45 Minuten bis Ramallah - Gabriel Bornstein - E-Book

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Gabriel Bornstein

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Beschreibung

Typisch Rafik Abu-Rabah. Er sitzt in einem Ruderboot, das langsam untergeht, und der Mann, der das 20-cm-Loch in den Boden des Bootes geschossen hat, steht mit einer Walther-Pistole am Ufer und zielt auf Rafiks Kopf. Da klingelt das Handy. Es ist Rafiks Mutter. Sein Bruder Jamal heiratet und Rafik soll zur Hochzeit nach Jerusalem kommen. Da ist es schon besser, in Hamburg zu bleiben und eine Kugel in den Kopf zu bekommen, findet Rafik. Ein literarisches Roadmovie zwischen Hamburg, Ost-Jerusalem und Ramallah. Urkomisch, komödiantisch, burlesk. Der schwarze Humor als Waffe der Literatur, wenn die Politik keine Lösung weiß.

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Seitenzahl: 269

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Ähnliche


Gabriel Bornstein

45 Minuten bis Ramallah

Gabriel Bornstein wurde 1948 in Afula, Israel geboren. Nach dem Ingenieurstudium verlagerte Bornstein 1983 seine Aktivitäten nach Deutschland und studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er lehrte Dramaturgie an mehreren Universitäten und gründete 1997 mit anderen Filmemachern die Drehbuchwerkstatt Hamburg. 2003 drehte Bornstein seinen Debütfilm Dezemberküsse. Er handelt von einem verletzten Kleingangster, der Unterschlupf im Turm der St.-Pauli-Kirche in Hamburg findet und sich in die Tochter des Pastors verliebt. Bornstein wollte ursprünglich in einer Synagoge drehen, fand aber keine mit einem Turm.

Sein Drehbuch 45 Minuten nach Ramallah wurde von Ali Samadi verfilmt. Bornstein arbeitete an dem Stoff weiter und machte daraus einen Roman.

Gabriel Bornstein

45 Minuten bis Ramallah

Roman | Nach einem Drehbuch vonGabriel Bornstein und Charlie Möller-Naß

© Assoziation A, Berlin | Hamburg 2013Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | 10961 [email protected] | [email protected]: Boris Rautenberg | Satz: kvE-Book ISBN 978-3-86241-600-1

Inhalt

Neuigkeiten aus Jerusalem

Prophezeiung in der Suppe

Die Geheimnisse der italienischen Küche

Kopf wie Teller leer

Etwas, was man im Winter vermeiden sollte

Willkommen zu Hause

Kool Water

Wenigstens noch fünf Stunden

Rafik ist nicht im Bild

Wie Rita Hayworth

Eine orientalische Schönheit

Das Problem mit fremden Sprachen

Die Probleme mit der Telefongesellschaft

Unruhige Ziegen

Die Kunst, eine Havanna zu rauchen

Das arabische Schönheitsideal

Liebe

Mustafas letzter Wille

Hier gibt es keinen Leichnam

Wirst du mich vermissen?

Weniger als eine Stunde bis Ramallah

Klimaanlage zum Spottpreis

Du hast mich geschlagen

Das Problem mit dem Zündkabel

Alle Frauen sind so

Ramadan ist auch auf meinem Teller

Das Herz einer Schlampe

Ich habe Vater nicht umgebracht

Euer Gott ist ziemlich naiv

Die Wahrheit

Halb sieben ist nicht sieben

Wie man eine Flitterwoche verbringen kann

Immer Ärger mit den Frauen

Und schon wieder die Wahrheit

Alles Kontakte

Die Ehre eines Bankangestellten

Eis und Kaffee

Alte Bekanntschaft

Noch eine Methode, eine Leiche zu beerdigen

Monster

Wie es wirklich war

Arkadis Vorliebe für Fußball

Ivets kleine Finger

Sehnsucht

Ein kurzer Vortrag über das Gesetz

Steuervorteile für Reservisten

Ein Übergang für Mercedes E-Klasse

Wer ist der Herrscher im Land

Froschschenkel auf französische Art

Gebrauchtwagenhändler Abu-Money

Eine Falle

Ein Landrover mit einer Sonderfunktion

Die Frau fürs Leben

Der Verlust des Mondes

Über Fußball und Fans

Vorwärts Hapoel!

Gedanken über eine Nase

Wiedersehen mit einem alten Bekannten

Brüder

Der Unterschied zwischen Klick und Klack

Geschäfte auf ukrainische Art

Das Prinzip der freien Marktwirtschaft

Eine Berufung

Olgas Entscheidung

Ein guter Rat für Sweetie

Abschied

Kann eine Bombe zunehmen?

Ein Geschenk des Himmels

Nur ein kleiner Wunsch

Eine russische Verlobungsparty

Tanz! Olga, tanz!

Eine Dame ist verschwunden

Himmelfahrt

Falsche Verbindung

Katzengang

Es gibt viele Wege zu sterben

Vater geht’s gut

Mustafas letzter Weg

Epilog

Danksagung

Neuigkeiten aus Jerusalem

»Ich kann 25 Meter schwimmen, ohne anzuhalten«, sagt stolz seine Nichte Latifa durch das Handy. Diese wichtige Mitteilung soll Rafik unbedingt als Erster erfahren.

»Echt?« Rafik kann es kaum glauben, und Latifa muss alle Einzelheiten noch mal genau erzählen. Aber sie ist schon bei der nächsten Mitteilung, die mindestens genauso wichtig ist. Es geht um ihre Freundin Leila.

»Du weißt doch, Leila Chalid. Ihr Bruder arbeitet in Tel Aviv. Er hat ihr einen sprechenden Bären mitgebracht. Und der kann drei verschiedene Sprachen.«

Der Bruder von Leila drei Sprachen? Zahir Chalid ist dafür bekannt, dass er kaum redet – und das auch noch in drei Sprachen, das würde keiner glauben.

»Nicht ihr Bruder!«, protestiert Latifa. »Der Bär! Du verstehst ja gar nichts!«

Rafik schmunzelt. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Hat Mama dich gebeten, bei mir anzurufen?«

»Ja, ich habe sie darum gebeten«, brüllt seine Mutter, die das Telefon aus Latifas Hand gerissen hat. »Wenn ich anrufe, gehst du ja nicht mehr ran. Was mach ich bloß falsch?«

»Nichts, Mama, es ist nur, dass ich so viel um die Ohren habe ...«

Mama fängt an zu schluchzen. Jetzt macht sich Rafik auch noch lustig über sie. Wie viele Mütter hat er eigentlich? Eine einzige! Und die bringt er auch noch um! Ja, das macht er! Mamas Schluchzen steigert sich und sie gibt noch ein paar weitere bedrohliche Geräusche von sich. Und obwohl Rafik schon öfter Ähnliches von ihr gehört hat, ist sie dieses Mal dabei, alle Rekorde zu brechen. Es sei denn, ihr geht vorher die Luft aus, und dafür gäbe es keinen Grund. Es sei denn ... Rafik stellt sich ein Glockenmonster vor, wie er es als Kind in einem Film gesehen hat, mit zwei Köpfen und acht Armen. Und jetzt sitzt dieses Wesen aus dem All auf seinem Familienhaus in Ost-Jerusalem, tastet mit seinem langen Rüssel die Räume ab und saugt die Luft heraus. Und weil die Luft im Haus immer dünner wird, gerät seine Mutter in Atemnot. Und das verursacht die Geräusche, die sie jetzt hervorbringt. Aber heute hat sich das Monster das falsche Opfer ausgesucht. Mama hat nämlich einen viel längeren Atem als sämtliche Monster zusammen. In diesem Moment ist das Wesen aus dem All in Ohnmacht gefallen, und das war’s. Und der eindeutige Beweis: Mamas Schluchzen hat aufgehört. Nun fährt sie in ziemlich normalem Ton fort:

»Es geht um Vater. Er liegt im Sterben. Wenn du ein letztes Mal mit ihm reden willst, solltest du dich beeilen.«

»Mama, Vater ist letztes Jahr zu Ramadan gestorben und dann zu Weihnachten noch mal. Was ist es dieses Mal? Pessach ist schon vorbei. Worum geht es wirklich?«

Am Telefon hört Rafik Mamas schweren Atem. Schnell und unregelmäßig, so wie sie immer atmet, wenn sie nach einem neuen Argument sucht. Rafik zündet sich eine Zigarette an und wartet. Seine Mutter ist keine Lügnerin, aber sie ist fest davon überzeugt, dass man mit der Wahrheit nur selten etwas erreichen kann.

»Jamal heiratet«, sagt sie dann feierlich.

»Schön für ihn ...«

»Schön für ihn?«, unterbricht Mama. »Ist das alles, was du zu sagen hast? Dein einziger Bruder, dein Fleisch und Blut heiratet! Auch du hast eine Familie, schon vergessen?«

Natürlich hat Rafik die Familie nicht vergessen. Wie könnte er? Mama ruft ihn mindestens zwanzig Mal am Tag an. Und jetzt hat sich Jamal, der Bastard, etwas Neues überlegt, wie er im Zentrum stehen kann. Dafür nimmt der Idiot sogar eine Hochzeit in Kauf. Obwohl, in dem Fall ist Rafik sich nicht ganz sicher.

Sein Bruder ist so blöd, dass er auch so ohne Weiteres heiraten würde. Aus dem Hörer sprudelt Mamas Stimme weiter.

»Familie! Kennt man so etwas bei euch in Deutschland nicht? Leben da etwa alle ganz allein, jeder für sich in seinem Mercedes? Familie ist etwas Wichtiges, man kann nicht ohne. Jamal heiratet, und du wirst dabei sein! Und mit Vater wirst du dich auch versöhnen!«

»Tut mir leid, Mama, es ist gerade äußerst ungünstig. Hochbetrieb. Bestell Aliya und Jamal meine herzlichsten Glückwünsche. Ich werd ihnen was Schönes schicken.«

Mama beginnt wieder zu schluchzen. »Du willst also, dass ich das Restaurant allein lasse? Gut. Mama, wenn du das willst ... Die Angestellten werden den Laden ruinieren. Alles Ausländer! Denen kann man nicht trauen. Aber wenn du darauf bestehst ...«

»Du kommst also? Gott sei Dank.«

»Nein, ich komme nicht!«, brüllt Rafik in sein Handy. »Und das kannst du Jamal ruhig sagen. Selbst wenn ich könnte, zu seiner Hochzeit komm ich nicht!«

Ohne auf Mamas Antwort zu warten, klappt Rafik sein Handy zu.

»Ja, Mama, ich liebe dich auch«, murmelt er, als er das Handy zurück in die Tasche steckt.

Prophezeiung in der Suppe

Ein Gast winkt Rafik, der in Kellnersachen gekleidet ist, zu sich und zahlt mit einem großen Schein, ohne Trinkgeld zu geben. Dann verlässt er das Restaurant. Rafik sieht dem Mann frustriert hinterher. Ein zufriedener Bürger mit einem gesicherten Einkommen, zwei Kindern und einem Hund. Nein, einen Hund hat er sicher nicht. Der kostet nur Geld. Kinder auch. Dieser Mann ist bestimmt ein einsames Schwein, der sein Geld lieber mit ins Grab nehmen würde, als zwei Euro Trinkgeld zu geben. Und bei dem hat Rafik sich fast eine Stunde angeschleimt!

Rafik hat seinen Job satt und den Besitzer Giovanni kann er auch nicht mehr sehen. Der Laden macht jede Nacht viele tausend Euro Umsatz, da könnte der Geizhals seinen Kellnern ruhig mehr als sechs Euro die Stunde zahlen. Und die Gäste geben immer weniger Trinkgeld, oft gar keins. Sollen sie sich ihr Essen doch selbst aus der Küche holen! Wenn sie Service haben wollen, müssen sie zahlen. Sklaverei ist hierzulande illegal! Aber das werden sie erst verstehen, wenn es zu spät ist. Eines Tages werden alle Unterdrückten der Welt rebellieren. Dann wird Giovanni sehen, was er davon hat.

Auch Don Giovanni sieht frustriert aus. Genau genommen ist Giovanni immer schlecht gelaunt, aber heute gehen ihm die beiden Kellner besonders auf die Nerven. Emilio schwingt die Hüften wie eine billige Hure. Ekelhaft. Eine Schande für die Gattung Mann. Aber die Deutschen lieben Schwule. Alle hier im Land sind so liberal und offen – solange es keine Schwuchtel in der eigenen Familie gibt! Wenn es nach Giovanni ginge, würde er Emilio in den Knast stecken. Da würde der italienische Kellner schon sehen, wie viele Gäste er gleichzeitig bedienen kann. Und der Araber ist noch schlimmer. Hat nur Ficken im Kopf. Ficken und Zigarettenpause. Allein in den letzten zehn Minuten drei Zigaretten. Und jetzt geht er schon wieder raus. Steht am Kanal und schaut aufs Wasser, als wäre er ein Tourist. Giovanni ist kein Idiot! Dieses Mal wird er die Zeit von Rafiks Gehalt abziehen!

Draußen zieht die Kälte durch Rafiks Kellneruniform, und er zittert. Die Tage werden kürzer und das Wasser im Kanal gefriert. In seinem ersten Jahr in Hamburg hatte sich Rafik vorgenommen, genügend Geld im Sommer zu sparen, um die Winter in Palästina zu verbringen. Doch dafür reichte sein Gehalt nicht. Und von Jahr zu Jahr wird es kälter. Wissenschaftler behaupten, dass es aufgrund des Klimawandels immer wärmer werden würde. Aber die verbringen ihre Winter in Florida. Ein Winter in Deutschland und sie würden ganz andere Theorien entwickeln.

Das Einzige, was Rafiks Herz bei dem Wetter wärmt, sind die Frauen. Seine jüngste Eroberung ist besonders heiß. Rafik holt sein Handy aus der Tasche und schaut auf das Display. Lena hat nicht angerufen.

Was ist bloß in sie gefahren? Nach der gemeinsamen Nacht war sie verrückt nach ihm. Warum meldet sie sich nicht? Rafik hat schon überlegt, sie anzurufen oder ihr eine SMS zu schicken. Aber das ist nicht seine Art. Frauen sollten wissen, was sie von ihm wollen. Er ist der Mann. Vielleicht ist sie aber verhindert. Er sollte doch lieber bei ihr anrufen. Aber was, wenn ihr Mann Verdacht schöpft? Das könnte ihr Leben ruinieren, und Rafiks Motto war schon immer Diskretion. Rafik fixiert mit seinem Blick das Display, als wollte er es hypnotisieren – und es klappt. Das Handy klingelt, aber es ist nicht Lena, sondern Mama. Sie schluchzt so laut, dass er sie kaum verstehen kann.

»Vater wird sterben!«, verkündet sie schließlich, als sie ihre Stimme wiedergefunden hat. »Meine neue Wahrsagerin hat es gesagt! Und Rucha el Zaida, das ist ihr Name, ist die beste in ganz Jerusalem. Was rede ich, im ganzen Nahen Osten. Weißt du, wie alt die Frau ist?«

Rafik will es nicht wissen.

»112!« verkündet Mama. Sie legt eine Pause ein, damit Rafik seine Bewunderung äußern kann. Weil er es nicht macht, fährt Mama fort.

»Und sie hat noch eigene Zähne. Alle! Ihre Milchzähne sind neu gewachsen. Sie hat den Sechstagekrieg vorhergesagt und die Hälfte des Flüchtlingslagers in Jerusalem für praktisch nichts gekauft. Heute stehen da die teuersten Häuser. Alle von amerikanischen Juden bewohnt. Die Frau ist Millionärin. Ach was, Millionärin, nein! Milliardärin ist sie! Wenn sie etwas prophezeit, wird es auch eintreten, darauf kannst du wetten! Und die Frau ...«

»Mama, kannst du bitte zum Punkt kommen?!«

»Ich bin gerade dabei, aber du unterbrichst mich ja ständig.«

»Okay, entschuldige, ich höre dir zu.«

»Also«, fährt Mama fort. »Heute habe ich Latifa Suppe zu Mittag serviert, weil Samira schon wieder einen neuen Job hat. Meine Schwester wechselt ihren Arbeitgeber öfter als ihre Schuhe, und die halten bei ihr auch nie länger als eine Saison. Ich frage mich, wo sie das Geld hernimmt. Von ihrem mickrigen Gehalt bestimmt nicht.«

»Bleib bei der Sache, Mama.«

»Mach ich doch. Also, ich gebe Latifa diese Buchstabensuppe, die du auch immer so gemocht hast. Nur Jamal nicht ...«

»Du hast Latifa Suppe gegeben.«

»Hab ich doch gesagt. Und sie mag die Suppe auch, genauso wie du. Sie hat alles aufgegessen und wollte noch mehr. Dann stelle ich den Topf auf den Tisch, und was sehe ich da auf dem leeren Teller?«

»Was?«

»Drei Buchstaben!«, sagt Mama triumphierend.

»Und?«

»Und, und. Es geht nicht um die Buchstaben, sondern um das, was da stand. D-A-D! Verstehst du?«

»Nein.«

»D-A-D«, wiederholt Mama. »Das heißt Dad! Vater auf Englisch!«

»Verstehe.«

»Was verstehst du? Du verstehst gar nichts, weil ich das Wichtigste noch nicht gesagt habe. Da will ich Latifa also gerade mehr Suppe nachfüllen, und da fällt doch vom Löffel ein anderer Buchstabe genau hinter das erste D. Und das war der Buchstabe E. Verstehst du jetzt?«

»Nein.«

»Also, so kompliziert ist es wirklich nicht«, sagt Mama.

Rafik schaut auf seine Armbanduhr. Er darf die zehn Minuten Pause auf keinen Fall überziehen, sonst meckert Giovanni wieder, und dafür hat Rafik jetzt nicht die Nerven.

»DEAD!« erklärt Mama. »DAD DEAD! Vater wird sterben! Verstehst du jetzt? Und genau das hat auch Rucha el Zaida gesagt, und sie hat den Sechstagekrieg ...«

Mama berichtet weiter alles, was die alte Wahrsagerin einmal prophezeit hat, aber das hört Rafik nicht mehr. Er hat schon aufgelegt.

Die Geheimnisse der italienischen Küche

In der Küche lehnt der schwarze Koch Ngumba am Waschbecken und isst ein Stück Pizza. Frisch aus dem Offen schmeckt sie am besten. Ngumba kann nicht genug davon kriegen, was vielleicht erklärt, warum sein schmutziger Kittel nur einen kleinen Teil seiner Wampe bedeckt.

»Als du hier ankamst, hat dir der Kittel besser gepasst«, bemerkt Rafik.

Ngumba grinst und streicht sich zufrieden über seinen Bauch.

»Pizza. Macht dick«, lacht er und zeigt dabei seine weißen Zähne.

Rafik schaut durch das Bullauge an der Tür, sein Blick fällt auf die blonde Frau am Tisch 12. Große Augen, breite Lippen, den fantastischen Körper in einem lässigen Abendoutfit verpackt, und in den Augen der Blick einer Jägerin. Für eine Nacht mit ihr wäre Rafik bereit, einen Mord zu begehen. Leider sitzt sie in Emilios Bereich. Der Italiener ist von dem göttlichen Busen nicht im geringsten beeindruckt. Er reicht Venus die Speisekarte mit einem routinierten Lächeln, nimmt ihre Bestellung auf und kommt zurück in die Küche. Rafik macht ihm die Tür auf.

»Hey, Emilio. Hast du den hübschen Typen am Tisch 5 gesehen? Der schaut dir schon den ganzen Abend hinterher.«

»Ist er nicht süß?«, sagt Emilio sehnsüchtig. »Ist aber leider dein Tisch.«

»Echt schade«, stimmt Rafik zu.

»Der macht mich heiß.«

»Ich zieh die Frau vor.«

»Wollen wir tauschen?«, fragt Emilio mit bettelndem Blick.

»Klar. Was hat sie bestellt?«

Kurz darauf geht Rafik mit einer Flasche Rotwein zu Tisch 12.

Die Frau schaut ihn interessiert an, fährt sich mit der Zunge über die Lippen, wirft ihr honigfarbenes Haar zurück und streckt dabei ihren göttlichen Busen vor.

»Oh, ihr habt die Tische gewechselt«, sagt sie. »Wie aufmerksam.«

»Ist aber noch immer Antica Enotria, wie Sie es gewünscht haben«, antwortet Rafik und schenkt ihr den Wein ein. Dabei dreht er elegant die Flasche, damit der letzte Tropfen nicht am Flaschenhals herunterläuft.

»Das machst du aber sehr elegant«, sagt Venus.

»Ich habe noch ein paar andere Talente«, flüstert ihr Rafik mit einem Blick zu, der sagen will: Ich-weiß-was-du-wirklichwillst. Die Frau mustert ihn von oben bis unten.

»Was empfiehlst du denn von der Karte?«

»Wie wäre es mit Rigatoni di Sicilia del Diavolo?«

»Diaaa-volo«, wiederholt die Frau, schmeckt das Wort genüsslich mit ihrer Zunge. »Ich liebe es scharf.«

»Rigatoni di Sicilia del Diavolo«, gibt Rafik weiter in die Küche.

»Oho, Frau scharf«, bemerkt Ngumba und öffnet eine neue Chilidose.

»Nicht scharf, Mann, heiß!«

»Hot!«, kommentiert Ngumba. »She’s hot! She’s too damn hot!« singt er weiter zur Melodie von Kiss me Kate. Dabei trommelt er mit Holzlöffel und Schneebesen auf den Töpfen.

»Und Emilio?«, fragt der Schwarze.

»Kochend heiß!«, antwortet Rafik.

»He’s hot! He’s hot! He is too damn steaming hot!« Ngumba singt weiter, bewegt sich dabei im Rhythmus und wackelt wie Emilio mit den Hüften.

Rafik schmunzelt. Er findet Ngumba echt witzig. Obwohl – für einen Schwarzen wäre es ratsam, sich unsichtbar zu machen. Besonders, wenn er kein gültiges Visum hat. Aber Deutschland ist kein Polizeistaat. Man kann hier jahrelang ohne Aufenthaltserlaubnis gut leben, es interessiert keinen. Nur Arbeitgeber, aber die sagen nichts, solange die Ausländer für einen Hungerlohn arbeiten. Und dafür muss man sich dann auch noch bedanken.

Rafik schaut durch den Türspalt, Giovanni tippt gerade eine Rechnung ein, seine Lieblingsbeschäftigung. In der anderen Ecke räumt Emilio die Tische ab, schwingt dabei seine Hüften stolz durch das Restaurant. Rafik greift sich einen Stapel Teller und tanzt damit genauso tuntig wie der italienische Kellner durch die Küche, singt dabei die letzte Strophe mit Ngumba zusammen: »She’s too damn hot! She’s too damn hot!« Ngumba lacht und klatscht in die Hände. Vor der Spülmaschine legt Rafik eine perfekte Pirouette hin und verbeugt sich dann vor seinem Publikum. Als er sich ein zweites Mal verneigen will, gleiten Rafik plötzlich die Teller aus den Händen. Mit einem Höllenlärm zerschellen sie auf dem Boden. Ngumba hört auf zu klatschen und starrt erschrocken auf den Scherbenhaufen.

Auch Rafik ist ganz unglücklich. Er kniet nieder und beginnt die Scherben aufzusammeln, will sie in den Abfalleimer werfen, doch Ngumba nimmt ihm die Schaufel aus der Hand und kippt sie in die Spülmaschine.

»Böse Maschine. Macht Teller kaputt«, sagt der Schwarze vorwurfsvoll und haut auf die Spülmaschine.

»Gute böse Maschine«, kommentiert Rafik und haut auch auf die Spülmaschine.

Ngumba stellt die Maschine an und beide biegen sich vor Lachen. Plötzlich bemerkt Rafik seinen Boss. Giovanni steht im Türrahmen und so wütend, wie er schaut, muss er die beiden in der Küche schon eine ganze Weile beobachtet haben. Rafik hört auf zu lachen. Der Koch hat den Boss noch nicht gesehen, tanzt wild weiter, bemerkt dann aber, wie Rafik ängstlich zur Tür starrt und schaut ebenfalls dorthin. Ngumba sieht Giovanni und verstummt. Nur die Scherben in der Spülmaschine klappern leise weiter.

»Was gibt es da zu lachen?«, will der Italiener wissen.

»Nichts«, antwortet Rafik.

»Dann warum lachen?«

»Wir nicht lachen«, antwortet Ngumba und schaut ängstlich auf die Spülmaschine.

»Machen macchina auf!«, bellt Giovanni.

Ngumba verharrt regungslos. Giovanni schaltet die Spülmaschine aus. »Aufmachen!«, wiederholt er.

Zögernd öffnet Ngumba die Spülmaschine. Die Scherben glänzen im kalten Neonlicht.

»Oh shit, Maschine macht Teller kaputt.« Ngumba versucht den Überraschten zu spielen, aber er macht es nicht besonders überzeugend, und das treibt Giovanni zum Wahnsinn. Er fixiert den Koch mit den Augen wie eine Schlange, kurz bevor sie die Maus verschlingt.

»Cattiva macchina!«, simuliert Giovanni eine falsche Überraschung. »Voodoo! Teller tanzen, springen von Tisch kaputt, hop hop in Spul macchina.«

Ngumba zittert.

»Was hier?«, fährt der Italiener fort. »Afrika, hier? Voodoo? NO!«

Um den Ernst seiner Worte zu unterstreichen, zerbricht Giovanni einen weiteren Teller auf der Spülmaschine.

»Assolutamente no! Hier Trattoria Don Giovanni. Du gehen Afrika, dort Voodoo. Trattoria Don Giovanni – finito!«

Ngumba zittert am ganzen Körper. Hilflos schaut er zu Rafik.

»Ich war es«, sagt Rafik.

»Va bene«, sagt Giovanni. »Rafik auch finito.«

Rafik zieht seine Schürze aus und wirft sie zu Boden. »Gut, dann möchte ich mein Geld haben. Für drei Wochen!«

»Geld wollen, va bene! Alle wollen Geld haben. Muss aber Steuerkarte bringen.«

Rafik schaut seinen Chef hasserfüllt an.

»Sie wissen, dass ich keine Steuerkarte habe.«

Giovanni zuckt die Schulter. »Scusi, das Polizei sagen. Ich muss Steuerberater. No Karte, no Geld. Capisci?«

Kopf wie Teller leer

»Darf ich?« Rafik beugt sich zu der fremden Frau und setzt sich zu ihr, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie lächelt ihm zu und zeigt auf den Wein, fordert Rafik auf, sich zu bedienen.

»Antica Enotria. Man hat ihn mir empfohlen.«

Rafik winkt seinen Ex-Kollegen zu sich. Weil er keine bessere Lösung weiß, kommt Emilio an den Tisch.

»Prego.« Emilio verbeugt sich in bester Manier und bleibt dann steif vor der Lady stehen. Er schaut unsicher zu Giovanni und dann zu Rafik. Es riecht nach Ärger. Was führt der verrückte Palästinenser bloß schon wieder im Schilde?

»Der Herr nimmt dasselbe«, sagt die Venus.

»Rigatoni di Sicilia del Diavolo?«, bestätigt Emilio.

»Extra scharf«, haucht die Venus mit verrauchter Stimme. Sie beugt sich zu Rafik und flüstert ihm zu: »Das kannst du doch vertragen, oder?«

Männer erzählen sich oft von Abenteuern mit wildfremden Frauen. Alles gelogen. Aber der Atem dieser Frau in seinem Nacken ist echt.

Aus dem Augenwinkel sieht Rafik Giovanni. Sein Gesichtsausdruck ist nicht gerade freundlich. Wenn bei dem eine Sicherung durchbrennt, kann es unangenehm werden. Und wenn schon. Was kann er Rafik noch anhaben?

Venus’ Haar streift über Rafiks Gesicht. Es duftet nach Honig. Rafik vergräbt seine Nase in ihrem Nacken. Ihr Parfum benebelt seine Sinne. Wenn Rafik klar denken könnte, würde er gleich darauf kommen, dass dieser Geruch lebensgefährlich ist. Doch Rafik denkt nicht nach. Ihr Duft hindert ihn daran. Oder vielleicht sind es ihre Brüste, die aus ihrem Dekolleté lugen und seine Gedanken durcheinanderbringen. Eine gefährliche Situation. Egal, denkt Rafik. Was kann schon passieren? Im schlimmsten Fall macht sie mich heiß und lässt mich dann stehen. Es wäre nicht das erste Mal.

Sein Blick schweift über ihr Dekolleté. Als sie seine indiskreten Blicke bemerkt, lächelt sie kaum merklich und beugt sich dann noch ein kleines Stückchen tiefer, um ihm eine bessere Sicht zu verschaffen.

Giovanni hat die beiden schon eine Weile beobachtet, und was er da sieht, gefällt ihm gar nicht. Es gibt Regeln, Gesetze und Tabus. Rafik bricht sie alle! Am liebsten würde Giovanni die Polizei rufen, aber was soll er den Beamten sagen? Dass sein Kellner mit einem Gast rummacht? Das ist kein Verbrechen, nicht nach dem deutschen Gesetz. Ignorieren darf Giovanni Rafik auch nicht. Wenn sich ein Mitarbeiter solche Frechheiten leistet, tanzen ihm alle anderen bald auch auf der Nase herum. In Sicilia würde man nach so einer Provokation töten, aber die Deutschen haben keine Kultur. Gedankenversunken nimmt Giovanni ein Glas aus dem Waschbecken und fängt an, es zu polieren. Er hält es ans Licht, prüft, ob das Glas sauber ist, und stellt es ins Regal. Dann holt er ein neues Glas.

Als er wieder hochschaut, sieht Giovanni, wie Rafik mit der Frau leidenschaftlich knutscht. Das Glas zerbricht in Giovannis Hand. Er schleudert die Scherben in den Müll und läuft mit geballten Fäusten auf Rafik zu.

»Was erlauben Rafik?!«, brüllt der Italiener. »Hier Bordello? No! Bordello da, da, da!« Giovanni zeigt in alle Himmelsrichtungen. »Alles Kiez voll Bordello! Hier Trattoria Don Giovanni. Pizza, pasta, vino e basta!«

Giovanni hält kurz inne, um Atem zu holen.

»Wollen etwas klären. Trattoria trentacinque anni a St. Pauli, Giovanni viele schlecht situazione. Kellner immer vergessen, was sie sind. Ricordi Paolo da Napoli? Gut Koch. Filetto Maiale Ripieno.« Giovanni küsst seine Finger und seufzt sehnsüchtig. »Paolo wie Sohn für Giovanni. Was macht Sohn? Fickt mit meine Tochter Gina! La mia piccola Gina! Was denken Paolo?« Giovanni gerät in Atemnot und muss schon wieder eine Pause einlegen. »Und Jacek da Polonia. Gute Kellner, magnifico tenore! Gäste komme, Jacek gehe – mit Kasse! Tutti Geld! Is possibile Herr Rafik, verstehe, was ich sagen? Giovanni no idiota! Sehe alles! Rafik immer sigaretta, immer telefonate con la mamma. E baci a tutte le donne – baci, baci, baci! Sono tutti pazzi! Solo Sex! Kopf wie Teller leer! Ne sono stanco! Finito!«

Giovanni geht zur Bar zurück und sucht nach etwas im Regal. Als er sich umdreht, hält er eine Pistole in der Hand. Rafik und die Frau werfen sich auf den Boden und verstecken sich unter dem Tisch. Doch Giovanni hält sich die Pistole an den Kopf.

»Nein!«, schreit Rafik. Er springt auf und rennt auf Giovanni zu.

»Doch!«, schreit der Italiener und zielt auf Rafik.

Erneut verschanzt sich Rafik hinter einem Tisch.

»Va bene! Du mach ich später fertig!«, sagt Giovanni und hält die Pistole wieder an seine Schläfe. Von hinten schleichen sich Emilio und Ngumba an den Italiener heran und werfen ihn zu Boden. Rafik reißt Giovanni die Pistole aus der Hand.

Etwas, was man im Winter vermeiden sollte

Jede Begegnung seiner nackten Füße mit der kalten Straße brennt. Besonders sein rechter Zeh schmerzt. Die durchnässte Hose ist gefroren und die Eiszapfen stechen in sein Fleisch wie ein Skalpell. Besondere Sorgen macht sich Rafik um seine Hoden. Anfangs hat alles wehgetan, aber jetzt spürt er nichts mehr. Hoffentlich sind sie nur gefroren, doch wenn er Pech hat, hat sie das scharfkantige Eis vom Körper abgetrennt. Rafik kann sich den Titel in der Morgenpost schon vorstellen: Mann kastriert sich beim Laufen selbst. Rafik ist bekannt, dass die Geschichte der Menschheit voller Männer ohne Hoden ist. Ein paar von ihnen haben es zu hohen Ämtern gebracht, weil der Herrscher in ihnen keine Konkurrenz sah. Und es gab noch weitere Vorteile: Frauen lassen Männer ohne Eier vertrauensvoll ran. Die Gefahr, ein unerwünschtes Kind zu zeugen, ist ausgeschlossen. Doch im Moment überzeugen diese Vorteile Rafik nicht. Er war schon immer sehr mit seinen Eiern verbunden und er kann sich nur schwer vorstellen, ohne sie weiterzuleben. Dieser Gedanke gibt ihm die Kraft, weiterzulaufen. Nach ein paar hundert Metern hält er inne und horcht. Die Schritte seiner Verfolger sind nicht mehr zu hören. Aber in Sicherheit ist er noch nicht, und die kalte Luft brennt weiter in seiner Brust.

Dabei fing alles so gut an. Eve, so hieß die Frau aus dem Restaurant, zeigte sich sehr willig. Schon im Auto machte sie sich an ihn ran. Die eine Hand am Steuer, kraulte sie mit der anderen Rafiks Haar. Es war schon spät, ihr Auto stand als einziges auf dem Parkplatz bei der Fischauktionshalle. Eve hatte direkt am Wasser geparkt. Rafik wollte sich noch eine Zigarette anzünden, doch Eve klappte schon die Lehne zurück, und der Ledersitz unter Rafik verwandelte sich in eine weiche Liege. Jede ihrer Bewegungen war sehr routiniert. Man konnte sehen, dass sie nicht zum ersten Mal mit einem fremden Mann hierhergekommen war. Aber das interessierte Rafik wenig. Man lebt schließlich nur einmal.

Als er wieder zu sich kam, wusste Rafik zuerst nicht, wie ihm geschehen war. Dicht neben sich hörte er Eves schweren Atem. Und dann war da noch ein leises Klackern. Rafik blickte hoch, zwei verchromte Kugeln hingen da vom Rückspiegel. Sie hatten eine komische Form, nicht ganz rund und voller Falten. Rafik versuchte sich vorzustellen, was sie zu bedeuten hatten. Eve folgte seinem Blick.

»Sieht echt aus, was?«

»Wie echt?«, fragte Rafik.

»Wie richtige Hoden«, antwortete Eve und streichelte dabei seine.

Rafik zuckte zusammen und drückte ihre Hand grob von seinen besten Stücken weg. Darüber macht man keine Witze. Eve lachte.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Mein Mann hat einen komischen Sinn für Humor. Er ist damit einverstanden, dass ich mich mit anderen Männern treffe, aber er will auch seinen Spaß haben.«

»Verstehe«, sagte Rafik.

»Nicht ganz, wie du denkst. Manfred fickt nicht rum.«

»Was hat er dann für Spaß? Schaut er dabei zu?«

»Mm, interessanter Vorschlag, aber nein. Er sammelt lieber die Hoden.«

Rafik schluckte und sah noch mal zu den Kugeln. Bei genauerer Betrachtung ähnelten sie tatsächlich verchromten Hoden.

»Das ist krank.«

»Sage ich auch«, flüsterte Eve und klammerte sich an Rafik. »Aber er war nicht immer so. Wir waren jung und wir liebten uns. Manfred liebte schnelle Autos. Sein Lieblingsauto war ein Alfa Romeo Giulia. Sie haben Stil, die Italiener. Eines Tages, es war Weihnachten, wir kamen gerade zurück nach einer Woche Skiurlaub in Kanada, und ich hatte mir einen kanadischen Weihnachtsbaum gewünscht, groß, um die drei Meter. Aber die Märkte waren schon fast alle leer. Es gab nur noch Reste. Manfred hatte gesehen, wie traurig ich war, also nahm er eine Motorsäge und fuhr Richtung Heide. Es gibt da einen Märchenwald mit Nordmanntannen, Nobilis und Schwarzkiefern und anderen Bäumen, die man sonst nur in Skandinavien findet. Manfred hatte sich einen hübschen Drei-Meter-Baum gefällt und steckte ihn in den Kofferraum. Er musste mit offenem Kofferraum zurück nach Hamburg fahren, und das bei minus zwanzig Grad. Es war schon spät und ich wartete zu Hause mit der Ente im Ofen. Ich griff zum Telefon und wählte seine Nummer. Das war ein Fehler. Er war gerade auf der Brücke über dem Nord-Ostsee-Kanal. Er klappte sein Handy auf und antwortete: ›Ich bin gleich da, Schatz. Gib mir noch 28 Minuten, nein, in 25 schaff ich es auch.‹ Das war das Letzte, was ich in diesem Jahr von meinem Mann hörte. Während wir redeten, passte er nicht auf und rutschte über den vereisten Straßenrand. Der Alfa krachte mit 170 Sachen durch die Leitplanke und landete fünfzig Meter tiefer im Kanal. Manfred hatte Glück. Der Drei-Meter-Baum knallte gegen einen Brückenpfeiler und blieb überm Wasser hängen. Manfred auch, der angespitzte Stumpf des Baums hatte ihn aufgespießt und verhinderte so, dass er in die Tiefe stürzte.«

Eve atmete tief. »Im Krankenhaus musste man den Baum chirurgisch aus Manfred entfernen – samt den Hoden. Er hat kaum gelitten, wir haben sehr gute Ärzte in Deutschland und sie haben alles getan, was man tun konnte. Nach außen hin ist Manfred so geblieben, wie er war. Aber er ist kein Mann mehr. Für ihn war es schrecklich, er wollte sterben, aber für mich war es noch schlimmer.

Ich war 30, eine Frau im besten Alter, und musste nun leben wie eine Nonne. Drei Jahre habe ich es durchgehalten. Danach hatte mein Mann Mitleid mit mir und gab mir die Freiheit zurück. Wir haben ein Abkommen. Ich darf mir Liebhaber nehmen. Aber danach muss ich sie Manfred überlassen. Er jagt den Mann, und falls er ihn erwischt, schneidet er ihm die Eier ab. Die Idee, sie zu verchromen, kam erst später, denn ohne halten sie nicht lange. So hat er noch Jahre später Spaß daran.«

Die Frau ist total durchgeknallt, dachte Rafik, und ihre Witze waren auch nicht nach seinem Geschmack. Er wollte seine Hose schon hochziehen, als Eve ihn noch mal küsste, auf eine Art, die er bis dahin noch nicht kannte. Der Schüttelfrost, den sie ihm mit ihrer Zunge verpasste, bohrte sich bis in sein Gehirn.

Abhauen konnte er auch später, dachte Rafik. Schließlich muss er Eve nicht heiraten. Das ist sie schon. Bei diesem letzten klaren Gedanken machte Rafik seine Augen zu und ließ sich gehen. Er war im Paradies oder in der Hölle. Wie man es nimmt.

Das Klackern brachte Rafik zurück auf die Erde, doch die Kugeln am Rückspiegel bewegten sich gar nicht. Rafik sah sich um. Hinter dem Auto stand ein großer Mann, er hielt einen Baseballschläger in der Hand. In der anderen hatte er zwei ähnlich verchromte Kugeln, die er wie chinesische Qigong-Kugeln auf seiner Handfläche kreisen ließ.

»Mein Mann!«, zischte Eve. »Am besten machst du dich auf den Weg. Wenn es zur Jagd kommt, ist Manfred nicht fair.«

Auf der Straße sah Rafik einen Alfa Romeo Giulia mit verchromten Stoßstangen, aus dem zwei weitere Männer ausstiegen. Ein Riese, ebenfalls mit einem Baseballschläger in der Hand, und ein dunkler Kleiner mit einem Springmesser.

»Der Große da, Werner, der war mal Profiboxer.«

Das Gehirn ist eine raffinierte Maschine. Unter Gefahr denkt man viel schneller, und man kann dann auch erstaunlich schnell laufen. Genau das tat Rafik, aber nicht Richtung Straße, sondern Richtung Wasser. Am Kai lagen ein paar Motorboote. Die konnte man unmöglich ohne passende Schlüssel starten. Aber am Ende des Anlegers lag ein kleines Ruderboot. Rafik sprang hinein und fing an, wie verrückt davonzurudern. Die drei Männer liefen aufs Wasser zu.

»Hey, Ladies!«, schrie Rafik den Männern zu und zeigte ihnen seine beiden emporgestreckten Mittelfinger. »Habt ihr Angst vor Wasser?«

Statt eine Antwort zu liefern, so wie es in einer zivilen Gesellschaft üblich ist, zog Manfred eine Pistole aus der Tasche, zielte und schoss ein Loch von ungefähr zwanzig Zentimetern Durchmesser in den Boden des Ruderboots. Rafik hasste diese Art der Kommunikation. Was hatte er den Männern getan?

Das Boot begann zu sinken, und bald standen Rafiks Füße im kalten Wasser. Panisch schaufelte er das Wasser mit bloßen Händen aus dem Boot, als sein Handy klingelte. Aus dem Hörer schluchzte schon wieder Mama.