4 Nächte - Fürchte die Dunkelheit - Ben Escher - E-Book
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4 Nächte - Fürchte die Dunkelheit E-Book

Ben Escher

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Beschreibung

Der Wald befreit Körper und Seele. Doch nicht in diesem Camp

4 Nächte müssen der junge Anwalt Marc und sein Bruder Jens mit Kollegen im Wald verbringen. In der Abgeschiedenheit der Natur sollen sie unter Aufsicht eines Outdoortrainers zu innerer Ruhe finden, ihre Leistungsfähigkeit erhöhen und nebenbei Burn-Out-Prävention betreiben, während sie tagsüber wie gewohnt im Büro arbeiten. Doch das Training ist so hart, dass Jens schon in der ersten Nacht zusammenbricht und in ein Krankenhaus muss. Marc ist besorgt, denn sein Bruder behauptet, jemanden im Wald gesehen zu haben. Dann wird in einer weiteren Nacht ein Mann von Pfeilen durchbohrt und stirbt. Spätestens jetzt ist Marc klar, dass »Zurück zur Natur« in diesem Fall nur eins bedeutet: den Tod.

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Seitenzahl: 432

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressum9 Uhr – noch zwölf Stunden bis zur ersten NachtErste NachtZweite NachtDritte NachtVierte NachtEpilog

ÜBER DAS BUCH

Der Wald befreit Körper und Seele. Doch nicht in diesem Camp. 4 Nächte müssen der junge Anwalt Marc und sein Bruder Jens mit Kollegen im Wald verbringen. In der Abgeschiedenheit der Natur sollen sie unter Aufsicht eines Outdoortrainers zu innerer Ruhe finden, ihre Leistungsfähigkeit erhöhen und nebenbei Burn–Out–Prävention betreiben, während sie tagsüber wie gewohnt im Büro arbeiten. Doch das Training ist so hart, dass Jens schon in der ersten Nacht zusammenbricht und in ein Krankenhaus muss. Marc ist besorgt, denn sein Bruder behauptet, jemanden im Wald gesehen zu haben. Dann wird in einer weiteren Nacht ein Mann von Pfeilen durchbohrt und stirbt. Spätestens jetzt ist Marc klar, dass »Zurück zur Natur« in diesem Fall nur eins bedeutet: den Tod.

ÜBER DEN AUTOR

Ben Escher ist das Pseudonym eines preisgekrönten deutschsprachigen Thrillerautors. Er arbeitete unter anderem als Journalist und Werbetexter, bevor er begann, seine Leidenschaft für düstere, psychologische Geschichten im Schreiben von Thrillern auszuleben. Heute pendelt der begeisterte Hobbykoch und -musiker zwischen Stadt und Land, bevorzugt mit der Bahn.

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

 

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: René Stein, Kusterdingen

Umschlaggestaltung: Kristin Pang

Einband-/Umschlagmotiv: © andreiuc88 / AdobeStock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4216-0

luebbe.de

lesejury.de

 

Sie streiten wieder.

Mutter bittet Vater, leise zu sein, doch er will nicht hören. Sie haben beide getrunken. Es fängt an, wenn sie ihn ins Bett schicken. Früher ging seine Mutter mit ihm nach oben, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben, doch seit einiger Zeit bleibt sie auf der Couch sitzen, und er holt sich seinen Kuss selbst ab. Heute haben sie früher als sonst zu trinken begonnen, also hat er darauf verzichtet.

Sie streiten nicht ständig. Meist unterhalten sie sich anfangs nur, manchmal lachen sie auch laut. Mit der Zeit wird seine Mutter immer ruhiger, während sein Vater zu poltern beginnt. Und später in der Nacht verwandelt sich seine Energie in Wut.

Es geht um das Haus, so viel glaubt er zu verstehen. Warum das Haus ein Problem ist, kann er nicht sagen. Er ist fünf und bildet sich ein, klug für sein Alter zu sein. Aber was sie reden, ergibt für ihn keinen Sinn. Es ist doch ihr Haus, oder etwa nicht? Die Vorstellung, dass jemand anderes hier wohnen könnte, erscheint absurd. Doch scheinen sich die Auseinandersetzungen genau darum zu drehen. Seit ein paar Nächten lässt ihn der Gedanke nicht mehr los. Seine Eltern wollen das Haus weggeben. Und er weiß nicht, warum, aber er hat das sichere Gefühl, dass es an ihm liegt. Immer wieder fällt auch sein Name in all dem Geschrei.

»Was ist mit dem Jungen?! Er ist dir wieder völlig egal!«

Seither schläft er nicht mehr richtig, sondern ist immerzu wachsam. Er träumt davon, dass seine Eltern in einem Auto sitzen, das auf einen Abgrund zurollt, während er versucht, es aufzuhalten.

Seine Eltern wissen nichts davon. Er will ihnen nicht sagen, dass er nicht schläft. Wer weiß, was das auslösen würde. Was immer die beiden beschäftigt, erscheint so schon kompliziert genug. Die Lage hat sich in letzter Zeit zugespitzt, jeden Morgen stehen mehr leere Flaschen auf dem Wohnzimmertisch.

Also kuschelt er sich an den zerschlissenen Teddy, den sein Vater ihm geschenkt hat. Seine Mutter wollte zuerst nicht, dass er ihn bekommt. Sie hat seinem Vater unterstellt, er hätte ihn irgendwo im Müll gefunden. Und tatsächlich stand an einem Arm das Innenfutter heraus. Seine Mutter musste die Naht erst erneuern. Doch seither ist dieser Teddy sein treuer Begleiter. Die Geschenke der Mutter liegen in einer Ecke, manche noch nicht einmal richtig ausgepackt. Geschenke, die in letzter Zeit in immer größeren Kartons kamen – auch darüber streiten seine Eltern.

Er will die Auseinandersetzung im Wohnzimmer wie immer ignorieren, doch als etwas klirrend zu Bruch geht, versteht er, dass heute etwas anders ist. Sein kindlicher Instinkt sagt ihm, dass es nicht so weitergehen wird wie bisher. Und da trifft er eine Entscheidung, die sein Leben verändern wird. Er steht auf und schleicht sich ins Wohnzimmer, gerade in dem Moment, als es weitere Scherben gibt und die Sache endgültig aus dem Ruder läuft.

 

»Was denkst du? Meinst du, es ist das Richtige für ihn?«

»Ich glaube schon. Du siehst doch, wie er kämpft. Er war zu lang damit allein.«

»Er wird sich dagegen wehren.«

»Ja. Aber er wird auch einsehen, dass es die beste Lösung ist.«

»Vielleicht, kurzfristig. Aber wird er durchhalten?«

»Wir müssen es versuchen.«

»Er ist nicht so belastbar. Nicht wie andere. Die Vergangenheit wird irgendwann hochkommen.«

»Das kann auch so passieren.«

»Ja, aber wenn er Stress hat …«

»Es ist die beste Lösung, du wirst sehen. Alles wird gut gehen.«

»Er darf nie davon erfahren, dass wir dahinterstecken.«

»Wird er nicht. Von mir erfährt er nichts. Wenn du es ihm nicht erzählst …«

»Nein.«

»Dann ist alles gut. Er schafft das.«

»Hoffentlich.«

9 UHR – NOCH ZWÖLF STUNDEN BIS ZUR ERSTEN NACHT

Die Lifttür schließt sich und Marc lehnt sich dagegen. Er nimmt ein paar tiefe Atemzüge, um sich zu beruhigen, während der Fahrstuhl sich in Bewegung setzt.

Drei Sekunden einatmen, eine Sekunde anhalten, vier Sekunden ausatmen, zwei Sekunden anhalten.

Die Atemübung stammt aus dem Yoga, er hat gelesen, dass sie die Konzentrationsfähigkeit erhöht, doch er nutzt sie in letzter Zeit ausschließlich dazu, um Stress abzubauen.

Der Mann ist ihm bis in die Eingangshalle gefolgt. Er will das Geld, das Marc nicht mehr hat. Marc hat den Fahrstuhl im letzten Moment erreicht.

Es ist egal, jetzt ist er hier. Er hat den ersten Schritt in ein neues Leben getan. Er hat eine zweite Chance bekommen und wird sie nicht vergeuden.

Danke Jens. Das vergesse ich dir nie.

Nach vier Zyklen der Atemübung beruhigt sich sein Puls. Er nimmt sein Handy aus der Tasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. In der Rechten hat er die Ledertasche, die er gestern noch gekauft hat. Sie schien ihm zu seinem blauen Sakko zu passen. Noch ist sie leer, bis auf eine Tupperdose, einen Notizblock und zwei Kugelschreiber. Der Lift verlangsamt seine Fahrt und spuckt ihn im dreißigsten Stock aus, wo ihn gleißendes Sonnenlicht erwartet. Vor ihm liegt ein leerer Korridor, an dessen Ende sich eine bodentiefe Glasfront befindet, die einen atemberaubenden Blick auf die Skyline der Stadt freigibt. Zwischen den Glasfassaden der benachbarten Gebäude klafft eine Lücke, in der tief die Sonne steht.

Er hebt den Arm, um seine Augen zu beschatten, und nimmt einen tiefen Atemzug. Die Luft ist erfüllt von einem Reinigungsmittel, riecht für ihn aber mehr nach Freiheit als Gebirgsluft. Dann betritt er die Räumlichkeiten der Kanzlei.

Marc hat erwartet, eine Rezeption vorzufinden, wo er sich anmelden kann, doch wenn sie existiert, muss sie sich in einem anderen Stockwerk befinden. So tappt er den Flur entlang und versucht, durch Milchglastüren in die Büros zu spähen. Die Namen auf den Schildern daneben kennt er nicht. Eine der Türen steht offen, dahinter sieht er einen Drachenbaum. Kein Mensch ist zu sehen.

Er widersteht der Versuchung, »Hallo« zu rufen. Er würde wie ein unsicherer Neuling klingen, und das wäre unpassend. Er gehört jetzt hierher. Den Vertrag hat er vorgestern eilig unterschrieben, Junior Legal Project Manager lautet seine Position. Seit dem Jura-Studium sind ein paar Jahre vergangen, er war mit anderen Projekten beschäftigt – Dingen, die sich nicht so entwickelt haben, wie er das geplant hatte. Manchmal muss man eben Risiken eingehen. Deshalb ist diese Position genau das Richtige: Vierzehn satte Monatsgehälter, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Sicherheit. Hier kann er sich von seinem Abenteuer erholen, sein Leben neu ordnen.

Er kommt zu einer Sitzecke, die direkt an die Fensterfront grenzt. Als er hinuntersieht, erfasst ihn ein kurzer Schwindel. Er hält Abstand zum Glas und wendet sich nach links, wo er neben einem der Büros den Namen Erler liest. Er klopft und betätigt die Türklinke. Die Tür ist nicht verschlossen.

Dafür sieht er, dass die Tür des Nebenraums nur angelehnt ist.

Nach kurzem Zögern drückt er sie auf. Es handelt sich nicht um ein Büro, sondern um einen Besprechungsraum. Marc fragt sich, warum diese Räume auf der ganzen Welt gleich aussehen, weiß und kahl, mit Projektionsflächen, die wie eine Drohung funktionieren: Wehe, du bringst keine Ideen mit, um sie zu füllen!

Während die Leinwand vor den trapezförmigen Tischen, die sich funktional zu Kreisen oder Reihen anordnen lassen, auf das Bild des Projektors wartet, sieht man dem Flipchart an, dass er benutzt wurde. Die aufgeschlagene Seite wartet darauf, beschrieben zu werden, doch es gibt einen ganzen Packen beschriebener Seiten, die einfach über den oberen Rand des Flipcharts geklappt wurden.

Er selbst hatte auch so einen Flipchart in dem zu teuren Büro, das er sich für sein Start-up geleistet hat. Fake it, until you make it, lautete der Ratschlag – tu so, als ob, bis du es hinkriegst. Das Büro musste teuer aussehen, um den Anspruch des Projekts zu zeigen. Dass das auch den wirtschaftlichen Druck erhöht, war einkalkuliert. Ein nicht zu vermeidendes Risiko, aus Marcs Sicht. Die Bank sah das naturgemäß anders, als er um eine Stundung der Kreditraten bat. Der Bankbeamte war in seinem Alter und begann, am Businessplan herumzuschrauben, bis Marc einfach aufstand und ging.

In seinem Büro hat er jedenfalls immer darauf bestanden, jeden Morgen die Blätter vom Flipchart abzureißen und dem Schredder zum Fraß vorzuwerfen. Wenig gibt so viel Aufschluss über ein Unternehmen wie die Dokumente der internen Sitzungen. Alle Schwächen, die man nach außen hin zu verbergen sucht, sind dort offen sichtbar.

Hier scheint man davor keine Angst zu haben. Oder aber, was Marc wahrscheinlicher findet, man ist nachlässiger, als er es war. Traditionsunternehmen wie dieses hier neigen irgendwann zur Schlamperei. Auf Kleinigkeiten wie diese wird weniger Wert gelegt.

Deshalb wäre es auch ungeheuer interessant, sich diese Seiten anzusehen, die da über den Rahmen am Flipchart geschlagen sind. Der Block ist fast verbraucht, es müssen zwanzig, dreißig beschriebene Seiten sein. Undeutlich kann Marc die Spuren bunter Stifte erkennen.

Unschlüssig steht er an der Tür. Die Stille ist wie eine Einladung. Geh hin, sieh es dir an! Selbst wenn ihn jemand dabei erwischt, was soll schon passieren? Niemand scheint den alten Aufzeichnungen Wert beizumessen.

Langsam geht Marc in den Raum und sieht sich unauffällig um, als würde er nur seinen künftigen Arbeitsplatz genauer in Augenschein nehmen. Das ist absurd, weil er ja ohnehin nicht beobachtet wird.

Vor dem Flipchart angekommen, nimmt er einen der Stifte in die Hand. Er ist grün und funktioniert noch, wie Marc feststellt. Zu oft vergessen die Leute, die Kappe wieder aufzusetzen, und die Stifte trocknen aus. Bei ihm ist das die ganze Zeit passiert, und er musste regelmäßig neue kaufen. Hier scheint man darauf besser aufzupassen.

Marc sieht über die Schulter zur halb offenen Tür, hinter der immer noch alles ruhig ist, dann klappt er eines der Blätter herunter. Es ist mit bunten Blasen gefüllt, in denen Namen stehen. Neben einem davon steht »Mandant«. Es muss sich um einen aktuellen Fall handeln. Pfeile verbinden die Blasen, neben einer davon steht ein Paragraf. Hier wurde die Strategie für einen bevorstehenden Rechtsstreit besprochen, nicht besonders interessant.

Marc will schon aufgeben, klappt aber noch ein zweites Blatt herunter. Sein Blick fällt auf ein Wort, das ihn stutzig macht.

Im selben Moment hört er vor der Tür ein Geräusch und schlägt die Blätter schnell wieder zurück. Er legt den Filzstift auf die Schiene des Flipcharts und tapst zurück zur Tür.

Vorsichtig lugt er durch den Türspalt, kann aber niemanden erkennen.

War da wirklich ein Geräusch? Oder hat er sich das eingebildet?

Er tritt auf den Gang, sieht sich noch einmal um, bevor er die Tür schließt.

Die nächsten Stunden werden so voller Überraschungen und neuer Eindrücke sein, dass er das, was auf dem Flipchart stand, wieder vergisst.

 

»Hallo, kleiner Bruder!«

Marc fährt hoch. Er sitzt in einem weich gepolsterten Bürostuhl hinter dem Schreibtisch seines Bruders, hat sich darin zurückgelehnt und sich gefragt, ob hier alle so tolle Stühle haben. Dabei muss er eingenickt sein.

Jens steht in der Tür und blickt sich um. »Bist du allein?«

Marc richtet sich auf. »Ja, warum?«

»Ich dachte, du hättest mit jemandem gesprochen.«

Kurz wirkt sein Bruder verwirrt, dann macht er eine wegwerfende Handbewegung.

»Du bist wirklich hier«, stellt er fest. »Ich dachte, du machst einen Rückzieher. Mister ›Ich bin mein eigener Chef, niemand hat mir etwas zu sagen‹.«

Marc steht auf, und sie fallen einander in die Arme.

»Komm, ich zeig dir dein Büro«, sagt Jens, nachdem sie sich voneinander gelöst haben.

Er führt Marc zur Tür unmittelbar nebenan, an der ein blankes Namensschild hängt.

Das Büro ist etwa halb so groß wie das seines Bruders. Es hat den Charme eines Schauraums in einem Möbelhaus, mit leichten Abnutzungsspuren am Mobiliar. Auf dem Schreibtisch stehen ein verwaister Computermonitor und eine Tastatur ohne dazugehörigen Rechner. In einer Pinnwand aus Kork stecken unterschiedliche bunte Reißnägel.

Marc tritt in die Mitte des Raums und dreht sich einmal um die eigene Achse.

»Zufrieden?«

Marc nickt.

»Du bekommst einen Firmenlaptop«, sagt Jens. »Aber jetzt leg erst mal deine Sachen ab. Du hast einen Termin.«

Sie verlassen das Büro und gehen den Weg zurück zu der Sitzgarnitur und von dort weiter auf die andere Seite der Kanzlei.

»Wie geht es Tamara?«, fragt Jens.

»Gut. Ich soll dich von ihr grüßen.«

»Sag ihr, sie muss sich keine Sorgen mehr machen. Ich passe ab jetzt auf dich auf.«

»Schon gut. Du hast gewonnen.«

Jens zeigt ihm die Toilette, ein Badezimmer mit Dusche, für extralange Arbeitstage oder eine Joggingrunde in der Mittagspause, sowie die Kaffeeküche, wo »die wirklich wichtigen Gespräche geführt werden«, wie er erklärt. An der Wand hängt ein Plakat mit einem Kleinkind darauf, darunter steht ein Spruch geschrieben: Denken Sie an Ihre Kinder, machen Sie einen Ehevertrag! Jens genießt es sichtlich, seinen kleinen Bruder wieder unter seine Fittiche nehmen zu können. Er versuchte schon unmittelbar nach dem Studium, ihn zu sich in die Firma zu holen, doch Marc wollte seinen eigenen Weg gehen. Mit einem Kumpel, der Telematik studiert hatte, gründete er ein Start-up, das eine App für Onlinebroking anbieten wollte – Casual Money nannten sie das Projekt. Doch die App kam nie über ein Prototypenstadium hinaus, und die Investoren wollen nun ihr Geld zurück. Einer von ihnen hat Marc geklagt, er hätte falsche Versprechungen gemacht. Für den Anwalt musste er sich weiter verschulden. Vor vier Wochen war es endgültig vorbei, er nahm die Website offline und kündigte den Mietvertrag des Büros.

Nun ist die alte Rollenverteilung wiederhergestellt. Jens hat seine Genugtuung darüber nicht verborgen, als sie Marcs neuen Job nach der Vertragsunterzeichnung gemeinsam begossen haben. Jens hat ihn in einen Club gezerrt, der Techno spielte und in dem er alle Leute zu kennen schien. Marc hat schon länger nicht mehr Party gemacht, sein Geschäft hat ihn rund um die Uhr in Beschlag genommen. Auf dem Nachhauseweg wollte Jens betrunken über ein Brückengeländer balancieren, zehn Meter über dem Wasser. Marc musste all seine Überredungskünste aufbieten, um ihn davon abzuhalten.

Er wird nun wieder mehr Zeit mit seinem Bruder verbringen. Es könnte schlimmer sein, deutlich schlimmer sogar. Noch ist die Gefahr nicht gebannt, der Mann in der Lobby hat ihn daran erinnert. Als die Bank ihm kein Geld mehr geben wollte, musste Marc sich anderer Kanäle bedienen. Genutzt hat es nichts.

Davon darf Jens natürlich nichts erfahren. Er weiß zwar von den Schulden, aber über das Ausmaß hat Marc gelogen. Auch wenn er es nicht gern zugibt, die Hilfe von Jens kommt ihm wie gerufen. Sein Bruder hat ihm die Haut gerettet.

 

»Guten Tag! Mein Name ist Sandra Arend. Ich bin Psychologin und für die betriebliche Gesundheitsvorsorge zuständig.«

Die blonde Frau im Businessoutfit ist in seinem Alter und strahlt Souveränität aus.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagt Marc. »Ich weiß leider nicht, ob ich Ihnen viel erzählen kann. Heute ist mein erster Tag.«

»Das macht überhaupt nichts. Dieses Gespräch führe ich mit allen neuen Mitarbeitern.«

Sie hat einen Fragebogen vor sich und füllt einige leere Felder aus, Marcs Alter und seine Position im Unternehmen. Einige Fragen zu seiner Arbeit streicht sie durch, dann beginnt sie ihn nach Vorerkrankungen zu fragen und ob er Medikamente nimmt. Er verneint beides.

»Irgendwelche Allergien?«

»Nein.«

»Trinken Sie häufig Alkohol?«

Marc zögert. »Gelegentlich.«

»Und andere Substanzen?«

»Nein.«

Sie nickt und blättert um.

»Muss ich auf alles antworten?«, erkundigt er sich. »Das sind sehr private Dinge.«

»Sie müssen nicht. Aber es geht um Ihre Gesundheit. Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern, dass Ihre Angaben unter Verschluss bleiben. Ich gebe nur meine Einschätzung Ihrer Gesamtsituation weiter.«

»Einverstanden.«

Sie nimmt die Hände vom Fragebogen und lehnt sich zurück, wobei sie ihn mustert. »Und wie fühlen Sie sich heute?«

»Gut. Sehr gut.«

Er meint es ernst. So gut fühlt er sich seit Langem nicht mehr.

»Ausgeruht?«

»Voller Energie.«

»Schlafen Sie nachts?«

»Ich schlafe ausgezeichnet.«

»Gibt es manchmal Tage, wo Sie sich erschöpft, lustlos fühlen?«

»Nie. Ich bin immer voll leistungsfähig und versuche, mein ganzes Potenzial abzurufen.«

Er sieht gleich, dass es zu viel war. Arend hat seine Lüge bemerkt. Normalerweise sieht man es ihm nicht an, wenn er lügt.

Sie wendet sich wieder ihren Akten zu und zieht ein Blatt mit einer Liste von Namen ganz unten aus ihrer Mappe heraus.

»Ich frage, weil Sie sich für das Camp angemeldet haben.«

»Ein Camp?«

Sie zeigt ihm die Liste. Da steht tatsächlich sein Name. »Sie wussten nichts davon?«

»Nein. Worum geht es da?«

»Eine Teambuildingmaßnahme. Es handelt sich um eine Kooperation Ihres Arbeitgebers mit der Universität, an der ich forsche. Dabei soll untersucht werden, wie sich die Natur auf den Stresspegel von Hochleistungsperformern auswirkt. Sie werden abends in einen Wald gefahren und schlafen dort in Zelten. Tagsüber arbeiten Sie normal. Eine Smartwatch ist mit einer mobilen App verbunden und überwacht Ihre Vitalfunktionen.«

»In einen Wald?«, fragt Marc verblüfft.

»Richtig. Die Zahl der Menschen mit stressassoziierten Krankheiten steigt stetig, gerade in Ihrem Geschäft«, fährt sie fort. »Arbeiten im Sitzen, Leistungsdruck, fehlende Bewegung, all diese Dinge bergen gesundheitliche Risiken. Der Wald stellt den natürlichen Ausgleich wieder her, gerade in letzter Zeit wurden viele neue Mechanismen gefunden, wie Wald und Mensch miteinander in Beziehung treten. Ruhe und Dunkelheit sind positiv, aber es kommt auch zum Austausch von chemischen Botenstoffen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Wald zu uns spricht, dafür gibt es wissenschaftliche Belege.«

»Ich habe davon gehört«, gibt Marc zu, auch wenn er noch nicht versteht, was das mit ihm zu tun hat.

»Programme wie dieses sind in letzter Zeit stark nachgefragt, man bekommt schwer Plätze. Nur ausgesuchte Mitarbeiter dürfen mitmachen. Dass Sie noch während der Probezeit akzeptiert wurden, ist außergewöhnlich. Sehen Sie es als Chance.«

»Danke für das Angebot, aber das muss ein Fehler sein«, erklärt Marc schließlich. »Ich habe mich bestimmt nicht angemeldet. Nichts für ungut, aber ich schlafe lieber daheim.«

Nachdem sie das mit einem Nicken zur Kenntnis genommen hat, erklärt sie ihm, dass er immer zu ihr kommen kann, wenn es ein Problem gibt, ganz gleich welcher Art. Außerdem erzählt sie ihm von einem Briefkasten, wo die Angestellten anonym Verbesserungsvorschläge einbringen können. Eine Idee vom Chef selbst, wie sie betont.

Der Chef. Von ihm hat er bereits gehört. Er solle sich in Acht nehmen, hieß es.

»Soll ich Sie von der Liste streichen?«, fragt sie noch, bevor er geht.

»Ich bitte darum.«

 

Marc platzt in das Büro seines Bruders und findet eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren auf seinem Schreibtisch sitzend vor, während Jens in seinem Chefsessel lungert.

»Marc, Brüderchen! Kannst du nicht klopfen?«

Die Frau, die Ende dreißig sein muss und aussieht, als würde sie viel Sport machen, mustert ihn von Kopf bis Fuß.

»Wir sehen uns später«, sagt sie zu Jens und verlässt das Büro, wobei sie sich enger als nötig an Marc vorbeischiebt.

Jens wartet, bis sie die Tür geschlossen hat. »Was kann ich für dich tun?«, fragt er unschuldig.

»Ein Outdoorcamp? Ernsthaft?«

»Ich hatte vergessen, es dir zu sagen. Ich habe dich angemeldet.«

»Warum denn das bitte?«

»Wegen deiner Stressprobleme.«

»Ich habe keine Stressprobleme«, entgegnet Marc.

Sein Bruder bleibt ruhig. »Komm schon, mir musst du nichts vormachen.«

»Du hast mit Tamara gesprochen, nicht wahr? Was hat sie dir erzählt?«

Jens lehnt sich zurück und legt die Beine auf den Schreibtisch. »Reg dich nicht auf. Es ist eine gute Sache. Ich wollte es dir sagen.«

Marc ärgert die Sache mehr, als er zugeben will.

»Nur weil wir jetzt in der gleichen Firma arbeiten, heißt das nicht, dass du mich herumkommandieren kannst wie früher. Ich bin kein kleiner Junge mehr.«

»Schon gut! Sie haben mich gefragt, und ich musste schnell entscheiden. Es beginnt schon heute Abend. Ich bin übrigens auch dabei.«

»Schön für dich. Ich nämlich nicht.«

Marcs Bruder macht ein fragendes Gesicht.

»Ich habe mich abgemeldet«, erklärt Marc.

Jens nimmt die Beine wieder vom Tisch und schüttelt energisch den Kopf, wobei er zum Telefon greift. »Das geht doch nicht.«

»Was soll das heißen?«

Jens hält den Hörer einen Moment lang in der Luft, dann legt er ihn wieder auf.

»Tut mir leid, kleiner Bruder, aber du musst da hin. Das ist die perfekte Gelegenheit für dich! Du kannst deine neuen Kollegen kennenlernen, und ihr könnt euch in Ruhe beschnuppern. Du weißt doch, wie das läuft, Netzwerke sind das Wichtigste. Und es gibt nichts, was einen mehr zusammenschweißt, als gemeinsam in der Wildnis in einem Zelt zu schlafen.«

»Und sich dabei überwachen zu lassen«, ätzt Marc.

Jens ringt die Hände. »Sei doch nicht so negativ, denk an deine Karriere! Ich ruf da jetzt an und sage, dass du es dir anders überlegt hast.«

Er scheucht seinen Bruder mit einer Geste aus seinem Büro.

 

Marcs neuer Chef heißt Josef Badler. Er steht an der Rückwand seines Büros, wo neben Urkunden historische Waffen, Eisenhelme, Ritterschwerter und Musketen hängen – Symbole für die Streitigkeiten, die Anwälte für ihre Mandaten ausfechten. Badler betrachtet sie wie ein Feldherr eine Landkarte mit Truppenbewegungen. Sein Anzug ist etwas zu weit geschnitten, trotz seines Übergewichts, als beinhalte er eine Reserve für weitere Kilos. Jens hat erzählt, er habe die Kanzlei vor gut zwanzig Jahren gegründet, nachdem er sich als Strafverteidiger für Prominente einen Namen gemacht hatte. Ein Dinosaurier, der die Generation Slimfit mit Argwohn betrachtet.

»Herr Erler«, sagt er und bittet Marc mit einem Kopfnicken, Platz zu nehmen, während er sich an seinen Schreibtisch setzt und eine dünne Mappe zur Hand nimmt. »Ich habe hier Ihren Lebenslauf vor mir, der ist in Ordnung. Ihr Bruder spricht in den höchsten Tönen über Sie.« Er blättert durch einige Seiten, bevor er diese wegschiebt und Marc ansieht. »Aber das ist alles Vergangenheit, jeder neue Mitarbeiter startet bei null. Sie müssen sich beweisen, und ich werde mir Ihre Arbeit genau ansehen.«

Er wartet auf eine Reaktion, als wollte er Marc Gelegenheit geben, einen ersten Fehler zu machen.

»Haben Sie damit ein Problem?«, fragt er.

»Überhaupt nicht«, antwortet Marc.

»Gut. Ich brauche verlässliche Leute, es ist schwieriger denn je, welche zu finden. Als ich diese Kanzlei vor zwanzig Jahren gründete, war ich ganz allein. Andere hätten einen Partner genommen, ich nicht. Es ist wichtig, allein bestehen zu können. Sie werden das auch lernen.« Er deutet auf einen Karton mit Ordnern, der neben der Tür steht, durch die Marc den Raum betreten hat. »Das sind die Protokolle von Gerichtsverfahren, an denen ich als Strafverteidiger beteiligt war, als ich in Ihrem Alter war. Sie werden sehen, dass ich alle meine Verfahren gewonnen habe. Jedes davon bedurfte einer anderen Strategie. Sie werden neben Ihrer Arbeit beginnen, sich in diese Fälle einzulesen. Sie können die Sachen gern mit nach Hause nehmen. Es wird nötig sein. Ich will, dass Sie sich überlegen, warum ich erfolgreich war. Wenn Sie damit durch sind, unterhalten wir uns darüber.«

Marc widersteht dem Drang zu widersprechen. Er hat eigentlich nicht vor, seine Abende mit Tamara für den Job zu opfern. Aber Badler gleich zu Beginn vor den Kopf zu stoßen scheint keine gute Idee zu sein.

»Und noch etwas: Scheitern scheint neuerdings en vogue zu sein, die Leute probieren sich aus, aber nicht bei uns. Wir arbeiten nach den höchsten Qualitätsansprüchen. Hat Sie jemand über unseren Feedbackkasten aufgeklärt?«

»Frau Arend hat mir davon erzählt.«

»Niemand ist von diesem Anspruch ausgenommen, auch ich nicht. Wir streben ständig nach Verbesserung. Ich habe diese Maßnahme eingeführt, damit wir noch besser werden können. Wenn Ihnen also etwas auffällt, das optimiert werden könnte, äußern sie das direkt und ohne Umschweife, selbst wenn es meine Arbeit betrifft. Das ist enorm wichtig. Sie können damit natürlich auch direkt zu mir kommen. Die Idee mit der Möglichkeit, anonym Kritik zu äußern, kam von Frau Arend. Sie sagt, so wäre es leichter. Ich habe das akzeptiert.« Er sieht kurz so aus, als würde er über sein Unternehmen nachdenken, wie er so weit gekommen ist. »Ich brauche vollen Einsatz und maximale Verlässlichkeit.«

»Auf mich ist Verlass«, sagt Marc.

»Davon gehe ich aus. Und noch etwas.« Er sieht ihm in die Augen. »Ihr Bruder wird Ihnen nicht helfen. Wenn ich merke, dass Sie sich hinter ihm verstecken, sind Sie hier ganz schnell wieder raus. Sie sind ganz allein, wie ich es damals war. Verstehen Sie?«

Marc nickt.

»Gut. Willkommen im Team.«

Badler entlässt ihn mit einer Geste. Als Marc zur Tür geht, dreht er sich noch einmal nach der drapierten Waffensammlung um. Und da erkennt er, was Badler vorhin so innig angestarrt hat: eine Urkunde über die Zuerkennung der Ehrendoktorwürde einer russischen Universität. Nun erinnert er sich: Badler will mit »Herr Doktor« angesprochen werden. Jens hat ihn beschworen, es nicht zu vergessen.

 

Nach dem Gespräch mit seinem neuen Chef sitzt Marc nun allein in seinem Büro, einen Stapel Ordner mit Badlers Fällen und einen neuen Laptop auf dem Tisch, mit dem er Kontakte und die Termine für die nächsten Tage synchronisiert. Er hat einen Blick in Badlers Fälle geworfen, ohne sich wirklich darauf konzentrieren zu können. Dann hat er auf seinem Handy einige Videos auf YouTube angesehen und dabei völlig die Zeit aus dem Auge verloren. Er neigt dazu, das Essen zu vergessen. Deshalb hat er die Tupperbox mit dem mitgebrachten Salat geöffnet. Quinoa, Avocado und Spinat. Sie enthalten alles, was der Körper braucht, und sorgen für maximale Leistungsfähigkeit.

Neben dem Salat auf dem Tisch liegt das Buch von Lawrence Lamb, das ihn überallhin begleitet. Marc hat immer skeptisch auf Ratgeberbücher geblickt, die schnellen Erfolg versprechen, doch als er Lambs Buch Der gelassene Manager in die Hände bekam, änderte sich alles. Er las es in einem Rutsch durch und war während der folgenden zwei Wochen kaum ansprechbar. Seither hat er noch weitere Ratgeberbücher gelesen, die sich konkret mit IT-Business beschäftigten, aber keines machte ähnlich Eindruck wie Lambs »Manager«, wie das Werk unter seinen Jüngern genannt wurde.

Lamb stammt aus London, brach mit siebzehn die Schule ab und gründete sein eigenes Start-up. Drei Jahre später war er Millionär, weitere drei Jahre später Milliardär. Als er glaubte, alles erreicht zu haben, was er erreichen wollte, verkaufte er den Großteil seiner Firmenanteile und legte sich eine Insel im Pazifik zu, wo er seither abgeschieden lebt. Inzwischen betreibt er dort Landwirtschaft und erzeugt seine eigenen Biolebensmittel. Die Bücher schreibt er zum Zeitvertreib, um Menschen glücklicher zu machen, wie er sagt. Der Schlüssel zu Glück und Erfolg liege in der Gelassenheit, lautet sein Credo. Glück ohne Erfolg ist eine Lüge, und echter Erfolg ohne Glück eigentlich nicht möglich. Beides muss im Einklang stehen.

Als er zum ersten Mal davon gehört hat, klang es ihm beinah zu esoterisch, aber Lambs Karriere spricht für sich, und so gab Marc ihm eine Chance. Viele Entscheidungen, die Marc im Zusammenhang mit seiner Firma traf, gingen direkt auf Dinge zurück, die er von Lamb gelernt hat.

Sechs Bücher sind es inzwischen, aber das letzte hat Marc nicht mehr zu Ende gelesen. Lamb ist seltsam geworden, inzwischen klingt es fast nach Religion. Er ist auch kaum wiederzuerkennen, mit seiner Glatze und den selbst genähten Kleidern. Alle Lambianer – den Ausdruck gibt es wirklich – sind sich einig, dass der »Manager« das Hauptwerk ist. Eine Reihe erfolgreicher Gründer beruft sich auf ihn.

Die gute Laune von vorhin hat sich erschöpft, der Aktenstapel scheint wie ein Damoklesschwert über ihm zu schweben. Marc rückt ihn zurecht, aber er scheint immer noch wackelig zu sein.

Er hat ein paar der Gerichtsprotokolle durchgeblättert. Badlers Gesprächston scheint sich über die Jahre nicht verändert zu haben, schon als Verteidiger war er sehr von sich eingenommen und hatte keine Scheu, es auch nach außen hin zu zeigen. Wie er trotzdem so erfolgreich sein konnte, ist Marc unbegreiflich.

Durch die Glastür kann Marc sehen, dass es draußen bereits dämmert.

Der Gedanke an eine Nacht im Wald erscheint ihm plötzlich gar nicht so übel.

Er wird für heute Schluss machen. Er muss noch einmal nach Hause, um zu duschen und warme Sachen einzupacken. Irgendwo müssen noch Schuhe mit gutem Profil und eine wasserdichte Jacke sein. Er wird Tamara schreiben, ob sie ihm die Klamotten heraussuchen kann.

Gedankenlos scrollt er durch Instagram und Twitter, als plötzlich die Tür auffliegt und Jens vor ihm steht.

»Bist du bereit?«

»Bereit wofür?«, fragt Marc.

»Es geht los. Wir fahren in den Wald.«

»Aber ich muss noch nach Hause!«

Jens tappt ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Keine Zeit.«

»Ich habe keine passende Kleidung. Und brauchen wir einen Schlafsack?«

»Hab ich alles«, meint Jens.

Marc sieht, dass sein Bruder es ernst meint. »Ich muss noch Tamara Bescheid sagen.«

»Dann mach das. Wir treffen uns in fünf Minuten unten.«

Marc greift zu seinem Telefon und wählt Tamaras Nummer. Sie meldet sich sofort.

»Wie ist es?«, will sie wissen.

»Gut. Ich bin gerade fertig.«

»Dann bestelle ich jetzt das Essen. Wie lang brauchst du?«

Das hat er ganz vergessen, sie wollten zur Feier des Tages bei dem guten indischen Restaurant Essen ordern. Es wird CO2-neutral von Fahrradboten geliefert. Marc wollte noch Wein besorgen.

Er zögert. »Wir müssen das Essen wohl verschieben.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja, es ist wegen Jens …«

»Was ist mit Jens?«

»Er hat mich zu einem Teambuildingcamp angemeldet, aber ich weiß noch nicht, ob ich teilnehme.«

Er erzählt von dem Gespräch mit der Psychologin, dass sie im Wald kampieren sollen.

Tamara wendet ein, dass er doch gar keine Campingausrüstung hat, worauf Marc erklärt, dass Jens ihm das ganze Equipment leiht.

»Das bedeutet, du kommst heute nicht nach Hause?«, fragt sie.

»Ich überlege noch.«

»Wir haben doch darüber gesprochen«, gibt sie zurück. »Lügen aus Rücksicht hilft niemandem. Du überlegst nicht, du hast dich längst entschieden.«

Er widerspricht nicht.

»Vier Nächte?«, fragt sie.

»Vier Nächte. Wenn es für dich in Ordnung ist.«

Ein paar Sekunden ist es still in der Leitung. »Klar. Wenn Jens dich angemeldet hat, ist es bestimmt gut, dass du mitmachst. Die Kollegen kennenlernen.«

»Danke. Du bist die Beste.«

Darauf antwortet sie nicht. Sie verabschieden sich, er verspricht, morgen vorbeizukommen, um passende Klamotten zu holen, und dabei wollen sie sich einen Augenblick Zeit nehmen, um auf den neuen Job anzustoßen. Richtig feiern werden sie dann, wenn er seine erste Lohnabrechnung bekommt.

 

Marcs Knie sind blutig, sein Atem rasselt vom Rennen, doch nichts davon ist von Bedeutung. Er ist elf Jahre alt, bereits zu klug, um noch ein echtes Kind zu sein, und zu jung, um zu wissen, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Sein Bruder ist weiter, er hat bereits erste Erfahrungen mit Mädchen gemacht, was Marc mit kaum zu ertragendem Neid erfüllt. Immer ist sein Bruder ihm ein paar Schritte voraus. Drei Jahre sind es, und Marc wünscht sich, er könnte sie irgendwie aufholen, die Spanne verringern. Doch die Natur ist gegen ihn. Und so wird er weiterhin die Demütigung ertragen müssen, der kleine Bruder zu sein und zuzusehen, wie sein Bruder alles vom Leben bekommt und er nichts.

Heute ist es egal, heute spielen sie, als wären sie Gleichaltrige. Sie laufen in den Wald. Jens behauptet, dort ein verwaistes Baumhaus gesehen zu haben. Jens ist mit seinen langen Beinen vorausgelaufen, und Marc hat Mühe, Schritt zu halten. Er verkneift sich, Jens hinterherzurufen. Es kann nicht mehr weit sein, nur ein paar Minuten von der Straße. Ein Mädchen namens Ruth hat es ihm gezeigt. Marc malt sich diese Szene in den buntesten Farben aus. Ruth ist ein ganzes Jahr älter als Jens und fast so groß wie er.

Marc erreicht einen Graben, der sich quer durch den Wald zieht. Auf der anderen Seite sieht er Äste wackeln, als Jens im Unterholz verschwindet. Marc darf nicht zögern, wenn er seinen Bruder nicht verlieren will. Er rammt die Fersen in den weichen Boden und rennt den Abhang hinunter, kommt ins Rutschen und fängt sich wieder. Er hat den Grund des Grabens, auf dem ein ausgetretener Pfad verläuft, fast erreicht, als er einen Ast übersieht und mit dem Fuß daran hängen bleibt. Marc stürzt und überschlägt sich. Der Aufprall ist dumpf und hart, und Marc glaubt zu spüren, dass er eine Delle im Waldboden hinterlässt. Der Schmerz kommt mit etwas Verzögerung, explodiert wie ein Feuerwerk in seinem Bein. An der Stelle am Schienbein, wo der Ast ihn erwischte, ist eine Schürfwunde, die zu bluten beginnt.

Die Verfolgungsjagd mit Jens ist plötzlich nicht mehr wichtig. Marc hält sich das Bein und bleibt liegen. Leise weint er, mehr aus Kränkung denn aus Schmerz. Vielleicht hätte er doch rufen sollen.

Doch da hört er neben sich Blätter rascheln. Es ist Jens.

»Alles in Ordnung?«

Marc wischt schnell die Tränen ab. »Ja. Ich bin nur ausgerutscht.«

»Du blutest. Tut es weh?«

»Eigentlich gar nicht«, lügt Marc und richtet sich auf.

Das Bein schmerzt, als er es belastet, doch er stellt fest, dass er auftreten kann.

Die Besorgnis von Jens hält nur kurz an. Schon kehrt die Begeisterung in seine Augen zurück. »Es ist gleich da vorne, komm mit!«

Marc nickt und macht probeweise einen Schritt, da rennt Jens schon wieder weiter.

Als Marc den Hang des Grabens erklommen hat, sieht er, dass Jens recht hat. Da vorne ist etwas in einer großen Buche. Jemand hat in vielleicht fünf Metern Höhe eine alte Tür abenteuerlich zwischen die Äste geklemmt, sodass sie einen Boden bildet. Drumherum wurden aus rohen Brettern Wände gebaut.

»Hier, schau!«, ruft Jens, der unter dem Baum steht und eine Strickleiter in der Hand hält, die nach oben führt.

Sieht gefährlich aus, denkt Marc und hofft, dass sein Bruder nicht so dumm ist, da hinaufklettern zu wollen. Doch in diesem Moment setzt Jens auch schon seinen Fuß auf die erste Sprosse.

Als Marc die Strickleiter erreicht, ist Jens bereits oben und verschwindet im Baumhaus. Kurz darauf taucht sein Gesicht wieder auf.

»Worauf wartest du? Sie ist ganz fest, sieh her.«

Jens rüttelt von oben an der Leiter, als ob das irgendetwas beweisen würde. Marc bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls hochzuklettern. Er zwingt sich, nicht nach unten zu sehen, und nach ein paar Sprossen geht es besser.

Als er oben ankommt, macht das Triumphgefühl alle Schmerzen und Ängste wett. Auch Jens scheint es nicht kaltzulassen, auch wenn er wie immer alles hinter einer Maske der Souveränität verbirgt, die nie genau erkennen lässt, wie es ihm wirklich geht.

Eine Weile sitzen sie schweigend da und lassen ihren Atem zur Ruhe kommen. Das Baumhaus ist leer, bis auf eine Kerze in der Mitte, von der Wachs auf das Holz geronnen ist.

»Und hier warst du mit Ruth?«, wagt Marc zu fragen, obwohl er Angst vor der Antwort hat.

Der Blick, den er erntet, ist selbstbewusst, fast herablassend. Heiß durchfährt Marc der Neid.

»Ich habe sie geküsst«, behauptet Jens, als wäre es das Normalste auf der Welt.

»Hast du nicht!«

»Wenn ich es doch sage«, bekräftigt Jens, einen Moment lang ganz in seine Erinnerung versunken.

»Wie hast du … was hat sie …«

Das Unerhörte verschlägt Marc die Sprache. Es kann nicht sein, sein Bruder lügt.

»Es ist ganz leicht, ich kann dir erklären, wie es geht«, sagt Jens.

Marc winkt schnell ab, auch wenn ihn brennend interessiert, was sein Bruder zu sagen hat.

»Morgen gehe ich mit ihr zur Brücke«, fügt Jens hinzu.

»Aber wir dürfen doch nicht zur Brücke!«

Bei Jens klingt es, als wäre es keine große Sache. Doch die Brücke ist für alle Kinder tabu. Über sie donnern Lastwagen, und darunter schläft manchmal ein Obdachloser. Dort würde ohnehin niemand freiwillig hingehen. Dachte Marc zumindest.

»Vielleicht nehme ich dich auch einmal mit dorthin, wenn du größer bist«, sagt Jens.

Die Ankündigung befriedigt Marc in keiner Weise. Er interessiert sich nicht für Dinge, die er machen kann, wenn er größer ist. Davon gibt es schon eine lange Liste, und er ist nicht überzeugt, dass irgendetwas davon jemals passieren wird. Außerdem weiß er nicht, ob er wirklich zur Brücke will.

Auch Ruth kann nicht ernsthaft mit ihm dort hingehen wollen. Jens übertreibt wieder einmal maßlos.

Später wird er ihn noch fragen, ob sie nun fest zusammen sind, und Jens weiß darauf keine Antwort. Sie sitzen noch eine Weile in ihrem neu eroberten Reich, bevor sie die Stimme des Heimleiters aus dem Wald hören und schnell wieder hinunterklettern, bevor es Ärger gibt.

Als sich die elektrischen Schiebetüren öffnen und Marc ins Freie tritt, stehen auf dem Platz vor dem Hochhaus fünf schwarze SUV. Der Himmel ist mit grauen Wolken bedeckt, es dämmert bereits. Der Wind ist kühl, und Marc schließt die Knöpfe seines Sakkos.

Sie sind natürlich doch nicht gleich in den Wald gefahren. Die Abfahrt hat sich verzögert, Jens verschwand noch einmal, um den Grund dafür herauszufinden. Als er zurückkam, berichtete er, dass jemand noch etwas fertig machen musste.

Bei den Fahrzeugen stehen ein knappes Dutzend Leute. Sein Bruder erkennt ihn und winkt ihn zu sich. Sie gehen zu einem der Autos, das nur für sie beide bestimmt zu sein scheint.

»Du hast meine Sachen?«, fragt Marc.

Jens deutet in den Kofferraum, wo Schlafsäcke, eine Sporttasche und Kisten mit Proviant liegen.

Marc bemerkt einen Mann mit einer Kamera, der jemandem am Eingang des Gebäudes zuwinkt. Badler geht gemeinsam mit Arend auf die Wagen zu und begrüßt den Fotografen. Die beiden posieren vor einem der Fahrzeuge und lassen sich ablichten.

»Presse?«, fragt Marc.

Jens nickt. »Er zeigt allen, was er für ein toller Arbeitgeber ist. Die Gesundheit seiner Mitarbeiter steht an erster Stelle …« Der ironische Unterton ist nicht zu überhören.

Da ist das Fotoshooting auch schon beendet, und die anderen steigen in ihre Autos.

»Komm, Brüderchen«, sagt Jens.

Sie steigen hinten ein und nicken dem Fahrer zu. Eine Karawane aus großen Geländefahrzeugen setzt sich in Bewegung, um die nächste Autobahnauffahrt anzusteuern.

Jens fragt, wie das Gespräch mit dem Chef gelaufen ist, und Marc antwortet kurz angebunden.

»Hat er dir auch seine alten Fälle gegeben?«

»Ich hoffe, er erwartet nicht wirklich, dass ich das lese?«

»Gehört dazu, leider. Wenn du hier vorankommen willst, musst du da durch.«

»Wer war die Frau in deinem Büro?«, fragt Marc.

Jens grinst, während seine Gedanken kurz woanders zu sein scheinen. »Veronika, Gruppenleiterin im Controlling. Und bevor deine Fantasie mit dir durchgeht: Nein, da läuft nichts. Zumindest aktuell.«

Neben der Autobahn wird die Besiedelung dünner, Cargo-Zentren und Industriebetriebe lösen die Wohnhäuser ab, und schließlich verschwinden auch sie. Als sie von der Autobahn abfahren, ist dort nur noch dichter Wald.

Marc findet die Idee immer noch seltsam, aber der Anblick des dichten Unterholzes neben der Straße weckt Erinnerungen, und er merkt, wie er sich beruhigt. Ein paar Minuten rumpeln sie über von Schlaglöchern durchsetzte Schotterstraßen, dann lichtet sich der Wald und ein bärtiger Mann mit Mütze und oranger Jacke hebt die Hand. Er tritt an das erste Fahrzeug heran und unterhält sich mit dem Fahrer, um ihnen zu zeigen, wo sie parken können.

Sie fahren weiter und kommen zu ein paar niedrigen Bungalows, den Überresten einer Ferienhaussiedlung. Sie wirken verwahrlost, obwohl die Fenster und Türen intakt sind. Es liegt an den kleinen Bäumen, die nicht weit von den Hauswänden aus dem Boden sprießen und die niemand zurückgeschnitten hat. Hier scheint seit längerer Zeit niemand mehr zu wohnen. Auf einem hölzernen Bogen, der sich über einen ehemaligen Eingang spannt, hängen einzelne Buchstaben, ein E und ein R.

Kurz darauf stehen sie auf einer Wiese, alles reckt und streckt sich. Sie saugen die kühle Luft in ihre Lungen, die nach altem Laub und Pilzen duftet. Dazu mischt sich ein leicht modriger Geruch, der aus der verlassenen Feriensiedlung zu kommen scheint. Das Gefühl von Freiheit, das mit den Erinnerungen kam, ist inzwischen abgeebbt. Dieser Wald ist anders als jener aus ihrer Kindheit. Auch dort gab es Sperrmüll, aus dem man Baumhäuser bauen konnte, und doch wirkt dieser weniger einladend. Die Art und Weise, wie sich die Natur die Ferienhäuser zurückholt, hat nichts Romantisches an sich.

Der Bärtige ist verschwunden, und sie warten.

»Wer sind die anderen?«, flüstert Marc seinem Bruder unauffällig zu, um sich von seinen Gedanken abzulenken.

Jens deutet auf die kurzhaarige Frau, die Marc im Büro seines Bruders gesehen hat. Sie trägt eine unauffällige Softshelljacke sowie geschnürte Schuhe, die aussehen, als hätten sie mehrere Bergtouren mitgemacht.

»Veronika hast du ja schon kennengelernt. Siehst du ihr Headset? Sie hört nie auf zu arbeiten. Im Moment telefoniert sie gerade.«

Marc erkennt, dass sein Bruder recht hat. Ihr Mund bewegt sich kaum merkbar.

»Ich hoffe für sie, dass es hier guten Empfang gibt. An ihr ist das geplante Handyverbot gescheitert. Ihre Probleme mit Stress sind harmlos, sie sieht nur hin und wieder gegen vier Uhr morgens nach, ob sie eine Mail bekommen hat. Das ist nicht krankhaft bei ihr, sie ist einfach so.«

Neben ihr steht ein Mann um die fünfzig, der in seinem graubraunen Anzug etwas von einem Versicherungsvertreter hat, mit schütterem Haar und Bauch. Er trägt für den Wald ungeeignete Lederschuhe, und fühlt sich sichtlich unwohl.

»Das ist Günter«, erklärt Jens, der Marcs Blick gefolgt ist. »Er ist unsere Geheimwaffe, der Mann, dem Rentner vertrauen. Wenn er vor deiner Tür stünde, um dir einen Staubsauger anzudrehen, würdest du ihn kaufen. Günter fragt sich gerade, wie weit es zum Hotel ist. Das mit dem Zelt hat er vermutlich für einen Scherz gehalten.«

Sie lassen ihre Blicke weiterschweifen und erblicken eine Frau, die etwas größer und kräftiger ist als Veronika. Ihr Alter ist schwer einzuschätzen, es dürfte irgendwo zwischen dem von Jens und Marc liegen. Sie trägt ebenfalls Outdoor-Klamotten, aber ihre sehen aus, als wären sie brandneu. Marc versucht zu erkennen, ob irgendwo noch ein Etikett baumelt. Ein giftgrünes Daunengilet scheint ihr zu warm zu sein, und sie zieht es aus und verstaut es in ihrem expeditionstauglichen Rucksack. Dann greift sie zu ihrem Handy. Es steckt in einer dicken Hülle, die aussieht, als könnte man mit einem Panzer darüberfahren, ohne sie zu zerbrechen.

»Margret. Sie schreibt Listen, weil sie immer die Kontrolle behalten will. Ihre Vorstellung von Leben ist es, einen Punkt von ihrer To-do-Liste zu streichen, was sie vermutlich in diesem Augenblick gerade tut.« Margret steckt ihr Handy ein und sieht zu Marc und Jens herüber, woraufhin beide den Blick abwenden. Jens spricht leise weiter.

»Ein Kollege hat einmal gesagt, dass auf einer ihrer Listen groß ›Entspannen‹ steht, als einziger Begriff, den sie nie durchstreicht. Siehst du ihre neuen Sachen? Hat sie bestimmt schon vor Wochen bestellt. Bald wird sie merken, dass Onlinerezensionen nicht alles sind.«

Neben ihr steht ein junger Kerl mit Brille und der Physiognomie eines Teenagers, der auf sie einredet, was sie gekonnt ignoriert.

»Frank, der Praktikant. Wenn ich recht sehe, hat er kein Gepäck mit. Er hat wohl auch seinen Schlafsack vergessen und erklärt Margret gerade, wie er das Problem lösen wird. Weil es für ihn eigentlich keine Probleme gibt, nur Challenges. Wenn ich dir sage, mit welcher Aufwandsentschädigung wir ihn abspeisen, kriegst du einen Lachkrampf.«

Marc sieht noch eine aparte junge Dame, die an ihren Nägeln kaut, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, und so alt wie Frank sein muss. Während Jens erklärt, dass sie Jessy heißt, kommt der Bärtige zurück. Neben ihm erscheint die Arbeitspsychologin Sandra Arend.

»Das Feuer brennt schon. Wir können anfangen.«

ERSTE NACHT

»Willkommen in meinem Wald. Mein Name ist Bruno, und die folgenden Nächte werden wir gemeinsam verbringen.«

Bruno hat seine Mütze abgenommen und die Jacke ausgezogen. Im Schein des Feuers zeichnet sich ein Gesicht mit Krähenfüßen um die Augenwinkel ab. Er könnte Mitte fünfzig oder auch sechzig sein. Ohne Jacke kann man seine sehnigen Glieder erahnen, die von langjähriger körperlicher Betätigung herrühren, doch seine Schultern hängen seltsam kraftlos herab.

»Ich bin diplomierter Outdoorpädagoge und biete Naturerlebnisse für Firmen an. Früher habe ich als Bergführer gearbeitet, in den Dolomiten. Aber Sie wissen ja, man wird älter, und jetzt habe ich auf Teambuilding umgesattelt.« Er lächelt etwas wehmütig. »Am Wichtigsten ist es, viel in der Natur zu sein. Ich zeige Menschen wie Ihnen den Wald und die Kraft, die in ihm steckt – Kraft, die wir für uns nutzen können.« Er fasst hinter den Baumstamm, auf dem er sitzt, und hebt eine Kiste auf. »Was die medizinische Seite angeht, sind Sie vermutlich besser informiert als ich. Ich soll Ihnen diese Uhren geben, die sich mit einem Server in der Firma synchronisieren. Wenn nicht, fragen Sie bitte nicht mich!«

Er lacht unsicher und sieht dabei Arend an. Die Kiste wird im Kreis um das Feuer herumgegeben, und jeder nimmt sich eine der Uhren. Marc legt sie gleich an und sieht, dass sie sich tatsächlich mit seinem Telefon koppelt.

»Ist das so etwas wie ein Fitnessarmband?«, hört Marc jemanden fragen.

Arend bestätigt. »Damit werden ihre Vitalfunktionen aufgezeichnet. Wir wollen wissen, wie sich der Aufenthalt im Wald auf ihren Stresslevel auswirkt. Es ist äußerst wichtig, dass sie die Uhr während der nächsten Tage nicht abnehmen – nicht, bevor die Maßnahme zu Ende ist.«

Ratlose Blicke wechseln sich mit Schulterzucken ab. Ohne weitere Fragen legen sie die Armbänder an.

»Kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«, fragt Günter, der Mann im Anzug, den Outdoortrainer. Dann hebt er den Finger. »Jetzt weiß ich es, Sie waren doch auf dem Everest, nicht wahr? Es gab da diese Fernsehdoku…«

»Ich war nie auf dem Everest«, sagt Bruno schnell.

»Aber auf einem anderen Berg, nicht wahr?«

»Das ist lange her.«

»Erzählen Sie uns doch davon!«, lässt Günter nicht locker.

Doch Bruno ist sichtlich unwohl bei dem Thema. Sandra Arend, die neben ihm sitzt, ergreift das Wort.

»Sie werden noch genug Zeit haben, sich darüber zu unterhalten. Mich kennen Sie ja alle. Auch ich darf Sie zu unserem Camp begrüßen. Es ist schön, dass Sie sich selbst etwas Gutes tun. Entspannung und Erholung sind nicht einfach nur nice to have. Sie sind auf verschiedene Weise mit unserer Gesundheit verknüpft. Chronischer Stress führt nicht nur zu Erschöpfung und psychischer Instabilität, er ist auch mit einer Reihe von Krankheiten verknüpft, bis hin zu Nervenzusammenbruch und Burn-out.«

Anerkennendes Nicken geht durch die Runde. Sie sind alle nicht zimperlich, wenn es darum geht, für die Karriere einmal eine Nacht durchzuarbeiten. Aber chronische Krankheiten, das will niemand. Sie wollen bis ins Alter leistungsfähig bleiben.

Da hebt der Praktikant Frank die Hand und wedelt mit dem Finger in der Luft. »Wer veranstaltet das Camp eigentlich?«

»Ich habe es organisiert«, antwortet sie. »Ich bin in Kontakt mit internationalen Instituten für Arbeitspsychologie. Wir werden die Ergebnisse in anonymisierter Form veröffentlichen.«

»Warum, wenn ich das ganz offen fragen darf? Werden Sie dafür bezahlt?«

Die Psychologin beißt kurz die Zähne zusammen. »Das Projekt ist Teil meiner Dissertation.«

Da geht Marc ein Licht auf. Sie ist also wirklich so jung, wie sie aussieht. Sie hat wohl gerade erst ihr Diplom gemacht.

Arend wartet, ob jemand etwas einwendet, dann fährt sie fort: »Ich möchte Sie aber einladen, nicht zu viel über den wissenschaftlichen Aspekt nachzudenken. Sehen Sie es als Chance! Es ist erwiesen, dass Menschen in der Natur zu besonderer Entspannung fähig sind.«

Das scheint allen einzuleuchten.

»Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, werde ich mich jetzt zurückziehen. Sie sind bei Bruno in guten Händen. Ich wünsche Ihnen eine erholsame Zeit in der Natur!«

 

»Zum Kennenlernen möchte ich mit Ihnen ein Spiel machen«, sagt Bruno.

Sie stehen bei den Zelten, mit Stirnlampen auf den Köpfen, die Bruno ihnen gegeben hat. Inzwischen ist die Nacht hereingebrochen, und abseits des Feuers sieht man praktisch nichts mehr. Marc hat gerade die Klamotten angezogen, die Jens ihm mitgebracht hat. Sie sind etwas weit, aber nicht unbequem. Die Funktionshose ist jedenfalls deutlich besser für den Wald geeignet als die betont geschäftlich-legere, die Marc für die Arbeit ausgesucht hatte und die nun im Kofferraum eines der Shuttles liegt, mit dem sie zurück in die Firma gebracht wird.

»Aber wir kennen uns doch!«, antwortet Frank wie aus der Pistole geschossen.

»Das stimmt, aber Spiele stärken das Vertrauen. Und vielleicht gibt es ja Dinge, die Sie noch nicht übereinander wissen.« Bevor jemand etwas einwenden kann, steht er auf. »Das Spiel heißt Wahrheit oder Lüge, es ist perfekt, um das Eis zu brechen. Wir gehen dazu in diesen kleinen Wald.«

Er zeigt auf das Unterholz neben der Lichtung.

»Sie werden einander dort in Zweiergruppen treffen, und jeder wird dem anderen drei Geschichten aus seinem Leben erzählen. Aber nur eine ist wahr, die anderen sind gelogen. Sie müssen erraten, welche Geschichte stimmt.«

Er beginnt, bunte Zettelchen auszuteilen: an Jens, Marc, die telefonsüchtige Veronika, den Bürohengst Günter, die Listenschreiberin Margret, den übermotivierten Praktikanten Frank und die junge Frau, die Jessy heißt, wie sich Marc nach kurzem Nachdenken erinnert. Sieben Waldbewohner.

»Um zu kontrollieren, ob alle miteinander gesprochen haben, bekommt jeder von Ihnen Zettel mit einer Nummer darauf. Das Spiel ist vorbei, wenn jeder von Ihnen alle Zahlen in der Hand hält.«

Marcs Zettel sind gelb und haben die Nummer 3. Er beäugt sie skeptisch, diese Teambuilding-Aktivitäten liegen ihm nicht besonders. Zu lange wurde er von allen wie ein Kind behandelt, und jetzt soll er Kinderspiele spielen. Doch er denkt an die Worte seines Bruders. Er ist hier, um Kontakte zu knüpfen, und das Spiel wird ihm dabei helfen.

»Noch etwas«, sagt Bruno. »Bitte gehen Sie nicht zu tief in den Wald hinein. Es gibt zwar in diesen Breiten keine Wölfe und Bären mehr, aber Sie könnten sich verlaufen. Ganz in der Nähe ist eine Schlucht, ich möchte nicht, dass Sie in der Dunkelheit abstürzen.«

Marc ist sich nicht so sicher, was die Bären angeht. Gab es da nicht unlängst einen Todesfall durch einen Bärenangriff? Wobei möglich ist, dass es weiter im Süden passiert ist, irgendwo in Italien. Auf Brunos Signal hin schlendern sie in den Wald und verteilen sich zwischen den Bäumen. Dann eröffnet der Outdoortrainer das Spiel. Marc und Jens nicken sich zu und tauschen ihre Zettel, dann blickt Marc sich nach den anderen um, doch alle scheinen sich von ihm abzuwenden, bis er von hinten angesprochen wird.

»Wollen wir spielen?«, fragt Frank, der junge Praktikant. »Du fängst an.«

»Okay«, sagt Marc.

Sie stellen sich vor. Marc nimmt sich einen Moment, um nachzudenken.

»Also. Eins: Ich bin neu in der Firma. Zwei: Ich liebe französische Filme. Und drei: Ich bin ein wahnsinniger, psychopathischer Killer, der Leuten im Schlaf auflauert. Was davon ist wahr?«

Frank sieht ihn erschrocken an.

»Sorry, nicht lustig. Du hast es vermutlich erraten.«

»Du bist neu.«

»Richtig«, sagt Marc. »Jetzt du.«

»Ich spiele gerne Pen-And-Paper-Rollenspiele, mein Hobby ist kochen, und ich bin ein Fan von Karl Marx.«

Marc denkt nach. »Ich komme nicht dahinter. Sagst du es mir?«

»Rollenspiele«, sagt Frank. »Hier mein Zettel.«

Er schnappt sich Marcs Nummer 3 und geht schnell weiter.

Na, das hat ja wunderbar geklappt.

Er nimmt sich vor, auf dumme Späße zu verzichten.

Vor sich sieht er, dass Veronika gerade mit seinem Bruder Zettel tauscht. Als sie Marc erblickt, kommt sie auf ihn zu. »Bereit? Ich beginne.«

Sie tut so, als würde sie nachdenken.

»Eins: Ich bin eigentlich Hollywoodschauspielerin. Zwei: Ich bin leidenschaftlich gern im Gerichtssaal. Drei: Ich finde dich süß.«

Marc spürt, wie er errötet. »Nummer zwei«, sagt er.

Sie lacht. »Machst du Witze? Ich hasse den Gerichtssaal! Ich kann nichts anderes und brauche das Geld. Und du?«

Er stammelt etwas daher, tauscht mit ihr die Nummer aus, wobei er darauf achtet, ihre Hand nicht zu berühren, und macht, dass er weiterkommt.