6 Tote - Michael Bennett - E-Book

6 Tote E-Book

Michael Bennett

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Beschreibung

Der Tod vergisst nicht

Als Polizistin in Auckland und getrennt lebende Mutter einer Teenie-Tochter, hat Hana Westerman sich angewöhnt, stets nach vorn zu blicken. Doch ihr schwierigster Fall hat gerade erst begonnen: Ein mysteriöser Tippgeber weist ihr den Weg zu einem Toten, aufgehängt in einem geheimen Raum. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Hana noch nicht, dass sie es mit dem ersten Serienkiller in der Geschichte Neuseelands zu tun hat. Doch warum hat der Täter ausgerechnet sie auf seine Fährte gelockt? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss Hana sich ihrer Vergangenheit stellen – und damit dem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit ...

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DASBUCH

Als Polizistin in Auckland und getrennt lebende Mutter einer Teenie-Tochter hat Hana Westerman sich angewöhnt, stets nach vorn zu blicken. Doch ihr schwierigster Fall hat gerade erst begonnen: Ein mysteriöser Tippgeber weist ihr den Weg zu einem Toten, aufgehängt in einem geheimen Raum. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Hana noch nicht, dass sie es mit dem ersten Serienkiller in der Geschichte Neuseelands zu tun hat. Doch warum hat der Täter ausgerechnet sie auf seine Fährte gelockt? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss Hana sich ihrer Vergangenheit stellen – und damit dem dunkelsten Kapitel ihres Lebens …

DERAUTOR

Michael Bennett (Ngāti Pikiao, Ngāti Whakaue) arbeitet als preisgekrönter Regisseur, Produzent und Showrunner für Film und Fernsehen in Neuseeland (Aotearoa). 6 Tote ist der erste Fall für Detective Senior Sergeant Hana Westerman. In seinem Thriller-Debüt verknüpft Michael Bennett seine Leidenschaft für spannende Geschichten mit Fragen von Identität und Herkunft, die eng mit dem kolonialen Erbe seiner Heimat verbunden sind. Mit seiner Partnerin und seinen drei Kindern lebt Michael Bennett in Auckland (Tāmaki Makaurau).

MICHAELBENNETT

6

TOTE

THRILLER

AUSDEMNEUSEELÄNDISCHENENGLISCH

VONFRANKDABROCKUNDMARTINRUF

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Better the Blood erschien erstmals 2022 bei Simon & Schuster UK Ltd., London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Text des Liedes Brown and Screaming © 2021 by Matariki Star Holland Bennett

Die Zitate [>>] und [>>] aus Hamlet von William Shakespeare in der Übersetzung von Erich Fried drucken wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach.

Deutsche Erstausgabe 07/2023

Copyright © 2022 by Michael Bennett

Published by Arrangement with SIMON & SCHUSTERUKLTD., LONDONWC1X 8HB, UK

Story and characters developed by Michael Bennett and Jane Holland

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Sensitivity Reading: Anna von Rath

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von www.buerosued.de

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29873-9V002

www.heyne.de

HINWEIS ZUR SPRACHE DER MĀORI IN 6 TOTE

In diesem Thriller finden sich einige Wörter und Begriffe aus der Sprache der Māori. Übersetzungen und Erklärungen dazu können hier nachgeschlagen werden.

Für Jane, Tīhema, Māhina und Matariki. In tiefer Arohanui

Kia whakatōmuri te haere whakamua.

Ich gehe rückwärts in die Zukunft,

den Blick auf meine Vergangenheit gerichtet.

Māori Whakataukī (Sprichwort)

1

EIN UNSCHARFER FLECK IN DEN GESCHICHTSBÜCHERN

5. Oktober 1863

Mit flinken Bewegungen poliert er die versilberte Kupferplatte auf Hochglanz. Er hat eine Menge Übung darin. Früher, etwa wenn er den Auftrag bekam, mehrere Angehörige einer wohlhabenden Londoner Kaufmannsfamilie zu porträtieren, schaffte er an einem guten Tag mühelos dreißig Daguerreotypien, vielleicht auch mehr. Doch an diesem gottverlassenen Ort am anderen Ende der Welt gestaltet sich seine Arbeit sehr viel schwieriger. Da ihn die königliche Armee damit betraut hat, den Kolonialfeldzug für die Nachwelt zu dokumentieren, ist er immer wieder gezwungen, sein Handwerk im Freien auszuüben, wo es kein abgedunkeltes Studio gibt, in dem er seine Arbeitsmaterialien vorbereiten kann.

Das ist, gelinde gesagt, eine echte Herausforderung. Aber er rühmt sich, ein Meister seines Fachs zu sein.

Bedeckt von einem schwarzen Tuch, schiebt der Fotograf jetzt die blank polierte Platte in einen Kasten mit Jodkristallen und wartet geduldig, bis die dabei entstehenden Dämpfe mit dem Silber reagieren.

Andere sind jedoch weniger geduldig.

»Wir haben nicht den ganzen Tag dafür Zeit«, sagt der Hauptmann. »Beeilen Sie sich.«

Der Hauptmann ist ziemlich betrunken, und das schon seit ein paar Stunden, seit seine Männer den Gefangenen aufgegriffen haben. Ehrlich gesagt ist er sehr viel häufiger betrunken als nüchtern, was seine Männer nur allzu gut wissen und was sich durch den ständigen Mangel an Rum in ihrer abendlichen Lebensmittelration deutlich bemerkbar macht. Obwohl keiner von ihnen es wagen würde, sich zu beschweren, hat sich der Hauptmann mit seiner Trunksucht bei seinen Untergebenen keine Freunde gemacht.

Der Fotograf zählt unter dem schwarzen Tuch leise die Sekunden, die es dauert, bis die chemische Reaktion abgeschlossen ist. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig …

»Was treiben Sie da unter dem verdammten Tuch eigentlich?«, fragt der Hauptmann, der schnell wieder in sein Zelt zurückwill. Er hat seine Flasche erst zur Hälfte geleert, und der Tag ist schon fast zu Ende.

In der Dunkelheit unter dem Tuch stößt der Fotograf einen Seufzer aus. Fünfunddreißig, sechsunddreißig …

Eine Zeit lang hegte er für sein Leben sehr viel ehrgeizigere Pläne. Er träumte davon, an der Royal Academy Schools zu studieren, und stellte sich vor, wie er als von der britischen Kunstwelt bewunderter Maler den flämischen Stil wiederbeleben und erneuern würde. Aber als Sohn aus einer langen Ahnenreihe von Hufschmieden durfte er kaum darauf hoffen, an der Royal Academy Schools angenommen zu werden, geschweige denn die hohen Studiengebühren aufbringen zu können. Da ihm vor der Vorstellung graute, die Familientradition fortzuführen, entschied er sich für diese neue Kunstform, bei der man das Licht auf Silberplatten bannt. Bei der man eine Momentaufnahme des Lebens nicht in Öl oder Aquarellfarben festhält, sondern mit Silber, Kupfer und Quecksilber. Auf diese Weise kann er seinen Lebensunterhalt bestreiten, indem er seine beachtlichen Fähigkeiten im Umgang mit dem Spiel des Lichts auf Landschaften und Menschen nutzt.

Das ist zwar keine Malerei. Aber es ist in Ordnung. Fünfundvierzig.

Er kommt unter dem schwarzen Tuch hervor.

»Wurde verflucht noch mal auch Zeit«, sagt der Hauptmann.

Der Fotograf geht zu den Soldaten hinüber und korrigiert noch einmal ihre Position, um sie möglichst vorteilhaft in das grelle Licht zu rücken, das durch die Äste des gewaltigen Baums fällt, vor dem sie stehen. »Das hier ist moderne Alchemie«, sagt er begeistert, denn er weiß, dass die Aufnahme einer Daguerreotypie den Menschen, die mit dieser neuen Technik nicht vertraut sind, ihre Vorbehalte nehmen kann. »Ein kleines Zauberkunststück. Ich werde euch für alle Zeiten auf einem Bild festhalten. Dieser Moment wird auch dann noch existieren, wenn eure Knochen längst zu Staub zerfallen sind.«

»Legen Sie einen Zahn zu«, lallt der Hauptmann. »Ich muss mal scheißen.«

»Das kommt von dem Rum«, sagt einer der Soldaten, der sich sicher ist, dass der Hauptmann ihn nicht hören kann.

Verärgert über die Geringschätzung seiner Kunst durch den betrunkenen Hauptmann, kehrt der Fotograf zu seinem kastenförmigen Apparat zurück. »Das hier ist das Objektiv«, erklärt er und zeigt auf den Zylinder, der aus der Mitte des Kastens hervorragt. »Wenn ich die Kappe abnehme, müsst ihr vollkommen stillhalten. Vollkommen! Wenn ihr euch auch nur ein bisschen bewegt, werdet ihr nichts weiter als ein unscharfer Fleck in den Geschichtsbüchern sein.«

Abgesehen von dem Hauptmann mit seiner Alkoholfahne und dem hochroten Kopf haben sich die Soldaten auf diese Prozedur mit dem gebührenden Ernst vorbereitet; sie haben ihre Uniformknöpfe blank poliert und ihre halbhohen Stiefel auf Hochglanz gebracht.

»Was für ein Gesicht sollen wir machen?«, fragt einer der Männer. »Sollen wir lächeln?«

»Lächelt Jesus etwa auf dem Letzten Abendmahl?«, blafft der Fotograf.

»Kurz darauf hat man ihm verdammt große Nägel in die Hände geschlagen«, bemerkt der jüngste Soldat. »Kein Wunder, dass er nicht gelächelt hat.«

Ohne dem einsetzenden Gelächter Beachtung zu schenken, erwidert der Fotograf unbeirrt: »Hat Michelangelo seinem David etwa ein dämliches Grinsen ins Gesicht gemeißelt? Mit einem Lächeln sieht man aus wie ein Idiot«, sagt er. »Nur Dummköpfe lächeln. Also nicht lächeln.«

Er stellt sich neben das Objektiv.

»Macht euch bereit«, sagt er. »Jetzt bitte nicht bewegen. Und … stillhalten.« Er nimmt die Kappe ab.

Augenblicklich wird das Bild zwischen mehreren Spiegeln in der Holzkiste hin- und hergeworfen, bis das Licht schließlich umgekehrt auf die polierte Silberplatte fällt und der fotochemische Prozess den Moment festhält.

Die sechs Soldaten, der betrunkene Hauptmann und seine fünf Männer, stehen unter einem riesigen Pūriri-Baum auf dem Gipfel eines Vulkans, von dem aus man den Hafen von Auckland überblickt. Während der chemischen Reaktion kann man langsam erkennen, dass der Fotograf auch ohne Studium an der Royal Academy Schools intuitiv die Zweidrittelregel anwendet. Die Bildaufteilung ist nahezu klassisch.

Die sechs Soldaten stehen in einem ästhetisch ansprechenden Halbkreis unter dem Baum. Ein paar Meter über ihren Köpfen füllt eine siebte Person, die mit einer Schlinge um den Hals an einem zwölfsträngigen Seil der britischen Armee von einem der unteren Äste hängt, den oberen Teil dieser sorgfältig gestalteten Komposition aus.

Der tote Mann ist nackt; man hat den Gefangenen ausgezogen und gedemütigt, bevor man ihn hingerichtet hat. Als Vergeltung dafür, dass er der Truppe, die Jagd auf ihn gemacht hat, für einen beschämend langen Zeitraum entkommen konnte. Seine Hände sind vor dem Oberkörper zusammengebunden und die Füße an den Knöcheln gefesselt. Der Mann ist ein Māori, und das Tā Moko, mit dem Gesicht und Körper tätowiert sind, weist ihn als hochrangigen Anführer aus. Er ist in den Fünfzigern und hat silbergraues Haar, und die Spiralmuster und Linien, die tief in seine Haut geritzt sind, erzählen von seiner Abstammung, seinem Status und dem Wissen, das er in sich trägt, von dem Whakapapa, der über Generationen bis zu ihm hinunterreicht.

Er ist ein Rangatira.

»Wie lange noch?«, lallt der Hauptmann.

»Nicht reden«, brüllt der Fotograf. »Sonst seid ihr nur ein unscharfer Fleck in den Geschichtsbüchern!«

Nach den erforderlichen sechzig Sekunden steckt er die Kappe schließlich wieder auf das Objektiv.

2

HANA

Einhundertsechzig Jahre später

Hana wühlt mit den Händen in der Erde. So wie sie es mag. Der Boden in ihrem Garten ist unglaublich fruchtbar. Auckland ist die erste größere Stadt seit Pompeji, die auf einem aktiven Vulkanfeld errichtet wurde, und aufgrund der heftigen Eruptionen der vergangenen Jahrtausende sind die Gärten in den innerstädtischen Wohngebieten dicht und üppig bewachsen. Der Nachteil ist, dass sich jederzeit plötzlich ein neuer Riss auftun kann; ganze Viertel könnten unter einem Regen von Lava und Asche begraben werden. Zwar gab es seit tausend Jahren keinen Ausbruch mehr, aber für einen pessimistischen Menschen ist das mehr Anlass zur Sorge als zur Zuversicht. Der Vorteil ist, dass in der Innenstadt von Auckland Pflanzen prächtig gedeihen.

Hanas Garten ist eine Oase, ein Zufluchtsort, in dem alles sehr viel unkomplizierter ist als in der Welt, die ihren Alltag bestimmt. Eigentlich ist es weniger ein Garten, sondern eher ein kleiner Regenwald. Es gibt hier Keulenlilien, Flachspflanzen und einen ehemaligen Goldfischteich mit Seerosen und Brunnenkresse. Außerdem eine einheimische Palme, eine riesige, sieben Meter hohe Nikau-Palme, die am Rand des Grundstücks steht. Die Nachbarn hinterlassen Hana regelmäßig kleine Nachrichten, in denen sie ihrem Ärger über die Palme Luft machen, Nachrichten, die Hana jedes Mal, nachdem sie sie gelesen hat, wieder zusammenfaltet und in der Mülltonne entsorgt. Die Nikau-Palme ist um die achtzig Jahre alt, wahrscheinlich sogar älter. Sie ist in diesem Vorort länger heimisch als sonst irgendjemand. Hana wird sie auf keinen Fall stutzen oder fällen, nur weil die kürzlich eingezogenen Nachbarn – die Steuerberater, Architekten oder wer weiß was sind – eine bessere Aussicht haben wollen.

In diesem Moment vibriert das Telefon in der Tasche der alten Jeans, die sie immer bei der Gartenarbeit trägt. Doch sie ignoriert es und richtet sich auf, streckt ihren Körper und wischt sich die Hände an der Jeans ab.

Hana hat dunkle Augen. Sie sind so dunkel, dass man in einem bestimmten Licht nicht erkennen kann, ob sie braun oder schwarz sind. Die Erde, die sie auf ihrer Hose verschmiert hat, ist fast genauso dunkel wie ihre Augen. Aber nur fast. Eine Schlingpflanze hat sich um die Zweige eines prächtig gedeihenden Kava-Kava-Strauches gewickelt. Hana muss sich darum kümmern. Sie bricht von dem Strauch ein Blatt ab, das mit Löchern übersät ist. Sie kann sich noch erinnern, dass in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, weit weg von Auckland, einer der Ältesten ihres Iwi einmal mit einer Gruppe kleiner Kinder in den Busch ging, um ihnen etwas über die Pflanzen des Waldes beizubringen. »Die Raupen wissen, welche Blätter die besten sind«, sagte er auf Te Reo Māori.

Das ist lange her.

Eine halbe Ewigkeit.

Hana beißt in das von Raupen zerfressene Blatt. Es hat einen pfefferartigen Geschmack, der ihr nur allzu vertraut ist. Es schmeckt gut. Wirklich gut. Sie kaut darauf herum, während sie in ihre Tasche greift, das Telefon herauszieht und die neueste SMS liest.

Hast du die Unterlagen gefunden?

Sie starrt auf die Worte. Hana ist eine Problemlöserin und nimmt normalerweise, ohne zu zögern, die schwierigsten Aufgaben sofort in Angriff. Aber diese Frage will sie nicht beantworten. Also steckt sie das Telefon wieder in die Tasche.

Vor der Hintertür streift Hana ihre schmutzigen Schuhe ab.

Ihr Haus ist zweckmäßig möbliert. Mit seiner schlichten, minimalistischen Einrichtung ist es das Gegenteil ihres dschungelartigen Gartens und entspricht den Bedürfnissen einer Frau von Ende dreißig, die gerne alleine lebt, einer Frau, die Klarheit und Ordnung zu schätzen weiß. Oben im Gästezimmer befindet sich ein Atelier. Der lichtdurchflutete Raum ist der einzige im Haus, der mit Sachen vollgestopft ist. Auf dem Boden liegen zusammengerollte Leinwände, und es stehen Kisten mit Farben und Bleistiften herum.

An den Wänden hängen mehrere Bleistiftzeichnungen. Es handelt sich um fertige Arbeiten. Akribisch, präzise und kunstfertig ausgeführt. Die Serie zeigt ein Mädchen und verfolgt seine Entwicklung vom Kleinkind bis zum Teenageralter. Auf einigen der Bilder ist das Mädchen als Baby zusammen mit einer Frau und einem Mann zu sehen. Die Bilder mit dem Mädchen als Kleinkind und Teenager zeigen dann nur noch das Mädchen oder das Mädchen zusammen mit der Mutter.

In ihrem Schlafzimmer im Erdgeschoss zieht Hana eine Kiste unter ihrem Bett hervor. Sie wühlt sich durch einen Stapel Rechnungen und nimmt das amtliche Dokument heraus, das ganz unten liegt.

Antrag auf Aufhebung einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft.

Sie hält das Dokument lange in der Hand. Dann legt sie es wieder unter die Stromrechnungen und schiebt die Kiste zurück unters Bett.

Während einer Gerichtsverhandlung versucht Hana, immer an einer bestimmten Stelle zu sitzen. Die Angehörigen und Freunde des Angeklagten belegen stets die Plätze direkt neben ihm. Das ist für einen Polizisten nicht gerade der angenehmste Platz, erst recht nicht, wenn man als leitender Ermittler die Verhaftung vorgenommen hat. Aber es gibt eine perfekte Position, ein paar Meter von den Unterstützern des Angeklagten entfernt; von dort aus kann man sein Gesicht im Profil sehen – es ist wirklich erstaunlich, was Kieferbewegungen, Kopfhaltung und Augen alles verraten. Blicken sie nach vorne, oder sind sie auf den Boden gerichtet? Gleichzeitig kann man von dort aus die Verteidiger und den Richter sehen.

»Ich habe Ihnen den Platz freigehalten, D Senior«, sagt Stan, als Hana sich neben ihn setzt. Sie nimmt sich für den schlaksigen und oft etwas ungeschickten Detective Constable stets jede Menge Zeit. Stan hat als Jahrgangsbester seinen Abschluss gemacht, aber was Hana noch sehr viel mehr beeindruckt: Er weiß, dass die Ausbildung an der Polizeischule nichts mit der tatsächlichen Arbeit zu tun hat und dass die Noten auf dem Abschlusszeugnis völlig bedeutungslos sind. Er ist intelligent und lernt schnell, und er will wirklich etwas lernen.

Man hat den Angeklagten noch nicht zur Anklagebank geführt, aber seine Familie hat bereits Platz genommen. Wie Hana warten die Angehörigen jetzt, während sich der sündhaft teure Anwalt, den sie engagiert haben, leise mit ihnen unterhält. In diesem Moment öffnet sich die Tür zum Zuschauerraum, und eine größere Gruppe von Leuten tritt mit respektvollem Schweigen ein. Unter ihnen ist eine junge Frau namens Ria, die von ihren Eltern begleitet wird, einem Paar mittleren Alters; sie sind alle Māori. Etwa ein Dutzend Verwandte sind ebenfalls zur Unterstützung mitgekommen. Hana wirft Ria und ihren Eltern, die gegenüber der Familie des Angeklagten Platz nehmen, ein freundliches Lächeln zu. Die Klägerin und ihre Eltern haben das Schlimmste jetzt überstanden, und Hana ist froh darüber. Während des Prozesses haben die Eltern die Aussage ihrer Tochter gehört. Tapfer hatte die junge Frau darauf verzichtet, ihre Aussage per Videoschaltung zu machen, weil sie wollte, dass der Angeklagte ihr Gesicht sah, als sie dem Gericht erzählte, was er ihr angetan hat.

Hana hatte den Eltern erklärt, dass das für Ria äußerst belastend sein würde. »Aber es macht einen Unterschied.« Und das tat es.

Ria wirkte im Zeugenstand äußerst gefasst. Und entschlossen. Sie erzählte den Geschworenen, dass sie mit dem jungen Mann über eine Dating-Website Kontakt aufgenommen und zunächst ein gutes Gefühl hatte, als sie gegenseitig Nachrichten austauschten. Er absolvierte das letzte Jahr seines Jurastudiums und spielte für die Rugby-Nationalmannschaft. Aber er wirkte keineswegs arrogant oder wie ein Arschloch; er konnte sogar über sich selbst lachen. Sie traf sich dann mit ihm in der Bar eines schicken Hotels, wo sie eigentlich sicher war. Doch sie wusste sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als der angedeutete Begrüßungskuss auf die Wange zu einem unerwünschten Kuss auf ihren Mund führte. Dann setzte er sich direkt neben sie, sodass sich ihre Beine berührten. Er wahrte keinerlei persönlichen Abstand. Und sein Lächeln wirkte weniger freundlich als vielmehr besitzergreifend. Die junge Frau erzählte den Geschworenen, dass er offenbar fest davon ausging, mit ihr Sex zu haben, weil sie auf der Dating-App ihr Interesse bekundet hatte. Aber egal wie unwohl sie sich fühlt – und an diesem Abend fühlte sie sich sehr unwohl –, sie hat eine Regel: Selbst wenn sie jemanden völlig unattraktiv findet, bleibt sie auf einen Höflichkeitsdrink. Das gebietet der Anstand. »Männer haben schließlich auch Gefühle«, erklärte sie dem Gericht. »Man kann wenigstens auf einen Drink bleiben. Nur einen Drink.«

Doch ein Drink genügte. Eine später entnommene Blutprobe wies das schnell wirkende Betäubungsmittel nach, das in ihren Mojito gewandert war. Es sei wie eine außerkörperliche Erfahrung gewesen, sagte Ria, es sei alles ganz schnell gegangen. Sie wollte die Toilette aufsuchen, aber sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Jurastudent half ihr dann zum Fahrstuhl und versprach ihr, unten in der Lobby ein Uber-Taxi zu rufen, das sie ins Krankenhaus bringen sollte. Aber als sich die Aufzugtür schloss, fuhr er nicht nach unten, sondern nach oben. Hinauf zu dem Zimmer, das er bereits gebucht hatte. Als sich die Aufzugtür wieder öffnete, konnte Ria nicht mehr reden und kaum noch gehen. Der Student war gut dreißig Kilo schwerer als sie und hatte die kräftigen Muskeln eines linken Flügelstürmers; er kam nicht mal ins Schwitzen, während er sie vom Fahrstuhl zu seinem Zimmer trug. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, sich zur Wehr zu setzen, hätte das keinen Unterschied gemacht. Als sie die Zimmertür erreichten und er seine Schlüsselkarte mit demselben Lächeln wie im Restaurant durch den Schlitz zog, konnte sie nicht mal mehr ihren Arm heben, um …

Hana hat gesehen, wie Rias Eltern während des Prozesses schweigend der Aussage ihrer Tochter lauschten. Gefasst und stoisch. Lediglich ihre Hände, die einander fest umklammerten, verrieten ihre wahren Gefühle. Hana fragte sich, ob sie an ihrer Stelle so ruhig geblieben wäre – wenn ihre Tochter im Zeugenstand gesessen hätte, wenn Addison ihre Aussage gemacht und den Anwesenden erzählt hätte, dass man sie betäubt, gedemütigt und vergewaltigt hatte. Ob sie so stoisch geblieben wäre wie die beiden. Hätte sie jeden Morgen beim Betreten des Gerichtssaals den Angehörigen jenes Mannes höflich zugenickt, der für die Tat verantwortlich war, so wie Rias Eltern es während des Prozesses getan haben?

Das war vor zwei Monaten. Die Geschworenen brauchten nur eine Dreiviertelstunde, um einen Schuldspruch zu fällen. Für Ria und ihre Whānau war das Schlimmste überstanden. Der heutige Termin ist nur noch eine Formalität, der Schlusspunkt. Die offizielle Urteilsverkündung.

Im Gerichtssaal entsteht jetzt Unruhe; mehrere Justizbeamte machen sich bereit, der Anwalt des Jurastudenten nimmt seinen Platz ein, und die Staatsanwältin nickt in Hanas Richtung. Währenddessen spürt Hana ein Vibrieren in ihrer Tasche, als bei ihr eine E-Mail eingeht. Da von dem Richter immer noch nichts zu sehen ist, nutzt sie die Gelegenheit, um einen Blick auf ihr Handy zu werfen. Sie öffnet die Mail und stellt fest, dass als Absender nur eine Ziffernfolge, eine anonyme Adresse, angezeigt wird. Das Textfeld ist leer, und es ist lediglich ein Video angehängt.

Hana schaltet ihr Telefon auf stumm und öffnet den Anhang.

Auf dem Display wird das Video abgespielt. Es ist die ungeschnittene, verwackelte Amateuraufnahme eines heruntergekommenen Wohnhauses bei Nacht. Hana kennt das Gebäude. Das schon lange baufällige Haus wurde in den letzten Jahren von Obdachlosen und Drogenabhängigen in Besitz genommen. Die Einheimischen nennen es scherzhaft den Palace. Langsam wird auf das verfallene Haus gezoomt, und die Kamera verharrt auf einer der Wohnungen, auf der äußeren Wohnung im ersten Stock.

»Erheben Sie sich«, ruft der Gerichtsdiener plötzlich, und Hana hält das Video an.

Der Richter betritt den Saal, und der Angeklagte wird hereingeführt. Er nimmt seinen Platz ein und erwidert das aufmunternde Lächeln seiner Angehörigen mit einem Nicken. Für einen Moment dreht er sich zu Hana um und schaut sie an. Diesen eiskalten Blick hat sie früher schon einmal gesehen. Als sie das Haus seiner Familie aufsuchte, um ihn zu verhaften. Es ist ein unangenehmer Blick. Aber Hana ist unangenehme Situationen gewohnt, und sie wird sich von diesem Typen ganz bestimmt nicht einschüchtern lassen.

Schließlich dreht sich der Jurastudent wieder zu dem Richter um.

Hana schaut erneut auf das merkwürdige Standbild des Videos. Der Palace. Dann steckt sie ihr Telefon in die Tasche. Sie wird sich später damit beschäftigen.

»Patrick Jonathan Thompson, die Geschworenen haben Sie der sexuellen Nötigung für schuldig befunden«, sagt der Richter. »Sowie der schweren Körperverletzung. Sie haben auf heimtückische und abscheuliche Weise das Recht einer jungen Frau missachtet, ohne Angst an einer einfachen zwischenmenschlichen Aktivität teilzunehmen.«

Während der Richter redet, fällt Hana erneut auf, dass sich die meisten Angehörigen der juristischen Zunft zum Verwechseln ähnlich sehen. Bei der Polizei ist das anders. Dort landen alle möglichen Leute, aus ganz persönlichen Gründen, mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten. So wie Hana und Stan, die jetzt hier auf dieser Bank sitzen – Hana ist eine Māori von Ende dreißig und stammt aus der tiefsten Provinz; sie ist in die große Stadt gezogen, als es ihr in ihrem kleinen Dorf zu eng wurde. Stan hingegen ist Mitte zwanzig, hat strohblondes Haar und blaue Augen, kommt aus einer Mittelschichtfamilie und ist in der Großstadt aufgewachsen. Aber der Verteidiger und der Richter sind das genaue Ebenbild voneinander; sie haben beide silbergraues Haar und sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie stammen aus einer Juristenfamilie und setzen deren Tradition fort und sehen aus, als hätten sie nicht nur zusammen Jura studiert, sondern beide auch denselben Kindergarten besucht.

»Dieses Gericht verurteilt Ihre Taten aufs Schärfste, Mr. Thompson«, sagt der Richter. »Allerdings …«

Hana erstarrt. Allerdings? Bis zu diesem Wort war die Einleitung genau wie erwartet. Doch das Wort »allerdings« gibt ihr eine Wendung, die sich Hanas Verständnis entzieht. Der Fall ist glasklar: Es geht um eine Vergewaltigung während eines Dates, bei dem der Täter das Opfer mit einem starken Betäubungsmittel willenlos gemacht hat, um es zu missbrauchen – wie kann es da ein »allerdings« geben?

»Allerdings«, fährt der Richter fort, »gilt es für das Gericht bei der Festsetzung des Strafmaßes verschiedene Punkte zu berücksichtigen, die Ihr Anwalt vorgebracht hat. Zu erwähnen sind hier die überzeugende Fürsprache Ihres Juraprofessors, Ihre vielversprechende Zukunft als Jurist sowie Ihre ausgezeichnete Perspektive als Rugbyspieler in der Nationalmannschaft.«

Hana kann die Fassungslosigkeit von Rias Eltern neben sich spüren – worauf läuft das hier hinaus? Und auf der anderen Seite sieht sie, wie sich auf dem Gesicht des Jurastudenten ein zuversichtliches Lächeln breitmacht.

»Der will uns doch verarschen«, murmelt Stan.

»Daher bin ich der Überzeugung, dass es unverhältnismäßig wäre, eine langjährige Freiheitsstrafe gegen Sie zu verhängen, die höchstwahrscheinlich Ihre Karriere als Jurist und auch als Sportler beenden würde«, sagt der Richter. »Hiermit verurteile ich Sie zu zwölf Monaten Hausarrest und untersage die Nennung Ihres Namens in jeder Art von Medien.«

Hana sieht, wie die Familie des Studenten in Jubel ausbricht. Thompsons Vater nimmt seinen Sohn ungestüm in den Arm. Aber dann sieht Hana noch etwas anderes.

Für einen Moment schaut Thompsons Mutter zur Familie des Opfers hinüber; sie blickt Ria direkt in die Augen und erkennt darin die Verwirrung und Fassungslosigkeit der jüngeren Frau, den Schmerz, den ihr die Urteilsverkündung zusätzlich zu dem, was ihr widerfahren ist, zugefügt hat. Sie sieht Ria für einen langen Moment an, und es scheint, als würde sie sich entschuldigen.

Dann wendet sie sich ab und nimmt ihren Sohn in den Arm.

In diesem Augenblick tritt die Staatsanwältin zu Hana in den Zuschauerraum. »Das passiert gerade nicht wirklich.«

Aber das tut es. Es ist tatsächlich passiert.

Im Anschluss an die Urteilsverkündung bringen die Staatsanwältin und Hana Ria und ihre Familie in ein Besprechungszimmer des Gerichtsgebäudes. Die Staatsanwältin gibt ihr Bestes, ihnen Trost zu spenden, und erklärt, dass sie gegen das lächerlich milde Strafmaß Berufung einlegen wird, dass sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen will. Wie schon während des ganzen Gerichtsverfahrens, das einen großen Einfluss auf ihr Leben hatte, obwohl sie darin keine aktive Rolle einnehmen konnten, sitzen die Eltern schweigend da. Rias Mutter hält die Hand ihrer Tochter, umringt von einigen Familienangehörigen, die leise weinen. Die Muffins und Pappbecher mit Kaffee, die Stan besorgt hat, stehen unangetastet auf dem Tisch.

»Das ist falsch«, sagt Hana halblaut. »Einfach nur falsch. Ich kann es nicht glauben.«

Die Angehörigen wechseln Blicke, und Rias Mutter wendet sich Hana zu. »Wenn es umgekehrt gewesen wäre«, sagt sie. »Wenn ein Māori das getan hätte und kein privilegierter, reicher weißer Bursche, wenn das Opfer eine Pākehā gewesen wäre – glauben Sie, dass man diesen Mistkerl dann nach Hause geschickt hätte? Ich glaube nicht. Man hat meine Tochter ein zweites Mal vergewaltigt.«

Hana erwidert nichts. Es gibt keine Worte, die der Familie helfen könnten, mit dieser Ungerechtigkeit fertigzuwerden. Rias Mutter erhebt sich vom Tisch, und ihre Familie versammelt sich um sie. »Leute wie wir lassen sich nicht unterkriegen.« Sie streicht, immer noch gefasst, ihre Strickjacke glatt. Dann nimmt sie ihre Tochter am Arm und führt sie aus dem Zimmer.

An der Tür dreht Ria sich noch einmal zu Hana um.

»Sie haben gesagt, dass es einen Unterschied machen würde«, sagt sie.

Hana läuft durch die Tiefgarage neben dem Obersten Gerichtshof zu ihrem Wagen, während Stan geduldig in einer Schlange wartet, um den Parkschein zu entwerten. Inzwischen sind zwar ein paar Stunden vergangen, aber Hanas Fassungslosigkeit über das Urteil ist immer noch nicht verflogen. Ihre Schritte hallen von den kalten, harten Betonoberflächen der Wände, Böden und Pfeiler wider. Plötzlich vernimmt sie noch weitere Schritte. Und dann tritt zwischen zwei Fahrzeugen eine Gestalt hervor.

»Detective Senior Sergeant Westerman.«

Es ist Patrick Thompson. Der Jurastudent.

Hana schaut über die Reihen parkender Wagen hinweg zu Stan. Ihr Kollege steht, in kaltes weißes Neonlicht getaucht, am vorderen Ende der Schlange und steckt den Parkschein in den Automaten. Er bekommt überhaupt nicht mit, was auf der anderen Seite der Tiefgarage gerade passiert.

Hana dreht sich wieder zu Thompson um. »Was wollen Sie?«

Er lächelt. Hana kennt dieses Lächeln nur zu gut. Dieses Lächeln, mit dem er Ria, ihrer Schilderung zufolge, zum Hotelzimmer getragen hat, dieses Lächeln, mit dem Thompson auf der Anklagebank der Urteilsverkündung lauschte. Plötzlich spürt Hana einen scharfen, bitteren Geschmack im Mund.

»Ich dachte nur, Sie sollten wissen«, sagt Thompson, »dass sie ihren Spaß gehabt hat. Sie hat jede verdammte Sekunde davon genossen.«

Hana würde ihn am liebsten verprügeln. Aber das tut sie nicht. »Halten Sie sich von mir fern, Mr. Thompson.« Sie zwingt sich, weiter Richtung Wagen zu gehen. Doch Thompson läuft ihr hinterher.

»Ich habe Ihre Tochter gesehen«, sagt er. »Ich folge dieser scharfen Rapper-Braut auf Instagram.«

Als er Addison erwähnt, bleibt Hana stehen.

Am anderen Ende der Tiefgarage zieht Stan den entwerteten Parkschein aus dem Automaten. Er sucht in seinen Taschen nach den Schlüsseln und hat immer noch nicht mitbekommen, dass es ein Problem gibt. Thompson bleibt neben einem Betonpfeiler stehen und wendet Hana das Gesicht zu. »Vielleicht schicke ich ihr mal eine Nachricht«, sagt er spöttisch. »Sie könnte mein Typ sein.«

Der bittere Geschmack in Hanas Mund ist jetzt kaum noch zu ertragen, und bevor sie überhaupt weiß, was sie tut, packt sie Thompson am Hemd und stößt ihn mit voller Wucht gegen den Pfeiler. »Du Stück Scheiße.« Sie kann sich gerade noch beherrschen und lässt ihn wieder los, obwohl sie nur zu gerne weitermachen würde. »Halten Sie sich von meiner Tochter fern, und halten Sie sich von mir fern.«

Thompson lächelt erneut. »Sie wollten mich in den Knast stecken. Sie wollten mein Leben ruinieren. Wissen Sie was? Ich werde jetzt Ihres ruinieren.«

Ehe Hana es sich versieht – klatsch –, schlägt Thompson sein Gesicht gegen den Pfeiler. Blut strömt aus seiner Nase. In diesem Moment ist das Geräusch sich nähernder Schritte zu hören. Stan kommt hinter einer Reihe geparkter Autos hervor und sieht den Jurastudenten, dessen Hemd jetzt voller Blut ist.

»Die ist ja total verrückt, Mann«, sagt Thompson zu ihm. »Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Man sollte sie verdammt noch mal verhaften.«

Hana und Stan verlassen mit einem Zivilwagen der Polizei die Tiefgarage. Obwohl Stan nicht mitbekommen hat, was passiert ist, glaubt er Hanas Schilderung der Ereignisse. Natürlich. Keine Frage. Allerdings hat er es nicht mit eigenen Augen gesehen. Hana weiß, dass ihr Wort gegen das von Thompson steht. Genau, wie er es wollte.

Hanas Hände zittern immer noch, als sie einen Blick auf ihr Handy wirft. Das Display zeigt weiterhin das Standbild des Videos, das man ihr anonym zugeschickt hat. Sie betrachtet einen Moment das merkwürdige Bild der baufälligen Obdachlosenunterkunft. Der Palace. Dann beendet sie das Video.

Während Hana auf die vorbeiwischenden Straßen hinausstarrt, fragt sie sich, wie die idiotische Sache mit dem Jurastudenten wohl weitergehen wird.

Es sieht nicht gut für sie aus.

3

BROWN AND SCREAMING

Ein Flugzeug, das vom internationalen Flughafen in Mangere gestartet ist, erfüllt mit dem Dröhnen seiner Triebwerke die Luft über den südlichen Bezirken von Auckland. Die Bewohner in der Gegend haben sich so sehr an die riesigen Maschinen gewöhnt, die lärmend in den Himmel emporsteigen, dass sie das Geräusch schon gar nicht mehr wahrnehmen. Im Süden von Auckland herrscht eine ganz eigene Atmosphäre, mit seiner bunten Mischung aus Angehörigen aller möglichen Volksgruppen und Religionen. Wenn man hier mit dem Zug oder dem Bus fährt, hört man fünf verschiedene Sprachen aus fünf verschiedenen Kontinenten. Hier leben kürzlich eingetroffene Flüchtlinge aus Krisengebieten auf der ganzen Welt; Pasifika-Familien, die aus Tonga, Samoa oder Niue hierhergezogen und bereits in der vierten oder fünften Generation Neuseeländer sind, Einwanderer vom indischen Subkontinent oder aus noch weiter entfernten Regionen und eine andere Art von Migranten, Einheimische, die sich die schwindelerregenden Immobilienpreise in den anderen Vierteln nicht leisten können und sich im pulsierenden, lebhaften Süden der Stadt ein Haus gekauft haben.

An diesem Abend konkurrieren die Triebwerke der Maschinen mit einer Reihe anderer Geräusche, die aus einer ganz bestimmten Sackgasse zu hören sind. Laute Musik. Treibende Bassläufe. Scratchgeräusche. Wildes Stimmengewirr. Und eine Stimme, die alles andere übertönt.

»Fighting’s in my blood / Called the minority / Saying we’re half of everything / You don’t know us / We’re more than both!«

Am Ende der Sackgasse steht ein Haus mit einem großen Garten. Er ist erfüllt von einem wogenden Meer aus Tätowierungen und Piercings, Joints und Pillen; in Fässern lodern Flammen, und über den Köpfen der Gäste hängen bunte Lichterketten. Die Terrasse auf der Rückseite des Hauses wurde in eine provisorische Bühne mit Stroboskoplichtern verwandelt. Übereinandergetürmte Verstärker erzittern unter den hämmernden Beats der Bässe, während sich zwei DJs an einem Doppel-Plattenspieler einen Wettstreit liefern.

Das Epizentrum dieses Treibens ist eine junge Frau. Und das zu Recht. Sie ist siebzehn Jahre alt, sie ist eine Māori und stolz, voller Energie und Lebensfreude. Sie hüpft wie eine Gazelle auf und ab, als hinge sie an einem Bungeeseil oder hätte Sprungfedern unter den Füßen. Sie rappt einen leidenschaftlichen Song über Individualität und Identität, in ihrem brillanten, unverwechselbaren Stil, der mühelos zwischen Englisch und Te Reo Māori hin- und herwechselt.

»We were born brown and screaming / Won’t survive in silence! / Te ha o ngā tūpuna / The breath of our ancestors / Anei mātou! / Here we are!«

Mit ihrer wunderschönen Stimme trägt sie ihre intelligenten, zornigen Verse vor, darüber, dass alle die gleichen Rechte besitzen und jeder für seine Identität einstehen muss, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung und Herkunft. Addison hat die gleichen dunklen Augen wie ihre Mutter. Die alten Zeichnungen an den Wänden im Atelier ihrer Mutter zeigen sie noch mit langen, struppigen schwarzen Haaren, aber hier auf der Bühne, unter den Stroboskoplichtern, glänzt ihr kahl rasierter Schädel wie der schönste Vollmond.

Sie schwingt sich zum Refrain des Songs auf. »Who got the power to fight the power?«

Und die Menge erwidert: »I got the power to fight the power!«

Addison strahlt. »Who got the body to rock the party?«

Die Menge imitiert jede ihrer Bewegungen. »I got the body to rock the party!«

All das wird von PLUS 1 auf Video festgehalten. PLUS 1 ist so alt wie Addison und eine nicht-binäre Person, hat die langen Dreadlocks zu einer verrücken Bienenkorb-Frisur hochgesteckt, trägt eine khakifarbene Tarnhose, Stiefel und funkelnden Modeschmuck. Auf dem Display des Handys bietet Addison ein Bild der Glückseligkeit; ihr Lächeln strahlt noch heller als die Scheinwerfer, die sie auf der Bühne beleuchten.

Am anderen Ende der Sackgasse sind ebenfalls mehrere Menschen zusammengekommen. Doch sie sind alles andere als fröhlich gestimmt. Ein Dutzend Männer und Frauen in Polizeiuniformen rückt die Mützen zurecht und streift sich Leuchtwesten über. Es werden Dosen mit Pfefferspray verteilt und Taser gezückt. Zwei Mannschaftswagen riegeln das Ende der Sackgasse ab. Eine Nachbarin hat den Notruf gewählt in der Annahme, dass sie wohl am ehesten ohne die Belästigung durch die laute Musik fernsehen kann, wenn die Polizei mal vorbeischaut. Um sicherzugehen, dass sie schnell genug anrücken – das heißt vor den Spätnachrichten –, hat sich die Nachbarin bei ihrem Anruf größere dichterische Freiheiten erlaubt. »Ich habe splitternde Fensterscheiben gehört«, erklärte sie dem Telefonisten in der Notrufzentrale. »Außerdem Fluchen und lautes Gebrüll. Und Flaschen, die durch die Gegend geworfen werden.« Sie sei äußerst besorgt. Es könne jeden Moment zu einer Schlägerei kommen. Ihr Anruf erzielte die gewünschte Wirkung. Die Beamten bilden jetzt eine Reihe, alle eine Armlänge voneinander entfernt.

Im Garten am Ende der Sackgasse werden weder Flaschen geworfen noch Fenster zertrümmert. Nichts erinnert auch nur entfernt an eine Schlägerei. Da sind nur Addison, jung und unvergleichlich, und die Menge, die sich im Einklang mit ihr bewegt, berauscht von Addison, berauscht voneinander, berauscht von der Liebe. Addison nimmt PLUS 1 das Handy ab. »Ich liebe dich«, sagt sie und gibt PLUS 1 einen Kuss. Die Menge jubelt. Doch dann bemerkt PLUS 1, dass sich draußen auf der Straße etwas tut.

Die Kettenformation der Polizei marschiert im Gleichschritt auf das Haus zu, während der Sergeant dahinter sie antreibt, vorwärts-vorwärts-vorwärts.

PLUS 1 reißt Addison das Mikrofon aus der Hand und brüllt: »Die Bullen!«

Ohne zu überlegen, schnappt PLUS 1 sich den Mikrofonständer und springt über den Zaun auf die Straße, stellt sich den anrückenden Polizisten entgegen und schwenkt den Ständer wie einen Taiaha hin und her. Währenddessen bricht im Garten Chaos aus. Einige der Partygäste rennen durch die Nachbargärten davon und werfen ihre Tütchen mit Pillen und Gras weg. Andere stürmen auf die Straße zu PLUS 1, angetrieben von Empörung, Adrenalin und diversen Substanzen. Die Kettenformation der Polizei kommt immer näher.

Vorwärts-vorwärts-vorwärts.

Addison, die jetzt allein auf der Bühne steht, beobachtet das Geschehen. Sie ist entsetzt. Die fröhliche Party wird sich gleich in etwas völlig anderes verwandeln. Und sie weiß, dass sie nichts dagegen tun kann.

Das Polizeipräsidium von Auckland befindet sich in einem zwölfstöckigen Gebäude – einem hässlichen, langweilig grauen Betonbau mitten in der Innenstadt. Die Befragungszimmer liegen in den Untergeschossen. Sie sind eng und unbehaglich. Und ziemlich genau so fühlt Addison sich gerade.

»Was ist jetzt? Hocken wir bloß hier rum?«, sagt sie.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches sitzt Hana und hält einen Ausdruck von der Strafanzeige gegen Addison in den Händen. Neben Addison hat Jaye Hamilton Platz genommen. Er ist Anfang vierzig und hat freundliche blaue Augen. Obwohl er einer der ranghöchsten Beamten im Polizeibezirk Tāmaki Makaurau ist, lässt er das andere Menschen nicht spüren. Er bekleidet den Dienstgrad des Detective Inspector. Aber in dieser Funktion ist er nicht hier.

Jaye ist Hanas Chef. Und außerdem ihr Ex. Und er ist Addisons Vater.

Neben Jaye sitzt Marissa, mit der er seit einigen Jahren zusammen ist. Die intelligente, ernste Frau würde Addison gerne zur Seite springen. Sie hat ein großes Herz für hilfsbedürftige Kreaturen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ist Tierärztin. Doch sie sagt keinen Ton. Schließlich ist Addison Hanas und Jayes Tochter und nicht ihre.

Die bleierne Stille im Raum weckt in Addison das Verlangen, den Tisch umzuwerfen. »Ihr könnt mich hier nicht einsperren und dann einfach ignorieren«, sagt sie im Tonfall eines kleinen Kindes, das man zu Hausarrest verdonnert hat und mit Missachtung straft. Zu ihrem großen Verdruss bekommt sie immer noch keine Antwort. Schließlich kann sie es nicht länger ertragen. »Wir haben gegen kein Gesetz verstoßen«, stößt sie hervor, um den Vorfall zur Seite zu wischen. »Ich meine, genau darüber singe ich auf der Bühne! Es ist kein Verbrechen, einen Nasenring zu tragen oder dunkle Haut zu haben, queer zu sein, ein Māori oder nicht-binär oder was auch immer. Aber man behandelt uns, als würden wir Schaufenster einschlagen und Fernseher klauen! Man hat PLUS 1 in den Transporter geschleift, getasert und ins Gesicht geschlagen. Womöglich den Wangenkochen gebrochen.«

Hana mustert ihre Tochter und spürt, dass sie langsam in Fahrt kommt, wie ein Schlitten, der immer schneller einen Hügel hinunterrast.

»Diejenigen, die das getan haben, sollte man verhaften«, fährt Addison fort. »Diese Scheißkerle, diese rassistischen, beschissenen, homophoben Schweine …«

»Addison, es reicht«, blafft Jaye. Es muss schon eine Menge passieren, dass er so mit seiner Tochter spricht. Addison weiß, dass sie zu weit gegangen ist. Sie spürt, wie die Haut an ihrem Hals anfängt zu brennen, und wünscht sich, man könnte es nicht so deutlich sehen. Hana, die ihr schweigend gegenübersitzt, streicht jetzt die zerknitterte Strafanzeige glatt.

Jaye wählt seine folgenden Worte mit äußerstem Bedacht. »Ihr hattet keine Genehmigung für einen öffentlichen Auftritt. Dann wären da noch ordnungswidriges Verhalten und Widerstand gegen die Festnahme. Außerdem sah es in der Nachbarschaft so aus, als hätte man dort den gesamten Pillenvorrat einer Apotheke ausgekippt. Und deine Freundin, PLUS 1? Sie …«

»Kein Pronomen«, weist Addison ihn ungehalten zurecht. »PLUS 1 möchte ohne Pronomen angesprochen werden.«

»In Ordnung.« Jaye nickt. »PLUS 1 hat die Polizisten mit einer Waffe angegriffen.«

»Das war mein Mikroständer!«

»Hat sie ihn zum Singen benutzt?«

»Mein Gott, Dad. Kein Pronomen!«

Hana hat noch immer keinen Ton gesagt. Dass ihre Mutter sie während dieser unerträglichen Auseinandersetzung bisher nicht zur Rede gestellt hat, macht Addison besonders wütend.

»Ihr habt eindeutig gegen das Gesetz verstoßen«, erklärt Jaye seiner Tochter. »Gegen jede Menge Gesetze.«

»Ist ja klar, dass du die Cops verteidigst«, sagt Addison.

»Wir sind die Cops.«

»Genau! Ihr beide! Ihr seid Teil des ganzen beschissenen Systems!« Addison springt von ihrem Stuhl auf und beschließt, mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen. Sie reißt ihrer Mutter die Strafanzeige aus den Händen und wedelt damit, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, als ob das überhaupt noch nötig wäre. »Ich meine, dein Verhalten überrascht mich nicht, Dad. Du bist weiß, du bist ein Mann! Für dich läuft es bestens. Man hat dich sogar zu Mums Chef befördert! Aber Mum. Herrgott! Du bist eine Māori. Wie kannst du verdammt noch mal überhaupt noch in den Spiegel schauen …«

»Okay.«

Nur zwei Silben. Ruhig und emotionslos ausgesprochen. Aber als Hana endlich etwas sagt, ist es so, als wäre eine Bombe explodiert. Marissas Blick huscht zu ihr hinüber. Jaye blinzelt. Und Addison schluckt.

Hana streckt ihre Hand nach der Strafanzeige aus, worauf Addison sie ihr kleinlaut überreicht. »Setz dich, bitte«, sagt Hana. Was höflich klingt, ist in Wirklichkeit eine knallharte Aufforderung. Addison nimmt wieder Platz, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie hat keine Ahnung, was jetzt kommt, keiner weiß das. Hana geht zur anderen Seite des Tisches. Und …

Sie beugt sich hinunter, gibt Addison einen Kuss auf die Stirn und drückt den Kopf ihrer Tochter gegen ihre Brust. Addison fängt lautlos an zu weinen und klammert sich an ihre Mutter.

Marissa berührt sanft Addisons Hand. »Addy, Schätzchen, alles wird gut …«

»Ach, leck mich doch, Marissa.« Addison schlägt ihre Hand fort. »Ich hasse es, wenn man mich Addy nennt. Kannst du nicht einfach abhauen und irgendein Karnickel verarzten?«

Während Marissa sich allergrößte Mühe gibt, Addisons Äußerung nicht persönlich zu nehmen, schaut Hana zu ihrem Ex-Mann hinüber. »Können wir uns draußen unterhalten? Allein.«

»Überrascht dich das?«, fragt Hana. »Oder Marissa? Irgendetwas davon?«

Die Glühbirne über dem Personaleingang des Präsidiums verbreitet ein grelles weißes Licht. Hana und Jaye stehen darunter allein im leeren Türrahmen. Stan, der fünfzig Meter entfernt im Wagen auf Hana wartet, entgeht nicht, dass beide eine völlig verkrampfte Haltung eingenommen haben.

»Denn mich«, fährt Hana fort, »überrascht das nicht.«

Jaye weiß genau, was Hana damit meint. Addison studiert im ersten Jahr Musik und Politikwissenschaften, ihre beiden miteinander konkurrierenden Leidenschaften. Zwar ist sie mit ihren siebzehn Jahren eine der jüngsten Studentinnen, aber sie hatte sich schon lange vor dem letzten Schultag innerlich von der Highschool verabschiedet. Sie wohnte damals abwechselnd bei ihrer Mutter und ihrem Vater, bevor sie zu Beginn des Studiums dauerhaft bei Marissa und Jaye einzog. Was durchaus verständlich ist; ihr Haus in einer grünen, teuren Gegend liegt sehr viel näher an der Universität. Marissa hat aus ihrer ersten Ehe zwei Töchter, die noch nicht das Teenageralter erreicht haben, Vita und Sammie. Aber im Haus ist sehr viel Platz, und Addison nistete sich in der rückwärtigen Einliegerwohnung ein.

Doch sie zog nicht nur wegen der günstigen Lage bei Jaye ein.

Als sie noch ein Baby war und nachts manchmal wach wurde, sagte die erschöpfte Hana jedes Mal zu Jaye: »Leg sie in ihr Gitterbett und lass sie ein wenig weinen, dann wird sie wieder einschlafen.« Jaye lächelte dann und nickte. Ja, natürlich. Aber sobald Hana schlief, lief er für die nächsten paar Stunden mit Addison auf dem Arm durch die Wohnung, zog Grimassen, um sie zum Lachen zu bringen, und hob sie an das große Fenster im Wohnzimmer, während sie glucksend auf die funkelnden Lichter der Stadt starrte. Als ranghoher Polizeibeamter, der eines der größten und meistbeschäftigten Ermittlerteams in Neuseeland leitet, ist Jaye ziemlich kompromisslos. Er steht in dem Ruf, äußerst fair zu sein und keinerlei Ausflüchte zu dulden.

Aber wenn es um seine Tochter geht, ist er unendlich nachsichtig.

Im letzten Highschooljahr hatte Addison sich von einer Mitschülerin ihre erste Tätowierung stechen lassen. Die Darstellung einer Māori-Frau, einer Wahine Toa, einer Kriegerin. Eigentlich war es das perfekte Motiv, ein Symbol für Addisons Kämpfernatur, aber die Ausführung war ziemlich schlecht. Addison zeigte die Tätowierung zunächst Jaye und erklärte ihm die Bedeutung, um ihn auf ihrer Seite zu haben, bevor sie den Mut aufbrachte, Hana damit zu konfrontieren. Als ihre Mutter die Tätowierung sah, ging sie sofort an die Decke. »Du bist erst sechzehn, es ist dir nicht mal gesetzlich erlaubt, einen professionellen Tätowierer aufzusuchen.« Jaye meinte darauf, dass die Mitschülerin ja kein Profi sei, aber nach der Schule ein Praktikum in einem Tattoostudio machen wolle. Hana hatte kein Verständnis dafür. »Warum lässt du dir etwas dauerhaft in den Körper ritzen von jemandem, der keine Ahnung davon hat?« Doch für Addison war die Sache ganz einfach. »Mein Körper, mein Verstand, meine Entscheidungen.« Zu Hanas Verärgerung gab Jaye zu bedenken, dass sie ihre Tochter genau in diesem Sinne erzogen hatten. »Ist doch so, oder?«

Dem hatte Hana kaum etwas entgegenzusetzen. Denn es war die Wahrheit. Sie wollte, dass ihre Tochter selbst über ihr Schicksal, über ihr Leben bestimmte. Gleichzeitig wünschte sie sich, Addison würde sehr viel klügere Entscheidungen treffen, als sich diese misslungene Tätowierung stechen zu lassen.

Jaye und Marissa war es lieber, dass Addison in der Einliegerwohnung mit ihren Freunden einen Joint rauchte als in irgendeiner finsteren Seitenstraße vor dem Haus eines Dealers. Und wenn sie mit jemandem schlafen wollte, sollte sie sich bei ihnen so wohlfühlen, dass sie das an einem sicheren Ort tat, statt auf der Rückbank eines Autos ungeschützten Sex zu haben. Addisons Erklärung, das Haus ihres Vaters sei nur wenige Gehminuten von der Uni entfernt, machte die Dinge unkompliziert. Aber so wie es längst überfällig gewesen war, endlich die juckende, viel zu enge Schuluniform abzustreifen, war sie bereit, in vielerlei Hinsicht ihren eigenen Weg zu gehen.

In der Einliegerwohnung von Jaye und Marissa konnte sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.

Über Jayes Kopf umschwirrt jetzt eine Motte die weiße Glühbirne an der Tür des Polizeipräsidiums. Er holt tief Luft. »Wir handhaben die Dinge auf unsere Weise. Mag sein, dass du sie anders …«

»Unsere Tochter raucht Gras. Im Haus eines Detective Inspector.«

»Herrgott, Hana.« Jaye windet sich. Er will diese Unterhaltung wirklich nicht an diesem Ort führen. »Als Marissa und ich zusammengezogen sind, haben wir entschieden, wie wir als Familie zusammenleben wollen. Marissas Kinder, Addison …«

»Eine Siebzehnjährige, die tun und lassen kann, was sie will. Die jeden zweiten Abend einen anderen Typen mit nach Hause bringt. Oder Mädchen.«

Zwei uniformierte Beamte, die an den beiden vorbeigehen, werfen ihnen verstohlene Seitenblicke zu. Die Nachricht, dass die Tochter von zwei der ranghöchsten Detectives im Revier verhaftet wurde, hat sich in Windeseile verbreitet. Das macht keinen besonders guten Eindruck. Sobald die Polizisten verschwunden sind, setzt Jaye nach. »Wir wissen lieber, was sie tut, als dass sie sich an irgendwelchen Straßenecken herumtreibt.«

»Das hat ja wunderbar geklappt.« Hana gibt sich nicht einmal Mühe, ihre Missachtung zu verbergen.

»Das ist nur eine Phase«, sagt Jaye. »Ihre verrückten Freunde … Sie findet sich gerade selbst, probiert sich aus. Sie ist unglaublich talentiert … ihre Musik, ihre Auftritte. Wir sollten stolz auf sie sein.«

»Heute Abend bin ich nicht besonders stolz. Du etwa?«

Ein Straßenreinigungswagen rumpelt an der Stelle vorbei, wo Stan mit dem Wagen wartet. Er versucht, sich sein Interesse für das Gespräch nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Hana bemerkt, wie Jaye seinen Daumen zwischen dem Zeigefinger und Daumen der anderen Hand hin- und herdreht, als wollte er einen festgerosteten Türknauf lockern. Als Cop lernt man es, seine Ticks zu verbergen, die unbewussten Angewohnheiten, die in einer angespannten Situation verraten, dass man unter Stress steht. Aber Hana kennt diesen Tick mit dem Daumen, und zwar nur zu gut. Für einen Moment sieht sie vor ihrem geistigen Auge deutlich ein Bild. Wie sie vor sechzehn Jahren zusammen mit Jaye im Bett saß, nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Keiner von beiden weinte, denn zwischen ihnen schlief ihre kleine Tochter und begann wie jedes Mal kurz vor dem Aufwachen, die Nase hochzuziehen. Jaye starrte in ihrer Mietwohnung auf einen Riss an der Decke und drehte seinen Daumen hin und her.

Hana hat schon lange nicht mehr an diesen Moment denken müssen.

Es herrscht jetzt beklommenes Schweigen. Schließlich stößt Jaye einen Seufzer hervor. »Was für ein beschissener Tag.«

Nach der Auseinandersetzung mit Patrick Thompson in der Tiefgarage war Hana direkt zu Jaye gefahren. Sie erzählte ihm von dem Vorfall, davon, wie dieses selbstgerechte Arschloch sie provoziert und sein Vergewaltigungsopfer verhöhnt hatte, damit sie auf ihn losging. Jaye nahm keine Rücksicht auf Hanas Gefühle, damit würde er ihr keinen Gefallen tun. »Er hat sein eigenes Gesicht gegen den Pfeiler geschlagen?«, fragte er. »Du weißt, wie das klingt, oder?«

»Wie eine faule Ausrede für Polizeigewalt. Aber genau das ist passiert.«

»Hast du ihn berührt? Ihn angefasst? Ich muss das wissen.«

Für einen Moment stand diese Frage zwischen ihnen im Raum. Auf der Fahrt zum Revier hatte Stan zu Hana gemeint, er würde ihre Geschichte bestätigen und aussagen, dass er alles gesehen habe. Hana hatte ihm daraufhin eine Standpauke gehalten. Sie würde einen vereidigten Polizeibeamten nicht für sich lügen lassen, er solle ihr nie wieder so etwas vorschlagen. Sie komme schon klar, egal, wie sich die Sache entwickle.

»Ich habe ihn rückwärts gegen den Pfeiler geschubst. Das ist alles. Als ich merkte, was ich tat, hab ich aufgehört. Das mit seinem Gesicht ist er selbst gewesen.«

»Wenn sein Anwalt dich vor die unabhängige Beschwerdestelle der Polizei zerrt, wirst du also einfach die Wahrheit sagen, und die Sache ist erledigt?«

»Er hat unsere Tochter bedroht.«

Hana wusste, dass die Andeutung, jemandem auf Instagram eine Nachricht zu schicken, keine Drohung war, die in irgendeiner Weise zu einer Anklage führen würde. Und man konnte Patrick Thompson zwar eine Menge vorwerfen, aber blöd war er nicht. Er war nicht so dumm, die Tochter der Polizistin zu belästigen, die ihm eine Anklage wegen sexueller Nötigung eingebracht hatte.

Hana hatte eine umfassende Stellungnahme zu dem Vorfall verfasst. Stan hatte das ebenfalls getan, ohne dabei einen Meineid zu leisten. Fürs Erste konnten Hana und Jaye nichts weiter tun.

Hana schaut zu der Straße vor dem Revier hinüber, wo Stan mit dem Wagen wartet. Eine dunkle Wolkendecke hängt über der Stadt und kündigt für die Nacht Regen an.

»Ja«, sagt sie. »Was für ein beschissener Tag.«

»Was willst du jetzt unternehmen?«, fragt Jaye. »Wegen Addison.«

»Ich habe das Gefühl, dass ich sie nicht mehr kenne«, sagt Hana schließlich. Sie ist keineswegs wütend und macht Jaye und Marissa auch keinen Vorwurf. Sie wünschte nur, die Situation wäre anders. »Sie schlägt eine Richtung ein, die ich nicht verstehe. Und das hasse ich.«

Jaye hat inzwischen aufgehört, seinen Daumen zu befingern. Hana weiß, was das bedeutet. Jetzt ist es an ihr, den nächsten Schritt zu tun.

»Ich möchte, dass sie bei mir einzieht. Ich möchte sie bei mir im Haus haben. Ich möchte meine Tochter wieder verstehen.«

4

DIE LETZTE WOHNUNG IM ERSTEN STOCK

»Kennen Sie das Gebäude?«, fragt Hana und hält ihr Handy mit dem Video hoch, damit Stan es sehen kann.