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Als Marlene, Gina, Thomas, Astrid und Detmar in den ICE von Hamburg nach München steigen sind sie Fremde füreinander. Niemand von ihnen ahnt, dass ihre Lebenswege auf dieser Zugfahrt nicht nur aufeinandertreffen, sondern auch gehörig durcheinander gewirbelt werden. Marlene, verlobt mit ihrem Langzeitfreund, erkennt, dass Glück vielleicht ganz anders aussieht, als sie immer dachte. Detmar versucht nach dem Kauf einer abstürzenden Aktie verzweifelt sein Vermögen zu retten. Thomas lernt endlich mal wieder eine Frau kennen, die ihm gefällt – und zwar so sehr, dass er den Verlobungsring an ihrem Finger völlig übersieht. Die frisch getrennte Gina muss plötzlich eine Entscheidung treffen, die nicht nur ihre eigene Zukunft für immer verändern wird. Astrid, eine erfolgreiche Geschäftsfrau erhält einen Anruf von ihrem Chef, der ihr die Chance gibt, einen neuen Weg einzuschlagen. Aber will sie das überhaupt? 5 Stunden und neununddreißig Minuten später ist nichts mehr, wie es war.Und fünf Fremde werden einander nie wieder vergessen.
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Seitenzahl: 217
Veröffentlichungsjahr: 2022
Isabella Esperanza
5:39 h
Eine Zugfahrt, die unser Leben veränderte.
Für Mama & Papa
Danke, dass ihr mich immer darin bestärkt habt das zu tun, was ich liebe.
Isabella Esperanza
5:39 h
Eine Zugfahrt, die unser Leben veränderte.
Roman
tredition
© 2022 Isabella Esperanza
ISBN Softcover: 978-3-347-74190-4
ISBN E-Book: 978-3-347-74196-4
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg, Deutschland
Isabella Esperanza, geboren 1995, studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Bremen. Nach ihrem Masterabschluss war sie mehrere Jahre als Texterin, Redakteurin und Marketing Managerin tätig. Im Jahr 2022 beschloss sie, statt für große Unternehmen lieber für große
Leseratten zu schreiben. Dabei herausgekommen ist der Roman 5:39 h – eine Zugfahrt, die unser Leben veränderte.
Die Autorin lebt in der Nähe von München. Mehr über ihr Leben und ihre Buchprojekte erfährst du auf Instagram unter IsabellaEsperanza_Autorin.
Prolog
Fünf Stunden und neununddreißig Minuten. So lange haben wir gebraucht, um unser Leben und alles, woran wir bisher geglaubt haben, auf den Kopf zu stellen. 5:39 h. Das sind vielleicht drei Netflix Filme. Das ist noch nicht mal ein voller Arbeitstag. Das ist die ICE Strecke von Hamburg nach München. Ob ich etwas geahnt habe, als ich dort an Gleis 14, Abschnitt B, stand und der Zug in den Bahnhof rollte? Ich könnte jetzt behaupten, ich hatte so eine Vorahnung. Aber das wäre gelogen. Alles was ich wusste, war, dass vor mir fünf Stun den und neununddreißig Minuten Zugfahrt lagen. Vielleicht hatte ich mit einer Verspätung gerechnet oder mit einem doppelt gebuchten Sitzplatz. Aber sicher nicht mit einem neuen Leben.
Marlene
Erschöpft lasse ich mich auf einen freien Sitzplatz fallen, klappe den Tisch herunter und stelle meinen heißen Kaffeebecher darauf ab. Es ist stickig, es ist voll, es ist ein trister Montagmorgen im November. Ich trinke einen Schluck. Eklig. Aber was will man von einem Bahnhofskaffee auch anderes erwarten.
„Ich kann nicht fassen, dass du mir das antust! Du dummes Arschloch! Und das konntest du mir nicht ins Gesicht sagen? Was für ein elender Feigling bist du eigentlich?!“
Erschrocken blicke ich von meinem Kaffee hoch. Eine junge Frau schiebt ihren Koffer laut gestikulierend durch den Gang des ICEs, das Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Sie ist vielleicht Mitte zwanzig, also so alt wie ich, aber das war es dann auch schon mit den offensichtlichen Gemeinsamkeiten. Neidisch mustere ich ihre schwarzen Locken und ihre langen, dünnen Beine, die durch einen Minirock und eine Spitzenstrumpfhose äußerst vorteilhaft betont werden. Sie schaut zu mir. Braune Augen funkeln mich böse an. Schnell drehe ich meinen Kopf zum Fenster und tue so, als würde ich intensiv die Rittersport Werbung an den Bahnhofswänden studieren.
„Ja, ja ich bin noch da.“ Ihre Stimme ist jetzt leiser, sie schiebt erst den Koffer und dann sich selbst auf den Sitzplatz im Gang neben mir.
„Ich habe keinen Bock dieses Gespräch noch länger in der Öffentlichkeit zu führen, Miguel. Die Leute gucken mich schon alle dumm an. Das mit uns ist vorbei und fertig.“
Danach schweigt sie, im ICE wird es ruhig, in meinem Kopf wird es laut. Ich denke an Paul. Den würde ich niemals so anschreien. Einerseits, weil ich mich nicht traue und andererseits, weil es dafür keinen Grund gibt. Paul ist schließlich der perfekte Freund. Höflich, aufmerksam, gutaussehend, ordentlich. Meine Eltern finden ihn toll. Meine Freundinnen finden ihn toll.
Aber findest du ihn auch toll?, unterbricht eine kleine, hämische Stimme meine Gedanken. Statt ihr zu antworten krame ich meine Kopfhörer raus. Wenn ich schon keine Stille in meinen Kopf holen kann, muss ich den Lärm wenigstens mit Musik übertönen. Doch noch bevor ich auf Play drücken kann, höre ich ein Schluchzen.
Die Frau mit den schwarzen Locken hat begonnen zu weinen. Tränen laufen ihr über das schöne Gesicht, ihre Wimperntusche ist verschmiert, ihre Lippen zittern. Es sieht herzzerreißend aus. Trotzdem schauen alle anderen Zuggäste weg.
Ich lehne mich ein Stück zu ihr.
„Magst du vielleicht ein Taschentuch haben?“
„Gerne!“
Ihre Augen haben aufgehört böse zu funkeln, stattdessen blitzt mir jetzt Dankbarkeit entgegen.
Ich krame in meinem Rucksack und reiche ihr eine Taschentuchpackung.
„Danke.“ Sie schnieft.
„Da nicht für.“
„Ich heiße übrigens Gina.“ Sie reicht mir über den Gang hinweg die Hand.
„Marlene“, erwidere ich, dann lehne ich mich zurück.
Ich kenne sie nicht, es gibt keinen Grund sie kennenzulernen. Aber Gina handelt nicht nach Gründen, sie handelt nach Gefühlen. Und als ich mich zurücklehne, lehnt sie sich nach vorne.
„Sag mal Marlene, hast du irgendwelche Tipps gegen Liebeskummer? Ich habe mich nämlich gerade von meinem Freund getrennt. Aber das hast du ja wahrscheinlich mitbekommen.“
Sie grinst, aber ich sehe die Trauer hinter ihren hochgezogenen Mundwinkeln. So viel Direktheit überfordert mich.
„Ehm, ich, also ich glaube, ich bin da leider die falsche Ansprechpartnerin“, stammle ich.
„Hattest du etwa noch nie Liebeskummer?“
„Nein, tatsächlich nicht.“
„Wie geht das denn?“, schockiert schaut sie mich an.
Ich überlege kurz, ob ich darauf ehrlich antworten soll. Normalerweise erzähle ich Fremden nichts aus meinem Privatleben. Aber normalerweise fragen sie mich auch nicht danach.
„Ich habe noch nie eine Trennung erlebt. Ich bin noch mit meinem ersten Freund zusammen. Wir sind seit kurzem verlobt“, rattere ich schnell die Kurzfassung meines Liebeslebens runter.
„Wann seid ihr zusammengekommen?“
„Mit sechzehn.“
„Wie alt bist du jetzt?“
„Fünfundzwanzig.“
„Ach du scheiße.“
Ich lache, dann zucke ich die Schultern.
„Irgendwie hat es halt gepasst.“
„Du Glückliche. Ich hatte noch nie eine Beziehung, die länger als ein Jahr gehalten hat.“
„Dafür hast du sicher mehr erlebt als ich.“
Sie spart sich eine Antwort, aber ich weiß auch so, dass ich richtig liege.
Manchmal, wenn meine innere Stimme ausnahmsweise nicht von Menschen, Musik oder Podcasts übertönt wird, fragt sie mich, ob mir das wirklich alles genug ist. Ob ich nicht doch ein wenig mehr Abenteuer vom Leben will. Bisher habe ich mich nicht getraut ihr darauf zu antworten.
„Und, wie ist dein Verlobter so?“
„Ehm, also er arbeitet in einer Bank, genau genommen arbeiten wir da beide.“
„Ich wollte nicht wissen, was er beruflich macht, sondern wie er charakterlich ist.“
Wieder überfordert sie mich.
„Ehm, er ist … sehr nett. Höflich. Zuvorkommend. Zuverlässig.“
„Klingt ja fast schon langweilig“, sie lächelt.
„Manchmal schon“, ich lache, dann beiße ich mir auf die Lippen. Das ist das erste Mal, dass ich Paul vor einer anderen Person als langweilig bezeichne. Überraschenderweise tut es gut. Ich kenne Gina nicht, sie kennt mich nicht. Wenn man nichts voneinander weiß, ist es viel leichter, die eigenen Gedanken auszusprechen.
„Warum hast du mit deinem Freund Schluss gemacht?“, frage ich sie vorsichtig.
„Er hat eine andere. Schon seit vier Monaten.“
„Krass. Das tut mir sehr leid!“
„Mir auch.“
Wir schweigen. Der Zug rollt langsam los. In fünf Stunden und neununddreißig Minuten sind wir in München. In fünf Stunden und neununddreißig Minuten werden wir wieder Fremde füreinander sein. Gina schaut mich an.
„Marlene?“
„Ja?“
„Ich bin vielleicht schwanger.“
Astrid
Ich betrachte die zwei jungen Frauen, die einander plötzlich so ernst und vertraut anschauen. Eigentlich sollte ich mich mit meinem Laptop statt mit dem Privatleben von Fremden beschäftigen, aber das Gespräch ist zu interessant, um wegzuhören. Die blonde Frau erinnert mich so sehr an mein jüngeres Ich, dass es fast wehtut.
So vernünftig, so verwurzelt, so vorsichtig, so wenig verliebt.
„Hast du … schon einen Schwangerschaftstest gemacht?“, fragt sie jetzt.
„Nein. Aber ich habe eben einen gekauft. Kurz bevor mein Freund … mein Exfreund … mich angerufen hat.“
Die Dunkelhaarige beginnt wieder zu schluchzen. Sie sieht aus wie eine italienische Version von Aschenputtel. Die andere Frau streicht ihr hilflos über den Arm.
„Vielleicht ist der Test ja auch negativ.“
„Ich bin seit sechs Wochen überfällig.“
„Aber das muss doch nichts heißen! Die Periode ist doch oft nicht so regelmäßig, das kann tausend Ursachen haben.“
„Ich spüre es aber.“
Ihre Zufallsbekanntschaft schweigt.
Ich habe es damals auch gespürt. Schon in der ersten Woche war ich zum Arzt gegangen, der mich kopfschüttelnd wieder weggeschickt hatte. Ich hätte erleichtert sein sollen. Aber ich wusste, dass er falsch lag. Und zwei Wochen später wusste der Arzt das dann auch.
„Schwanger mit sechzehn. Das hatte ich auch lange nicht mehr in meiner Praxis.“
Sein Blick war vorwurfsvoll gewesen. Fast schon verächtlich.
„Haben Sie denn nicht verhütet?“
„Doch. Ich nehme die Pille.“
„Dann haben Sie sie wohl nicht richtig genommen.“
Erst wollte ich ihm widersprechen, aber dann fiel mir der Magen-Darm-Infekt ein, der mich Anfang des Monats geplagt hatte. Fast eine Woche hatte ich nichts im Magen behalten können. Weder Essen noch Trinken noch die Pille. Jonas und ich hatten uns damals nichts dabei gedacht. Wir waren sechzehn. Das große Leben lag noch vor uns, wie hätten wir ahnen sollen, dass bald auch ein kleines Leben in mir liegen würde.
„Und wann machst du den Test?“
Die Dunkelhaarige zuckt mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Ich habe solche Angst vor dem Ergebnis. Wie sage ich ihm das nur? Sage ich es ihm überhaupt?“
„Willst du es denn … weißt du schon, was du machst, wenn du wirklich schwanger bist?“
Ich halte unwillkürlich die Luft an. Die Frau zögert. Ich weiß, wie schwer diese Frage zu beantworten ist. Und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich am Ende für die falsche Antwort entscheidet.
„Ich will es behalten!“, hatte ich damals leise zu meiner Mutter gesagt, während sie tobte und schrie, wie verantwortungslos ich doch sei.
„Auf keinen Fall!“, hatte sie geantwortet. „Von mir aus kannst du es austragen, aber nach der Geburt kommt es direkt in die Hände von Adoptiveltern.“ Schockiert hatte ich sie angestarrt. Wie kaltherzig sprach sie über mein Kind. Über ihr Enkelkind.
„Mama, bitte … ich weiß, Jonas und ich sind noch sehr jung, aber mit eurer Unterstützung können wir das schaffen!“
Sie erwiderte nichts, also versuchte ich, sie erst mit Argumenten und dann mit Betteln umzustimmen. Doch es war vergebens. Sie ignorierte meine Worte einfach - so wie sie es immer tat, wenn ich etwas sagte, was nicht in ihr Weltbild, ihren Alltag oder einfach nur zu ihrem Gemütszustand passte.
Schließlich war ich aus dem Haus gestürmt, an den neugierigen Blicken unserer Nachbarin Frau Pfeiffer vorbei in Richtung Wald. Bis heute erinnere ich mich daran, wie eisig kalt mir war, weil ich in der Eile meine Winterjacke vergessen hatte.
Trotzdem lief ich stundenlang, unter mir gefrorene Erde, über mir rauschende Tannen, in mir ein lebender Zellhaufen.
Irgendwann, es war schon längst dunkel geworden, stand ich vor dem Haus von Jonas und seinen Eltern. Ich zitterte am ganzen Körper. Ob das Baby wohl auch fror?
Vielleicht wäre damals alles anders gekommen, wenn Jonas zu mir gehalten hätte. Aber ausgerechnet er, meine engste Bezugsperson, meine einzige Stütze, brach mir weg.
„Wir sind doch viel zu jung, um Eltern zu sein. Wie sollen wir uns das leisten? Wer soll sich um das Kind kümmern? Hör da lieber auf deine Mutter“, sagte er und spielte dabei mit dem Kreuzanhänger an seiner Halskette.
Ich hatte nicht geantwortet. Jonas war ein logischer Denker. Und logisch betrachtet war seine Aussage natürlich richtig. Aber fernab jeder Logik wusste ich, dass wir es schaffen konnten. Andere in unserem Alter hatten es auch geschafft.
„Jonas, ich weiß es wird schwer, aber ich fühle mich schrecklich bei dem Gedanken mein Kind an irgendwelche Fremden abzugeben.“
„Wir bekommen ein anderes! Später, wenn wir so weit sind!“, er tätschelte meine Hand, die ganz nass von den Tränen war, die darauf heruntertropften.
Nach einer halben Ewigkeit schaffte ich es zu nicken.
„Okay, dann sage ich meiner Mutter jetzt, dass wir dazu bereit sind, das Kind zur Adoption freizugeben.“
Bis heute frage ich mich oft, wie mein Leben wohl geworden wäre, wenn ich auf meine Intuition statt auf meine Mutter und Jonas gehört hätte. War das der entscheidende Moment, die Kreuzung, an der ich falsch abgebogen war? Würde ich mich jetzt weniger hassen, wenn ich mich damals durchgesetzt hätte? Oder nur noch mehr?
Die Stimme der jungen Frau holt mich zurück in die Gegenwart.
„Ich glaube, ich will es nicht bekommen … denkst du, ich bin deshalb ein schlechter Mensch?“
Ein paar Sekunden vergehen, ich warte gespannt, wie die andere Frau nun reagieren wird.
„Nein, das denke ich nicht. Ich kann dich verstehen. Es ist einfach eine unfassbar schwere Situation. Aber egal was du tust, vergiss nicht, dass es deine Entscheidung ist. Es gibt hier kein allgemeingültiges richtig oder falsch. Falsch ist nur, diese Entscheidung von jemand anderem außer dir selbst abhängig zu machen.“
Gänsehaut läuft über meinen Rücken. Hätte ich damals doch nur jemanden gehabt, der mir dasselbe gesagt hätte.
„Ich glaube, ich mache den Test jetzt. Dann weiß ich wenigstens endlich Bescheid.“
Selbst aus der Entfernung erkenne ich, dass in den Augen der dunkelhaarigen Frau Tränen schwimmen.
„Soll ich mitkommen?“
„Ja, bitte.“
Die zwei stehen auf, ich sehe ihnen hinterher und dann auf mein Handy. Es ist 9:21 Uhr. Die zwei kennen sich noch nicht mal eine halbe Stunde und doch erleben sie gerade etwas, dass sie vielleicht für ihr ganzes Leben miteinander verbinden wird.
Ich klappe meinen Laptop auf. Diese Geschichte geht mich nichts an. Ich habe mich lange genug in der Vergangenheit verloren.
Während ich durch die Flut an neuen E-Mails scrolle, hallt ein Name immer wieder und wieder in meinem Kopf nach.
Tanja.
Tanja ist der Name meiner Tochter.
Sie ist heute 28 Jahre alt.
Thomas
Neugierig sehe ich den zwei jungen Frauen nach, die gemeinsam auf der ICE-Toilette verschwinden. Die eine ist genau mein Typ. Ihre blonden Haare sind zu einem strengen Dutt hochgesteckt, sie trägt eine weiße Bluse, einen ka rierten Blazer und eine enge Stoffhose, die ihre Kurven betont.
Ich grinse. Mein Bruder sagt immer, mein Frauengeschmack ist konträr zu meinem Wesen und damit hat er absolut Recht. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, weshalb ich so selten eine in meinem Beuteschema abkriege. Ich blicke an mir herunter. Mein Hemd ist zerknittert und mit grünen Hanfblättern bedruckt, die hochgekrempelten Ärmel geben den Blick auf meine bunten Tattoos frei und meine Jeans ist nicht nur zu kurz, sondern auch noch mit Matsch beschmiert. Ich weiß selber, dass ich aussehe wie der letzte Öko-Hipster. Der riesige Backpacker-Rucksack neben mir vervollständigt das Bild. Trotzdem beschließe ich, gleich eine Runde mit der adretten Blondine zu flirten.
Nach fünf Minuten sind die zwei immer noch nicht wieder aus der Toilette herausgekommen. In der Zeit habe ich Aftershave rausgekramt, Deo benutzt und meine verstrubbelten Haare unter meiner Cap verborgen. Ungeduldig wippe ich mit den Füßen auf und ab. Was machen die denn um Himmels Willen da drinnen?
Ehe meine schmutzige Fantasie mir darauf eine Antwort geben kann, geht die Tür auf. Die Dunkelhaarige stürmt voraus, meine Blondine hinterher.
„Ich kann das nicht! Bitte Marlene, lass mich in Ruhe!“
Marlene heißt meine Zukünftige also. Schöner Name.
„Aber du wolltest das doch selbst …“
„Jetzt aber nicht mehr!“
Die beiden stehen jetzt genau neben mir.
„Darf ich raten, worum es geht?“, integriere ich mich grinsend in das Gespräch.
„Nein darfst du nicht!“, faucht die Dunkelhaarige. Marlene schweigt. Das ist mir Bestätigung genug.
„Also falls sich eure Diskussion um einen Quickie auf der ICE-Toilette dreht, kann ich aus eigener Erfahrung sagen: Es lohnt sich nicht.“
Sie starren mich wortlos an. Endlich macht der Spruch mit den heruntergeklappten Kinnladen einen Sinn.
„Sorry, war ein blöder Witz.“
„Das war es allerdings“, entgegnet meine Traumfrau und schaut mich dabei genauso an, wie meine Mutter mich letztes Jahr angeschaut hat, als ich die Weihnachtspredigt vom Pfarrer mit einem lauten Rülpser unterbrochen habe.
Ich ignoriere die angespannte Stimmung gekonnt und strecke meine Hand aus.
„Ich heiße Thomas und ihr?“
„Geht dich gar nichts an“, die Dunkelhaarige faucht immer noch.
Marlene schweigt, meine Hand schwebt hoffnungsvoll vor ihr.
„Marlene, richtig?“
„Wieso weißt du das?“
„War in eurem Gespräch nicht zu überhören.“
„Und wieso fragst du dann überhaupt?“
„Wollte dir beweisen, dass ich auch höflich sein kann.“
„Das wage ich zu bezweifeln“, sie zieht arrogant die Augenbrauen hoch, aber ich sehe genau, dass sie ein Grinsen unterdrückt.
Bevor ich mir eine schlaue Antwort überlegen kann, höre ich eine tiefe Stimme hinter mir.
„Ich muss hier mal durch, bitte.“
Ein älterer Mann, mit einem sehr teuer aussehenden Mantel, versucht sich an Marlene und ihrer Freundin vorbei zu quetschen und verdreht dabei genervt die Augen.
Ehe die beiden ihm Platz machen können, kommt der Zug mit einem plötzlichen Quietschen zum Stehen. Dann geht alles ganz schnell. Der Mann stolpert und greift im Fallen nach dem Arm der Dunkelhaarigen, die gerät nun ebenfalls ins Schwanken und beide stürzen auf den Boden. Der Mann landet mit seinem ganzen Gewicht auf der zierlichen Frau.
„Aua“, wimmert sie leise.
„Passen Sie doch auf!“, kreischt Marlene.
„Da konnte ich nun wirklich nichts dafür“, der Mann rappelt sich auf und geht dann in schnellen Schritten den Gang entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Alles gut?“, besorgt hockt sich Marlene zu ihrer Freundin, die mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden sitzen bleibt.
„Ich weiß nicht, da war so ein komisches Ziehen.“
Erst jetzt sehe ich, dass sie sich den Bauch hält, als sei darin etwas Wertvolles versteckt.
„Du bist schwanger?“, ich springe auf und halte ihr meine Hand hin. Erst zögert sie, aber dann greift sie zu, sodass ich sie hochziehen kann.
„Vielleicht. Ich habe den Test noch nicht gemacht.“
„Darum ging es also in eurem Gespräch“, sage ich mehr zu mir selbst als zu ihr.
„Genau. Nicht um einen Quickie auf dem ICE Klo“, sie grinst und ich bin erleichtert, dass sie anscheinend doch nicht ernsthaft verletzt ist.
„War das geplant?“
„Nö. Ich habe gerade mit dem Erzeuger Schluss gemacht nachdem herausgekommen ist, dass er mich die letzten vier Monate mit seiner Arbeitskollegin betrogen hat.“
„Oh fuck.“
„Ja.“
Ich schaue Marlene an. Sie schaut zurück und dann schnell auf den Boden. Da ist was zwischen uns. Ich spüre das. Deshalb muss ich das Gespräch mit ihrer Freundin auch unbedingt aufrechterhalten.
„Weiß er was von deiner Vielleicht-Schwangerschaft?“
„Ne.“
„Und sagst du es ihm, wenn du’s bist?“
„Ich denke nicht.“
Wir schweigen. Ich denke an meine Exfreundin Luise. Bei unserer Trennung hatte sie mir an den Kopf geworfen, dass sie mit so einem Chaoten wie mir niemals Kinder haben könnte. Ich hatte bis dato gar nicht gewusst, dass sie überhaupt Kinder wollte, geschweige denn Kinder mit mir. Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich allgemein nicht allzu viel über Luise gewusst, dabei waren wir zwei Jahre zusammen gewesen. Den Großteil dieser Zeit hatte ich allerdings nicht bei ihr, sondern in Afrika und Asien verbracht. Die klassischen Reiseziele für Menschen, die ihre wahren Ziele im Leben noch nicht kennen. Ich hatte geglaubt weit weg zu müssen, um mich selbst zu finden und am Ende war ich noch verlorener zurückgekommen, als ich es vor meinen Reisen gewesen war. Denn natürlich gab es in diesen Ländern schöne Strände, beeindruckende Städte und köstliches Essen - aber es gab eben auch viel Armut, Ungerechtigkeit, Dreck und Verzweiflung.
Und seitdem ich wusste, dass die Welt dort draußen verdammt große Probleme hatte, wusste ich leider auch, dass ich, egal ob in Deutschland oder tausende Kilometer entfernt, immer nur ein winziger, unbedeutender Fleck in der Landschaft sein würde.
Diese Erkenntnis hatte mich so krank gemacht, dass ich seit meiner Rückkehr nur noch dabei war, alles kaputt zu machen, was mir einen Sinn im Leben gegeben hatte. Ich vergraulte Luise, brach den Kontakt zu meiner Familie fast vollständig ab und ging nicht mehr zu meinen Jura Vorlesungen. Warum sollte ich meine Zeit mit Karriereplanung verschwenden, wenn die Erde eh kurz vor dem Untergang stand? Nein, ich hatte es satt mich um die Zukunft zu kümmern und immer nur nach dem nächsten Erfolg für meinen Lebenslauf zu streben. Lieber besuche ich alte Schulfreunde und neue Reisebekanntschaften in ganz Deutschland, um mich mit ihnen in den coolsten Clubs der Stadt zu besaufen und zu vergessen, wie winzig und unbedeutend ich bin.
„Warum bist du denn plötzlich so still? Du warst doch bisher auch nicht gerade auf den Mund gefallen“, reißt Marlene mich aus meinen trüben Gedanken.
„Habe nur überlegt, ob deine Freundin sich für den Schwangerschaftstest Mut antrinken kann, aber falls sie echt schwanger ist, wäre das vermutlich nicht so schlau.“
Marlene lacht und ich danke Gott für meine Schlagfertigkeit.
„Ich heiße übrigens Gina“, sagt die Dunkelhaarige. „Gut zu wissen, Gina“, ich grinse sie an, dann schaue ich wieder zu Marlene.
„Vielleicht könnten wenigstens wir beide uns Mut antrinken? Leicht beschwipst gibt man schließlich die besten Ratschläge“, wage ich mich einen weiteren Schritt nach vorne.
„Ist es nicht ein bisschen früh für Alkohol?“
„Ach, ich finde das ist eigentlich echt eine gute Idee“, Gina zwinkert mir zu und läuft dann beschwingt los. „Kommt mit, ich glaube das Zugrestaurant ist im Wagen nebenan. Ich spendiere euch sogar die erste Runde.“
Mit offenem Mund blicken Marlene und ich ihr nach.
„Man, die ist echt cool drauf“, murmle ich.
„Ja. Sie ist übrigens gar nicht meine Freundin. Ich habe sie eben erst hier im Zug kennengelernt.“
„Echt? Ihr zwei wirkt, als würdet ihr euch seit Jahren kennen.“
„Komischerweise fühlt sich das gerade auch so an.“
„Kommt ihr nun endlich?“
Wir lachen und folgen Gina in Wagen acht.
Nachdem Marlene dann doch nicht bereit ist, vor zehn Uhr morgens ein Bier mit mir zu trinken, ordern wir stattdessen drei Kakao bei der Kellnerin und setzen uns damit an einen Vierertisch.
„Prost!“
„Bis wohin fährst du eigentlich, Thomas?“, fragt mich Marlene nachdem wir angestoßen haben und ich muss lächeln, weil sie sich meinen Namen gemerkt hat.
„Endstation München. Und ihr?“
„Auch.“
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr.
In knapp fünf Stunden kommen wir an. Ich nehme mir fest vor bis dahin irgendwie Marlenes Handynummer rauszukriegen. Denn irgendwas ist da in ihren blauen Augen. Irgendwas, das mich, immer wenn ich hineinschaue, kurz vergessen lässt, wie winzig, unbedeutend und sinnlos unser Leben auf dieser Welt ist.
Detmar
Ich lehne mich erschöpft gegen die Lehne des ICE-Sitzes. Unbequem. Warum mussten die heute nur die erste Klasse sperren, sowas habe ich ja noch nie erlebt. Aber ich habe keine Zeit mich darüber aufzuregen, ich muss die Kurse checken. Die letzte Investition war riskant, noch riskanter als sonst, aber ich kenne mich aus, ich kenne die Börse besser als meine Frau.
Ich drehe die Musik auf meinem Handy lauter, um das Gerede der jungen Leute zu übertönen. Als ob die unbequemen Sitze nicht schon schlimm genug wären, muss ich jetzt auch noch mit solchem Gesindel in einem Abteil sitzen. Am liebsten hätte ich dem jungen Mann gesagt, dass er mit diesem hässlichen Hanfpflanzen-Hemd niemals einen Job, geschweige denn eine Frau, abkriegen wird. Aber ich habe mir den Kommentar gespart, geht mich schließlich nichts an, wie andere Leute sich ihr Leben verpfuschen.
Ich drehe mich nochmal um und mustere die dunkelhaarige Frau, die jetzt wieder aufrecht steht und ziemlich unversehrt aussieht. Wenn ich es nicht so eilig gehabt hätte zurück zu meinem Laptop zu kommen, wäre ich sicher auf die Idee gekommen, ihr als Entschuldigung einen Kaffee zu spendieren. Nicht, um mein Gewissen zu erleichtern, sondern um meine eingerosteten Flirtkünste wieder einmal aufzupolieren. Zwar bin ich wahrscheinlich mehr als doppelt so alt wie sie, aber wenn es um Attraktivität geht, zählt Geld mehr als ein faltenfreies Gesicht oder ein muskulöser Oberkörper, das habe ich schon lange gelernt. Meine Frau ist auch erst siebenunddreißig, ehemaliges Model und sicher nicht wegen meines Aussehens mit mir zusammen. Mir ist das durchaus bewusst, es ist mir nur herzlich egal.
Mein E-Mail-Account explodiert. Es steht nicht gut um meine Aktie. Das wissen mittlerweile nicht nur ich, sondern auch sämtliche meiner Geschäftsfreunde, denen ich zum Kauf geraten habe. Die Formulierungen reichen von „Detmar, ich bin wirklich enttäuscht, wie sehr du dich diesmal verschätzt hast!“ bis zu „Was für eine hirnverbrannte Scheiße hast du mir da erzählt?!“. Mein Puls geht höher, ich atme tief ein und aus, so wie meine Ärztin es mir geraten hat. Hilft nicht. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Ich habe fast mein gesamtes Vermögen auf diese Aktie gesetzt. Nachdem ich in den letzten Monaten immer mehr Geld verloren hatte, beschloss ich, „All in“ zu gehen, um die anfallenden Miesen wieder auszugleichen. Dieser Plan ist eindeutig nicht aufgegangen. Wenn ich jetzt verkaufe, habe ich so ein großes Minus, dass wir uns die Villa in Blankenese nicht mehr lange leisten können. Ich öffne meine Banking-App, verschaffe mir eine Übersicht über meine aktuelle Finanzlage. Es sieht nicht gut aus, genau genommen sieht es rabenschwarz aus. Mein gesamtes Erspartes steckt in einer Aktie, die fällt und fällt. Ich fahre mir mit den Händen durch meine Haare, die in den letzten Jahren stark an Volumen und Farbe verloren haben.
„Ich kenne keinen, der riskanter investiert als du“, hatte mein Freund Ulrich immer zu mir gesagt.
„Aber auch keinen, der mehr Gewinn macht als ich, oder?“, hatte ich grinsend geantwortet und an meiner Pfeife gezogen.
„Irgendwann wird dich eine Fehlinvestition den Kopf kosten, glaub mir mal“, hatte Ulrich ernst erwidert.
Ich hatte seinen Rat mit einer wegwerfenden Handbewegung aus dem Raum und meinem Kopf gewischt.
Wenige Monate später war mein bester und einziger Freund verstorben. Herzinfarkt mit Anfang fünfzig. Er war einfach vor seinem Laptop zusammengeklappt, beim Traden, die rechte Hand lag noch auf der Maus, bereit zum Klicken, bereit für die nächste Investition. Ich spüre mein Herz gegen die Brust hämmern. Tief einatmen. Tief ausatmen. So schnell wird mich die Welt nicht los. So schnell werde ich mein Geld nicht los.
Ich verfasse E-Mail-Antworten, die weit unter dem Niveau eines gebildeten Mannes Mitte fünfzig liegen und überlege, wie es jetzt weitergeht. Soll ich warten? Vielleicht geht der Kurs wieder hoch. Aber nach dem gestrigen Umweltskandal wage ich das zu bezweifeln. Scheiß Ökos. Scheiß Klimakrise. Wenn diese dumme Erde nicht immer wärmer werden würde, gäbe es keine Fridays for Future, kein Green Marketing, keinen Bio Trend, keinen Aktieneinbruch.