann … aber sei einfach du selbst. Niemand wird dich in Little Shine dafür köpfen, wenn du mal Witze auf der Arbeit reißt. Schlimmer als ich kannst du nun wirklich nicht sein und mich hält man hier auch aus. Versprichst du mir, dass du es versuchst?«

»Okay. Aber nur, weil ich so eine tolle Kollegin habe. Ich habe selten so eine coole alte Frau gesehen wie dich«, lachte Noah und Martha riss den Mund auf.

»Alt?!«

»T-tut mir leid, ich wollte dich nicht-«

»Wenn du dich jetzt dafür entschuldigst, dass du eine alte Hexe alt genannt hast, dann verpass’ ich dir eine. Ich hab’s dir doch gerade erklärt. Sei du selbst. Rede so wie du, benutze deine eigenen Wörter und trage auch die Konsequenzen dafür. Nur bei Bloom solltest du da vielleicht vorsichtiger sein als bei mir, Lol.

»Hast du gerade Lol gesagt?«

»Ne, das war die andere Person, die hier bei dir sitzt. Natürlich war ich das!«

Erneut brachen sie in Gelächter aus und da Vince kam mit den Burgern zurück. »Habt ihr Hübschen etwas von Sam gehört? Ich weiß, er fährt heute in den Urlaub, er hat aber seine Bestellung für die Fahrt nicht abgeholt«, fragte er und stellte den beiden Frauen die Burger auf den Tisch. Noah realisierte jetzt erst, was für einen Saustall an Essen sie da bestellt hatte.

»Nein, ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen. Sie, Perry? Den, der gestern das Schild vor der Detektei angebracht hat?«, meinte Martha und Noah schüttelte den Kopf.

»Okay, wird schon nichts sein. Vielleicht holt er es einfach später. Guten Appetit euch beiden!« Vince klopfte Martha auf die Schulter, die sofort wieder rot wurde. Er lächelte die beiden noch kurz an und ging dann zu den anderen Gästen.

Eigentlich war solches Essen überhaupt nicht das, was Noah schmeckte. Halbwegs elegantes Sushi war schon eher ihre Richtung, doch dieser Sloppy Joe war vermutlich das Leckerste, das sie seit einer langen Zeit gegessen hatte. Sie musste sich aber wirklich überwinden, in das tropfende Hackfleisch zwischen den zwei Brötchen zu beißen. Irgendwann hatte ihre Bluse sogar ein bisschen Fett abbekommen, doch es schien sie nicht zu stören. Früher wäre es ihr so peinlich gewesen, dass sie sofort zu den Toiletten gerannt wäre und panisch versucht hätte, den Fleck mit unzähligen Papierhandtüchern wegzubekommen. Doch jetzt war es ihr eigentlich echt egal. Sie hatte Spaß und das wollte sie jetzt nicht zunichtemachen. Die beiden saßen den ganzen Nachmittag in der Bar und unterhielten sich. Die Zeit verging wie im Flug. Es war einfach schön.

Irgendwann kamen zwei Personen mit weißen Kitteln in die Bar und schauten sich genervt im Gebäude um, während sie am Tresen warteten. Die Gespräche der anderen Gäste verstummten, als sie die zwei Besucher sahen. Alle blickten nur noch skeptisch von ihrem Essen oder den Getränken auf.

»Was ist denn jetzt los?«, flüsterte Noah ihrer Kollegin zu.

»Die arbeiten bei New Infinity. Das ist los. Hast du bestimmt schon mal gehört.«

»Ja, natürlich. Dieser Raketenkonzern, der bald ein paar Touristen ins All fliegen lassen will. Sucht man im Internet nach Little Shine, findet man nichts anderes. Aber warum sind alle so böse auf sie? Ist das nicht die perfekte Werbung für dieses Städtchen?«

»Sehe ich auch so. Aber leider denken da die meisten anders. Sie sind Fremdlinge.«

»Fremdlinge? Was bin ich dann? Warum werde ich nicht so seltsam angesehen?«

»Weil du hier mit mir bist. Ich bin Gesellschaft«, zwinkerte Martha schelmisch. »Nein, ernsthaft. Aber du siehst nicht so aus, als wärst du aus der Zukunft und würdest eine große Verschwörung planen.«

»Eine Verschwörung. Echt jetzt? Das glaubt man?«

»Little Shine ist ein besonderer Ort. Hier ist jeder willkommen. Wirklich, jeder. Doch sobald die Einheimischen glauben, dass du die Weltherrschaft oder keine Ahnung was an dich reißen willst, ist man unten durch. Klar, ist übertrieben ausgedrückt, aber verstehst du, worauf ich hinaus will? Auf Veränderung steht man hier nicht so. Oder Reiche. Davon gibt es die Straße hoch schon genug. New Infinity will Little Shine verändern und hat viel Geld. Schlechteste Kombination, um hier überleben zu wollen. Also, so wirklich.«

»Aber das ist doch der Konzern? Was können die Mitarbeiter dafür?«

»Du solltest dir eine Sache merken, wenn du in dieser Welt nicht zerbrechen willst: Wenn es um Hass geht, gibt es keine Logik. Oder logisches Denken. Oder Denken.«

»Haut ab!«, schrie plötzlich ein alter Mann rüber zum Tresen. »Wollt ihr die Bar auch noch revolutionieren, hm? Nicht steril genug für eure sauberen Arschbacken?« Auf seinen Kommentar bekam er wahnsinnig viel Zuspruch von den anderen Gästen, doch die zwei Menschen in den Laborkitteln reagierten überhaupt nicht und brachten ein gebrochenes Lächeln heraus, als Vince endlich Zeit für sie hatte.

»Der Chef von New Infinity ist übrigens gar nicht so übel. Etwas seltsam, aber er ist kein böses Mastermind. Ist ein alter Kumpel. Okay, eher ein Bekannter …«

»Echt jetzt?«

»Ja. Und bin ich etwa ein böses Mastermind?«

»Ja.«

»Guter Konter.« Martha lächelte leicht. »Übrigens, mein Sohn – ja, auch wenn ich so jung aussehe, habe ich einen Sohn – hat sich auch bei dem Programm angemeldet. Er wollte schon immer Astronaut werden.«

»Tatsächlich?«, fragte Noah überrascht, während die zwei Angestellten von New Infinity mit ihrer Bestellung die Bar verließen. »Na dann, hoffen wir mal, dass er genommen wird!« Sie hob ihr Glas und stieß mit Martha an. »Astronaut. Wie aufregend!«

»Hier seid ihr!«, riss sie eine empörte Stimme aus ihren Gedanken. Plötzlich stand Bloom vor dem Tisch und starrte die beiden mit einem Todesblick an.

»Ja? Hier sind wir?«, äffte Martha verwirrt nach.

»Warum sind Sie beide hier? Die Detektei hat noch nicht geschlossen und dennoch ist sie leer!«, schnaubte er.

»Jetzt komm mal runter, Henry. Das hast du dir schön selbst zuzuschreiben«, fing Martha an. »Hättest du deine neue Partnerin nicht wie Dreck behandelt, wäre sie vielleicht auch geblieben. Sie ist wirklich nett, aber du machst dir ja nicht einmal die Mühe, sie besser kennenzulernen. Außerdem weißt du genau, dass freitags schon tote Hose war, als du noch nicht mal hier gearbeitet hast! Ich habe am Freitag schon zugemacht, da hast du noch in Windeln geschissen.«

»Ich habe Sie angestellt, um zu arbeiten! Und dann schleppst du sie an ihrem zweiten Arbeitstag in die Bar! Martha, selbst für dich ist das unterste Schublade! Du weißt, was sie gema… du weißt, was ich meine!«

»Mr. Bloom, ich würde ja gerne arbeiten, aber Sie geben mir ja keine Chance dazu.«

»Was soll das denn bedeuten? In Little Shine gibt es eben nicht so viele Fälle, jetzt stellen Sie sich nicht so an!«, quiekte er.

»Warum haben Sie mich nicht mitgenommen zu ihrem Fall? Als Detektiv kann man immer eine helfende Hand gebrauchen und ich hätte Little Shine besser kennengelernt. Zumindest besser als von einem dreckigen Schreibtisch aus. Selbst wenn ich nur lautlos neben Ihnen gestanden hätte.«

»Was bilden Sie sich überhaupt ein?! Denken Sie etwa, ich kann so einen lächerlichen Fall nicht alleine lösen?!«

Mittlerweile starrte jeder zu dem Tisch hinüber. Martha wollte sich immer wieder einmischen, doch sie hatte keine Chance, sich einzuklinken.

»Das habe ich nicht gesagt. Sie verdrehen komplett die Tatsachen, ich meine … okay, ich habe genug davon«, ließ Noah genervt aus sich heraus. »Ich bin aus New York gezogen, um einen Neustart zu wagen. Sehr lange bin ich hier noch nicht, vielleicht ist das einfach mein Probe-Neustart vor dem richtigen Neustart. Jedenfalls habe ich keine Lust mehr. Wissen Sie was? Ich habe etwas gelernt, ich soll ich selbst sein. Ich habe versucht, so formell wie möglich zu sein. Aber wissen Sie, wie Noah tief im Inneren ist?« Sie stand auf, kratzte die Reste vom Hackfleisch von ihrem Teller und warf sie auf Blooms Hemd, das unter dem offenen Mantel zu sehen war. »Hiermit erhalten Sie meine Kündigung. Ich erwarte morgen meine Bezahlung für die letzten beiden Tage. Einen schönen Abend noch, Mr. Bloom.« Sie nahm ihre Tasche und ging damit aus der Bar und ließ alle mit offenem Mund zurück.

Es war noch relativ weit bis zu Noahs Wohnung. Aber glücklicherweise war die Detektei nicht weit entfernt, denn von dort aus kannte sie den Weg zu ihrem Zuhause, darum musste sie sich also wenigstens keine Sorgen machen. Mittlerweile war es Abend geworden und Little Shine erschien relativ dunkel, nur die Straßenlaternen brachten in großen Abständen etwas Licht. Außer ihr war sonst keine Menschenseele in Sicht.

Sie hatte gerade wirklich gekündigt. Sie hatte doch tatsächlich ihren Chef mit Hackfleisch beworfen und ihren Job aufgegeben. Wie konnte sie nur so blöd sein?! Sie wollte hier doch ein neues Leben beginnen, einen frischen Neustart. Hatte sie ja gut hinbekommen. Probe-Neustart?! Was hat sie denn da überhaupt geredet?! Bloom war bestimmt sehr bekannt in Little Shine und wenn sich ihre Aktion rumsprach, konnte sie eigentlich sofort wieder wegziehen. Dabei hatte sie sich gerade an dieses Städtchen gewöhnt und sogar angefangen, Gefallen daran zu finden … und wer würde sie denn jetzt noch einstellen? Mit ihrer Vergangenheit und mit ihrer jetzigen Aktion gerade?

Plötzlich hörte Noah Schritte, die immer näher kamen. Sie kannte solche Situationen genau. Ein Musterbeispiel, wie aus dem Lehrbuch. Schnell kramte Perry in ihrer Tasche nach dem Pfefferspray, das sie sich kurz vor ihrer Ankunft in Texas gekauft hatte und ging in Position. Durch die nächste Straßenlampe ein paar Meter vor ihr konnte sie dann sehen, wer auf sie zuging: eine Frau mit Kinderwagen. Erleichtert packte sie das Pfefferspray wieder weg und ging weiter. Als die beiden sich dann gegenüberstanden, begrüßte Noah die Frau freundlich und wollte weitergehen, doch die Frau mit dem Kinderwagen blieb stehen.

»Hallo! Sind Sie zufällig Noah Perry? Die Frau, die in der Detektei angefangen hat?«, fragte die Frau interessiert.

»Kann man so sagen, ja«, sagte Noah peinlich berührt. »Woher wissen Sie das?«

»In Little Shine machen die kleinsten Veränderungen ganz große Runden. Was gibt es Spannenderes als eine neue Einwohnerin, die auch noch Detektivin ist? Und auch noch so hübsch, soweit ich das hier in dem Licht sehen kann? Ich kenne Sie nicht, also müssen Sie wohl diese Noah sein.«

Noah wünschte, die Frau besser sehen zu können, doch da sie genau zwischen zwei Straßenlaternen standen, konnte die Detektivin nur grobe Umrisse erkennen.

»Danke. Aber Sie scheinen auch nicht von schlechten Eltern zu sein. Wer ist dieser kleine Racker da in dem Kinderwagen?« Beide blickten zum großen Kinderwagen, den die Frau rasch zu sich zog.